Cover

1.1. Kapitel

Ich fühle mich elendig und verloren. Am liebsten möchte ich mich ganz klein zusammenkrümmen und mich so vor der Welt schützen. Ich will nicht wissen, was geschehen ist. Ich will auch nicht wissen, wo ich mich befinde. Ich weiß nur, dass ich nicht in meinem Wohnheimzimmer bin, sondern in einem fremden Bett liege. Immerhin bin ich nicht nackt. Aber das bedeutet nicht … oh, nein, wo bin ich nur?
„Wie geht’s dir?“, vernehme ich eine dunkle Männerstimme. Ich kann nicht mehr atmen. Wenn ich nur still bin, bemerkt er mich vielleicht nicht, denke ich in einem seltsamen Trotzanfall. Mein Kopf dröhnt und mein Mund ist trocken.
„Ich weiß, dass du wach bist“, höre ich wieder diese angenehm tiefe Stimme direkt über mir. Ich will gar nicht wissen zu wem sie gehört. Wer auch immer mir gleich ein Gespräch aufdrücken möchte, soll einfach verschwinden, damit ich unbemerkt dieses Bett und dieses Zimmer verlassen kann. Ich bin nicht bereit, mich in einer so verletzlichen Lage einem fremden Typen zu zeigen. Ich bin stark, zumindest für die Außenwelt. Ich bin ein bisschen verrückt und durchgeknallt. Ein bisschen kaputt, aber stark genug, dass sich niemand mit sanfter Stimme nach meinem Befinden erkundigen muss. Ich will eigentlich nur in Ruhe gelassen werden. Das ist meine Strategie mein Leben einigermaßen zu meistern oder besser gesagt weiter machen zu können. Doch das möchte, wer auch immer sich über mich beugt, nicht verstehen.
„Ich hab ne Aspirin für dich“, lässt er mich wissen. Ich stelle mich tot.
„Ich möchte nicht unhöflich sein, aber meine Großeltern könnten mir jederzeit einen Besuch abstatten. Falls du sie kennen lernen willst, kannst du gerne liegen bleiben. Aber ich muss dich vorwarnen. Sie sind keine angenehmen Menschen.“
Alles dreht sich in mir. Oder das Bett dreht sich oder die ganze Welt. Keine Ahnung. Wer bezeichnet seine Großeltern als unangenehme Menschen. Sind Großeltern nicht oft großzügiger und geduldiger als die eigenen Eltern. Egal. Das hat mich nicht zu interessieren. Der Typ über mir ist mir komplett egal. Vielleicht träume ich ja auch nur. Verrückter Traum.
„Ich meine es ernst“, drängt sich die Stimme bis unter meine Decke. „Mir ist es im Grunde egal, aber ich dachte, dass es dir möglicherweise…“
Ich stoße ein tiefes Grummeln aus.
„Kannst du mich bitte einfach alleine lassen. Dann bin ich in drei Minuten verschwunden“, bringe ich unter großer Kraftanstrengung unter meiner Bettdecke hervor. Mein Hals schmerzt beim Sprechen. Vermutlich sehe ich aus wie eine Vogelscheuche. Aber ich will jetzt nicht eitel werden. Mich interessiert es nämlich nicht, was irgendwelche fremden Typen von mir denken. Ehrlich nicht. Mein Leben ist seither um einiges leichter geworden.
„Nein“, reißt mich die Stimme des Fremden aus meinen Gedanken. NEIN? Hat er tatsächlich nein gesagt. Ich bin fassungslos. Oder habe ich irgendetwas verpasst. Gedächtnisaussetzer. Schließlich kann ich mich an gestern Nacht ebenfalls nicht mehr erinnern. Oder? Ein paar Bruchstücke sind da noch. Aber die überfordern mich zurzeit nur noch zusätzlich.
„Ich möchte wissen, ob es dir gut geht?“, bemerkt er.
„Ja, es geht mir gut“, erwidere ich.
„Davon möchte ich mich gerne selbst überzeugen, denn letzte Nacht ging es dir nicht besonders gut.“
Verdammt, ist der Kerl hartnäckig.
„Du musst dich wirklich nicht als Gentleman aufspielen“, erkläre ich ihm und versuche dabei möglichst sachlich zu klingen.
„Und wen ich nun mal einer bin.“
„Herrgott, wenn du wirklich einer wärst, würdest du mir jetzt meine Privatsphäre gönnen.“
„Dein Wohlergehen ist mir wichtiger.“
„Ach, ja“, gebe ich ironisch zurück.
„Ok, ich will das du mich ansiehst. Ist das denn so schwer?“
„Bist du etwa so ein Psycho, der sturzbetrunkene Frauen aufliest und nach Hause schleppt, weil er sonst keine abbekommt.“
Meine Stimme ist laut geworden. Und wen er tatsächlich ein Psycho ist, seine Großeltern schon seit Jahren tot sind und er mich in seinem Zimmer eingesperrt hat?

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 23.03.2017

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /