22. Oktober 1895
Gare de Granville, Frankreich
Das neunzehnte Jahrhundert war geprägt von der industriellen Revolution. Neue Maschinen und Erfindungen beschleunigten die Warenherstellung und die Massenproduktion von Gütern veränderte die Welt. Rauchende Fabrikschlote dominierten das Stadtbild. Viele Schornsteine waren ein Zeichen der neuen Zeit und zeugten von wirtschaftlicher Prosperität.
Dampfmaschinen jeglicher Art waren die modernsten Fortbewegungsmittel der damaligen Zeit. Schiffe waren teuer und die Mitfahrt war nur für den Adel erstrebenswert. Über das Automobil sagte der einstige deutsche Kaiser Wilhelm der Zweite „Ich glaube an das Pferd. Das Automobil ist eine vorübergehende Erscheinung.“ Tatsächlich war man zwar davon angetan, wenn weniger Pferdekutschen über die Straßen fuhren, da so die hohen Mengen an Pferdekot minimiert wurden. Allerdings konnte sich kaum jemand beim Anblick der motorisierten Kutschen, die auto mobil waren (= selbst bewegend), vorstellen, dass in diesen Vehikeln die Zukunft lag.
Selbst das Flugzeug, dass man sich aus dem zweiundzwangisten Jahrhundert kaum noch wegdenken könnte, war im Jahre 1895 nur ein Traum von Menschen, die wie Vögel durch die Lüfte schweben wollten. Ein Jahr später stürzte der legendäre Flugzeugpionier Otto Lilienthal bei Stölln am Göllenberg mit seinem Segelapparat ab und verstarb einen Tag später in der Berliner Universitätsklinik an einer Hirnblutung.
Doch ein Fortbewegungsmittel hatte es im späten 19. Jahrhundert bereits zu weltweitem Ruhm gebracht. Die Eisenbahn war ein schienengebundenes Verkehrssystem und musste deshalb vorgegebenen Wegen folgen. Das Gleis bestand damals aus Eisenschienen, die auf Holzschwellen gelagert wurden. Die Lokomotive selbst bewegte sich auf Rädern aus Eisen, die Kontakt zu den Eisenschienen hatten. Darin lag auch das größte Risiko. Weil es Eisen auf Eisen war, bestand nur ein sehr geringer Reibungswert. Entsprechend weit war der Bremsweg eines Zuges.
Allerdings gab es noch andere entscheidende Sicherheitsaspekte, die alle ein nicht zu unterschätzendes Sicherheitsrisiko darstellten. Die häufigsten Unglücksursachen am Anfang der Eisenbahngeschichte waren Kesselexplosionen. Sechszehn Menschen starben und vierzig weitere Personen wurden verletzt, als William Bruntons Versuchslokomotive Mechanical Traveller bei einer Vorführung explodierte.
Auch andere Teile des Zuges waren den hohen Ansprüchen anfangs nicht gewappnet. So sorgte beispielsweise Materialermüdung am 08. Mai 1842 dafür, dass ein mit etwa 700 Fahrgästen besetzter Zug in der Nähe von Meudon in Frankreich entgleiste. Die Kohle aus dem Kessel entzündete sich und das Feuer brannte so stark, dass die Zahl der Toten nur sehr grob zwischen 52 und 200 Menschen eingeschätzt werden konnte.
Trotz all dieser Unwegsamkeiten war die Eisenbahn ein beliebtes Verkehrsmittel. Dank raffinierter Vernetzungen von verschiedenen Eisenbahnen wurden die Reisezeiten in Europa drastisch verkürzt. Auch die Industrie profitierte davon und die Eisenbahn war der Antrieb der maschinellen Revolution.
Die französische Privatbahn Chemins de fer de l'Ouest (Westliche Eisenbahn) entstand aus der Fusion mehrerer kleiner Privatbahnen in Frankreich. Hauptsächlich wurden Strecken bedient, die von Paris aus abgingen. Eine Verbindung nach Granville kam erst später dazu. Am 22. Oktober 1895 wurde der Granville-Paris-Express von der Lokomotive Nummer 721 gezogen und bestand aus drei Gepäckwagen, einem Postwagen und acht Passagierwagen.
