Wir sind mehr als Liebe
June
A.K. Linn
Copyright © 2018 Allie Kinsley
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Cover: D-Design Cover Art
1. Mitbewohner
Bislang war ich eigentlich fest der Meinung, dass meine neue Wohnsituation gar nicht so schlecht ist.
Mein Bruder Riaz hat mir ein Zimmer bei seinen besten Freunden Curley und Roy besorgt. Neben einer wirklich schicken und recht großen Wohnung hat sich ein weiterer verdammt netter Vorteil herausgestellt. Nicht nur Roy und Curley wohnen in meinem neuen Zuhause, sondern auch Mister-sexy-as-hell-Tony.
Tony ist heiß. Verdammt heiß. Er ist mindestens 1,80 Meter groß und gebaut wie ein Stripper. Ich kann das beurteilen, wirklich! Ich habe ihn schon mehr als einmal nur mit einem Handtuch um die Hüften durch die Wohnung laufen sehen.
Sex auf zwei Beinen. Kräftigen Beinen, die seinen breiten Rücken und den Sixpack verdammt gut tragen können.
Wahrscheinlich könnte er mich problemlos mittragen, aber ich glaube, er bekommt noch nicht einmal mit, dass ich ihn bei seinen heißen Morgenspaziergängen beobachte.
Gott sei Dank ist er sich dessen noch nicht bewusst, sonst würde er wohl nicht so durch die Wohnung spazieren. Vielleicht sollte erwähnt werden, dass er im Moment im Wohnzimmer wohnt, er kann sich also nirgends wirklich zurückziehen, um sich umzuziehen oder Ähnliches. Ich bin dankbar dafür, sonst hätte ich diesen Knackarsch wohl niemals live und in Farbe gesehen.
Denn aus irgendeinem Grund hat Tony aufgehört, mit mir zu flirten und so verdammt sexy zu lächeln, wenn ich in den Raum komme. Es ist diese spezielle Art, wie sich seine vollen Lippen ganz langsam erst auf der einen Seite, dann auf der anderen nach oben ziehen, die mich ganz verrückt macht. Und seine braunen Augen, die dann auf diese einzigartige Art funkeln, machen es auch nicht besser.
Von dem einen auf den anderen Tag hat Tony damit aufgehört.
Ich befürchte, der Grund sind Riaz und Elyas. Mein großer, manchmal etwas überbeschützender Bruder hat Tony das ein oder andere Mal ziemlich rau angeknurrt. Ein anderes Mal hat er sogar von Roy verlangt, dass er Tony vor die Tür setzt.
Ich hatte schon die Befürchtung, dass Riaz irgendwann richtig der Kragen platzt, doch dann hat mein Bruder Honey kennengelernt. Das blonde Püppchen passt zwar so gar nicht zu ihm, aber mir ist es recht, weil sie dafür sorgt, dass Riaz hier nicht mehr ständig bei uns herumhängt und sich in mein Leben einmischt.
Okay, zugegeben, an dem Tag, an dem mein Ex auf der Türschwelle aufgetaucht ist, habe ich Honey ziemlich verflucht, weil sie Riaz so ganz für sich vereinnahmt hat. Zu meiner Verteidigung bleibt mir nur zu sagen, ich bin es einfach nicht gewohnt, meinen Bruder wirklich teilen zu müssen.
Da war immer nur Curley, und Curley hatte all diese tollen Freunde, also hatte Riaz quasi immer Zeit für mich.
Jetzt hat Riaz Honey, Elyas kommt nur zu mir, weil Riaz ihn darum gebeten hat, und Tony hat mich wohl auch in die Kleine-Schwester-Ecke gestellt.
Ich hasse es! Ich meine, hallo?! Ich bin durchaus eine Frau. Das soll jetzt auch nicht arrogant klingen oder so, aber ich bin wirklich nicht ohne! Blonde, schulterlange Haare, blaue Augen und eine gerade Nase. Meine Lippen sind voll, und sie sind natürlich, nicht das Modell Silikon-Schlauchboot. Ich habe eine hübsche Figur, auch wenn mein Hintern ein wenig zu rund ist und ich leider Gottes nicht das beste aller Bindegewebe habe.
Ich stelle mich vor den großen Ganzkörperspiegel an meiner Schrankwand und ziehe das Kleid nach oben, um meinen Arsch genauer unter die Lupe zu nehmen. Durchaus nett, muss man jetzt mal sagen.
