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Prolog

 

 

Liebe hat viele Facetten der Zuneigung. Die Liebe der Mutter zu ihrem Kind. Die Liebe des Vaters zu seinem Sohn, zu seiner Tochter. Die Liebe der Großeltern zu ihren Enkelkindern. Manche Menschen lieben ihren Beruf oder ein Hobby und gehen völlig in diesen auf. Aber können diese Gefühle so ursprünglich sein, wie die Liebe zwischen zwei Menschen? Mit der Geburt brauchen wir die Liebe der Mutter, brauchen wir die Hingabe der Eltern, die uns in unserer Kindheit begleiten, brauchen wir die Zuwendung und Aufmerksamkeit, die in unserer Jugend das Wohlwollen bestimmen. Hat diese Fürsorge dieselben Ursprünge, speist sie sich aus der gleichen Quelle der Emotionen, wie die Liebe einer Frau zu einem Mann oder die Liebe eines Mannes zu einer Frau? Die Liebe begleitet uns unser ganzes Leben. Mal ist sie unbewusst und geheimnisvoll, mal ist sie schwärmerisch, ungestüm und voller Leidenschaft. Für viele ist die Liebe das Glück des Lebens, der Rausch, der nie verfliegen sollte. Doch einige treibt die Liebe auch in den Wahnsinn, treibt sie zur Verzweiflung und manchmal in den eigenen Tod. Im Namen der Liebe, - Gott und die Gerichte stehen uns bei -, sind wir selbst im Stande zu töten.

 

Pierre Dernière, ein junger Mann aus der Normandie, durchlebt dieses Spiel der Liebe, das ihm im Garten der Liebe und der Sinne in Gestalt einer jungen Schönheit begegnet. Das Spiel der Liebe, welches ihn in Ekstase und Verzückung versetzt und das ihn am Ende verzweifeln und morden lässt. Ich habe seine Geschichte aufgeschrieben, so gut sie mir in Erinnerung ist. Aber Sie alle kennen dieses Spiel der Leidenschaft, der Intimität. Sie kennen die Schicksale, die Kümmernisse und die herzzerreißenden Dramen. Wir leiden mit ihnen mit, denn wir alle kennen die Natur der Liebe.

 

Es ist die Intensität der Zuneigung, welche diese Lieben bestimmt. Die Intensität der Zärtlichkeit, der Verbundenheit, der Leidenschaft. Es ist die Herzenswärme, die Innigkeit oder der Zauber, der Rausch, der unsere Liebe beflügelt. Es sind die Instinkte, die Triebe, es sind die Gefühle, die uns dirigieren. Es sind die Hormone, die unsere Liebe bewirken. Es ist alles nur Chemie.

 

 

 

 

 

 

 

Das Spiel der Liebe

 

 

 

„Es ist doch gewiss, daß in der Welt den Menschen

nichts notwendig macht als die Liebe.“

 

J. W. Goethe aus "Die Leiden des jungen Werther"

 

 

 

 

 Le jeu de l'amour

 

 

 