Die Lokomotive der Nummer 721 hatte eine 2-4-0 Achskonfiguration. Vorne gab es eine Vorlaufachse, dann folgten zwei angetriebene Achsen und es gab keine Nachlaufachse. Diese Achsbauweise war zur damaligen Zeit weit verbreitet. Sie fand auch in den USA Verwendung, unter anderem bei der Denver & Rio Grande Lokomotive Montezuma.
Lok Nummer 721 hatte erst einige Wochen zuvor im Bahnbetriebswerk neue Bremsluftdruckzylinder bekommen, die von einer englischen Firma zugeliefert wurden. Die neuen Zylinder liefen bis dato tadellos und es gab keine Bremsprobleme. Der Expresszug verließ pünktlich um 08:45 den Bahnhof von Granville in östlicher Richtung. Von der Atlantikküste ging es landeinwärts über Caen und Le Havre nach Paris.
Doch der Zug hatte bereits einige Minuten Verspätung, als er die Außenbezirke von Paris erreichte. Die Fahrgäste rochen den Dampf von verbrannter Kohle, der sich in der Luft vermischte mit dem Gestank von Pferdemist und anderer Abfallprodukte der französischen Hauptstadt. Die Lokführer mussten Brillen tragen, da der Dampf der Lokomotive kleine Kohlepartikel enthielt, die in den Augen brennen würden, falls man keinen Schutz trug.
Um die Verspätung aufzuholen, spornte der Lokführer den Heizer an, weiter Kohle nachzuschaufeln. Mit 60 Stundenkilometern ratterte der Zug über die Gleise durch Paris. Als der Zug sich mit hoher Geschwindigkeit dem Bahnhof Paris-Montparnasse näherte, zog der Lokführer die Luftdruckbremse an. Doch die Bremsdruckluftzylinder versagten und die normale Zugbremse war nicht ausreichend genug um den Zug adäquat zu verlangsamen. Die 131 Fahrgäste im Zug waren ahnungslos. Sie wunderten sich allerdings, warum der Zug an dem Bahnsteig so schnell vorbeifuhr.
Dann rammte die Lokomotive die Puffer am Ende des Gleises. Die Puffer zeigten keine Wirkung gegen die tonnenschwere Lok und ihre elf Wagen. Unaufhaltsam kreuzte der Expresszug die zehn Meter breite Bahnsteighalle. Selbst die sechzig Zentimeter dicke Außenfassade des Gebäudes stoppte den Zug nicht. Die Lok zerschmetterte das große Glasfenster, stürzte schließlich neun Meter tief auf den Place de Rennes und landete mit der Front auf den Straßenbahnschienen. Trümmer des Mauerwerks flogen durch die Luft und landeten auf einem Zeitungsstand. Die Zeitungsverkäuferin Marie-Augustine Aguilard wurde vom herabstürzenden Mauerwerk getötet. Sie hatte ihren Mann vertreten, der die Abendzeitungen holte.
Nach der Bergung der Lokomotive und der Wagen wurde die Lok in das Betriebswerk gebracht. Überraschenderweise war sie nur leicht beschädigt. Als Ursache des Unglücks wurde die überhöhte Geschwindigkeit ermittelt, weswegen der Lokomotivführer 50 Francs zahlen musste und für zwei Monate ins Gefängnis kam. Der Zugführer musste 25 Francs zahlen, da er sich im entscheidenden Moment um andere nicht sicherheitsrelevante Dinge gekümmert und nicht die Handbremse angezogen hatte. Ein technisches Versagen wurde sofort ausgeschlossen und nicht weiter untersucht. Schließlich besagte eine Regel des Eisenbahnunternehmens, dass die moderne Luftdruckbremse nicht im Bahnhofsbereich verwendet werden durfte. Somit war für den Untersuchungsausschuss klar, dass die Bremse aufgrund der Zweckfremdung nicht funktioniert hatte. Das englische Unternehmen, dass die Bremsen entwickelt hatte, schloss sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit mehreren Firmen zusammen und hatte später ihren Firmensitz in den USA.
Bildmaterialien: openwalls.com (lizenziert durch Creative Commons 3.0)
Tag der Veröffentlichung: 31.10.2015
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Coverbild: openwalls.com (veröffentlicht unter den Bestimmungen der Creative Commons 3.0)
Informationsquellen: http://danger-ahead.railfan.net/accidents/paris_1895.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Eisenbahn
https://de.wikipedia.org/wiki/Bremse_(Eisenbahn)
http://universal_lexikon.deacademic.com/253398/industrielles_Zeitalter
https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_Lilienthal