Genervt stöhne ich auf und lasse das Kleid los. Ich stehe hier überhaupt nur, weil ich nicht ins Badezimmer kann. Seit einer gefühlten Ewigkeit vögelt Tony irgendeine ziemlich schräg klingende Frau unter der Dusche.
Sie hört sich an wie ein Ara, wenn sie stöhnt, ich schwöre es! Im immer gleichen Rhythmus ertönt ihr nervtötendes "Ahrr, ahrr, ahrr".
In meinem Kopf bildet sich ein ziemlich witziges Bild, wie Tony einem riesigen, roten Papagei hinterherjagt, und ich muss grinsen.
Gut, dass mein Ego nahezu unerschütterlich ist. Das habe ich definitiv meiner Mum und meinem Ex zu verdanken. Die beiden haben mir wirklich immer nur Honig um den Mund geschmiert.
"Ahrr, ahrr, ahrr." Genervt verdrehe ich die Augen. Es sollte mich nicht stören, dass Tony weiß der Teufel was da drin treibt, aber mal ehrlich, wer kann so verdammt ausdauernd sein?
Wieder wandern meine Gedanken zu Tony im Adamskostüm. Rein körperlich sah er durchaus so aus, als könnte er den Ara eine Ewigkeit vögeln. Sein dunkles, beinahe schwarzes Haar ist immer so lang, dass es sexy verwuschelt aussieht, als hätte er gerade wilden Sex gehabt.
Ich zucke heftig zusammen, als Tony den Ara wohl endgültig aufspießt und dem andauernden Gekreische ein Ende bereitet.
Das Wasser wird kurz darauf ebenfalls abgedreht und ich kann die beiden lachen hören. Neugierig wie ich bin, postiere ich mich an meiner Zimmertür. Ich will unbedingt wissen, wie der Ara aussieht, was für einen Typ Frau Tony wohl bevorzugt.
Es dauert noch eine geschlagene Viertelstunde, bis der Schlüssel endlich im Schloss gedreht wird. Ein ziemlich zufrieden dreinblickender Tony kommt nur in roten Shorts aus dem Bad und gönnt mir mal wieder einen Blick auf seinen trainierten Körper.
Heieiei, er ist wirklich zum Anbeißen! Könnte in diesen Shorts durchaus auch bei Baywatch mitrennen.
By the way: Wann ist Zac Efron eigentlich so heiß geworden, und wo ist das zahnlückige Teeniemonster hin?
Schnell schüttle ich den Gedanken ab und wende mich Mr. Baywatch zu. Ich trete auf den Flur hinaus, als wäre ich auf dem Weg in die Küche, und lächle ihn dabei unschuldig an. Tonys Gesichtszüge entgleiten ihm ein bisschen. Gut so, immerhin hat er ein schlechtes Gewissen, dass er über so lange Zeit das Bad blockiert.
"Was machst du denn hier?", fragt er, und ich glaube, dass seine Wangen ein wenig rot sind. Könnte auch von seinem Morgensport kommen, ich bin mir da nicht sicher.
Ich ziehe eine Augenbraue nach oben. "Ich wohne hier, falls du es vergessen haben solltest. Ich habe sogar ein eigenes Zimmer", sage ich und grinse breit. In diesem Moment schiebt sich hinter ihm ein Business-Kostüm durch die Tür. Ich kann es leider nicht verhindern, ich lache laut los, als ich sehe, dass der Ara tatsächlich grellrot gefärbte Haare hat.
"June?", fragt Tony und klingt ein kleines bisschen verunsichert.
Die Frau verengt die Augen zu schlitzen, eher katzenhaft als vogellike, aber nun gut. Sie streckt mir einen ihrer dürren Flügel entgegen. Ich schwöre, ihre Knochen sind dünn und hohl wie die eines echten Vogels. Wahrscheinlich wiegt sie fast nichts und kann tatsächlich fliegen.
Kein Wunder, dass Tony sie so lange vögeln konnte. Wahrscheinlich sogar hochgehoben an die Wand der Dusche gepresst, ohne dass er das kleinste Problem damit gehabt hätte. Ich meine, einer seiner Oberarme ist ungefähr so dick wie ihre beiden Oberschenkel zusammen.
Ich bekomme mein Lachen einigermaßen in den Griff und nehme ihren Flügel … ähm, ihr Händchen natürlich.
"Hi, ich bin June, Tonys Mitbewohnerin", sage ich und versuche, freundlich zu klingen.
