Viele Menschen fügen sich selbst durch ungesunde Ernährung oder abträgliches Verhalten einen großen Schaden zu. Einsparungen im Gesundheitsbereich oder Sozialkürzungen benachteiligen die Hilfsbedürftigsten und Schwachen in unserer Gesellschaft. Ist es nicht vernünftiger, in Bildung anstatt in Waffen zu investieren? Wäre es nicht vernünftiger, das Bevölkerungswachstum zu regulieren, um die globalen Probleme der Umweltverschmutzung, der Ressourcenverschwendung oder des Energieverbrauchs zu beheben und der damit verbundenen Klimaerwärmung?
Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Wesen. Warum lebt er nicht vernünftig? Warum schädigt er sich und fügt seinen Mitmenschen Schaden zu und bringt sogar das ganze globale Ökosystem in Gefahr?
Sebastian Waindinger, ein pensionierter Biologielehrer aus Frankfurt, ein politisch engagierter Mensch, macht sich seine Gedanken darüber. Er sieht das biologische Gleichgewicht unseres Planeten in Schieflage durch die Art, wie die Menschen wirtschaften, wie sie die Ressourcen verschwenden und dass sie naturwidrig lange leben und sich maßlos vermehren.
Ernst Ludwig Becker, geb. 1957, studierte Biologe in Marburg, Darmstadt und in den USA. Er arbeitete in verschiedenen Berufsfeldern und engagierte sich in ökologischen Projekten im Ausland. Heute schreibt er Bücher und unterrichtet in Teilzeit an einer Grundschule. Mit den Kindern erforscht er ihre Umwelt und die Natur. Dabei fanden sie auch schon erloschene Reste von Sternschnuppen und waren bei einer der Exkursionen ganz in der Nähe des Nordpols. So nebenbei führt er sie auch behutsam in das digitale Zeitalter ein und stellt fest, dass er da noch viel von ihnen lernen kann.
Nichts Vorzüglicheres können sich die Menschen zur Erhaltung ihres Seins wünschen, als daß alle in allem dermaßen miteinander übereinstimmen, daß gleichsam alle Geister und Körper einen Geist und einen Körper bilden und alle zumal für sich suchen, was allen gemeinschaftlich nützlich ist. Hieraus folgt, daß Menschen, die sich von der Vernunft regieren lassen, nichts für sich verlangen, was sie nicht auch für andere Menschen begehren, und also, daß sie gerecht, treu und ehrenhaft sind.
Baruch de Spinoza (1632-1677)
Im Widerspruch zur eigenen Vernunft zu leben, ist der unerträglichste aller Zustände.
Leo Tolstoi (1828 bis 1910)
Für Kolja
Im Dezember 2015, es war auf der Weihnachtsfeier des Schulkollegiums, hatte ich das erste längere Gespräch mit Sebastian Waindinger, der als pensionierter Biologielehrer eine Arbeitsgemeinschaft zum Thema Umwelt und Naturschutz an unserer Schule anbot. Ich kann mich an das Jahr so genau erinnern, weil wir uns auch über die Flüchtlingswelle und die deutsche Willkommenskultur unterhielten und Herr Waindinger meinte, dass er sich zum ersten Mal vorstellen könnte, bei der nächsten Bundestagswahl die CDU zu wählen. Das gab er mit einem bübischen Lächeln kund, das keiner ernsthaften Nachfrage bedurfte. Er, der immer Links gewählt hatte, war überschwänglich des Lobes für Frau Merkels Entscheidung die Grenzen zu öffnen und die Flüchtlinge nach Deutschland zu lassen. Gut, wir stellten dann gemeinsam fest, dass die Grenzen eigentlich schon vorher offen waren, jedenfalls für alle europäischen Mitbürger. Seine Lobpreisungen konnte ich in gewisser Weise nachvollziehen. Auch wenn Frau Merkel ein rotes Tuch und gefundenes Fressen für viele Kabarettisten und ihre wiederkehrenden Auftritte war, die ihre alternativlose, einschläfernde und aussitzende Politik zu Recht kritisierten, war sie im Vergleich zu manchem anderen europäischen oder außereuropäischen Landesoberhaupt eher das kleinere Übel für dieses Land.
