Was vorher geschah!
1. Kapitel Meine Tochter
2. Kapitel Der Sohn
3. Kapitel Meine Frau
4. Kapitel Meine Mutter
5. Kapitel Meine Freunde
6. Kapitel Der Vater meiner Frau
7. Kapitel Das Virus
8. Kapitel Onkel Bertram
9. Kapitel Carola, Alexa, Siri und Natascha
10. Kapitel Me, myself und der Rest der Welt
Sehr kurz gefasst!
Wir schreiben das Jahr 2020. Ein klitzekleines Virus hält die Welt im Würgegriff. Die COVID–19 Pandemie wütete seit Ende Januar auch in Deutschland. Die Grenzen wurden geschlossen, der Flugverkehr ausgesetzt und die Kohlendioxidwerte sanken. Die Luft wurde reiner und man konnte wieder Fische im Wasser sehen.
Auch die Schulen wurden geschlossen und meine Tochter Jasmina verschwand mit ihrem spanischen Liebhaber Carlos, unser Austauschschüler und ein begnadeter Musiker, für drei Wochen in ihrem Zimmer in Quarantäne, von wo sie den Kampf gegen den Klimawandel online organisierten. Unser Sohn erprobte von seinem Zimmer aus neue Geschäftsmodelle, war auf der Suche nach staatlichen Subventionen, Fördermöglichkeiten und Hilfen zur Betriebsstillegung, welche dann meistens durch unseren privaten Etat ausgeglichen wurden. Meine Frau Brigitte leistete Sonderschichten im Krankenhaus, veranlasste besondere Hygienevorschriften in der gesamten Großfamilie und ruinierte ihre Frisur.
Ich versuchte so gut es ging, die Dinge am Laufen zu halten, schaltete automatisch auf digitalen Englischunterricht um und hielt in Zeiten der oktroyierten Isolation Kontakt zu meiner Mutter, die von Carola, Corina, Corona oder wie das wieder hieß, nicht eingeschüchtert werden konnte. Besonders schwierig war die Situation für Brigittes Vater, meinem Schiegervater, der im Altenheim isoliert lebte und eine enge Beziehung zu Alexa aufbaute, sofern die WLAN-Verbindung, das lokales Funknetz, funktionierte. Alles in allem eine ganz normale Familie. Vielleicht ein bisschen mehr als normal!
Der „Heiligen Corona“ sei Dank! Carlos ist zurück! Ich oder akkurater gesagt wir, - meine bessere, wertvollere, solidere, reinere, tröstende, liebevolle, gutherzige Gemahlin und Schicksalsgefährtin Brigitte, Krankenschwester und begeisterte Feministin inbegriffen, also wir alle hätten das keinen Monat oder nur eine Woche, - was sag ich -, keinen Tag ohne ihn länger ausgehalten. Jasmina, unsere Tochter, vermisste und ersehnte ihn! Was für ein Drama! Vergessen sie Wagner, Spielberg, Shakespeare oder Goethe, solche Dramen kann nur das Leben mit eigenen Händen schreiben. Aus der coolen, weltverbessernden Teenagerin wurde ein mitleiderregendes, triefendes Tränenbündel, das unsere wohlverdienten Fernsehabende unter Wasser setzte.
Nachdem die mit Rücksicht auf die Corona Pandemie geschlossenen Grenzen wieder geöffnet wurden und der freie Warenhandel, - zum Wohle und Glück der Aktionäre -, wieder stattfinden konnte, musste auch Carlos zurück nach Spanien, um seinen Schulabschluss zu machen. Carlos unser damaliger Austauschschüler, war ein erstes Opfer der Pandemie und wurde gezwungen, die schwierige Phase der Quarantäne zusammen mit meiner Tochter in ihrem Zimmer zu verbringen. Das ist jetzt knapp zwei Jahre her. "Ein Jahr, zehn Monate und vierundzwanzig Tage!", korrigiert mich Jasmina, die dafür eine spezielle App auf ihrem Smartphone eingerichtet hat. Die Stunden und Minuten lässt sie großzügig fallen und auch die vierzehn Tage, die sie in den letzten Sommerferien zu Besuch bei ihm in Spanien war, wurden tugendsam und ehrlicherweise abgezogen.
Die ersten Kommunikationskanäle WhatsApp, Facebook, Instagram, LinkedIn, MySpace, Snapchat und Messages wurden täglich mehrfach eingesetzt, aber erfüllten nicht die erwünschte seelische Befriedigung. Twitter hatte sie nach der Übernahme von Elon Musk oder Elon Murks, wie sie ihn nannte, abgemeldet, da ihr seine desaströse Unternehmenspolitik und seine schrägen, spleenigen, konservativen Äußerungen missfielen. Ebenso wurde WeChat aus politisch motivierten Gründen und wegen der chinesischen Überwachung wieder deinstalliert.
Doch trotz weiterer unterwürfiger Dienste wie TikTok, Facebook Messenger, Whisper, MeetMe, Yik Yak, WIX, Flickr, StayFriends, XING, Reddit, Twitch, Tumblr, - TippyTalk nutzte sie, wenn ihr die Worte fehlten und sie ihre Gefühle nur bildlich übermitteln konnte, dann wechselte sie zu TalkLife, wegen der emotionalen Unterstützung -, trotz FB Messenger, Vent, Signal, - für andere Messenger Apps gab es keinen Platz mehr auf der Smartphone Oberfläche - und trotz der täglichen SMS und der E-Mails, war Jasmina, unsere Tochter, unglücklich, verzweifelt, seelenwund, traurig und damit unerträglich geworden. Ihre Sehnsucht nach Carlos war in ein Leiden übergegangen, das dem der „Heiligen Corona“ nicht unähnlich war.
Sie erinnern sich? Die „Heilige Corona“, das war die Geliebte des römischen Soldaten Victor von Siena oder Victor von Ägypten, welcher unter der ersten Christenverfolgung gefoltert wurde. Und die „Heilige Corona“ starb für ihren Geliebten den Märtyrertod, in dem sie von zwei Palmen entzwei gerissen wurde. Aber davon später. Jasmina jedenfalls war ebenfalls in dieser verzweifelten Situation, die sie fast entzwei gerissen hätte. Also bildlich gesprochen jetzt. Da sieht man wieder, dass auch die besten Messenger-Dienste, noch die schiere Anzahl derselben, die zwischenmenschlichen Beziehungen oder Bande, erst recht nicht die körperlichen Kontakte ersetzen kann. Den MS Dienst Mastodon hatte Jasmina kategorisch abgelehnt. Es erinnere sie zu sehr an ein Medikament, das sie nach einer sehr unangenehmen Darmverstopfung einnehmen musste und darüber hinaus wären diese Rüsseltiere ohnehin schon ausgestorben.
Doch erst einmal der Reihe nach.
Eigentlich beginnt die Geschichte viel früher, aber da sich abgesehen einiger technischer Fortschritte, - heute gibt es Atombomben anstelle der aus moderner Sicht sehr nachhaltig produzierten und praktisch ungefährlicheren Steinkeule -, also da sich im Verhalten des Menschen in den letzten paarhunderttausend Jahren eh nicht viel verändert hat, kann ich auch da weiter machen, wo ich letztes Mal aufgehört hatte, namentlich bei der Corona Krise oder C-Krise, wie ich sie gerne nenne. Seit dieser Unannehmlichkeit teile ich die menschliche Geschichte auch in eine Zeit vor Corona, - „BC“ -, und eine Zeit nach Corona, - „NC“ -, ein. Sozusagen hypothetisch gesagt. Menschlich in der Vorstellung von „Selbstlos“, „Wohltätig“ oder „Human“ oder im Sinne von nicht „animalisch!“ Wie lange der Zeitabschnitt nach Corona, - also „NC“ -, noch dauert, hängt jetzt mit der angekündigten Drohung vom Einsatz der Atombomben ab.
„BC“ war Jasmina meine Tochter! Sie war meinen pädagogischen Bemühungen ausgesetzt, oder den fehlenden derselben, denn sie verstand es immer wieder mich um ihren kleinen Finger, - was sag ich -, um ihre Hand zu wickeln und mich gefügig zu machen. Klein waren die Finger von Natur aus schon und auf so kleine Hände darf man nie drauf schlagen, die zerbrechen dann, fällt mir das Lied von Bettina Wegner dazu ein. Das war schon in ihrer Kindheit so, an der Kasse im Supermarkt zum Beispiel, als Schülerin, wenn sie mit vielerlei undurchsichtigen Gründen und der dreifachen Verneinung dann doch noch ihren Willen durchsetzen konnte oder mit mir eine dreiviertel Stunde lang diskutierte, warum sie diese blöden Matheaufgaben machen sollte, die sie dann in zehn Minuten lässig gelöst hatte. Aber um grade, klare Menschen zu bekommen gehört auch eine Menge Fencheltee, Nasestupsen, Windelwechsel, schlaflose Nächte, Trösten, verschmierte Mündchen, Wehwehchen, Nachtgeschichten und all die kleinen und großen Dinge, die ein kleiner Mensch braucht oder durchmachen muss, um groß zu werden. Zugestanden, ich hätte Jasmina gut und gerne schon dreimal auf den Mond geschossen, einmal vor die Haustür geschoben und einmal hatte ich sie in ihrer Babyschale fast unabsichtlich in einem von Jugendlichen altbekannten Fast Food Restaurant vergessen. Aber ich habe das gerne getan, die Erziehung mein ich und so. Hin und wieder, also gelegentlich, frage ich mich aber öfters, wer denn jetzt wen erzogen hat?
Ich erinnere mich noch gut, als sie mit neun Jahren, - da war sie in der dritten Klasse -, zu mir an den Schreibtisch kam, - ich war gerade mit der Korrektur der Englischarbeiten meiner Klasse beschäftigt, - oder war es die leidige Steuererklärung? - egal, jedenfalls stand sie neben meinem Schreibtisch mit abgeklärten Augen und abgesenkten Mundwinkeln und offenbarte mir mit einem beklagenden Stöhnen: „Papa, ich weiß wirklich nicht, was ich mit meinem Leben anfangen soll!“ Potzblitz, dachte ich amüsiert, in dem Alter! Ich kann mich leider nicht erinnern welchen Ratschlag ich ihr damals genau gegeben habe, - vielleicht war es der mit dem Einhorn Jäger oder der mit der Prinzessin, der Erbse und dem zerrissenem Abendkleid und dem Schwefelhölzchen -, aber ich erinnere mich, dass sie den Kopf nach oben zog, die Augen verdrehte, mein Arbeitszimmer verließ und von da ab ihren eigenen Weg ging.
Damals gab es dafür noch keine Anzeichen, aber nur ein Jahr später war dieser Weg von Hormonen besprenkelt, angefeuchtet sozusagen und um bei der bildlichen Darstellung zu bleiben, füllte sich die Gasse mit Hormonen zu einer lebensbedrohlichen Situation, die nur durch den Vorschlag von Brigitte, Jasmina sollte doch an einem Schüleraustausch teilnehmen, ernsthaft entschärft werden konnte. Ein bekannter Soziologe bedeutete uns, dass die Kinder erwachsen werden. Ein Kollege aus der Schule nannte es schonungslos Pubertät und schilderte mir gleich ein Paar Szenarien, welche ihm noch lebhaft von seiner Tochter in Erinnerung geblieben waren und welche untrügliche Beweise einer Pubertät anzeigen oder auf Symptome eines jugendlichen Reifeprozesses hindeuten.
Zuerst wurde er aus ihrer „WhatsApp"- Gruppe entfernt. Ein sicheres Zeichen ernsthafter Reifung. Eine schleichende und deshalb etwas weniger auffällige Veränderung war ihr Zeitmanagement. Was vorher nur wenige Minuten dauerte, konnte jetzt mehrere Stunden, Tage oder Monate dauern oder wurde ganz aus dem Tagesplan gestrichen. Die neu entdeckte Schwerkraft verhinderte ein zügiges Aufstehen, das Bett wurde als wohltuendes Biotop entdeckt. Die Bitte den Müll rauszutragen oder in der Küche zu helfen, wurde lapidar mit „Gleich!“ beantwortet und nie erledigt. Der Hund säße noch heute an der Tür mit der Leine im Mund und wartet auf Erlösung. Die dadurch frei gewordenen Energien verpufften im Musikhören, Chatten, Chillen und ein guter Teil der Tatkraft wurde von YouTube und TikTok aufgezehrt. Und sie wurde rebellisch!
Aber ist das nicht die Aufgabe der Jungend und war es nicht schon immer so gewesen? Rebellisch sein? Wo sonst sollten die gesellschaftlichen Veränderungen herkommen? Wenn ich da allein an die Achtundsechziger Jahre denke oder an meine Jugend! Also jetzt nicht nur ich allein!
Da ich kein Smartphone besitze war mir die erniedrigende Erfahrung mit der Entfernung aus der „WhatsApp"- Gruppe erspart geblieben. Jasminas Rebellion richtete sich logischerweise gegen meinen Lebensstill, der spießig, angepasst und nicht klimaneutral eingestuft wurde. Wir wüssten gar nicht auf welch hohem Niveau wir existierten, mit welchem Luxus wir uns umgaben, im Wohlstand brausten und im Überfluss schwelgten. Bei diesen Diskussionen in unserer Küche, - dem täglichen Lebensmittelpunkt der Familie -, schaute ich dann immer verlegen auf das Weinregal und überlies ihr die Beweisführung. Als eindrucksvolles und optisches Pendant diente dann ihr Zimmer, in welchem der Begriff Ordnung unter all den Kleiderbündeln, Heften, Flyern und Büchern bestattet wurde und auch die Löcher in ihren Jeans sollten auf das einfache, selbstlose Dasein hinweisen. Ich verkniff mir offiziell die Bemerkung, dass die Löcher in meinen Hosen damals noch echt waren.
Nachdem dann auch unsere delikaten, genüsslichen Essgewohnheiten ins Visier ihrer ablehnenden Bemerkungen kam, schlug Brigitte einen Schüleraustausch vor, damit Jasmina mal die richtige Welt kennen lernen konnte oder mehr vom Leben und den Problemen auf diesem Planeten. Kennen gelernt hat sie dann Carlos, womit dann das wirkliche Leben erst richtig begann. Die Schule in Spanien wurde von Brigitte ausgewählt, welche selbstverständlich in der Nähe ihrer spanischen Verwandtschaft lag, damit diese ein Auge auf Jasmina werfen konnten. Aber wie es beim Werfen so ist, nicht jeder Wurf ist ein Treffer und damit war es auch nicht meine Schuld, wie Brigitte hinterher behauptete, dass Carlos ein Jahr später bei uns als Austauschschüler Quartier bezog. Selbstverständlich aber erst nachdem mich Jasmina in einem mehrere Sekunden dauerndem Wortgefecht überredet hatte. Und es war bestimmt nicht meine Schuld, dass kurz darauf die Welt von einem Virus in den Würgegriff genommen wurde, und dass Carlos und Jasmina sich drei Wochen in Quarantäne begaben, und zwar in ihrem hermetisch abgeschirmten Zimmer, welches durch das Bildnis der „Heiligen Corona“ auf einem Poster an der Tür bewacht wurde. Uff!
Letztendlich war ich natürlich doch daran schuld, weil ich das Virus aus der total verseuchten Schule mitgebracht hatte. „Wahrscheinlich hat es sich zwischen meinen Englischbüchern versteckt und ist kreuz und quer über meine gesamten Unterrichtsblätter verschmiert?“, fragte ich Brigitte scharfzüngig, nachdem ich zur Desinfektion des Rachenraums zwei feurige Peperoni ausgesaugt hatte. Sie war sich dennoch 110% sicher, dass es sich in einer meiner Nebenhöhlen eingenistet hätte. Davon besäße ich ja schließlich mehr als genug. Was sie mir damit wieder sagen wollte, war mir nicht ganz klar. Ich gehe daher von ihrer Expertise als Krankenschwester aus. Aber das kennen Sie ja, einer muss am Ende immer schuld sein. Pädagogen haben dafür generell eine gesellschaftliche Disposition.
Mit Carlos änderte sich alles. Oder doch vieles. Schon lange waren die märchenhaften Zeiten vorbei, als ich Jasmina noch selbst auf meinen Armen wiegen und auf ihrer Bettkante sitzen musste und die Märchen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 20.08.2023
ISBN: 978-3-7554-5046-7
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