Ihr Lächeln wirkt angestrengt. "Ich bin Veronika Bird."
Ich kann es nicht verhindern und breche erneut in lautes Gelächter aus.
Ich höre, wie Tony sich bei der Vogelfrau entschuldigt, und kann durch lachtränennasse Augen verfolgen, wie die beiden im Flur verschwinden.
Verdammt, wo ist Curley, wenn man sie mal braucht? Sie hätte die Situation definitiv zu schätzen gewusst.
Ich gehe ins Badezimmer und mache mich fertig für den Tag. Einige Minuten später höre ich Tony zurück in die Wohnung kommen. Die Haustür knallt laut und gleich darauf erscheint er an der offenen Badezimmertür.
"Was zum Teufel sollte das?", fragt er und klingt ernsthaft schlecht gelaunt.
Ich grinse. "Das sollte ich wohl eher dich fragen."
Da Tony daraufhin nur verwirrt dreinschaut, sage ich: "Komm schon, das hier ist meine erste WG, aber sogar ich weiß, dass der WG-Anstand es verbietet, das Badezimmer für ausgedehnte Sexspiele zu blockieren."
Ich glaube, er wird schon wieder rot. So etwas kenne ich von meinem Bruder überhaupt nicht. Der ist irgendwie ständig so vollkommen souverän und abgeklärt.
Eigentlich bin ich immer diejenige, die rot wird. Und dafür kann ich wirklich nichts. Mit fünfzehn bin ich mit einem ersten und einzigen Freund zusammengekommen. Mehr als Missionarsstellung im Dunkeln hat es bei uns niemals gegeben. Deshalb werde ich zugegebenermaßen schnell rot, wenn jemand mit mir über Sex sprechen will.
Aber das möchte zum Glück niemand. Oder zu meinem Pech. Mit Tony würde ich durchaus gern einmal erörtern, was wir so alles miteinander treiben könnten. Ich grinse bei diesem Wortspiel, was Tony irgendwie wütend zu machen scheint.
"Ich dachte, es ist niemand im Haus", knurrt er, als wäre es meine Schuld, dass ich heute einen Arzttermin habe und deshalb erst später zur Arbeit muss.
Ich zucke mit den Schultern. "Ich war aber da und durfte mir eine geschlagene Dreiviertelstunde lang Miss Birds araähnliches Gekreische anhören."
Im Spiegel fange ich Tonys Blick ein. Ein Grinsen zuckt um seine Mundwinkel. Immerhin ist er mir nicht wirklich böse.
"Sie hat sich wirklich furchtbar angehört, oder?", fragt er gleich darauf und verzieht das schöne Gesicht zu einer Grimasse.
Nachdrücklich nicke ich und beobachte, wie Tony sich mit der Schulter an den Türrahmen lehnt.
"Ich habe Brötchen geholt, als ich Veronika getroffen habe … Lust auf ein Frühstück?"
"Du triffst eine Vogelfrau beim Bäcker und schleppst sie ab?", frage ich mit hochgezogenen Augenbrauen.
Zugegeben, vielleicht bin ich ein bisschen neidisch. Meine Erfolgsquote ist nicht halb so gut. Bis auf meinen Ex, mit dem ich quasi immer zusammen war, habe ich genau mit null Menschen geschlafen. Als ich mich vor ein paar Monaten von Patrik getrennt habe, war meine Vorstellung vom Singleleben irgendwie wesentlich einfacher.
Jetzt mal im Ernst. Überall wird einem vorgegaukelt, dass es ohne Ende heiße Männer gibt, die immer für unverbindlichen Sex zu haben sind. Wo zum Teufel verstecken sich die? Oder bin ich einfach nur zu dumm, sie zu finden?
Seit Monaten bin ich auf der Suche und finde keinen einzigen.
Also bis auf Tony, der ist wirklich heiß, aber leider so überhaupt nicht an mir interessiert.
"Ich kenne sie schon länger. Wir … treffen uns manchmal", sagt er zögerlich. Dann deutet er mit seiner Hand über die Schulter.
"Frühstück?"
"Gib mir noch drei Minuten", antworte ich, drücke die Zahnpasta auf die Zahnbürste und beobachte im Spiegel, wie er nickt und dann im Flur verschwindet.