- „Sag einfach Sebastian zu mir,“ unterbrach mich Sebastian in meinen Ausführungen, - „jedes Mal, wenn du Herr Waindinger sagst, werde ich ein Jahr älter,“ - schmunzelte er mich an.
Ja, wenn man bedenkt, wie das früher in der europäischen Geschichte gehandhabt wurde, dass die Grenzen geschlossen waren und bewacht wurden, dass die Fahrzeuge und Menschen an den Grenzübergängen kontrolliert wurden und man auf bestimmte Waren Zölle erhoben hatte, dass man teils nur mit einem Reisepass oder einem Visum in manche Länder einreisen konnte, dann hatte sich die Situation doch greifbar verbessert, resümierte er weiter, und dass man für jedes Land vorplanen musste, welche Währung man brauchte und dann überlegte, tausche ich das Geld bei der Bank oder an der Grenze oder wo bekomme ich den besten Umtauschkurs. Da war der Sachverhalt doch jetzt erheblich einfacher, viel liberaler oder freizügiger.
Jedenfalls hat man den Flüchtlingen die Grenze nicht vor der Nase zugemacht, wie dies in der Geschichte schon öfters der Fall gewesen war und weshalb viele Menschen dem Krieg zum Opfer fielen, obwohl sie schon kurz vor der rettenden Einreise oder Ausreise waren. Jetzt waren es die Deutschen, jetzt war es Deutschland, das Land der Dichter und Denker, der Wissenschaftler und Ingenieure, der Kriegsverbrecher, die aus ihrer eigenen Geschichte gelernt hatten, jetzt haben sie die Flüchtlinge willkommen geheißen, haben sie aufgenommen und ihnen Schutz gewährt. „Wir schaffen das!“, sagte Frau Merkel in Anlehnung an die berühmten Worte des US-Präsidenten Barack Obama, „Yes, we can!“
- „Ja, dieses Jahr ist tatsächlich eine neue Erfahrung für uns und überhaupt für die internationale Presse, die von einer Sternstunde der deutschen Humanität schreibt.“
- „Ich sehe noch die Bilder von Menschen in der Zeitung, die die Flüchtlinge am Bahnhof freundlich begrüßen, ihnen Getränke geben und Kleider oder Spielsachen für die Kinder. Menschen die Schilder hochhalten mit „Refugees welcome“ darauf geschrieben. Da wurden Turnhallen zu Notaufnahmelagern umfunktioniert und viele Ehrenamtliche halfen bei der Versorgung mit Nahrung, Kleidern oder unterrichteten Deutsch. Das hat mich schon ganz schön bewegt. So ähnlich ging es mir mit dem Erlebnis, als die deutsch-deutsche Grenze geöffnet wurde, als ich die Bilder von Menschen aus dem Osten und Westen Deutschlands sah, die sich umarmten und gemeinsam auf der Mauer saßen.“
- „Und nicht zu vergessen die Fußballweltmeisterschaft 2006. Das waren doch auch wunderbare Bilder. Die Zeitungen nannten es ein Sommermärchen. Die Spiele standen unter dem Motto: „Die Welt zu Gast in Deutschland.“ Da staunte auch das Ausland. Fähnchen schwingend feierten die Deutschen euphorisch, ausgelassen und vor allem friedlich mit all den unterschiedlichen Menschen aus allen Herrenländern, egal welche Hautfarbe oder Religion. So stell ich mir die Zukunft vor. So stell ich mir die Welt vor. Aber was passiert jetzt? Die Nationalisten, ich hätte fast die Nationalsozialisten gesagt, marschieren wieder auf. Oder denk mal an die Übergriffe in den Flüchtlingsheimen. Das wird in tausend Jahren noch nichts. Wenn es da überhaupt noch eine Menschheit gibt.“
