Sie blickte auf das Katana, das sie fest umklammert in der Hand hielt. Trotz der Tatsache, dass sie gerade getötet hatte, ging es ihr gut. Zu gut. Es war ihr jedoch unmöglich, sich zu rühren, sie war wohl zu schwer verletzt. Langsam aber sicher ließ sie sich auf die Knie sinken und stützte sich mit den Händen am Boden ab. Ihr Atem war unregelmäßig und schwer. Mit letzter Kraft sah sie sich nach ihm um. Aber außer Leichen konnten ihre Augen nichts erkennen.
Nur ein wenig ausruhen, dann werde ich heimkehren. Und das siegreich. Ihre Arme waren zu schwach, um sie länger zu halten und sie fiel schließlich seitlich zu Boden. Die Welt um sie herum schien stehen geblieben zu sein. Es war still. Totenstill. Und nichts bewegte sich.
Soldaten, Rebellen, alle entweder tot, geflüchtet oder heimgekehrt. Ihr Katana glitt ihr aus der Hand und sie bemerkte erst jetzt, wie schlimm die Verletzungen tatsächlich waren. Mal abgesehen der Schürfwunden, die durch den Sturz verursacht wurden und der vielen kleinen, aber schmerzhaften Kratzer befand sich auf ihrem Oberkörper eine klaffende Wunde, aus der warmes Blut in Massen heraus strömte.
Er würde sie bestimmt suchen, und auch finden. Und dann würde er sie heimbringen, und stolz auf sie sein. Sie malte sich bereits wieder aus, mit ihm an dem kleinen, runden Tisch in seinem Wohnzimmer zu sitzen, zu reden und genüsslich Tee zu trinken. Die Wunden würde sie leicht überstehen, auch wenn sie noch nie so viele und so schwerwiegende hatte. Aber sie war nicht schwach, nein, im Gegenteil, sie war stark und nicht so leicht zu töten. Außer ein paar wenigen Leuten kannte niemand ihren Namen, man kannte sie nur unter dem Pseudonym „Die Schattenkämpferin“. Dies war darauf zurück zu führen, dass sie so schnell war, dass man nur ihren Schatten erkennen konnte. Allein beim Erwähnen dieses Namens erstarrten so manche vor Angst. Niemand, der diesen Namen leichtfertig in den Mund nahm, überlebte, und das wussten die Leute. Selbst die besten und stärksten Schwertkämpfer hatten Respekt vor ihr, auch wenn sie sie niemals persönlich kennengelernt hatten.
Doch es gab einen, der selbst sie noch übertrumpfen konnte. Ihr Kampfstil war nur sehr besonderen Leuten vorbehalten und aufgrund der Tatsache, dass sie Linkshänderin war, wurde sie als noch gefährlicher eingestuft. Sie hatte schon oft getötet, doch niemals so viele wie an dem heutigen Tage. Es war der Tag der Entscheidung gewesen und sie wusste nicht einmal, ob ihre Seite gewonnen hatte oder nicht, geschweige denn ob sie überhaupt auf der richtigen Seite stand.
Die Minuten, die sie regungslos auf dem Boden verbringen musste, schienen eine Ewigkeit zu dauernd und brachten sie zum Nachdenken, doch nach einer Weile wurde ihr schwarz vor Augen und sie verlor endgültig ihr Bewusstsein. In der Hoffnung, das richtige getan zu haben…
Doch dies ist weder der Anfang ihrer Geschichte noch ihr Ende [...]
An schlafen war wie immer nicht zu denken. Zu gefährlich war die Umgebung, zu schwach war sie, um sich zu wehren. Wilde Tiere waren hier zu häufig gesehen und beschützen würde sie keiner von denen. Ihre weißen Haare ließen sie alt wirken, doch war sie erst 8 Jahre alt. Nach der Ermordung ihres Bruders, des letzten lebenden Verwandten, verstoßen vom ganzen Land musste sie allein klarkommen. Denn sie war nicht normal. Das war sie nie gewesen und das wird sie nie sein.
