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Kapitel 1

Leben beginnt, Leben endet. Tot war ich schon immer. 

Ihr Leben aber, habe ich genommen.

 

Kapitel 1: Amelia

 

Es tat weh. 

Ich weiβ nicht mehr, ob der Schmerz in meinem Kopf gröβer war, durch den sich gerade eine bleierne Kugel bohrte, oder aber der Schmerz den der Anblick ihres Schützen in meinem Herzen auslöste. 

Aber ich weiβ noch, es tat weh. Auf eine schreckliche, unerträgliche Art, die ich nicht zu beschreiben fähig bin. Ich hatte früher immer geglaubt, in der Sekunde in der man zu sterben droht, würden einem unzählig viele Gedanken durch den Kopf schieβen. Doch dass - mal abgesehen von der Kugel - durch meinen Kopf nichts weiter als dieser schreckliche Schmerz schoss, damit hatte ich nicht gerechnet.

Um das alles zu erklären, sollte ich wohl ein paar Stunden früher beginnen.

Der erste Tag war ein sonniger Mittwoch. Es war morgens angenehm warm, die ersten Vögel zwitscherten und das groβe, alte Gebäude der Schule, die ich besuchte, wirkte irgendwie sogar einladend. Der Vormittag verlief ganz normal, mein Lieblingslehrer war krank und wir schrieben einen Überraschungstest, aber ansonsten blieb alles wie immer.

In der achten Stunde dann, wir hatten Mittagschule, saβ ich gedankenverloren an meinem Platz in der vorletzten Reihe, fast direkt neben der Türe, als plötzlich drauβen Wolken aufzogen und die schöne warme Sommersonne verdeckten. Das wäre mir wahrscheinlich kaum aufgefallen, doch wo ich jetzt so darüber nachdenke, erinnere ich mich sogar an die dumme Bemerkung die Mr. Drool, unser Englischlehrer, darüber machte und dass er der einzige gewesen war, der sie wirklich witzig fand.

Alles bis zu diesem Zeitpunkt ist in meinem Kopf eingespeichert wie ein schrecklicher, aber trüber Alptraum. Doch die nächsten Sekunden, die, die jedes noch so kleine Geräusch in unserem Klassenzimmer verstummen lieβen, die sogar bei Mr. Drools einen Ausdruck der Panik auslösten, diese Sekunden kann ich jederzeit abrufen als seien sie gerade erst verstrichen.

Zuerst hatte es ein lautes Rauschen gegeben, dann war das gewohnte Klicken des Durchsagelautsprechers unserer Schule ertönt, der normalerweise genutzt wurde um schulische Ereignisse anzukünden oder den Sanitätsdienst zu rufen, und dann hatte sich mit zittriger Stimme unser Direktor zu Wort gemeldet. Er sagte nicht viel, doch jeder, der seine leisen Worte verstand, erstarrte. Es war ein Code, den man an unserer Schule vor ein paar Jahren eingeführt hatte. 

"Raum A314, Drools, 11b, Regen."

Das war der Moment, in dem das Chaos ausbrach. Die untypischen Sicherheitsübungen waren bei uns schon sechs Jahre her, am Anfang der fünften Klasse musste jeder sie durchführen. Und doch wussten wir alle dass dieser Code für einen Menschen mit lebensbedrohlicher Waffe stand, für einen vermeintlichen Amokläufer, und zwar genau vor der Türe unseres Klassenzimmers. Mr. Drools schrie eine Anweisung in die entstande Stille hinein, ein Tisch kippte um, einer der Jungs hinter mir stand auf. Doch es war alles zu spät, die Tür flog auf.

In ausgerechnet dieser Sekunde, in der ich ohne nachzudenken aufsprang, herumwirbelte und mich mit einem einzigen, groβen Schritt zwischen den Lauf der Pistole und den Jungen schob, begann es drauβen zu schütten. 

Ich kann mir nicht erklären, wieso ich damals aufgestanden bin, oder woher ich wusste, dass er auf ausgerechnet diesen Jungen als erstes schieβen würde. Es war eine instinktive Tat, ich dachte nicht darüber nach. 

Das letzte Geräusch, welches mich gemeinsam mit dem unendlichen Schmerz in die Ohnmacht begleitete, war das Trommeln des Regens gegen die Fenster.

 

Kapitel 2

 Kapitel 2: Der Schütze.

 

Ich hatte noch nie einen Ausdruck auf dem Gesicht von irgendjemandem gesehen, der das Wort Schmerz so intensiv verkörperte. 

Ihre rehbraunen Augen waren geweitet, ihre Haare flogen ihrer abrupten Bewegung hinterher und kleine, dunkelrote Spritzer wirbelten durch die Luft, herausgepresst durch die kleine, silbergraue Kugel, die ich soeben durch ihren Kopf geschossen hatte.

Der Anblick dieser Augen löste etwas in mir aus.

Irgendwo, tief in meiner Seele, hatte ich das seltsame Gefühl, am Ende einer Reise zu sein. Fast so, als habe ich ewig nach diesen Augen gesucht, ohne zu wissen, dass ich sie jemals sehen würde.

Fassungslos hatte ich damals die Waffe fallen gelassen, mir meinen Schal wieder nach oben bis über die Nase gezogen und war einfach davongerannt. 