Die letzten Weihnachtsfeiertage verbrachten wir nun öfters bei Charlottes Eltern, das heißt bei ihrer Mutter in dem kleinen Fischerdorf an der Normannischen Küste. Charlottes Vater war vor einigen Jahren verstorben. Es ist nur ein kleines Dorf oder Städtchen, das sich hier in einem Einschnitt der Küste vor den im Winter oft harschen Winden des Atlantiks versteckt. Viele der Häuser sind um diese Zeit unbewohnt, da die wohlhabenden Pariser Hausherren die lebhaften Feiertage lieber in ihrer vertrauten Gegend in Paris verbringen. Wenn der Ozean nicht wäre und die Küste mit ihren berühmten Kreidefelsen, könnte man fast von einer Tristesse sprechen, zumal alle Hotels geschlossen sind. Nur wenige Touristen oder Gäste wie wir, schlendern durch die Gassen und an der Strandpromenade entlang, und allein ein verrufenes Bistro und das eine örtliche, nicht sehr große, aber sehr bekannte Restaurant hat am Weihnachts- und Silvesterabend geöffnet. Allerdings ist das feine Nobelrestaurant schon etliche Wochen, wenn nicht sogar Monate, vor den Feiertagen ausgebucht. Aber Charlotte und ich lieben diese Einsamkeit, diese Zurückgezogenheit, der Welt entfremdet zu sein. Wir lieben es am steinigen Strand langsam den weißgebänderten, felsigen Klippen entgegenzugehen, nach ausgefallenen Steinen zu forschen, Strandgut zu untersuchen und die salzige Luft zu atmen. Der Wind gerbt unsere Gesichter und Charlottes lange, noch dunklen Haare, die unter der selbstgestrickten, bunten Wollmütze hervor schauen, wirbeln in den stürmischen Böen. Wenn die Sonne ihre Strahlen kurzzeitig durch die Wolkendecke streckt, erscheint mir Charlotte wie eine feurige, abenteuerlustige Seeräuberbraut in den Sonnenstrahlen. Eine Braut, in die ich mich sofort wieder verlieben könnte. Hugo, der Bernhardiner Rüde meiner Schwiegermutter, begleitet uns bei all den Spaziergängen, auch den steilen Weg hoch auf die Klippen, den er trotz seines Alters noch spielerisch meistert. Größtenteils laufen wir abgeschieden entlang eines schmalen, ausgetretenen Pfades, der von windgepeitschten Büschen beschützt wird, die auf der Felskante hoch oben Fuß gefasst hatten. Durch die Lücken der Büsche erhaschen wir einen Blick auf das graue, aufgewühlte, unendliche Meer, und wie am Ende der Welt komme ich mir manchmal vor, wir ganz allein an der Abbruchkante des Festlandes zum Ozean, an der Abbruchkante des Lebens.

 

Und wie gut es tut, wie angenehm die menschenleere Stille oder die Ruhe zu genießen, nach all der Geschäftigkeit in der Stadt, nach den turbulenten Vorfeiertagen, an dem alle noch schnell nach einem Weihnachtsgeschenk suchen und die Läden und Fußgängerpassagen bevölkern. Zum Glück für uns, denn unsere Buchhandlung macht in dieser Zeit ihre größten Umsätze. Charlotte und ich besitzen in Wetzlar, einer hessischen Kreisstadt an der Lahn, eine kleine, aber feine Buchhandlung, wie man sagt. Keine einfache Sache in Zeiten der dominanten Buchladenketten und dem Onlinehandel. Aber wir haben es geschafft. Immerhin schon mehr als drei Jahrzehnte leben wir unsere Idee eines selbstbestimmten Lebens, haben unsere Wunschträume verwirklicht und zwei Kinder groß gezogen. Sebastian und Nikola sind jetzt beide selbst erwachsen und Nikola hat schon eine Tochter. Keine einfachen Zeiten, - manchmal, - mit Sicherheit. Dennoch, wenn ich zurückblicke, glückliche Zeiten, Momente, Sekunden, Minuten, Stunden, Tage und Wochen, jede mit Leben erfüllt und bewegt.

 

Und nun wollen wir uns hier in der Normandie niederlassen! Charlottes betagte Mutter besitzt ein größeres Haus am zentralen Platz, in optimaler Lage. Charlotte möchte das Haus in eine Pension umwandeln, das heißt eigentlich nur die beiden früheren Kinderzimmer im ersten Stock. Aber natürlich soll auch die Küche als gemeinsames Esszimmer und der Salon und das Studierzimmer ihres verstorbenen Vaters so ausgebaut werden, dass wir ein paar Gäste willkommen heißen können. Auf diese Weise müsste es uns gelingen, unsere schmalen Ruhegehälter aufzubessern, und wir können gleichzeitig auf ihre Mutter achtgeben, die zwar noch sehr rüstig ist, aber sich nichts sehnlicher wünscht, als dass ihre Tochter zurück kommt, die Familie mitbringt und das Haus mit Leben füllt. Auch die Feriengäste sollen das Haus beleben, sollen unser Dasein interessanter machen und unsere Lebensgefühle bereichern. Wie oft hatten wir schon selbst in Bed and Breakfast Unterkünften interessante Menschen kennengelernt und langjährige Freundschaften geschlossen.