Jetzt, da er endlich weg ist, kann ich mich wenigstens wieder konzentrieren. Ständig diese breite Brust und die definierten Bauchmuskeln zu sehen, ist irgendwie nicht förderlich für meine Aufmerksamkeitsspanne. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir wünschen sollte, dass er zum Frühstück angezogen ist oder nicht.
Ich kontrolliere noch ein letztes Mal mein Make-up im Spiegel, dann gehe ich in die Küche.
Er ist angezogen. Schade … oder? Verdammt! Wäre ja schön, wenn zumindest ich mir in dieser Sache mit mir selbst einig wäre.
Ich lasse zwei Tassen Kaffee aus dem Vollautomaten, den Curley heimlich die Liebe ihres Lebens nennt, und setze mich dann an den Tisch.
"Warum bist du eigentlich nicht beim Arbeiten?", frage ich und reiche ihm eine Tasse.
"Ich habe gleich noch eine Wohnungsbesichtigung."
Er reicht mir einen Teller mit einem Croissant. Guter Mann. Wer würde es nicht mögen, so verwöhnt zu werden?
"Hier im Haus ist doch eine Wohnung frei", sage ich und tunke das Croissant in meinen Kaffee. Riaz würde einen Anfall bekommen, wenn er das sehen würde. Er meint, ich spiele zu viel mit meinem Essen. Das sagt er schon immer. Was er aber nie verstanden hat, ist, dass die Hälfte meiner in seinen Augen schlechten Angewohnheiten sich daraus entwickelt hat, dass er an mir rumgenörgelt hat.
Dieses Kaffeegetunke zum Beispiel. Ohne Riaz hätte ich niemals herausgefunden, wie viel besser alles schmeckt, wenn man es in Kaffee tunkt.
"Ja, leider zu teuer", antwortet Tony und tunkt sein Croissant ebenfalls in den Kaffee.
Tony ist super. Genau wie ich probiert er alles einfach einmal aus.
"Soll ich dich zum Arzt fahren?", fragt er dann.
Ich schüttle den Kopf. "Nein, danke. Elyas kommt gleich."
Sofort verfinstert sich Tonys Miene. Aus irgendeinem Grund kann Tony Elyas so gar nicht leiden.
Wirklich unverständlich. Sie beide sind witzige, offene Typen, die sich eigentlich unheimlich gut verstehen müssten.
In diesem Moment höre ich den Schlüssel im Schloss. Tony wohl ebenfalls, denn er presst die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.
"Guten Morgen, Sunny! Ich hab Frühstück dabei!", ruft Elyas und wirft die Tür hinter sich ins Schloss.
Diesen dämlichen Spitznamen hat er mir vor ein paar Jahren gegeben. Um mich zu ärgern, weil Patrik mich immer seinen Sonnenschein genannt hat.
"Guten Morgen", sage ich, als er die Küche betritt. Er sieht gut aus, wie immer. Ich glaube wirklich, dass es keinen Mann gibt, dem ein Anzug besser steht als Elyas.
Er hat sie in allen Farben und sogar dieser komische Braune, den er manchmal anhat, steht ihm verdammt gut. Er nickt Tony knapp zu, wobei sich seine gute Laune sichtlich abkühlt. Auch Tony sieht nicht gerade erfreut aus, Elyas zu sehen. Dafür strahlt Elyas umso mehr, als er sich mir wieder zuwendet und mir einen Kuss auf die Wange gibt.
"Bereit für unseren Termin?", fragt er und lässt sich neben mir auf dem Stuhl nieder. Er legt seinen Arm auf die Rückenlehne meines Stuhls. Was soll das denn bitte?
Ich schaue ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue an, doch er ignoriert es.
"Klar", sage ich ruhig und versuche herauszufinden, was genau dieser Idiot gerade vorhat.
Noch immer breit grinsend wendet er sich an Tony. "Das ist ein besonderer Tag für uns."
"Uns?", fragen Tony und ich unisono.
"Natürlich, schließlich bin ich ja auch ein Stück weit schuld an dem." Elyas deutet auf meinen unteren Körperteil, der vom Tisch verdeckt ist.
Tonys Augen weiten sich und er starrt mich ungläubig an. Elyas’ dreckiges Grinsen hingegen sagt mir, dass das genau das war, was er Tony denken lassen wollte.
Arsch!
"Es geht um ein Tattoo!", korrigiere ich schnell, bevor Tony ernsthaft falsche Schlüsse zieht.
Elyas sieht ein wenig beleidigt drein, aber auf diesen Hundeblick falle ich nicht herein.
