Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich es jetzt tun.
Ich lese diesen Satz jedes Mal, wenn ich dieses Dokument öffne, manchmal täglich, - mehrmals, - ich weiß nicht mehr zum wievielten Mal. Der Anfang ist das Problem, - zweifellos bei dieser Geschichte. Immer wieder kommen mir andere Gedanken, öffnen sich neue Blickwinkel auf das, was ich berichten will. Über einen Urlaub in Marokko will ich berichten, über eine Reise, die mein Leben und das Leben meiner Familie entscheidend verändern wird. Ein Vorfall, ein Unfall, der an meinen Lebensfasern zerrt, an dem, was mich mit dieser Welt verbindet. Ein Einschlag des Schicksals, der mir die Augen geöffnet hat, der mir bewusst machte, was Dasein, was Lebendigkeit bedeutet, was Leben bedeutet und in welcher Welt wir eigentlich existieren!
Ich bin ein Gefangener meiner Gedanken. Die Erinnerungen sind meine Zukunft. Es sind die Geister der Vergangenheit, die die Gegenwart bestimmen, die jedes Wort, jeden Satz mir qualvoll diktieren. Es bin nicht ich, der schreibt, nicht ich schreibe. Sie tun es.
Die Zeit zurückdrehen geht nicht! Kein Mensch und kein Gott können die Zeit zurückdrehen, um der Geschichte eine neue, eine positive Richtung zu geben, um Geschehnisse ungeschehen zu machen, um dem Vorgefallenen einen neuen Verlauf zu geben. Wir können nur versuchen es besser zu machen. Ich kann versuchen es besser zu machen. Vielleicht muss ich die Dinge, die Umstände oder Begebenheiten akzeptieren, wie sie waren, muss dem Lauf der Geschichte zustimmen. So war es, - Punkt! So geschah es, - Punkt! Das ist die Historie der Menschheit! Das ist unsere Geschichte! Das ist auch meine Geschichte!
Und das ist Leonies Geschichte, die Geschichte meiner Tochter. Es ist nicht leicht darüber zu berichten, zu erzählen was passiert ist. Eigentlich weigern sich meine Gedanken. Nein, nein, nein, so kann ich das nicht sagen. Es sind zu viele. Es sind Erinnerungen, Betrachtungen, Grübeleien. Es sind Bilder, Wörter, kurze Szenen, die mir einfallen, Augenblicke in meinem Leben, in unserem Leben, es sind Gegebenheiten, Fakten, Weisheiten, Lehren, Erkenntnisse, die Bilder, vor allem die Bilder, ihr Lachen, ihre Lebendigkeit, es ist dieses Gewitter in meinem Kopf, die Ströme in meinem Gehirn, die keine Ruhe geben. Die Schauplätze wechseln, sie springen durch die Zeit und der Versuch Ordnung in meine Hirngespinste zu bekommen scheitert. Es kann nicht gelingen, es misslingt, weil immer neue hinzu kommen, weil es immer mehr werden, weil jeden Tag, jede Stunde neue Erfahrungen und neue Vorstellungen hinzukommen, denn das Leben besteht darauf, es ist das was wir sind, was ich bin.
Jede Erinnerung ist eine Drangsal, jeder Satz, jedes Wort ein Stich in mein Bewusstsein. Doch ich weiß, dass Leonie es will. Sie steht an meiner Seite, treibt mich an. Sie redet mir zu, sie spricht mich an.