 

Ich hatte Charlotte während des Studiums in Marburg kennengelernt. Sie belegte mit mir das Seminar über zeitgenössische Literatur. Wie verloren sie da saß zwischen Roth, Handke und Hermann, Grass und Walser, mit ihrem selbstgestrickten, kuscheligen, viel zu großen Pullover. Sie, die von Goethe gefesselt war, den Faust bewunderte und den jungen Werther anhimmelte. Sie liebte die Romantik, die von Gefühl und Phantasie geleiteten Geschichten und Gedichte. Wenn sie eines der romantischen Gedichte in ihrem französischen Akzent aufsagte, war ich selbst in der Kammer des Amtmannes und unsterblich verliebt. Vielleicht war diese Zuneigung zu ihrer Namensgeberin mit ein Grund in meine Heimatstadt Wetzlar zu kommen, so war sie den Geistern des Werther näher verbunden. Im Gegensatz zum Werther war unsere Liebe frei von allen Widerständen, bis auf die Tatsache, dass ich aus Deutschland kam. Einige der deutschen Bunker aus dem zweiten Weltkrieg waren noch allgegenwärtig an der normannischen Küste und hielten die Ressentiments am Leben. Auch wenn der Zahn der Zeit und die Erosionen so manchen dieser Bunker schon ins Meer versinken ließ, wenn die Touristen aus Deutschland Devisen brachten und der europäische Gedanke bekräftigt wurde, die feindseligen Geschichten hielten sich am Leben. Aber unser Glück und natürlich vor allem Charlottes Herzensfreuden konnten diese Schwierigkeit im Laufe der Zeit mit Leichtigkeit meistern, denn dieses Glück strahlte auch auf Charlottes Eltern und Familie über.

 

Wie die Liebe doch unser Verhalten und Handeln ändern kann, wie sie Frieden stiften kann, wie die Liebe den einen in den Tod treiben kann und den anderen ins Wolkenkuckucksland.

 

Es war am letzten Tag des Jahres, als ich mit Hugo am späten Nachmittag noch einmal durch das Wäldchen hinter dem Haus in Richtung Meer und entlang der Promenade ging. Charlotte blieb zuhause und half bei den Vorbereitungen in der Küche. Es wurde schon langsam düster und ich schaute vom Strandweg über die ausgewaschenen Kieselsteine auf den grauen, verhangenen Himmel und das grünlich aufgewühlte Meer, in welchem nur die kurzen Wellen abwechselnde, weiße Schaumkronen erzeugten, die das Grau des Bildes unterbrachen. Mir war melancholisch zu Mute und in Gedanken war ich auf den Umzug, die Renovierungsarbeiten und die kommenden Veränderungen gestimmt, sodass mir der in einem graugrünen, abgenutzten Parka auf der Parkbank sitzende Mann erst auffiel, als dieser sich räusperte und mehrfach gellend hustete. Er hatte die Kapuze weit über den Kopf gezogen und nur ein paar verklebte Haarsträhnen und ein zerzauster Bart waren zu sehen. Ich beobachtete ihn abwartend eine Weile und empfand Mitleid, denn zu erbärmlich klang der wiederkehrende Husten, zu offensichtlich saß hier ein verarmtes Strandgut unserer Gesellschaft, zu spürbar war der von Alkohol und Kälte gezeichnete, gekrümmte Körper, der sich jetzt dem Wind entgegen kauerte. Ich nahm Hugo an meine Seite und ging die wenigen Schritte hinüber um zu fragen, ob er wohl der Hilfe bedurfte, ich ihm irgendwie helfen konnte? Er schaute mit brennenden, feuchten Augen und einem Lächeln auf Hugo und dann auf mich und fragte, ob ich ihm vielleicht etwas Geld geben könnte. Diese Form der Hilfe ist mir sehr verpönt, sodass ich ihm den Vorschlag machte, mit mir einen Tee oder Kaffee im nahegelegenen, immerhin warmen Bistro zu trinken. Und so lernte ich Pierre kennen. Der mitleiderregende, mittellose Pierre, ein noch relativ junger Mann, mit einer alten Seemannsmütze, dem abgetragenen Mantel, den ausgewaschenen Jeans und den viel zu schweren Stiefeln. Pierre, der mir dann seine Geschichte erzählte, die ich in meinem Gedächtnis verwahrt habe und die ich, sofern mir die Erinnerungen helfen, hier vorlege. Die Geschichte einer Liebe, einer Leidenschaft, eines Dramas, aufgeführt im Garten der Liebe und der Sinne. Pierre, der sich zum Trost einen Schuss Rum für seinen Tee erbat, von welchen er noch weitere trinken würde. Der mir seine Geschichte erzählte und ich die Zeit vergaß, den Tag und den Ort und meine Verabredungen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Pierres Geschichte