Sebastian hatte früher immer die Sozialdemokraten gewählt, bis es dann zum Nato-Doppelbeschluss kam, und dieser ganze Rüstungswettlauf ihm gehörig auf die Nerven ging. Atomraketen in Deutschland stationieren, so etwas kam überhaupt nicht in Frage. Da war doch klar, dass wir dann auf einem Pulverfass sitzen. Und überhaupt diese Rüstungsausgaben! Während andere Menschen hungern oder in Armut leben müssen und wir eigentlich mehr für die Bildung ausgeben sollten. Ab dem Zeitpunkt wurde die neue Partei „Die Grünen,“ gewählt. Sebastian war in seinem Element und redete und redete, dass mir fast schwindlig wurde. Er sprach über die Gründungsjahre der neuen Partei, die Diskussionen an der Hochschule und sein eigenes, politisches Engagement. Wir hatten uns zwar vorher schon ein paar Mal getroffen, aber weil ich erst in diesem Schuljahr an das städtische Gymnasium wechselte und wegen der unterschiedlichen Stundenpläne, das heißt, da er nur nachmittags ein paar Stunden an der Schule war, oder ab und zu auch als Vertretungslehrer aushalf, hatten wir nur wenig Zeit zum Plaudern gehabt. Aber das sollte sich ändern.
Warum schreibe ich diese Zeilen? Warum sitze ich hier und tippe unsere Gespräche, soweit ich mich erinnern kann? Tippe mit einer unsäglichen Wut oder doch vielmehr Frustration oder beides? Ich will seine Geschichte wiedergeben, will über sein Leben berichten, weil sich Sebastian Waindinger vor meinen Augen das Leben genommen hat, er Selbstmord begangen hat, Suizid, freiwillig sein Leben beendet hat, den Freitod gewählt hat oder wie auch immer ich diese unermessliche Tat benennen soll. Ich bin eigentlich noch immer fassungslos, nach all der Zeit, ich kann es einfach noch immer nicht glauben, weil es so absurd für mich ist, so der menschlichen Vernunft widerspricht, weil er so ein engagierter Mensch war, im Ehrenamt und in der Politik, weil er voller Ideen und Kreativität war, der so viel wusste und geschaffen hat, so viele Abenteuer erlebte und lebenslustig war und weil er vor Gesundheit strotzte. Weil er mir ein guter Freund wurde, den nicht nur ich zu schätzen und lieben lernte. Ich schreibe, weil es mir vielleicht nur dadurch gelingt einen Schimmer der Erklärung zu geben, in dem ich diese Gespräche mit ihm rekapituliere, mir noch einmal seine philosophischen Gedanken bewusst mache, seine politischen Äußerungen und vor allem die gewagten, ökologischen Darlegungen über den Zustand unseres Planeten überdenke, seine Beschreibung oder das Bild von einer Menschheit mir vor Augen führe, welches als Krebsgeschwür die Mutter Erde überzieht. Eine Menschheit, die mit ihrem ganzen Wirken und Schaffen den Planeten verändert und das biologische Gleichgewicht in Gefahr bringt, in dem ich seine Bekenntnisse und Befürchtungen aufzeichne, damit ich mit diesem verlorenen Leben, mit dieser Ungeheuerlichkeit zurechtkomme.