„Schreib,“ sagt sie, „schreib über diese Welt, diesen Planeten, über die Erde. Schreib über dieses Wunder in einem endlosen Universum gefüllt mit Milliarden von Galaxien, über dieses blaue Meisterwerk, diese Perle am Rande der Milchstraße. Es ist mir gleichgültig, wer dieses Werk begonnen hat, ob Gott oder der Zufall und die Evolution. Schreib über dieses Paradies, gefüllt mit einer Unzahl von fantastischen Geschöpfen, bizarren Lebensformen, unglaublichen Verhaltensweisen, eine Welt voll irisierender Farben und Formen, unbegreiflicher Verquickungen, ökologischer Balancen. Schreib über das Wunder des Lebens auf diesem Planeten und wie wir es zerstören!“
„Schreib,“ sagt sie, „schreib, dass wir dieses Leben zerstören, weil wir es nicht erkennen, weil wir nicht begreifen, wie einzigartig alles ist! Und ich meine alles! Du und ich und jedes Lebewesen, jede Kreatur, ob Vogel, Fisch, ob Schlange, Wurm oder Gottesanbeter, jedes Getier, jedes Blatt, jeder Stein und auch die Luft, die wir atmen, das Wasser, das wir trinken, jedes Detail unserer Wirklichkeit. Wir zerstören unsere Wirklichkeit, weil sie uns gleichgültig geworden ist, weil wir sie nicht mehr erkennen, weil sie kein Mysterium mehr ist! Wir zerstören alles, auch uns, weil wir uns gleichgültig geworden sind! Weil wir in der Masse untergehen, als kleines Rad im Räderwerk des Überlebens. Egoistische, selbstgefällige Individuen. Weil wir noch nicht einmal das erkannt haben, das Leben als solches erkannt haben. Weil wir nicht das Paradies erkennen!“
Ich schaue Leonie an. Ich schaue auf ihr junges Gesicht. Es erscheint mir wie ein Gemälde. Die Augen leuchten, sie hungern nach Erkenntnis, sie fordern nach Aufklärung und Gerechtigkeit. Das Porträt eines jungen Mädchens, das nach vorne blickt, das in die Zukunft blickt! Und ich möchte ihren Hunger stillen! Doch dann kommen die Widersprüche, dann kommt die Wirklichkeit, dann kommen die Selbstzweifel und die Mutlosigkeit. „Kein leichtes Unterfangen,“ hör ich mich sagen.
„Dieses Erlebnis in Marokko hat auch deine Augen geöffnet, Papa! Mir ist bewusst geworden, wie einzigartig unser Leben ist. Im Bruchteil einer Sekunde, nur einen Wimpernschlag von der Wahrheit entfernt. Es ist die Offenbarung, die Erleuchtung. Als könnten wir das Leben in einer Sekunde erleben, als würde sich die Erkenntnis über das Dasein, über das Mysterium des Lebens wie ein Blitzlicht in mein Gehirn einbrennen. Das musst du schreiben, - Papa!“
Ich liebe es, wenn sie „Papa“ sagt. Es gibt mir das Gefühl einer tiefen Verbundenheit. Die Wärme des Herzens. Früher war es mir wichtig, dass die Kinder meinen Vornamen benutzten. An Papa haftete der Geruch von Patriarchat. Ich wollte mich mit meinem Vornamen auf ihre Ebene stellen oder sie auf meine heben. Ich wollte und will, dass alle Menschen nur durch ihren Vornamen definiert werden. Wir sind alle gleich. Keiner ist schlechter oder besser. - Aber das stimmt nicht. Es gibt schlechte Menschen.
Die Zeit zurückdrehen. Natürlich kann ich nicht verändern, was geschehen ist. Nicht was ich getan habe oder sonst jemand auf dieser Welt. Niemand kann die Handlungen aus der Vergangenheit oder deren Konsequenzen rückgängig machen und neu steuern. Wenn der Vorsitzende der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, Adolf Hitler, durch das Attentat im Münchener Bürgerbräukeller getötet worden wäre, wenn Georg Elser die Bombe nur einige Minuten früher zur Explosion gebracht hätte, oder wenn Hitler überhaupt nicht geboren worden wäre, hätten damals all die Millionen von Menschen dennoch sterben müssen? Hätte ein anderer Verrückter ein Buch über die jüdische Weltverschwörung geschrieben, ein anderer Despot die Vernichtung der Juden befohlen? Braucht es diese eine Person, die den Lauf der Geschichte verändert, ihn beeinflusst oder ist es die Schuld der Umstände, ein kollektives Versagen oder sind es die Machenschaften einiger weniger einflussreichen Individuen?