 

 

 

 

„Mein Vater, Mon Seigneur, mon père, starb an einen Herzinfarkt. Während er auf ihr lag! Auf der Frau! La femme! L`amant, auf der Geliebten! Im Wald! Mit runter gelassener Hose! Imagine ça, stellen Sie sich das vor! La femme a crié, die Frau hatte geschrien und hatte ihre Mühe, den schweren Körper zur Seite zu schieben. La situation s'est aggravée, la situation eskalierte, - und,  - und sie rief die Polizei und der Notarzt, le docteur und der Rettungswagen kamen. Das blieb nicht unbeobachtet, nicht unbemerkt. Les habitants, die Bewohner unseres Städtchens waren exaltiert und über Wochen gab es kein anderes Gesprächsthema! Meine Mutter, ma mère, ma Maman, voller Wehmut und Scham, retirée, sie zog sich noch häufiger in ihr Heim zurück, das sie schon vorher immer weniger verlassen hatte. Zu oft war der Vater fremd gegangen, zu oft wurde sie mit Mitleid bedacht oder mit Dumpfheit belächelt. Le jardinier de l’amour nannten ihn die, die ihn kannten anspielend. Den Gärtner der Liebe. Mon Papa, Jaques Dernière, der eine Gärtnerei, une pépinière, einen Garten, un jardin, nur einige Kilometer von hier im Landesinneren besaß.“

 

Wir hatten das Lokal betreten und an einem Tisch am Fenster Platz genommen. Die Jacken hatten wir über die Stuhllehnen aufgehangen und Hugo lag zufrieden neben dem Tisch. Ich hatte für mich ein Glas Rotwein und für Pierre einen schwarzen Tee bestellt, den er mit einem Schuss Rum anreichern ließ. Er war offensichtlich nicht zum ersten Mal in dem Bistro. Die Blicke zum Wirt, sein ganzes Benehmen oder seine Art sich auszubreiten, ließen darauf schließen, dass er sich hier wohl fühlte und die Situation genoss. Ohne Umschweife begann er über seinen Vater zu erzählen, hielt dabei die Hände um das Glas Tee oder gestikulierte mit ihnen vor seinem Gesicht und schaute mir dabei abschätzend in die Augen.

 

„Pierre, hörst du mir überhaupt zu? Wo bist du wieder mit deinen Gedanken?!“

„Was ist Maman?“

„Ich fahre zur Stadt einkaufen. Hast du noch Wünsche? Fällt dir etwas ein, das wir benötigen?“

„Nein Danke. Ich habe alles was ich brauche.“

„Wenn dir etwas einfällt, du kannst mich ja anrufen. D`accord, ich fahr dann mal los. Vergiss nicht die Parzelle für die neue Kompostinsel zu jäten und die neue Außenanlage muss auch vorbereitet werden. Da gibt es noch viel Gestrüpp, das zurückgeschnitten werden muss. Und in der Küche sind noch die Reste von gestern Abend. Bis bald. Salut,“ sagte Maman.