Vielleicht, so kam mir der Gedanke, so keimte in mir der Verdacht, hatte er mit unseren Gesprächen genau diesen Plan. Vielleicht hatte er bewusst damit spekuliert, dass ich unsere Treffen, unsere Gespräche später aufzeichnen werde, weil er meine öffentlichen Briefe kannte, ich die ein oder andere Geschichte schon publizierte und ein kleines Buch verfasst hatte, weil er wusste, dass auch ich dieses menschliche Getue, dieses nimmer endende, kriegerische Gebaren, die Gier, den Konsum und das wirtschaftliche Handeln kritisch hinterfrage und mir meine Überlegungen dazu mache. Und im Grunde genommen und in unverzeihlicher Weise, hätte ich durch einige seiner Aussagen dieses Unglück vorhersehen müssen. Seine Infragestellung der Bedeutung und des Verdienstes des menschlichen Lebens auf diesem Planeten, seine Äußerungen und sein Zwiespalt über den Sinn eines langen Daseins oder genauer gesagt, des Lebensabschnittes als verfallender Greis und als gebrechliches Wesen. Hätte ich diese Zeichen, diese Andeutungen ernst genommen, hätte ich seinen inneren, moralischen Konflikt mit ihm teilen und klären können, hätte ich -, ja was hätte ich tun sollen?
Die Weihnachtsfeier ist mir auch deshalb in guter Erinnerung, weil wir in dem italienischen Restaurant vorzügliche bedient wurden und genussvoll diniert hatten. Mit dem südländischen Interieur war es ein sinnliches Vergnügen geworden, sodass wir, Sebastian und ich, mit zwei Grappa und zwei selbst gedrehten Zigaretten auf der Gartenterrasse dem Ganzen noch ein Krönchen aufsetzen wollten. Rauchen war eine seiner Schwächen, wie er mir dann gestand, aber er hatte sehr spät damit angefangen, fügte er fast entschuldigend hinzu.
- „Angefangen mit dem Rauchen habe ich erst so peu à peu während meines Studiums. Mit gemischten Gefühlen sehe ich da heute einige intellektuelle Vorbilder, die bei ihren Fernsehauftritten immer eine Zigarette in der Hand hatten. Ich kann mich noch an die Sendung „Internationaler Frühschoppen“ erinnern, die für meinen Vater zu einem sonntäglichen Ritual wurde, anstatt zum Wirtshaus zu gehen und damals wurde gequarzt ohne Ende. Fünf oder sechs Journalisten aus verschiedenen Ländern haben die weltpolitische Lage diskutiert, was übrigens meine ersten unbewussten Kontakte zur Politik waren, eine Sendung, die mich prägte und die leider auch zeigte, dass Rauchen ganz normal war. Ein gesellschaftliches Muss, wenn du zur intellektuellen Elite dazugehören willst. Die Raucher Ikone Helmut Schmidt ist dir sicherlich noch ein bekanntes Beispiel dafür. Mit den politischen Diskussionen in der Kneipe und nach dem zweiten oder dritten Bier, habe ich mir später dieses Laster auch eingefangen. Erst als Schnorrer nur, aber als die Zigaretten immer teurer wurden, musste ich natürlich mithalten und auch mal einige ausgeben. Seit Jahren kauf ich nun Tabak zum Selbstdrehen, ist halt billiger und so ein Päckchen hält gut zwei Wochen. Zig Jahre lang davor rauchfrei, bis auf die paar Kippen, die wir als Kinder heimlich auf dem Dachboden vom Gasthaus geraucht hatten. Damals wurden auf großen Feiern, wie zum Beispiel einer Hochzeit, Zigaretten für die Gäste in kleinen Schalen auf den Tischen zur Verfügung gestellt. Die haben wir dann stibitzt und sind hoch auf den Dachboden über der Scheune und hatten unser kleines Abenteuer. Und einmal, wirklich nur einmal, haben wir die trockenen Fasern, die oben aus den Maiskolben heraushängen in Papier gewickelt und gepafft, - schauderhaft -, hat aber funktioniert. Die Indianer Mittelamerikas haben ihren Tabak in Maisblätter gerollt, da lagen wir doch gar nicht so falsch,“ - lächelte er unter dem Rauch, den er jetzt in die Luft blies. „Eigentlich unvernünftig, wenn man weiß, was da alles für Chemikalien drin sind. Ich meine, als Biologe und nach vier Semester Chemie sollte ich da schlauer sein. Aber ich sehe das als Genuss, so wie ein Glas guten Grappa oder Whisky. Da kann schon mal die Vernunft ausfallen, wenn die Glückshormone zuschlagen. Und die paar Jahre die ich noch auf dem Planeten bin! Die kriegen wir auch noch rum!“ - lachte und hob das Glas Grappa hoch zum Anstoßen.