Eine seltsame erste Begegnung, aber unsere Geschichte war auch niemals dazu bestimmt gewesen, normal zu sein.

Noch während ich an jenem Tag die breiten Treppen des Schulausgangs herabgerannt war, mir meine Mütze tiefer ins Gesicht und die Handschuhe zurecht zog, blieb das schmerzverzerrte Gesicht des Mädchens vor meinem inneren Auge bestehen. Nicht einmal der strömende Regen, der so plötzlich eingesetzt hatte, konnte dieses Bild verdrängen. 

Ich war immer weitergerannt, weg von der Schule und der Stadt, hatte die Sirenen näherkommen und erfolglos wieder verschwinden gehört. Erst, als das weiβgrau der Wolken langsam einen hellblauen Ton annahm, es um mich herum beinahe keine Häuser mehr gab und die Geräusche der Stadt schon eine Weile verstummt waren, hielt ich keuchend inne. Mit einem lautlosen Seufzen lieβ ich mich in das regennasse, dunkle Gras fallen und starrte nach oben in den emotionslosen Himmel.

Es war nur eine einzelne Träne, eine verdammte Träne, die mir meine Sicht nahm und die den Gedanken für einen kurzen Moment freien lauf lieβ.

"Du bist ein Mörder. Du hast gerade eben jemanden umgebracht, ein unschuldiges Mädchen. Du hast aus Verzweiflung nicht nur dein Leben zerstört, sondern auch das ihre! Du bist ein Monster."

Mein Körper verkrampfte sich, doch ich hatte gelernt gegen diese Stimme anzukämpfen und mich zu beruhigen, das Zittern zu unterdrücken und meine Gedanken zurück auf eine rationale und realistische Ebene zu bringen. Ich musste überlegen, was ich jetzt tat.

An meinem Zwischenversteck harrte ich noch exakt drei Stunden aus, so wie es mein provisorischer Plan B voraussetzte.

Ich hatte vorgehabt, an diesem Mittag zu sterben. Aber dennoch gab es immer einen Notfallplan, alles musste perfekt sein, durchdacht, geordnet. Und bisher hatte das auch geklappt.

Solange, bis ich in ihre Augen geschaut hatte.

Alles, was ich jemals zuvor gedacht oder gemacht hatte, stellte dieser Augenblick in Frage. Ihr Schmerz sorgte für meine Schuld.

Mehrmals noch lieβ ich mir die Geschehnisse durch den Kopf gehen, wiederholte alles in Zeitlupe, lieβ es vor- und zurückspulen. Ich erkundete den Klassenraum in meiner Erinnerung, die Gesichter von all den Schülern und dann erneut den Schmerz auf ihrem Gesicht. Irgendetwas war da gewesen. Sie hatte diesen Schmerz bereits eine Sekunde zu früh gefühlt, fast, als habe ihn etwas anderes als nur die Kugel ausgelöst.

Wieso war sie aufgestanden?

In all meinen Perfektionismus, in all meine Planung passte diese Handlung nicht hinein, sie störte, ja, nervte mich sogar, ich stolperte förmlich darüber wie über einen holprigen Stein auf einer glatten Teerstraβe. 

Ich musste es einfach wissen.

Normalerweise konnte ich Menschen recht schnell analysieren. Nicht verstehen, denn davon war ich weit entfernt, all diese Gefühl die sie immer ausdrücken wollten, standen für mich bloβ im weg. Aber berechnen, erkennen und verarbeiten, das war meine Stärke.

Ein verräterischer Blick auf die Seite, und sie logen, ein Zucken der Hand und sie waren nervös. Ich hatte wochenlang all die Personen um mich herum beobachtet und gerlernt, ihre unausgesprochene Sprache zu lesen.

Nicht aber die des Mädchens, das ich vermutlich ermordet hatte. Ich wusste, dass sie eine Chance hatte, einen Kopfschuss zu überleben, doch sie war viel zu gering als dass ich sie in Betracht zog. 

Ich konnte nicht anders. Ich musste zurück, und mich vergewissern. Sie hätte brav auf ihrem Hintern sitzen bleiben können, ich hätte den Dämonen freien Lauf gelassen und dann hätte ich mein Leben beendet, so wie ich es verdient hatte. 

So, wie es geplant war.

Kapitel 3

 Kapitel 3: Amelia.

 

Ich wachte nach einer gefühlten Ewigkeit, die ich mit nebligem Schlaf verbracht hatte in einem harten Krankenbett auf. Aber der Schmerz war noch immer da. Immerhin hatte er sich auf mein Herz beschränkt, denn in meinem Kopf waren nur noch gähnende Leere und ein dumpfes Pochen übrig, das schreckliche Ziehen und Brennen der Kugel hingegen kam mir eher wie eine schwache Erinnerung vor.

Was war eigentlich passiert? Hatte ich mir das alles nur eingebildet Und viel wichtiger, wenn nicht, warum um Gottes Willen war ich noch am Leben?

Ich öffnete blinzelnd die Augen und sog den seltsam künstlichen Geruch des Krankenzimmers ein. Helles Licht blendete mich und ich versuchte, mich im Raum umzusehen. Aber es kam mir vor, als sei ich ans Bett gefesselt worden, mein Körper war schwer und es war unmöglich, mich aufzurichten. 