„Maman hatte keine Ahnung davon, wie oft ich damals an Papa dachte. Die Arbeit im Garten, die Pflege der Beete, das Harken und Säubern der Wege. Ich hatte dann viel Zeit über ihn und seine Eskapaden nachzudenken. Ich war damals sechzehn Jahre alt als Papa starb, das ist jetzt zwanzig Jahre her. Vielleicht hatte ihn die Politik, das Amt zu sehr aufgerieben, mon père war Bürgermeister unseres kleinen Städtchens. Vielleicht waren die Dispute und Dekrete zu bitter, nahm er sich die ein oder andere Entscheidung zu sehr zu Herzen, le coeur. Infarctus du coeur. Voilà, Sie verstehen? Mit der Sprache, mit den Worten sprechen wir aus, was mit unserem Körper oder mit unseren Gefühlen passiert, was Empfindungen in unserem Körper bewirken können. Mon cœur s'ouvre à toi, c'est comme ça.“

 

„Höchstwahrscheinlich waren es die vielen Geschäftsessen, die Treffen mit Antragstellern, mit Bittstellern, mit seinen Parteigenossen, die fast immer mit Wein und Pastis verbunden waren, bei denen immer reichlich getrunken wurde, wie nach den Ratssitzungen. Vielleicht war es auch die Doppelbelastung von Geschäft und Politik oder seine Neigung das Leben voll auszukosten, jede Rose zu pflücken und jede Feier zu begießen. Als er starb, hinterließ er mir ein schweres Erbe und ich begann mir darüber Gedanken zu machen.“

 

„Ich hatte zuvor nicht die leiseste Ahnung von dem, was in Mamans und Papas Leben vorging. Ich hatte meine eigenen Liebesabenteuerträume. Ich war verliebt in Mariann, der Tochter des Metzgers, der Boucherie. Wenn ich sie abends im Laden durch die große Fensterscheibe arbeiten sah, wenn ich sie heimlich beobachtete, wie sie sich freudig engagiert um die Kunden kümmerte und die Waren aus der Auslage holte, wie sie sich vorbeugte, den Kopf nach oben gestreckt, mit einem Lächeln und den strahlenden Augen charmante Worte an die Frau des Lehrers richtete, wenn sich etwas mehr mädchenhafte Haut am Dekolleté zeigte, sich die Schürze und die Bluse leicht zur Seite schoben und nur der Hauch einer Wölbung, nur der leichte Schatten einer tiefergehenden Furche zu erahnen war, explodierten in mir die Glücksgefühle. Dann schwebte ich träumerisch durch die gelblich beleuchteten Gassen, entlang der Alleen und Wege über das Feld zurück zu unserer Gärtnerei. Dann hatte ich nur ihr Gesicht vor Augen, das sich mit dem Licht des Mondes und dem Funkeln der Sternen in eine unbeschreiblich glückliche Illustration, in ein Gemälde verwandelte, welches mich selig schwärmend, weltentrückt in den Schlaf wiegte.“

 

„Mariann war eine Klassenkameradin von mir. Ich habe ihr nie meine Liebe gestanden, aber ich denke schon, dass sie es erahnte. Nein, ich weiß sie wusste es! In den Schulstunden trafen sich oft unsere Blicke und in ihrer Mimik konnte ich meine reflektierten, unverblümt neugierig, verliebten Signale wiedererkennen, die ich ihr unbescholten zusandte. Die Blicke waren ihr extrem peinlich, sie schaute dann trotzig zur Seite oder begann eine ablenkende Konversation mit ihrer Tischnachbarin. Ich wusste es schmeichelte ihr, wie all den anderen Mädchen, denen ich schöne Blicke zugeworfen habe, aber sie war nicht in mich verliebt. Sie hatte einen älteren Freund am Gymnasium, der sie ab und zu mit seinem Moped an unserer Schule abholte. Meine  Avancen nahm sie nicht seriös und voller Stolz und mit einem abweisenden Lächeln setzte sie dann den Helm auf und stieg auf das Moped ihres Freundes. Es gab allerdings eine Episode, eine kleine Affäre, die mir als jugendliches, delikates Abenteuer in befremdender Erinnerung ist.“

 

„Vielleicht dachte ich in dieser Zeit, in diesen bewegten Tagen und Wochen auch öfters an Papa, weil Julie in unser Haus gezogen war. Julie, unsere erste weibliche Mitarbeiterin. Julie aus Paris oder doch aus der Nähe von Paris. Die faszinierende Julie, meine betörende Julie, die fünf Jahre jünger war als ich, die mich verwandelte, mich verzauberte, die eine neue Welt für mich öffnete, ich die Welt mit anderen Augen sah oder nur noch sie sah als strahlender Stern, als das Wunder in unserem Garten.“