Warum ist Rauchen eigentlich oftmals ein Thema bei diesen Betriebsfeiern? Soll das schlechte Gewissen bedient werden? Entschuldigung, dass ich rauche. Ich gehe aber immer vor die Tür. Und nicht vor Kindern und schon gar nicht im Auto. Als Lehrer sowieso nicht. Kein gutes Vorbild. Rauchen ist doch krebserregend, karzinogen. Und dann der Raucherhusten. COPD. Die abstoßenden Bilder auf den Packungen. Schrecklich. Man muss noch nicht einmal lesen können, um zu begreifen das Rauchen gefährlich oder tödlich ist. Aber was nicht unmittelbar zu Schaden führt wird leichthin vernachlässigt und nicht so wahrgenommen.
- „Eigentlich rauche ich nicht, aber wenn ein Abend so gelungen, das Essen so genüsslich ist, dann kann ich auch nicht widerstehen. Und der gute Rotwein, ich meine natürlich der Alkohol, schwächt die Willenskraft, aber natürlich, wie du schon sagst, völlig unvernünftig;“ - erwiderte ich mit einem Anklang von schlechtem Gewissen.
- „Ja, das ist so was mit der Willenskraft. Du kennst doch den Spruch, der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. So geht es uns auch in vielen anderen Fällen. Ich bin da leider keine Ausnahme. Letztes Jahr hatte ich mal drei Monate nicht geraucht. Ich hatte so einen grässlichen Reizhusten und meine Ärztin hat mich gewarnt und mögliche Szenarien und Konsequenzen geschildert, die mir auch ganz schön unter die Haut gingen. Aber nach den drei Monaten ging es mir wieder gut und während ich mit meinen Freunden das letzte Filmfestival organisiert und durchgezogen habe, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen. Ist vielleicht auch so ein Gruppending. Jetzt lege ich schon mal öfters kurze Pausen ein. Vielleicht gelingt mir bald der ganze Verzicht. Ich denke es ist jetzt an der Zeit, wieder ein bisschen aufzuhören.“
- „Wie hört man denn ein bisschen auf?“ fragte ich lachend und genoss den letzten Schluck aus meinem Glas.
Inzwischen waren schon etliche der Kolleginnen und Kollegen gegangen. Am nächsten Tag hieß es auch für mich, bereits früh auf der Matte zu stehen. Sebastian konnte ausschlafen, er war ja Pensionär. Konnte sich die Zeit so einteilen wie er wollte. Geht das überhaupt, die Zeit einteilen? Ein Teil der Zeit zum Schlafen. Ein Teil der Zeit zum Zeitunglesen, jeden Morgen gleich zur ersten Tasse Kaffee. Ein Teil zum Nachdenken oder tut man das nicht ständig? Liest die Artikel über das politische Geschehen und denkt. Wieviel Geld schon wieder für den Flughafen ausgegeben wurde! Die Millionen für Drohnen, die nicht fliegen! Was denken die sich eigentlich? Denkt an die bevorstehende Deutschstunde und ob es jetzt nicht passender wäre über den Klimawandel zu sprechen. Das könnte man gut mit Mathe, Sachunterricht und Gemeinschaftskunde kombinieren. Interdisziplinär. Habe ich noch Zeit für die Einkäufe nach der Schule? Das Pflichtgefühl macht sich bemerkbar, weil noch eine Antwort auf die Mail von Pfarrer Lautenschläger wartet. Wie sehen sie ihre Zukunft in zehn Jahren? Zeit zum Lesen. Das Buch aus der Bücherei muss noch zurück. Die Karte meiner Mutter, ich soll mich bald wieder melden. Was will sie mir eigentlich damit sagen? Pläne für Weihnachten und Silvester. Meine Schwester fragt, wie es mir geht. Ich muss mir die Zeit besser einteilen. Für die Zukunft.