Okay, denk nach.

Ich schloss die Augen wieder und versuchte mich zuerst über meine anderen Sinne zu orientieren um nicht in Panik zu verfallen. Wahrscheinlich war ich ziemlich mit Schmerzmitteln eingedeckt, deswegen fühlte ich mich so komisch. Mein Körper wurde von den dumpfen Schlägen meines Kopfes durchzogen, fast als könnte ich mein eigenes Blut pulsieren spüren. Und langsam, in den Pausen zwischen dem Pochen, kamen leise die Geräusche zurück. Ein stetes Piepsen passte sich meinem Herzschlag an, und im Hintergrund summte irgendeine Maschine. Also war ich tatsächlich in einem Krankenzimmer.

Dann holte ich vorsichtig Luft und versuchte erneut, meinen Körper aus dem Kissen zu heben und dieses Mal schien es tatsächlich zu klappen. Als ich dann die Augen wieder öffnete, blinkte plötzlich ein rotes Licht neben mir auf und gab ein schmerzlich lautes Geräusch von sich, immer wieder. Dann klackte es leise und ein hysterischer Ruf lieβ mich zusammenzucken.

"Sie ist wach! Schnell!!"

Auf einmal waren Hände an meinem Unterarm, das Piepen das meinen Herzschlag angeben sollte wurde immer schneller und schneller und meine Sicht verschwamm. Jemand drückte mich zurück auf den Rücken und ein brennendes Stechen an meinem Arm begleitete mich zurück in meinen schummrigen Schlaf.

Ich war am leben.

Wieso war ich am leben?

 

Kapitel 4

Kapitel 4: Der Schütze.

 

Vor mir lag die stille Nacht und eine schlafende Stadt, als ich mich auf den Weg zurück machte. Irgendwo entfernt waren noch Sirenen zu hören, doch sie hatten keinerlei Anhaltspunkte, dass ich etwas mit dem Mord zu tun haben könnte, also lieβ ich mich nicht aus der Ruhe bringen. Meine Handschuhe hatte ich zusammen mit Mütze und und Schal verbrannt, die Asche in einem kleinen Bach verteilt. Mein Gesicht war verdeckt gewesen und nur für die wenigen Sekunden erkennbar, in denen mein Blick den des Mädchens getroffen hatte und mein Schal verrutscht war. Ich war also ein ganz normaler Kerl, hatte meinen Schulabschluss, eine Familie, ein Leben. Niemand würde etwas wissen oder vermuten, und wenn sie es doch herausfinden sollten, dann nicht früher als in ein paar Tagen.

Als ich an einem Schaufenster vorbeilief, in dem ein lokaler Nachrichtensender über den heutigen Vormittag berichtete, musste ich ein leises Lachen unterdrücken, denn sie hatten noch nichtmal ein Phantombild erstellt. Was für Vollidioten.

Dann aber wurde meine Aufmerksamkeit auf das Bild einer hysterischen, etwas älteren Frau gelenkt, welche als Mutter des Opfers vorgestellt wurde. Da sie jedes Wort mit einem Schluchzen unterbrach, verstand man nur lückenhaft, was sie zu sagen versuchte. Aber die wenigen Bruchstücke die ich hörte, reichten aus, um mein Interesse zu wecken.

Ein ernster Reporter redete mit viel zu neugieriger Stimme auf die zitternde Frau ein.

"Ihre Tochter hat sich also mutig vor einen Mitschüler geworfen. Wie stehen sie zu dieser Tat, sind sie stolz auf ihr Kind?"

Einen gröβeren Idioten hätten sie wohl nicht auf die Frau loslassen können. 

Sie schlang ihre noch immer zitternden Arme um ihren Oberkörper und starrte ihn fassungslos an, offenbar lief dieses interview schon eine Weile, so fertig wie sie ihn ansah. 

"Immerhin ist es eine wahre Heldentat, wie bereitwillig ihre Tochter sich geopfert hat für jemand anderen", fügte der Reporter noch hinzu, als sie zu lange schwieg.

Jetzt leuchteten die Augen der Frau hell auf und schienen geradezu Blitze zu feuern, mit dem direkten Ziel den uneinfühlsamen Mann zu ermorden.

"Meine Tochter hat sich nicht geopfert. Sie ist noch am Leben und das wird sie auch bleiben!" Beinahe hysterisch schoss ihre Stimme nach oben während sie sprach. 

Ich hingegen fühlte plötzlich einen Anflug von Panik, der bei jedem anderen Menschen wahrscheinlich nicht weiter schlimm oder verwunderlich gewesen wäre. Bei mir aber waren jegliche Gefühle fehl am Platz, alles war heftiger, unkontrollierbarer, weil ich es schon so lange unterdrückte und verdrängte.

Meine Hände begannen zu zittern, im selben Takt wie meine Lippen bebten, mein Blick huschte hin und her und hätte ich bei der Polizei gearbeitet, dann hätte ich mich selbst schon allein wegen meinem seltsamen Verhalten eingesperrt.

"Verdammt!", entfuhr es mir ehe ich mich zur Vernunft rufen konnte. Eine dicke ältere Dame sog neben mir scharf die Luft ein, aber ihr Blick blieb warm und nicht skeptisc. 