Tony entspannt sich ein bisschen, legt dann aber neugierig den Kopf schief. "Ein Tattoo?"
Ich nicke. "Ich will es entfernen lassen. Es ist eine Jugendsünde."
Nach einem letzten finsteren Blick auf Elyas packe ich meine Tasse und stelle sie in die Spülmaschine.
"Und du hast sie dazu überredet?", fragt Tony an Elyas gewandt. Eines der seltenen Male, das die beiden direkt miteinander sprechen.
"Hat er nicht. Nur Riaz ist der Meinung, dass Elyas schuld daran ist, dass ich es mir habe stechen lassen. Wir müssen los." Ich packe Elyas am Arm und zerre ihn vom Stuhl, bevor er all die peinlichen Geschichten aus meiner Kindheit auspackt.
Auch wenn ich immer das Gefühl hatte, dass Riaz versucht, seine Freunde von mir fern- oder mich von ihnen fernzuhalten, so wüsste Elyas trotzdem mehr als genug peinliche Geschichten von mir, um Tony für immer zu vertreiben.
Ich rufe Tony ein kurzes "Bis später" zu und zerre den lachenden Elyas nach draußen.
2. Gute Freunde
Frustriert werfe ich die Tür hinter mir ins Schloss. Viel ernüchternder hätte dieser nicht enden wollende Tag in drei verschiedenen Kliniken, die unter anderem Tattooentfernungen anbieten, nicht sein können.
"Hey, was machst du denn hier?", fragt Tony, der lediglich eine viel zu tief sitzende, graue Jogginghose trägt.
Sofort bin ich noch frustrierter, da nicht einmal der Anblick dieses heißen Vs seiner Muskulatur, das unter dem Bund seiner Hose verschwindet, mich aufmuntern kann.
Ich meine, hallo?! Ich müsste doch jetzt sabbern, anstatt darüber nachzugrübeln, wie beschissen dieses Tattoo ist.
"Warum fragst du? Hast du wieder vor, stundenlang die Vogelfrau zu beglücken?"
Tony legt den Kopf schief und mustert mich eingehend.
"Curley und Roy sind zu den Jungs gefahren. Irgendein Filmabend, und sie meinten, du würdest zusammen mit Elyas nachkommen."
Noch während er sprich, dreht er sich um und geht in die Küche. Und verdammt noch mal, nicht einmal diese absolut heiße und anbetungswürdige Rückenmuskulatur verbessert meine Laune. Eigentlich stehe ich total darauf, wenn die Muskeln links und rechts der Wirbelsäule zwischen sich ein Tal bilden. Und noch viel mehr auf diese süßen Grübchen, die dieses Prachtexemplar über seinem Hintern hat. Aber seine Worte erinnern mich zu sehr dran, wie schief mein Tag gelaufen ist.
Tony kommt zurück in den Flur, in dem ich vor lauter Über-mich-selbst-Ärgern noch immer wie angewurzelt stehe. Wortlos streckt er mir ein Bier entgegen.
"Heute ist der richtige Tag, um sich zu betrinken", sagt er dann und stößt mit seiner Flasche gegen meine.
Tony ist ein guter Freund, weiß genau, dass man manchmal erst abschalten muss, bevor man in seinem Unmut erstickt.
Ich lächle ihn an und hebe meine Flasche an die Lippen. Nachdem ich einen Schluck getrunken habe, lege ich meine Jacke ab und streife mir die Schuhe von den Füßen. Erst mal richtig ankommen.
"Was ist bei dir schiefgelaufen?", frage ich und folge ihm ins Wohnzimmer. Die beiden großen Fernsehliegen dominieren den eher kleinen Raum. Außer den beiden passt gerade noch das Sideboard mit dem Flachbildfernseher hinein. Tony lässt sich auf eine nieder und ich setze mich zu ihm.
"Es scheint nahezu unmöglich zu sein, in Philadelphia eine bezahlbare Wohnung zu finden", sagt er dann und trinkt noch einen Schluck von seinem Bier.
Das weiß ich, genau aus diesem Grund wohne ich ja jetzt bei Roy und Curley, weil ich mir eine Wohnung allein nicht hätte leisten können. "Eine WG kommt nicht infrage?"
Tony zuckt zusammen. "Das hat Larry heute auch vorgeschlagen. Am besten mit ihm, hat er gemeint."