Einsam und traurig wandert sie seit jeher von Dorf zu Dorf, überquert Berge und Flüsse, immer in der Hoffnung, von jemandem akzeptiert und aufgenommen zu werden. Allein zerrissene Klamotten verdeckten ihren zierlichen Leib und teils musste sie lange Zeit ohne Essen auskommen. Wenn da nicht die Brunnen wären, wäre sie vermutlich längst verdurstet. Und niemand, niemand würde sie vermissen, denn niemand würde sich an sie erinnern. Sie würde von der Welt verschwinden, ohne Nachlass, ohne trauernde Angehörige. Dafür wollte sie Rache. Rache dafür, dass man ihr so grausam ihren Bruder nahm. Warum er getötet wurde? Weil er sie von diesen Bestien – die man im Allgemeinen jedoch als Menschen bezeichnete - beschützt hatte. „Dank“ der Farbe ihrer Augen und ihres Haares wurde sie nicht als Japanerin gesehen und behandelt als wäre sie ein Straßenköter. Doch dabei waren ihre weißen Haare nicht einmal das schlimmste, so hatte ich ein blaues und ein grünes Auge! Nie zuvor hatten Japaner solche Augenfarben gehabt, geschweige denn zwei verschiedenfarbige.
Ihre Füße trugen sie nun schon tagelang in dieser Wildnis herum, suchend nach einer Bleibe und einer Auszeit. Ihr Magen hingegen suchte nur eine warme Mahlzeit und einen rettenden Brunnen. Ihr schien, als würde sie im Kreis gehen, so ähnlich sahen die Bäume sich hier. Es war Frühling und so erblühten alle in ihren schönsten Farben. Doch für sie waren sie einfach nur grün. Sie kannte in ihrem Leben keine Farben, nein, sie sah alles schwarz und weiß. Und seit der Ermordung ihres Bruders Rot. Rot für das viele Blut, das er verlor und dessen Verlust zu seinem unweigerlichen Tod führte.
Der Boden unter ihren Füßen war trotz der späten Stunde warm. Schuhe besaß sie seit einer Weile nicht mehr und im Winter drohte ihr deshalb, dass ihre Zehen abfallen würden. Ob sie Feuer machen konnte? Natürlich. Doch das hielt nicht nur warm und wilde Tiere fern, es lockte auch alle möglichen Stechmücken an und sie würde anderen Leuten ihre Position verraten.
Das Jaulen eines nicht weit entfernten Wolfes ließ sie zusammenzucken und Angst durchfuhr wie ein Blitz ihren Körper. Regungslos stand sie minuten-, wenn nicht sogar stundenlang da. Keine hektischen Bewegungen, sonst wäre ihr Schicksal besiegelt.
Nachdem nichts mehr zu hören war und ihre Augen auch weit und breit keine Gefahr mehr ausmachen konnten, kletterte sie geschickt auf einen recht hohen Baum, der ihr durch die vielen Blätter Schutz bot. Angekommen setzte sie sich auf einen Ast und versuchte vergebens, es sich gemütlich zu machen, doch je sehr sie auch hin und her rutschte, der Zweig wollte sich einfach nicht in ein Bett verwandeln und so musste sie zufrieden sein mit dem, was sie hatte.
Ein letzter Blick herum, um sich zu versichern, dass kein Tier ihr auflauerte und sich auf sie stürzen würde, falls sie einschlafen sollte. Nur zu oft war es ihr passiert, dass die Last ihrer Augenlieder zu groß wurde und sie nachgeben musste. Und kurz darauf war sie dann jedes Mal unweigerlich eingeschlafen und hatte ewig gepennt. Wenigstens würde sie sich danach besser fühlen […]
Doch dem war heute nicht so. Selbst nachdem sie stundenlang geschlafen hatte und von der Wärme der Sonnenstrahlen geweckt, fühlte sie sich nicht gut. Im Gegenteil. Ihr zierlicher Körper zitterte und sie drohte zu fallen, da sie kaum die Kraft aufbringen konnte, sich an dem Ast festzuhalten.