Wahrscheinlich dachte sie, ich hätte geflucht weil ich mich über den Reporter aufregte.

Dumme Menschen, überall waren sie. Anstatt auch nur für eine Sekunde aus ihrer egoistischen Lebenshaltung herauszukommen, sahen sie weg und beschönten die Wahrheit.

Ich wandte mich vom Schaufenster ab, sobald ich am Bildschirmrand den Namen des Krankenhauses entdeckte und ging dann hastigen Schrittes die Straβe entlang. Meine Hände ballte ich zu Fäusten, den Blick richtete ich auf den Boden und meine Lippen presste ich fest aufeinander. Die Panik war nicht abgeklungen und meine Gedanken waren schwer zu kontrollieren. 

Ich hatte zwei Möglichkeiten.

Entweder ich lieβ mich von meinen Emotionen leiten und lief geradewegs ins Krankenhaus, oder ich wartete ab und ging nachhause. Mein ganzer Körper sträubte sich dagegen, einfach nach Hause zu gehen und herumzusitzen als wäre nichts geschehen, aber ich wusste, wenn ich nun auch nur in die Nähe des Mädchens laufen würde wäre dies mein letzter Lebenstag und mit etwas Pech würde ich niemals herausfinden warum genau dieses Mädchen mich so aufwühlte. Also lief ich geradeaus weiter, folgte dem Weg den ich auch blind hätte gehen könnenund hielt dann vor einem gemütlich wirkenden Haus an. Der Ersatzschlüssel lag unter der Fuβmatte und mit einem gewohnten leisen Klicken öffnete sich unsere Wohnungstüre. Es brannte kein Licht, vielleicht waren sie ausgegangen oder schon im Bett.

Beides war nicht weiter wichtig, denn sie würden keine Fragen stellen.

Meine zitternden Hände umklammerten den Schlüssel krampfhaft, und das angenehme Kribbeln von Schmerz durchfuhr meine Finger. Ich ich den Blick senkte, sah ich das dunkelrote Schimmern meines Blutes und vorsichtig löste ich mit der freien Hand meine festgekrampften Finger von den beiden silbernen Schlüsseln. 

Ich würde sie abwaschen müssen, und mir eine Erklärung für blutende Fingern einfallen lassen, nur für den Fall. Ich durfte nichts auβer Acht lassen, keine Möglichkeit vergessen, die mich in Schwierigkeiten bringen könnte. Es musste alles perfekt sein und auch wenn ich meinen Körper und meinen Kopf nicht mehr unter Kontrolle hatte, dann musste ein Plan da sein, der dafür sorgte dass alles in meinem Sinne geschah. Es musste immer einen Plan geben.

Mit einem Kopfschütteln verdrängte ich den Verlauf meiner Gedanken, denn er war immer derselbe. Ich wusch die Schlüssel ab und legte sie an ihren Platz zurück, dann kümmerte ich mich grob um die kleinen Wunden an meinen Fingern und lieβ während all der Zeit das Licht aus. Ich mochte kein Licht, keine Helligkeit. Ich mochte weder die Sonne noch den Tag, nicht das Gute in der Welt, denn es war nur Schein, nur Trug und der Ursprung aller Erwartungen und somit auch Enttäuschungen. Ich hasste das Licht.

Schon wieder waren meine Gedanken durcheinander. Verdammt, wenn das so weiterginge, würde ich mich vermutlich noch durch irgendeinen dummen Fehler verraten. Und das durfte nicht passieren. 

Ich lief die Treppen herauf, die zu meiner Etage des Hauses gehörten, öffnete meine Türe und entriegelte die Zahlenschlössen, die ich mit kleinen aber stabilen Kettchen von innen daran befestigt hatte. Dann betrat ich den abgedunkelten Raum und drückte die Steckdose an, sodass fahles Licht von einer alten Weihnachtslichterkette den Raum spärlich erhellte. Ich besaβ nicht viele Dinge, auβer meinem Bett, einem Wandschrank und meinem Schreibtisch war der Raum fast gänzlich leer. Dieser Raum war der einzige sichere Ort, den ich hatte und gleichzeitig ein schreckliches Gefängnis.

Ich schob ein paar lose Blätter von meinem Schreibtisch auf den Boden, sodass sie mit einem leisen Rauschen davonstoben. Meine Hände hatten endlich aufgehört zu zittern, der Schmerz hatte mich zumindest kurzzeitig beruhigt. 

Es musste ein neuer Plan her, ein besserer, einer, der mich auch auf das vorbereiten würde, was ich für unvorhersehbar hielt. Ein Plan, der mit erlaubte mit dem Mädchen zu reden und dann zu sterben, ohne dass sie davon erfuhr.

Ich legte ein weiβes Blatt auf den jetzt freien Platz, setzte mich auf den harten und staubigen Stuhl und tat das, was ich am besten konnte: Nachdenken.