- „Was ist, trinkst du noch einen?“ fragte Sebastian in meine Gedanken.
- „Ne, las mal gut sein. Das geht schlecht aus, wenn ich müde vor der Klasse stehe.“
- „Dann treffen wir uns mal später. Ich lad dich zum Essen ein. Ich bin ein exzellenter Koch.“
Dagegen hatte ich nichts einzuwenden. Gutes Essen in angenehmer Gesellschaft stand bei mir auf einer der ersten Ränge.
- „Ich habe ja deine Adresse auf der Kollegiums Liste. Ich ruf dich an,“ sagte ich.
- „Ach Nonsens, mach es nicht so umständlich. Samstag bei mir. Sieben Uhr.“
Dies war dann das erste unserer regelmäßigen Treffen.
Vor etlichen Jahren, es war in der Zeit von Bundeskanzler Schröder und der Hartz-IV-Gesetze, witzelten wir über den sozialverträglichen Frühtod. Was kann der Sozialstaat noch leisten? Vollkaskomentalität oder was sollte von jedem vernünftigerweise bezahlt werden? Die Eigenverantwortlichkeit jedes Bürgers ist gefragt. Gleichzeitig wurden aber auch Sozialleistungen gekürzt. Die Menschen mussten sich und müssen sich in einem der reichsten Länder der Welt ihre Lebensmittel bei den sogenannten „Tafeln“ besorgen. „Armut Made in Germany.“ Dazu kommen jetzt die geburtenstarken Jahrgänge und viele Menschen werden älter. Gesundheitsreform und Sozialabbau. Die Alterspyramide scheint zu kippen. Zu viele alte Menschen stehen immer weniger jungen Leuten gegenüber. Die Alten müssen Platz machen. Der Generationenvertrag konnte oder kann nicht eingehalten werden. Die Angst vor Hartz IV ging um. Obwohl doch eigentlich genügend Geld vorhanden ist. Es ist halt ungleich verteilt. Wann fing das eigentlich alles an und warum? Waren es nicht Reagan und Thatcher, die das Gesundheitssystem umzukrempeln begannen? Die Privatisierungen vorantrieben? Gebt den Reichen das Geld war die Devise, die stellen dann Leute ein und schaffen neue Arbeitsplätze. Vom freundlichen Faschismus war die Rede. Big Business. Big Government. Globale Konzerne begannen zu sprießen. Das Internet war auf dem Vormarsch. Die mediale Welt veränderte sich. Globale Manipulation im Interesse der Reichen und Mächtigen.
Das waren die ersten Themen, als ich am Samstag bei Sebastian in der Küche stand. Die Schere zwischen Reichen und Armen öffnet sich immer weiter stand am Morgen in der Zeitung, und mit diesem Thema fing unsere Diskussion an. Und wie sich die Welt verändert hatte.