 

„Ihre Anwesenheit in unserem Garten der Liebe und der Sinne entfachte einen ganzen Kosmos absonderlicher Gedanken. Zum einen waren da die höchst befremdlichen Erinnerungen, die sich in einen Dschungel verworrener Bilder, Assoziationen und Reflexionen aufbauten. Frivole Gedankengebilde, anstößige, schamlose Obszönitäten, die meinen Vater betrafen, die mich in moralische Zweifel stürzten. So sehr hatte die Geschichte meines Vaters mein eigenes Handeln und Denken beeinflusst. Ich hatte das Gefühl oder hatte die Gedanken, ich, der Sohn, müsste seine Verantwortung tragen, müsste mich für sein Verhalten und seine Fehltritte entschuldigen. Es war ein Dilemma, eine Verlegenheit, weil auch ich den Zauber ihrer Anwesenheit spürte, weil auch Julie mich ansog, wie die Motten das Licht, wie es in einem Ihrer bekannten Lieder heißt. In meinen Gedanken erblühten Fantasien, die sich der Realität entzogen und die doch möglich waren. - Mon Seigneur -, glauben Sie mir, ich war oft nicht mehr Herr meiner eigenen Gedanken und Gefühle, zu sehr war die Geschichte meines Vaters eine Last, die auf mich drückte, die wie ein moralisches Schwert über mir hing. Auf der anderen Seite der Gedankenwelt, in diesem Makrokosmos der Gefühle, war ebenso die natürliche Liebe, war der Zauber der Liebe, die Verliebtheit, die wohl jeder Mensch schon einmal verspürt hat. In mir war das Verlangen, war die Sehnsucht nach Nähe, in mir war das ewige Glück, kämpften in mir diese Emotionen, kämpften und gewannen die Oberhand. Das Gefühl der Liebe ist doch stärker als alle Schuldgefühle, - was sage ich Mon Seigneur -, die Liebe ist die Stärkste aller Erregungen. Diese Liebe, diese Leidenschaft erwachte in mir und lebte in mir in voller Reinheit. Und doch, wenn ich jetzt ehrlich bin, weckte sie in mir gewiss auch das bekannte, alltägliche Verlangen. Das Verlangen, die Gelüste oder Triebe, die schon in uns sind, bevor wir noch geboren werden. Das Verlangen, das auch meinen Vater antrieb, die Begierde, der ich mich beherzt entgegen stellen wollte. Die dichterische Liebe, sie lebt nur in unserer Fantasie, so wie die Fantasie die Wege göttlicher und körperlicher Liebe entfaltet. Julie wurde meine Göttin, sie wurde mein ein und alles und mit ihr wollte ich verschmelzen, mit ihr wollte ich eins sein, das war mir angeboren. Wie sonst sollten diese Bilder in meinen Kopf gelangen?“

 

Pierre trank eine kräftigen Schluck aus seinem Teeglas. Ich bemerkte, dass er durstig geworden war. Er hielt das Glas noch einige Zeit in der Hand und schaute gedankenverloren in den Raum. Seine Augen hatten einen Glanz. Ein spielerisches Lächeln formte sich um seinen Mund. Wenn ich diesen Blick richtig deuten konnte, wenn mir meine Gefühle seine Gedanken in diesem Moment zutreffend wieder gaben, sah ich etwas Seherisches in seinen Augen, eine Weisheit in seinem Blick. Er führte erneut das Teeglas mit Rum zu seinen Lippen, verweilte und trank das Glas leer. Er schloss die Augen und ein paar Falten zogen sich über seine Stirn. Er öffnete die Augen und sah hinaus aus dem Fenster. Das Meer war nur noch zu erahnen. Im Licht der Laternen sah ich die Wellen an das Ufer rollen. Die immerwährenden Kräfte des Bestehens. Wie

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Cover: Ernst Ludwig Becker
Tag der Veröffentlichung: 08.06.2021
ISBN: 978-3-7487-8513-2

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