Ich muss leise auflachen. Auch wenn Riaz versucht hat, es zu verhindern, habe ich ziemlich viel davon mitbekommen, was Larrys Fetisch "Petplay" angeht.
Um Tony ein bisschen zu ärgern, sage ich: "Also ich wollte schon immer einen Hund haben. Einer, der auch noch auf die Toilette gehen kann, wäre vielleicht gar nicht schlecht." Ich lege gespielt nachdenklich eine Hand an mein Kinn. "Einen Hunde-Mensch."
Tony lacht. "Ein Hundemensch ist aber jemand, der gern Hunde mag. Wenn, dann ist es wohl eher ein menschlicher Hund."
Eine Weile diskutieren wir spaßhalber über die Vorzüge eines MeHu, wie wir sie schlussendlich taufen. Dann geht Tony zurück in die Küche, um uns eine zweite Runde Bier zu holen.
Ich fühle mich schon viel entspannter und kann seine Rückansicht sogar genießen. Tony ist verdammt heiß, vor allem, wenn er lacht. Ich mag die Art, wie er den Kopf in den Nacken wirft und seine weißen Zähne unter den Lippen aufblitzen.
"Glaubst du an Wiedergeburt?", fragt Tony und reicht mir ein Bier.
"Wie kommst du denn jetzt darauf?", frage ich. Ich lege den Kopf zurück, um nicht länger auf seine breite Brust starren zu müssen.
"Ich dachte mir, ob diese Menschen wohl Wiedergeburten von Tieren sind und deshalb auf Petplay stehen."
Beinahe hätte ich mein Bier ausgespuckt.
"Wie kannst du das so vollkommen ernst behaupten?", frage ich lachend.
"Ich versuche nur, eine Erklärung für die Vorlieben meines Bruders zu finden, die nicht darauf schließen lässt, dass er gern Sex mit Tieren hätte."
Einen Moment lang sehen wir uns an, dann brechen wir beide in Gelächter aus.
Es ist so einfach, mit Tony Spaß zu haben. Er ist ein toller Mensch. Witzig, großzügig und rücksichtsvoll. Wieder einmal finde ich es mehr als schade, dass ich für Tony nicht mehr bin als die kleine Schwester, die alle von Riaz' Freunden in mir sehen.
"Wenn ich wiedergeboren werde, möchte ich eine Kuh sein", sage ich und stelle erstaunt fest, dass mein Bier schon wieder leer ist. Langsam merke ich auch die Wärme in meinem Bauch und dieses herrliche Gefühl von Leichtigkeit und Blödsinn in meinem Kopf.
"Eine Kuh?" Tony lacht.
"Eine Kuh in Indien", bestätige ich. "Warst du mal dort?"
Tony dreht sich auf die Seite und ich spüre seinen Blick auf mir ruhen. "Nein. Du?"
Ich nicke. "Meine Mum ist immer viel mit mir verreist. Riaz war fast nie dabei."
Damals habe ich es nicht verstanden. Heute sehe ich, mit welch unterschiedlichen Maßstäben meine Mutter Riaz und mich behandelt hat. Manchmal frage ich mich sogar, warum er mich nicht hasst. Eigentlich hätte er mich aus Eifersucht schon als Kleinkind in der Badewanne ertränken müssen.
Aber Riaz ist immer nur da gewesen für mich. Er war der Einzige, der mir jemals Grenzen aufgezeigt hat. Dafür bin ich ihm heute unglaublich dankbar.
"Wie ist es in Indien?" Tony klingt ernsthaft interessiert.
"Hol mir Nachschub und ich erzähle dir davon", sage ich lächelnd und schwenke meine leere Flasche.
Schmachtend beobachte ich seinen wirklich athletischen Körper, wie er in die Küche geht und kurz darauf zurückkommt. Sich selbst hat er auch ein Bier mitgebracht, und ich fange an, von meinem Urlaub zu erzählen.
Von meinen eigenen Erinnerungen fasziniert tauche ich tief ab. Ich beschreibe ihm all die Einzelheiten, die sich so tief in mein Gedächtnis gegraben haben. Ich erzähle von den staubigen Straßen, auf denen weiße Rinder liegen. Niemand hat sich je darüber aufgeregt, wenn ein Rind eine Straße blockiert hat. Der Anblick der in Ruhe wiederkäuenden Rinder hat sich tief in mein Gedächtnis gegraben.
Ich erinnere
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 11.01.2019
ISBN: 978-3-7438-9293-4
Alle Rechte vorbehalten