Wie viele Kriege, wie viel Leid wäre diesem Planeten erspart geblieben, wenn eine Erfindung nicht gemacht worden wäre, eine falsche Entscheidung nicht getroffen worden wäre, wenn Homo sapiens ein viel friedfertigeres, viel vernünftigeres Lebewesen, eine an die Natur oder die Naturkreisläufe angepasste Spezies geworden wäre? Wie würde die Welt ohne Waffen aussehen, wie, wenn es keine Atombomben gäbe? Wie würde die Welt aussehen ohne Internet, wenn der Computer nicht erfunden worden wäre? Wie würden die Menschen leben ohne das Fernsehen, ohne Elektrizität, ohne Motoren und Dampfmaschinen? Wie ohne die technische, ohne die chemische Revolution, ohne die Erfindungen, die uns unser Leben erleichtert haben? Wann haben wir uns die Welt zum Untertan gemacht?
Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte!
Wie weit muss ich die Zeit zurückdrehen? Ab wann war der Wille des Menschen wichtiger als die Gesetze der Natur?
Wessen Schuld ist es, dass die Menschen nicht auf die Warnungen der Wissenschaft gehört haben, - noch immer nicht hören -, dass sie jetzt vor einem globalen Desaster stehen, die Menschheit ihrem eigenen Untergang sehenden Auges entgegengeht? Was vergangen ist, ist vorbei, ist passiert, hat unauslöschlich stattgefunden und steht jetzt in unseren Geschichtsbüchern oder ist in unserem kollektiven Bewusstsein gespeichert. Auch in meinem Kopf arbeiten die Erinnerungen, ist das, was sich in meinem Leben und unserem Leben zugetragen hat noch gegenwärtig, stehen die Tatsachen vor einem inneren Gericht und werden von meinem Gewissen geprüft. Aber ich bin nicht allein, wir alle stehen vor der Verantwortung, müssen für das, was wir tun gerade stehen und müssen von dem was geschehen ist lernen. Wir müssen lernen, wir müssen erkennen und begreifen, welche Fehler wir in der Vergangenheit begangen haben, welche Fehler wir noch tun und müssen umsteuern, wir müssen Lernen!
„Wir müssen Lernen!“- schreit es aus meinem Kopf.
Ich halte ein. Ich lass die Hände über der Tastatur schweben und schaue auf den Monitor. Ich lese noch einmal die letzten Sätze, korrigiere zwei Wörter und schau über meine linke Schulter zu meiner Tochter Leonie.
„Und? Was denkst du?“
Ein Satz, welchen ich so oder so ähnlich noch öfter sagen werde. Leonie steht an meiner Seite. Sie hält eine Tasse Tee in den Händen und liest die ersten Sätze. Sie ist schlank, sportlich schlank. Sie hat lange blonde Haare und blaue Augen. Wie ihre Mutter. Sie hat diesen konzentrierten Blick mit leicht angehobenen Augenbrauen. Sie führt die Tasse Tee zum Mund, hält die Tasse an ihre feinen, weichen Lippen. Es ist die Tasse mit dem Blumenmuster, ihre Lieblingstasse. Sie trägt ihren weichen, bunten Lieblingspullover aus Wolle, ihre Lieblingshose, behagliche Socken und ihre Hausschuhe mit der warmen, flauschigen Schafwolle. Leonie hat nur wenige Kleider. Sie ist genügsam. Sie kauft nachhaltig. Leonie ist so wie ich.
„Schreib weiter,“ fordert Leonie, obwohl ihr Ton nicht fordernd ist. Sie spricht in harmonischen Klängen, eher mit einer ausgeglichenen, ebenmäßigen, fast melodischen Stimme. „Ich denke nach. Ich glaube im Grunde brauchen wir einen persönlicheren Einstieg, aber das mit der Zeit zurückdrehen finde ich gut! Das wirft Fragen auf, löst Gedanken aus. Wie weit zurück und was soll sich ändern? Für uns, für dich, mich oder jede andere Person? Es könnten ganz banale Dinge sein, Vorgänge, wie sie täglich hunderttausendmal auf unserer Welt passieren. Die falsche Entscheidung beim Einkauf treffen, bei der Wahl der Worte. Die falschen Konsequenzen ziehen, den falschen Weg einschlagen. Die falschen Dinge kaufen oder tun. Kleinigkeiten, die aber in der Summe gewaltig sind. Die, wenn sie jeder korrigieren könnte, spürbare Veränderungen brächten. Und es könnten Umstellungen von globaler Tragweite sein! Entscheidungen aus der Vergangenheit, die wir ändern könnten, um das millionenfache Leid der Menschen zu verhindern, das Sterben der Tierarten stoppen, die Biodiversität unseres Planeten erhalten, um die globale Umweltzerstörung abzuwenden, um der globalen Kontamination zuvor zukommen. Und die Änderungen in der Geschichte könnten unser eigenes Leben betreffen.“
Seit dem Unglück, seit diesem Erlebnis in Marokko, sind ungefähr zwei Jahre vergangen. Die Zeit ist mir nicht bewusst, weil ich, weil wir nach diesem Zeitpunkt das Haus nicht mehr verlassen haben. Es fehlt die Orientierung. Ein Tag beginnt wie jeder andere. Ich schaue durch den Raum und sehe jeden Tag die gleichen Dinge. Ich tue jeden Tag die gleichen Dinge. Ich denke. Ich schreibe. Ich denke oft, ich denke sehr oft die gleichen Gedanken. Unzählige Gedanken, scheinbar unendlich viele Gedanken. Und sie kommen so natürlich wie die Nacht, so natürlich, wie das Dunkel sich in das Zimmer schleicht. Alles Sichtbare verschwindet in einer unheimlichen, grauen Masse, bis ich endlich das Licht einschalte, den Raum erhelle. Bis ich die Konturen, die Schattenrisse endlich wieder deutlich erkennen kann. Dann sehe ich wieder die gleichen Bilder, sehe wieder und immer wieder die Straße, die sich durch die steinige Wüste schlängelt, sehe den Staub der Fahrzeuge, höre die Stimmen und die Schreie der Menschen, als das Auto aus der Kurve geschleudert wird, über die sandig, steinige Böschung fliegt, wie es sich überschlägt, einmal, zweimal überschlägt, wie – nein, nein, nicht jetzt!
Ich schalte den Computer wieder ein, lese wieder die gleichen Sätze. Wo bin ich? In dem Zimmer. Seit zwei Jahren lebe ich in diesem Zimmer, in diesem Raum. Wenn ich die täglichen Gänge zur Küche oder in das Badezimmer abziehe, könnte ich auch sagen, wir haben das Zimmer seit zwei Jahren nicht mehr verlassen. Die Einkäufe erledigen wir über das Internet. Eigentlich regeln wir alles über das Internet. Wir können alles über das Netz regeln. Wir kommunizieren über einen Bildschirm. Schweigsam. Ich höre meine Stimme nur noch in meinem Kopf. Die Laute sind vernehmbare Gedanken. Ich tippe meine Gedanken, meine Wünsche, Bitten und meine Hoffnungen auf eine Tastatur. In weniger als einer Sekunde werden meine Fragen beantwortet. Die Angebote sind unüberschaubar. Die Bilder sind schneller als die Fantasie. Ich bin mit allen verbunden, alle sind mit allen und allem verbunden, durchdrungen, gebunden, gekoppelt, verknüpft, sind zugänglich, sind einverleibt in das große Netz, das Netz, das nichts vergisst, das uns ins Sein einwebt, welches unser Leben leichter machen soll. Bilder, Filme, Nachrichten, Informationen, Gedanken, Botschaften, Liebe und Hass, alle Emotionen, alle Kommunikationen werden durch technische Signale vermittelt, werden über Monitore, über audiovisuelle Sender und Empfänger wahrgenommen. Das digitale Netz, das die ganze Welt umspannt. Es ist unser Fenster in die Welt. Und es macht mir Angst, was ich da sehe. Ist das wirklich die Welt, wie sie existiert? Ist das die Welt, wie ich sie kenne? Ist das die Welt, wie ich sie kannte? Ist das die schöne, neue Welt?
Es ist verrückt! Das Wetter existiert nur noch in virtuellen Symbolen. Die Wirklichkeit wird digitalisiert. Die Wirklichkeit wird scheinbar. Es ist die schmerzlose Leichtigkeit des Seins. Wir sind Avatare, Geister zwischen der Realität und einer virtuellen Welt. Nichts ist mehr normal. Überflutungen, Dürrekatastrophen, Wirbelstürme, Kriege und Epidemien. Weltweit sterben Menschen, sind auf der Flucht, ertrinken im Meer, verhungern. Tägliche Hassbotschaften, tägliche Rufmorde. Die Algorithmen lassen nur die Sensationen, beschleunigte Blendwerke, Brandbomben und Fangmittel zu. Wir ertrinken im Meer der Informationen, der Belehrungen, Ermahnungen, Fragen, Darstellungen und Gegendarstellungen. Wir sind das Profil, der User, die Spielfigur im Metaversum. Identitätslose Wesen in parallelen Welten. Unangreifbar. Im Netz können wir alles haben, alles sagen. Gefühlslose Wesen beraubt aller Sinne. Schwindender Moralität.
Seit fast zwei Jahren wütet eine Seuche auf diesem Planeten. Bilder in Nachrichten von überfüllten Krankenhäusern oder Massengräbern aus aller Welt erreichen unsere Abgeschiedenheit, unsere Klausur. Ich gestehe, ich möchte dieses futuristisch anmutende Inferno nicht wirklich erleben. Ich möchte nicht daran teilhaben. Nur mit Masken bewegen sich die Menschen durch die Straßen, sitzen vermummt in den Zügen und Straßenbahnen, schauen über den Rand der blauen, medizinischen Masken auf die Regale der Discounter. Ich kann mich nicht der Bilder erwehren! Politiker sitzen mit schwarz vermummten Gesichtern auf Pressekonferenzen, die Mikrofone in Plastikfolie eingehüllt. Es ist die neue Normalität. Masken, Menschen mit Masken, verhüllte Gesichter. Diskussionen verhärten die Gemüter. Die Herzen erkalten. Jeder hat Recht. Jeder pocht auf sein Recht. Das Netz streut es weiter. Das Netz ist der lange Arm des Hasses. Das Netz verbreitet den Schrecken, verbreitet den Krieg, Konfusion, Furcht, Verzweiflung und den Tod. Den Tod durch die Pandemie, durch die Kriege, Hunger, den Weltuntergang. Menschen die Angst haben, Abstand halten und nicht berührt werden wollen. Das ist unmenschlich. Das sind keine Menschen mehr. Es sind Automaten, ferngesteuerte Automaten. Wir sehen sie auf dem Monitor. Ich schalte den Computer ein, und die Bilder sind da. Zu viele. Es sind zu viele. Ich sollte die Augen schließen. Ist das unsere Zukunft? Jeden Tag neue Bilder, neue Informationen, neue Katastrophen, neue Meinungen, neue Ideen, neue Produkte, neue Erfindungen, neue Entdeckungen, Aufklärungen, Entlarvungen, Attentate, Morde, Gefechte, Unfälle, neue Entscheidungen, noch mehr Unwetter, noch mehr Korrekturen, noch mehr Social Networks, noch mehr virtuelle Räume, noch mehr Konsum, noch mehr Gleichschaltung, Einheitsbrei, noch mehr Panik. Noch mehr Hass? Noch mehr Fake News? Die Netzwerke verschmelzen, verschmelzen mit der Realität. Ich bin ein Opfer unserer geistigen Kreativität. Wir sind alle Opfer. Betroffene, geschädigte, betrogene, betrügerische Blutzeugen. Weil wir darum wissen!
Ich war auf dem Friedhof. Ein Fehler. Wir waren mit dem Auto gefahren. Ben und ich. Mit dem Auto, auch das noch! Wie konnte ich mich darauf einlassen, so naiv zu sein, mich auf den Rücksitz einzuschleichen. Ben stand vor dem Grab, eine einsame Seele. Ungläubig, hilflos und verlassen. Allein. Ich hatte Schmerzen in der Brust, stechende Schmerzen am Herzen und der Lunge. Ein irrsinniges Wagnis. Irrsinn. Leonie, wenn du das gewusst hättest. Ich habe Angst vor den Menschen. Ich habe Angst vor der Wirklichkeit. Und ich klage an! Wesen Schuld ist es? Es ist meine Schuld! Ich bin schuldig. Ich habe es zugelassen, ich habe es verursacht. Ich bin es Leonie, ich habe . . .
Papa!
. . . ich habe dich eingeladen. Ich hatte die Idee!
Papa!
Ich bin schuld. Ich. Ich. Ich.
Papa!! Wach auf! Papa!
Leere.
Mein Name ist Johannes Kepler. Wahrscheinlich sind sie nun genauso erstaunt oder amüsiert über diesen Namen, wie einige meiner Lehrer oder die Marburger Bibliotheksangestellte, als ich meinen Ausweis für die Hochschulbibliothek beantragte. Es war eine Laune meiner Eltern, die sich diesen Vornamen ausgesucht hatten, beziehungsweise war es die schrullige Idee, Onkel Johannes und Tante Rosemarie, die Schwester meiner Mutter, als Pateneltern zu erwählen. Mit dem landläufigen Brauchtum dem Patenkind den Namen des Paten zu geben, wurde mein Lebensweg in unvermeidlicher Weise gezeichnet. Mein Geburtsort konnte die Verwirrung noch steigern, nur dass der Ort Weimar südlich von Marburg an der Lahn angesiedelt ist. Dennoch schien dieses Faktum die ein oder andere Gehirnzelle meines Gegenüber zu erregen. Weniger spektakulär ist die Tatsache, dass ich eine Hausgeburt war. Zur damaligen Zeit, wir sprechen vom Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre, waren Hausgeburten ein normales Ereignis. Krankenhäuser existierten nicht in unserer Welt oder nicht mit dem Bewusstsein, wie sie heute wahrgenommen werden. Wie konnte sich dieser Wandel vollziehen? Höchstwahrscheinlich hatte es mit dem Gefühl der Sicherheit zu tun. Die ein oder andere Hausgeburt endete tatsächlich wegen unvorhergesehener Komplikationen im Krankenhaus. Also warum nicht gleich dorthin gehen? Außerdem konnten sich Mutter und Kind ein paar Tage relativ ungestört ausruhen. Das ersparte Aufwand und Sorgen im heimischen Umfeld. Und mit Sicherheit kamen auch die immer stärker aufkeimenden Medien mit ins Spiel, die in Zeitschriften, Magazinen und Fernsehsendungen über die angeblichen Vorteile einer Geburt im Krankenhaus berichteten. Der Wandel in die modernen Zeiten, die Veränderung in der Gesellschaft wurden und werden im starken Maße von den Medien geprägt. Eine neue Technologie, eine fortschrittliche Idee oder eine nachahmenswerte Innovation konnten sich nur durch den Einfluss der Werbung, der überregionalen Verbreitung dieser Informationen durchsetzen.
Mit den Neuerungen in der Medienlandschaft, veränderte sich auch unser Verhalten. Und nicht nur die Medien und unser Verhalten wandelten sich, auch die Landschaft bekam ein neues Gesicht. Neue Häuser, neue Straßen und viel mehr Fahrzeuge, mehr Autos füllten unser Dorf. Ich erinnere mich daran, dass wir Kinder nach einem starken Sommerregen in kurzen Hosen durch die Pfützen in der Straße hüpften und mit den Füßen das Wasser durch die Lüfte spritzten. Für uns waren das kleine Seen, die sich im Rinnsal sammelten. Die Straßen hatten keine Kanalisation. Die Straße gehörte uns Kindern. Hier konnten wir spielen.
Als Weihnachtsmänner verkleidet beschenkten die Kinder am Nikolaustag ihre Nachbarn. Ich erinnere mich an einen Weihnachtsabend, an welchem ich heimlich durch das Schlüsselloch lugte und im Glanz der Weihnachtskerzen das Christkind sehen konnte. In Kinderbüchern, wie dem Struwwelpeter, flog ich mit dem fliegenden Robert durch die windigen Lüfte, holte mit Wilhelm Busch und einer Angelschnur die gebratenen Hühnchen durch den Kamin und ich legte Zuckerwürfel auf die Fensterbank, damit der Storch Adebar, von der Süßigkeit angelockt, mit großen Schwingen über den Himmel hinweg ziehen, und uns ein kleines Bündel mit einem Schwesterchen oder Brüderchen in seinem langen, roten Schnabel vor dem Hause abliefern würde.
Ich erwähne diese Sachverhalte, weil ich eine unbekümmerte, märchenhafte Kindheit hatte und ich das Zeitalter der Aufklärung, oder sollte ich sagen der Entzauberung der Mysterien, der Verwissenschaftlichung kindlicher Fantasien oder die Entfremdung des Menschen zu sich selbst, zur Natur und dem Gemeinwesen persönlich miterlebt habe.
Wir wuchsen mit Märchenbüchern auf, mit richtigen Engeln, Feen, Kobolden, Heinzelmännchen und Weihnachtsmännern. Es gab sprechende Raben und Füchse, Hasen und Igel, die um die Wette liefen und ich kann noch heute das Rübenfeld am Waldrand sehen, wo der Wettkampf stattgefunden hatte.
Wir waren in der Natur zu Hause! Meine Freunde und ich streiften durch die Wälder, bauten Baumhäuser oder unterirdische Gänge, schwammen im nahegelegenen See, erforschten die Ufer der Lahn oder sprangen vom Bootssteg aus in den Fluss. Ein Abenteuer, das damals noch möglich war. Wir waren kindliche Entdecker, Forscher und Hasardeure. Wir waren Kinder in einer sinnlichen Welt, eine greifbare Welt und unsere Spiele fanden in der Realität statt, in der Wirklichkeit. Mit allen Sinnen haben wir unsere Umwelt erforscht, haben sie gerochen, geschmeckt und unverfälscht gesehen und gehört. Die Natur war unser Paradies, unsere Welt und ich spüre noch heute die Rinde der Äste an meinen Händen, die raue Eiche, die glatte Buche, die Borken der Fichten, aus welchen wir kleine Boote schnitzten und sie der Strömung im Bach aussetzten. Ich verspüre den klitschigen Fisch, der mir durch die Finger gleitet, ich fühle noch den Sand in meinen Schuhen, das kalte Wasser auf meiner Haut, ich rieche noch das Feuer und das trockene Gras der Wiese, ich höre noch den Donner, sehe noch die dunklen Wolken, die Blitze, mit ängstlichen Kinderaugen. All diese Erinnerungen, diese Emotionen, diese Wahrnehmungen und Erfahrungen, die Kindheit, die Menschen und die Natur, vor allem die Natur, all die Dinge, die mich geprägt haben, diese Zeit ist in meinem Inneren gespeichert. Ich, die Menschen, meine Familie, die Freunde und die Natur waren eine Einheit. Diese Erfahrung ist ein Teil von mir und ich bin ein Teil von ihr. Das ist die Realität.
Es war mein Großvater, der mich in die Geheimnisse der Natur eingeführt hatte. Er hatte als Nebenerwerbslandwirt noch ein paar Schweine, ein Dutzend Hühner und selbstverständlich einen Hund und mehrere Katzen. Mit dem Großvater war ich oft auf dem Feld unterwegs, Heu laden oder die Futterrüben einsammeln. Er erklärte mir, welche Wiesenkräuter bei welchen Krankheiten der Tieren helfen konnten und einmal sind wir auch mit einer der Sauen extra auf eine Wiese gefahren, damit sie dort die förderlichen Kräuter fressen konnte. Er erklärte mir, welche Hölzer für welche Gegenstände am besten geeignet sind und welche Blätter und Kräuter gegen Husten oder andere Krankheiten benutzt werden können. Wissen, das über die Jahrzehnte in den Köpfen der Menschen verloren ging und jetzt nur noch in Büchern oder in Enzyklopädien abgespeichert ist.
Überhaupt war ich oft mit meinen Großeltern zusammen, da mein Vater berufstätig und meine Mutter schon früh verstorben war. Die Beerdigung meiner Mutter ist mir lediglich als schwarzweiß Erinnerung im Kopf geblieben. Die hageren, in schwarz gekleideten Männer und die mit wuchtigen Röcken ausstaffierten Frauen, die teils merkwürdige Kopfbedeckungen trugen und welche mir in dieser Kulisse sonderbar hervorstachen. Und ich musste weinen, weil auch mein Vater weinte, der mich an der Hand hielt. Auch viele der Frauen weinten und so habe ich nur ein verschwommenes Bild von dem mit Blumen bestückten Sarg, in welchem meine Mutter liegen sollte und der in das tiefe, dunkele Loch in der Erde hinabgelassen wurde. Meine Schwestern waren noch zu klein und blieben zu Hause. Daran kann ich mich auch erinnern.
Meine Mutter ist in Gestalt einer Taube zum Himmel geflogen und wurde ein Engel, der mich auf allen Wegen begleiten würde. So erklärte und glaubte es meine Großmutter und vorsorglich wurde ein Bild mit einem Schutzengel über meinem Bett aufgehangen. Ich habe noch heute das Bild von einem leuchtend weißen Engel, einer erhaben aussehenden Frau, mit blonden, lockigen Haaren und großen, mit Federn bestückten Flügeln, die ihre Hände schützend über ein Geschwisterpaar hält, das über eine beschädigte Holzbrücke läuft. Meine Großmutter war eine sehr gläubige Frau und kümmerte sich um mein Seelenheil.
Meine Großeltern und Eltern lebten in dieser Zeit, in der Zeit meiner Kindheit, gemeinsam in einem Haus. Ganz oben, unter dem Dach, wohnte überdies ein jüngeres Paar, ein Mann und eine Frau, die wegen des Krieges aus einem der östlichen Länder flüchten mussten und noch keine eigene Wohnung oder ein Haus gefunden hatten. Ich kann mich aber an den großgewachsenen, hageren Mann erinnern, an sein überfreundliches Lächeln und seine schwarzen, langen, mit einem Seitenscheitel gekämmten Haare erinnern, weil wir öfters kleine Geschäfte getätigt hatten. Der Untermieter oder Obermieter war ein Meister der Papierfaltkunst und fertigte kleine, bunt bemalte Papiertiere an. Löwen, Tiger, Zebras, Elefanten und Giraffen und allerlei verschiedene Zootiere konnte ich dann mein Eigen nennen, wofür er nur ein paar Pfennige, einige Gläser eingemachte Marmelade oder ab und zu etwas geräucherte Wurst bekam, die ich heimlich aus der Vorratskammer stibitzte. In der Etage unter der Dachwohnung waren die Schlafzimmer der Eltern und Großeltern, sowie ein kleines Kinderzimmer, in welchem meine beiden Schwestern schliefen. Mein Schlafzimmer war ein schmales, kleines Hinterzimmer, das am Ende der Schlafkammer meiner Großeltern lag. Meine Stube betrat ich tatsächlich nur zum Schlafen. Mit diesem Zimmer verbinden mich Erinnerungen an die Gebete mit meiner Großmutter und an einen Wandteppich, zur rechten Seite meines Bettes, bestickt mit einem dunklen Wald aus Tannenbäumen und einem Hirschen, den ich jeden Abend vor dem Einschlafen beobachtete. Den Tag über war ich draußen auf dem Hof, der Scheune oder in der Natur, den Wiesen und Wäldern und spielte Räuber und Gendarm oder Indianer, war mit Großvater auf den Feldern oder ich saß mit den Nachbarkindern an Regentagen im Esszimmer, wo wir am Küchentisch mit Buntstiften und Wachsmalstiften Bilder ausmalten oder mit Knete Tiere modellierten.
Im Badezimmer stand ein hoher, grüner Metallzylinder, der Warmwasserkessel, der jeden Samstag mit Holz aufgeheizt wurde und wir Kinder als erste in der Badewanne baden durften. Die Küche, mit einem wuchtigen, eisernen Herd ausgestattet, war durch ein Wand vom Esszimmer getrennt und lag, wie das Bad, im Erdgeschoss, genauso wie das Wohnzimmer, das aber selten benutzt wurde. Nur an Weihnachten oder wenn ein besonderer Gast kam oder ein runder Geburtstag gefeiert wurde, war die gute Stube in Benutzung. Der
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Bildmaterialien: E. L. Becker
Tag der Veröffentlichung: 20.06.2022
ISBN: 978-3-7554-1596-1
Alle Rechte vorbehalten