Dann begannen meine Gedanken sich zu formen, sie verarbeiteten wie von alleine alle Geschehnisse des Tages erneut, sie schrieben nieder was wichtig war und was ich für meine nächsten Schritte gebrauchen konnte. Es dauerte nicht länger als ein paar Sekunden in meiner Vorstellung, aber als ich fertig war und erschöpt seufte ging drauβen bereits langsam die Sonne auf. Für einen Moment war ich fasziniert vom Anblick des noch fahlen, orangeroten Lichtes, das langsam gegen die Nebelschleier des Morgens ankämpfte. Ich beobachtete ein paar Krähen, die an meinem Fenster vorbeiflogen und recht elegant auf einem der umliegenden Bäume landeten. Dann folgte mein Blick den Straβen und Häusern, die Reihe um Reihe nah beieinanderstehend vor mir lagen. Ich hatte nicht auf die Uhr gesehen, aber die meisten Leute schienen noch zu schlafen und sich hinter ihren grauen Rollläden zu verstecken. Kurz fragte ich mich, warum mich dieses Bild so faszinierte, das Bild einer noch schlafenden Stadt, dieser Stadt, die ich doch sonst so sehr hasste. Aber mir wurde immer bewusster, dass es weniger die Häuser und Straβen waren, die ich verachtete, als all die Menschen dahinter. Mit einem erneuten Seufzen wandte ich den Blick ab. Ich musste schlafen, wenigstens ein paar Stunden. Meiner Eltern würden nicht kommen um mich zu wecken, aber um sicherzugehen schloss ich dennoch die Türe von innen ab. Dann zog ich meinen grauen Pullover aus, warf ihn auf den Stuhl und lieβ mich auf mein Bett fallen. 

So lag ich da, auf dem Rücken, die Arme und Beine ausgestreckt und den Blick starr nach oben gerichtet, und erinnerte mich dass ich auf ähnliche Weise noch vor ein paar Stunden im kalten Gras gelegen hatte. Ich war ein Idiot, beinahe hätte ich dort die Kontrolle verloren und wäre durchgedreht. Idiot.

Verdammter Idiot! Und dann ganz leise und ohne dass ich es verhindern konnte, murmelte eine leise und vertraute Stimme: Monster.

 

 

 

Kapitel 5

Kapitel 5: Amelia.

 

"Was soll das heiβen, sie kann nicht laufen? Das kann nicht ihr ernst sein!"

"Es tut mir sehr leid Miss Branfield, aber es ist die Wahrheit. Natürlich gibt es Therapien und Möglichkeiten, es ihr mit der Zeit wieder beizubringen. Vielleicht in einem Jahr oder..."

"In einem Jahr? SInd hier denn alle völlig bescheuert?"

Ich schlug die Augen auf. Wenn meine Mum nicht gleich den armen Arzt in Ruhe lieβ, würde er womöglich ebenfalls ausrasten. Ich musste sie zurückhalten, so wie immer, und auβerdem wollte ich wissen, von was genau sie da sprachen. 

Ihre Stimmen hatten mich aufgeweckt, doch als ich mich aufsetzen wollte verstummten beide und ich konnte ihre überraschten Blicke förmlich auf mir spüren.

"Mama?", fragte ich leise und blinzelte in das helle Licht des Raumes. Ich erinnerte mich an mein letztes Erwachen, an all die dumpfen Schmerzen und das ohrenbetäubende Piepen, dass auch jetzt wieder neben meinem Bett ertönte, jedoch viel leiser und erträglicher.

Dann hörte ich ein Schluchzen, den Versuch mich aufzusetzen hatte ich aufgegeben und drehte jetzt nur noch meinen viel zu schweren Kopf vorsichtig in ihre Richtung.

"Unglaublich, dass sie jetzt bereits erwacht ist. Ihre Tochter ist eine wahre Kämpfernatur, und eine Heldin, Miss."

Ein recht junger Arzt trat in mein Sichtfeld und erlöste mich von dem grellen Licht über mir. Mit einem attraktiven Lächeln knipste er auf einem kleinen Tisch irgendwo neben mir eine Lampe an, die mir erlaubte, sein Gesicht besser zu erkennen.

Obwohl ich ihn nicht als besonders alt eingeschätzt hatte, wirkte sein Gesicht müde und er hatte kleine Stressfältchen, seine Lippen waren ausgetrocknet, vielleicht Folgen einer zu langen Nacht. Dann erst kam mir in den Sinn, dass es vielleicht eher Folgen einer langen Operation gewesen sein könnt, vielleicht sogar meiner  Operation, denn in meinem Kopf hallten plötzlich meine letzten Gedanken wieder. Wieso war ich am leben?

Vielleicht also stand gerade der Mann vor mir, der mir das Leben gerettet hatte. Ich wollte etwas sagen, verschluckte mich aber und musste Husten, was eine Reihe schmerzhafter Rucke durch meinen Körper jagte. 

"Schon gut, Amelia. Du musst noch nicht sprechen, wir alle sind froh, dass du wieder wach bist", erklärte er mit ruhiger und warmer Stimme. Ich nickte leicht und versuchte erneut, ihm zu antworten. Diesmal mit etwas mehr Erfolg, doch meine Stimme blieb kratzig und es kam mir vor, als würde eine völlig Fremde sprechen.

"Ich danke ihnen. Ich kann nicht glauben dass ich..." Plötzlich füllten Tränen meine Augen, was sonst fast nie geschah, und ich sah entschuldigend zu ihm hoch. Dann fühlte ich eine warme Hand an meiner Schulter und der Arzt nickte mit einem wirklich schönen Lächeln. 

"Ist schon gut. Wach erstmal richtig auf, ich bin mir sicher du hast viel zu verarbeiten. Aber ich muss dir auch noch ein paar Dinge erklären. Du hast überlebt, was ein groβer Glücksfall ist und du scheinst noch zu wissen wer du bist. Kennst du diese Frau?" Er machte einen Schritt zur Seite und deutete auf meine Mutter. Ich nickte, noch immer damit beschäftigt die Tränen zu unterdrücken.

"Natürlich kenne ich sie. Ich weiβ auch noch was passiert ist und wer ich bin und warum ich hier bin." Dann lächelte ich ihn schwach an.

"Sehr gut." Fast klang er überrascht über meine Worte, dann aber wurde sein Gesicht ernster und er warf einen kurzen Blick zu meiner Mum, die ihn abwartend und mit einer hochgezogenen Augenbraue anseh.

"Das alles sind gute Nachrichten. Das heiβt, es geht dir gut, Amelia. Aber jetzt muss ich dir noch etwas sagen, was dich vielleicht schockieren und dir Angst machen wird, aber bitte mach dir keine Sorgen. Es ist nicht von Dauer, und in einigen Monaten wirst du wieder ganz normal leben können."

Ich sah abwartend und verwirrt zu ihm hoch. Also hatte ich mich zuvor doch nicht verhört.

“Ich kann nicht mehr laufen.“ Es sollte eine Frage werden, doch meine Worte klangen eher wie eine Feststellung. 

Der Arzt und meine Mutter tauschten einen schockierten Blick aus, und dann zog er einen Stuhl neben das Bett und setzte sich. 

"Mein Name ist Dr. Andrew Smith, aber du kannst mich gerne Andrew nennen. Und..." Er zögerte kurz, warf nochmal einen Seitenblick zu meiner Mutter, die sich eine Hand auf den Mund gepresst hatte und auf den Boden starrte, und fuhr dann fort. "Und leider hast du Recht. Du wurdest am Kopf getroffen, und obwohl du offenbar groβes Glück hattest und überlebt hast ohne weitere bleibende Schäden, wurde eine Nervenbahn deines Gehirns getroffen die dafür zuständig ist, deine Beine zu kontrollieren. Wir haben sie zwar in der Operation wieder zusammengeflickt, aber es wird eine Weile dauern, bis du wieder laufen kannst. Es kann sein, dass du das Laufen nochmal ganz von vorne lernen musst." 

Andrew hatte wirklich einen Hundeblick. Ich sah in seine Augen, die über diese Information mehr zu trauern schienen als ich selbst es tat, und in ihnen lag eine Entschuldigung und Reue.  Ich zwang mich zu einem Lächeln und sah ihn an. "Machen sie sich keine Sorgen. Das ist okay, wirklich. Alles ist gut, die Hauptsache ist, dass ich am Leben bin und das Laufen irgendwann wieder lernen werde." Mein Lächeln schien ihn irgendwie ein bisschen zu beruhigen, aber auch zu verwundern. Meine Mutter hingegen schniefte und rannte dann an meine andere Seite, wo sie meine Hand schmerzhaft zusammenquetschte. 

"Mein kleiner Schatz! Mach dir keine Sorgen, du bist so stark du schaffst das schon!", schluchzte sie, und mal wieder war sie diejenige, die sich schreckliche Sorgen machte. Ich hingegen war noch gar nicht bereit das alles zu realisieren. Mein Kopf dröhnte wieder leicht, und die ganze Aufmerksamkeit der beiden war irgendwie zuviel für mich, aber ich beschloss es mir nicht anmerken zu lassen. 

"Ist schon gut, wirklich. Wie lange bin ich jetzt schon hier?", fragte ich leise. 

Dann, bevor ich länger darüber nachdenken oder mich eher davon abhalten konnte, darüber nachzudenken, erschien plötzlich wieder das Gesicht des jungen Mannes vor mir, des Mannes, der auf mich geschossen hatte mit all dieser Wut, dieser unglaublichen Angst und diesem Schmerz, diesem schrecklichen Schmerz. Ich konnte nicht anders, ich musste einfach nachfragen, was mit ihm passiert war. 

“Der Mann, der auf mich geschossen hat, wurde er verhaftet?“, fragte ich dann plötzlich leise. Der Blick meiner Mutter wurde wütend, doch ehe sie anfangen konnte zu reden, ergriff Andrew das Wort. 

“Er wurde noch nicht gefunden. Nachdem er abgedrückt hat, ist er davongerannt, und niemand hat sein Gesicht gesehen oder ihn aufgehalten. Aber das werden sie noch, es wird die ganze Stadt durchsucht und eine Meldung läuft sogar auf dem lokalen Nachrichtensender. Du wirst übrigens überall als Heldin gefeiert, Amelia.“ Ein breites und warmes Lächeln lag wieder auf seinen Lippen, als er das sagte, und ich hielt mich davon ab, erleichtert auszuatmen. Wieso fühlte ich mich denn nun besser? Sollte ich nicht eigentlich berunruhigt sein, oder gar Angst haben weil der Täter nicht geschnappt wurde? Aber dann, ganz plötzlich, wusste ich, warum. Es war keine Wut, die ich fühlte, aber auch nicht Erleichterung, sondern Mitleid. Er tat mir so unglaublich leid, es war, als haben seine Augen geredet, so als wäre es er gewesen, dem eine Kugel durch den Kopf flog und nicht mir. Und ich wüsste nur zu gerne, wieso. Er war ein Verrückter, immerhin hatte ich ihn noch nie zuvor gesehen, und er hatte mich beinahe umgebracht. Aber es war eher das Warum, was mich zum nachdenken anregte, der Grund für diese Tat, und für seinen Schmerz. Wieso hatte denn der Amokläufer Angst, wenn er den Lauf abdrückte? Ein Gedanke, der mir Gänsehaut bereitete. 

"Ich bin keine Heldin", sagte ich, um mich davon abzuhalten noch länger über den jungen Mann nachzudenken. "Ich habe gar nicht genau realisiert, was dort passiert ist. Es ging alles ziemlich schnell.", fügte ich hinzu, ehe Andrew Smith protestieren konnte. 

Meine Mutter hatte endlich aufgehört, meine Hand zu zerquetschen und streichelte mittlerweile nur noch sanft darüber. "Nun, du hast dennoch das Leben von jemandem gerettet. Obwohl es mir lieber gewesen wäre, wenn das nicht passiert wäre mein Schatz. Ich werde schon dafür sorgen, dass diese Ärzte dich wieder ganz herstellen. Und was diesen kranken Kerl betrifft.." Sie schüttelte den Kopf. "Ist schon gut Mum. Es ist doch alles gut verlaufen. Es hätte viel schlimmer kommen können." Ich stellte mit Verwunderung fest, dass ich das tatsächlich dachte. Meine Beine fühlten sich an, als seien sie nicht vorhanden, aber andererseits war ich einfach nur erleichtert, noch am Leben zu sein. Dass ich nicht laufen konnte, verdrängt ich in eine der hintersten Ecken meines Kopfes und dachte nicht mehr darüber nach, um nicht durchzudrehen. Das würde schon werden. Es gab Hoffnung und ich hatte groβes Glück gehabt, also würde ich auch damit fertig werden.

"Wir werden dich noch eine ganze Weile hierbehalten müssen, deine Mutter hat dir ein paar Sachen hergebracht und da waren schon einige protestierende Schüler vor unseren Türen, die es kaum abwarten konnten, dich zu sehen. Aber ich denke es ist am besten, du ruhst dich jetzt erstmal noch ein bisschen aus." Andrew seufzte. "Ich werde die Polizei nicht lange davon abhalten können, dich mit ihren Fragen zu belästigen, wenn sie erfahren dass du aufgewacht bist. Tut mir leid.", sagte er mit einem besänftigenden Blick in meine Richtung, ehe er aufstand. Ich nickte nur leicht. "Das ist kein Problem. Ich fühle mich eigentlich im Moment gar nicht so schlecht, bloβ ein bisschen durcheinander." erklärte ich. Andrew lächelte. "Du hast einiges an Schmerzmitteln bekommen, glaub mir, dass du durcheinander bist wundert mich eher weniger. Aber dass es dir gut geht, ist ein extrem gutes Zeichen. Ich komme in ein paar Stunden nochmal, um nach dir zu sehen, da links auf dem Nachttisch ist ein Knopf, mit dem du eine der Krankenschwestern rufen kannst wenn du was brauchst." 

Meine Mutter nickte und wedelte leicht mit einer Hand um ihm zu deuten, dass er endlich gehen sollte. Ich warf ihr einen schockierten Blick zu und lieβ mich dann zurück in das weiche Kissen sinken. 

"Ich hab dich lieb, Amy. Ich hab dich so lieb!" Plötzlich schluchzte sie laut und ich spürte das Gewicht ihres Kopfes an meiner Schulter. "Ich dich auch, Mama", versicherte ich ihr und drehte meinen Kopf vorsichtig zu ihr. "Ich dich auch."

Dass ich eingeschlafen war, merkte ich erst, als ich die Augen wieder öffnete und mich allein in dem recht kleinen Raum wiederfand. Die Wände waren eintönig weiβ, die einzige ABlenkung die es gab war ein groβes Bild von einer Rose auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Er besaβ ein Fenster, doch der Rolladen war heruntergelassen worden, sodass ich nicht wusste ob es drauβen dunkel oder hell war. Irgendwie kam ich mir seltsam vor, weil ich kein Zeitgefühl mehr besaβ. Hatte ich nun ein paar Stunden geschlafen, oder noch länger? Ein leichtes Stechen in meinem Kopf deutete an, dass die Schmerzmittel wohl nachlieβen. Mit einem leisen Seufzen starrte ich an die Decke über mir, und fast wäre ich erneut eingeschlafen, wenn nicht in diesem Moment die Türe aufgegangen wäre.

"Ich glaube nicht, dass sie bereits in der Verfassung ist-" "Das werden wir selbst herausfinden, es ist dringend." "Ich meine ja nur." Ich erkannte Andrews Stimme und die eines älteren Mannes, die den Raum betraten. War das einer der Männer von der Polizei? Ohne darüber nachzudenken schloss ich die Augen wieder und wartete ab. 