Einen Arzt würde sie brauchen, das war ihr klar, doch keiner weit und breit würde ihr helfen, und schon gar nicht umsonst. Und Geld besaß sie schon lange nicht mehr. Hatte sie nie besessen. Würde sie nie besitzen.
Aber zumindest einen Brunnen sollte sie suchen und vielleicht würde sie auf der Suche auch etwas Essbares finden, um nicht erneut zusammen zu brechen. Helfen würde ihr niemand, aber das erwartete sie auch nicht. Sie wäre zu stolz, um irgendeine Hilfe anzunehmen. Oder zu ängstlich.
So schleppte sie sich nun zum nächstgelegenen Dorf. Eine Kapuze wäre hilfreich gewesen, sie hätte ihr Gesicht verdeckt. Dass sie ein Kind war, hätte man erkannt, nicht aber was für ein Kind. Für ein Monster.
Der Weg schien schier unendlich und sowohl ihre Füße als auch ihre Augenlider gaben bereits langsam nach. Das Fieber hatte sie geschwächt, noch mehr als sie angenommen hatte, und für diesen Fehler würde sie nun bezahlen. Womöglich mit ihrem Leben. Womöglich auch nicht. Es war ihr egal, es war ihr alles recht. Sie würde ihren Bruder wiedersehen. Im Himmel. Oder in der Hölle. Vielleicht gab es für jemanden wie sie keinen Platz im Himmel. Zumindest wollte man ihr das einreden.
Halb verhungert und zitternd erreichte sie schließlich doch das Dorf, aber etwas war seltsam. Es war leer. Keine Tiere, keine Menschen, niemand. Nur Holzhäuser und…ein Brunnen! Mit letzter Kraft hinkte sie zum rettenden Wasser und sank neben dem wasserumrundenen Stein auf die Knie.
Ihre Hände wie eine Schale geformt trank sie hastig das kühle Nass und tatsächlich half es etwas. Wenn auch nur ein wenig. Die kalten Finger legte sie auf ihre Stirn, um diese auch abzukühlen. Doch schon nach wenigen Sekunden waren ihre Finger warm und sie konnte sich ausmalen, wie hoch das Fieber sein würde.
Plötzlich vernahm sie Gelächter aus einer der Hütten von denen sie dachte sie seien nicht mehr bewohnt. Eine Bleibe hätte ihr eine davon bieten können, allerdings konnte sie dies nun vergessen.
Ängstlich beobachtete sie, wie die Tür schwungvoll aufgerissen wurde und nahezu aus den Angeln fiel. Ein paar Männer – sie schienen nicht besonders alt zu sein – verließen belustigt einen Raum. Betrunken kamen sie ihr vor und dies war nie ein gutes Zeichen.
Die Menschen verlieren ihren Verstand wenn sie trinken. Sie werden zu willenlosen Wesen und sind nicht besser als Dämonen, die einem die Seele aus dem Leib reißen. So hatte es ihr ihr Bruder einmal erzählt. Niemals hatte er den Alkohol angerührt, niemals hätte er sich verführen lassen. Aber er musste sterben und alle anderen nicht.
Wut stieg in ihr hoch, aber Zurückhaltung war geboten. Sie war weder in der Verfassung noch in der Lage, sich an diesen Männern zu rächen. Der Tag würde kommen, an dem sie endlich mit guten Gewissen schlafen gehen könnte. An dem sie Blut an ihren Händen kleben hat und stolz darauf sein wird.
„He, du!“
Der Schrei durchzuckte ihren Körper wie einen Blitz. Einer der Männer kam direkt auf sie zu, dicht gefolgt von den anderen. Und seine Absichten schienen alles andere als gut zu sein […]
Texte: Kasumi Amori.
Bildmaterialien: https://pixabay.com/de/
Tag der Veröffentlichung: 12.12.2015
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Meiner Familie und meinen Freunden, welche mich unterstützen und mir helfen, mich im Schreiben zu verbessern.