- „Kannst du dich erinnern, am Anfang musste man sich bei der Telekom einwählen, um eine E-Mail zu versenden. Ti-ti-ti-ti-tid, krächzte das Modem und das mehrmals, bis du endlich durchkamst. Und jetzt haben wir das Internet und die sozialen Plattformen. Wann fährt der nächste Zug nach Sonstwohin? Klack, - Smartphone an und schon weißt du es. Wer war 1970 Bundeskanzler? Wo gibt es den nächsten Sushi Laden? Wie komme ich nach Buxtehude? Wie lange hat die Radwerkstatt auf? Zack und schon ist alles klar. Als ich Perry Rhodan las, war das noch Zukunftsmusik. Jetzt hast du dazu auch den ganzen Medienrummel, die Informationsflut und wirst von Werbungen verfolgt. Da muss man schon einen klaren Kopf behalten, um nicht die Übersicht zu verlieren.“
Wir hatten schon eine Flasche Rotwein getrunken, passend zur Musik im Hintergrund. „Time is an empty bottle of wine“, von Wilhelm Breuker, einer seiner Lieblingsgruppen. Sebastian hatte sich für ungarische Sauerkrautknödel entschieden, ein Gericht, das er schon aus Kindheitszeiten kannte. Es ist relativ unkompliziert zuzubereiten. Sauerkraut, so erinnerte er sich, hatten sie früher selbst hergestellt. Seine Großmutter und ein paar andere Frauen aus der Verwandtschaft schnitten das Weißkraut auf hölzernen Gemüsehobeln in Streifen, welches dann in grauen Steinguttöpfen eingestampft wurde. Dabei wurde reichlich Salz auf die einzelnen Schichten gestreut, die abschließend mit einer Holzscheibe abgedeckt und mit einem Basaltstein beschwert wurden, der das ganze Kraut zusammen drückte.
- „Am besten nimmst du Mett und knetest etwa ein Viertel der Masse mit Reis ein. Der Reis muss noch nicht einmal vorgekocht sein, wie es in manchen Rezepten beschrieben wird. Dann musst du halt mehr Wasser dazugeben. Und natürlich Paprikapulver darf nicht fehlen. Ordentlich übers Kraut verteilt. Zwiebelstücke ins Sauerkraut und auch Knoblauch, wenn du das magst. Zuerst legst du eine Schicht Kraut in den Topf, dann die Knödel und das restliche Kraut um die Knödel herum. Und Wasser natürlich.“
Während die Knödel im Topf vor sich hin köchelten, zeigte er mir sein kleines Reich. Sebastian hatte eine Eigentumswohnung in einer verkehrsberuhigten Seitenstraße nicht weit von der U-Bahn-Station und zur Schule, was er als sehr praktisch empfand und sie lag gegenüber einer Grünanlage. Ein Ausblick, den er sehr zu schätzen wusste. Der Altbau hatte den Krieg überstanden, war aber mit seinen drei Meter hohen Wänden schwerer zu beheizen, zumal seine Wohnung im Erdgeschoß direkt über dem Keller lag. Im Winter bildeten sich deswegen schon mehrmals Eisblumen an den einfach verglasten Butzenfenstern im unbeheizten Schlafzimmer. Die Wohnung war aber ein Schnäppchen, wie er berichtete. Als er damals hier an der Schule mit der Arbeit begann, war er nur Mieter. Zum Besichtigungstermin kam er schon eine Stunde früher. Zum Glück, denn bald war hinter ihm eine lange Schlange von Interessenten. Er hatte keine fünf Minuten gebraucht, um sich für die Wohnung zu entscheiden. Merkwürdig war nur, dass die Fenster im Wohnzimmer und Schlafzimmer, jeweils zwei, mit Vorhängen halb zugezogen und verdunkelt waren. Er zahlte sogar dreihundert D-Mark Abstand für die Möbel an die Vormieter, die er dann aber bei hellem Licht besehen, alle auf den Sperrmüll stellen konnte. Nur das rote Regal in der Küche steht noch und einen Ring aus Gold hat er, als Entschädigung sozusagen, hinter der Couch gefunden. Ein kurioses Ritual war auch die Mietübergabe. Die Vermieterin, eine alte Dame, die in einem Ort einige Kilometer nördlich von Frankfurt wohnte, wollte jeden Monat die Miete vorbeigebracht haben. Dabei saß sie hoheitlich lächelnd in ihrem Ohrensessel und beäugte ihn mit unverhohlener Neugierde. Als die alte Dame ein paar Jahre später starb, wollten ihre Kinder das Haus verkaufen. Die Gelegenheit ließen sich die Mietparteien nicht entgehen. Zu dem Kaufpreis kam noch eine erkleckliche
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 10.12.2019
ISBN: 978-3-7487-2335-6
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