"Wir müssen ein Phantombild erstellen, und sie ist die einzige, die uns dabei noch helfen könnte. Je schneller wir ihn finden, desto besser." "Ja, das verstehe ich, aber dieses Mädchen hat eine schwere Operation hinter sich und sie erholt sich gerade erst davon. Das alles war für sie ein schrecklicher Schock, sie können also nicht einfach hier hereinmarschieren und sie wieder durcheinanderbringen!" 

Ich gab auf und versuchte, den Kopf zu heben. Offenbar mochte Andrew die Vorgehensweise des Polizisten nicht gerade, denn er stand mit verschränkten Armen in der Tür und starrte bedrohlich in das Gesicht des müde und vorallem genervt wirkenden Mannes. 

"Ist schon gut!", brachte ich hervor, aber es war wieder nur ein Flüstern. Der Polizist grummelte irgendetwas und schob Andrew einfach zur Seite. 

Dann stellte er sich in mein Sichtfeld, musterte mich kurz mit einem eher fragenden und kritischen Blick und seufzte dann. "Also. Dein Name ist Amelia Branfield, richtig?" Ich nickte hastig, was sich als groβer Fehler herausstellte, denn erneut entstand dieses schmerzhafte Ziehen in meinem Kopf. "Ja.", brachte ich mit einem Keuchen hervor. 

"Gut. Ich habe ein paar Fragen zu dem... Vorfall."

Ich versuchte, ihm alles, was er wissen wollte genau zu erklären und zu beantworten. Das einzige Mal, als ich zögerte, war als es um das Gesicht des Mannes ging, der mich angeschossen hatte. Ich konnte mir selbst nicht erklären, wieso ich nicht einfach genau beschrieb, wie er aussah. Irgendetwas hinderte mich daran, vielleicht war es Angst, vielleicht aber auch einfach Mitleid. Stattdessen erzählte ich dem Polizisten einfach nur, dass es mir im Moment noch schwerfiele, mich an Details zu erinnern und dass ich Dr. Smith bescheid sagen würde, wenn mir etwas einfiel. Nach etwa einer halben Stunde wurde ich dann von dem Verhör entlassen und mit einem Nicken verabschiedete sich der Mann wieder. Andrew stand noch immer in der Türe und als wir wieder allein waren, setze er sich zu mir.  "Deine Mutter ist losgefahren, um dir ein paar Sachen zu holen, und deine Freunde aus der Schule habe ich weggeschickt weil du noch geschlafen hast.", erklärte er leise. Mit einem Nicken sah ich zu ihm hoch. 

"Sie sind wirklich nett. Sie scheinen sich ja gut um ihre Patienten zu kümmern."

"Ich habe auch nicht jeden Tag eine Heldin mit Kopfschuss in meinem OP-Saal."

Ich lachte leicht, versucht aber, mich dabei möglichst wenig zu bewegen aus Angst vor weiteren Schmerzen. "Nun, sie nennen mich andauernd so, dabei bin ich gar keine Heldin."

"Du hast das Leben von mindestens einem anderen Jungen gerettet, und vielleicht sogar das deiner ganzen Klasse. Anscheinend hat der Kerl nach seinem Schuss ein ziemlich untypisches Verhalten an den Tag gelegt. Er hat die Waffe fallen gelassen und ist ohne weiteres davongerannt. Irgendwas hast du wohl bei ihm ausgelöst." 

"Wirklich? Geht das überhaupt? Sind solche Menschen nicht völlig verrückt und krank?", fragte ich vorsichtig und unsicher. Andrew wiegte den Kopf leicht hin und her, schien zu überlegen wie er seine nächsten Worte am besten ausdrücken konnte.

"Nein, nicht unbedingt. Menschen die etwas derartiges tun haben meist selbst groβe psychische Probleme, Ängste, Schmerzen. Wurden misshandelt oder haben das Vertrauen in die Menschen um sie herum verloren. Es zeugt von groβer Verzweiflung, keinen anderen Ausweg mehr zu finden als das Leben anderer zu beenden." 

Bei seinen Worten zuckte ich leicht zusammen, denn sie erinnerten mich wieder an den schrecklichen Schmerz auf dem Gesicht des jungen Mannes. Was war mit ihm passiert, dass er soweit ging, und wieso nur hatte er seine Pläne dann wieder geändert? 

Andrew musterte mich und lächelte dann schwach. "Aber mach dir keine Sorgen, Amelia. Er kann dir jetzt nichts mehr tun und die Polizei wird ihn finden, und dann wirst du vielleicht auch erfahren wieso er das getan hat." 

Mit diesen Worten stand der Arzt auf, legte mir kurz beschwichtigend seine Hand auf den Arm und verlieβ dann den Raum. Ich sah ihm nach, noch lange nachdem er bereits weg war. Irgendwie mochte ich ihn, denn er schien der einzige zu sein, der sich Gedanken darüber machte, über was ich mir Sorgen machen könnte. 

Aber immer wieder sah ich jetzt dieses schmerzverzerrte Gesicht, es lieβ mich nicht mehr los. Ich musste wissen, was mit diesem Mann geschehen war, und kurz lächelte ich, als ich mich dabei ertappte wie ich mir doch tatsächlich wünschte, ihn nochmal zu sehen. 

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Tag der Veröffentlichung: 19.02.2015

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