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Prolog

 

.:Tränen eines Engels:.

 

 

Hast du jemals darüber nachgedacht, wie es sich anfühlt, zu sterben?
In dieser einen, unglaublich langen Sekunde, habe ich es gewusst. Ich habe dem Tod in die Augen gesehen. Ich habe die Kälte gespürt, die einen erwartet, wenn sich die Seele langsam aus der Welt erhebt und wegfliegt. Die dunkle Stille, die mich umgab, machte mir Angst und beruhigte mich zugleich.

In eben dieser Sekunde wurde mir klar, was es bedeutet zu leben. Wie wertvoll das Leben ist. Wie viele wichtige Momente und Erinnerungen man durchsteht und aufnimmt. Und wie sehr ich es zurück wollte. Beinahe hätte ich laut und sarkastisch losgelacht, weil es tatsächlich den Tod brauchte, um das Leben zu schätzen.

Doch dann legten sich kalte Klauen um meinen Geist, und ich spürte, dass es doch noch nicht soweit war. Dass ich die Erlaubnis hatte, noch ein bisschen zu verweilen. Ich wurde wieder hinabgezogen, zurück in das Leben, was jetzt meines ist. Zurück zu meinem Körper und gleichzeitig meinem Käfig. Zu dem Ort, der mich gefangen hielt und nach dem ich mich trotzdem sehnte. Je näher meine Seele an die Vergangenheit heran flog, desto mehr fühlte ich wieder. Ich fühlte Schmerz, Trauer und Verzweiflung. Ich fühlte Liebe, und dann ein kleines bisschen Hoffnung, das tief in mir schlummerte.

Als ich die Augen aufschlug und laut keuchend nach Luft schnappte, wusste ich, dass ich nicht mehr die Selbe war. Ich war gestorben und wieder aufgewacht. Aber wieso?

Die kühle Luft brannte in meiner Lunge und jagte starke Schmerzen durch meinen Körper.

Langsam klärte sich mein Blick, und über mir erkannte ich ein vertrautes Gesicht.

Ich blickte in die wunderschönen Augen, die mich bereits seit langem faszinierten. Wieso war ich noch am Leben? Was hatte er getan?

Um mich herum ging die Welt zugrunde, erzitternd im Krieg zwischen Licht und Dunkel. Die Erde bebte, und ein Donner grollte über den Horizont.

Doch meine gesamte Aufmerksamkeit galt diesen Augen und dem verzweifelten Ausdruck, der darin lag.

Ich lebte.

 

 


 

Chapter 1

 

Doch fangen wir am besten ganz am Anfang an.

 

5.53 Uhr. Verdammt.

Ich setzte mich auf, nur um festzustellen, wie eisig kalt es in meinem Zimmer war. Ein Windhauch kroch unter meine Bettdecke und ich fröstelte leicht.

Es kostete einiges an Kraft und Überzeugung, meine Beine aus dem Bett zu schwingen und das Licht anzuknipsen. Während ich schlaftrunken durch den Raum torkelte, suchte ich mir ein paar schlichte Klamotten heraus und zog mich an. Nichts besonderes, denn im Endeffekt achtete sowieso niemand darauf, was ich trug.

Mit noch immer müdem Blick suchte ich mir meinen Weg ins Badezimmer, und versuchte möglichst leise aufzustöhnen, als ich gegen den Bücherschrank im Flur lief. Mein Vater schlief noch, ich gönnte ihm die restlichen paar Minuten, ehe auch sein Wecker klingeln und ihn in die Realität holen würde.

Seit etwa einem Jahr lebte ich nun bei ihm, und im Grunde gefiel mir das Leben dort sehr. Nicht weil wir viel miteinander unternahmen, oder gar sprachen. Sondern einfach, weil er mich das tun ließ, was ich wollte. Er vertraute mir an, selbst zu entscheiden; wann ich lernte, wann ich schlief oder wie viel ich ass. Ich genoss diese Freiheit.

Mehr beinhaltete mein Leben allerdings nicht. Ich besaß keine richtigen Freunde, keine Hobbys oder besuchte Vereine. Meistens saß ich herum, schlief oder zeichnete irgendwelche Kritzeleien vor mich hin.

Ich hatte die Fähigkeit, mich so gut an meine Umgebung anzupassen, dass ich keinen bleibenden Eindruck hinterließ. Wenn ich in der Schule durch einen Gang lief, sah mich niemand an. In meiner Klasse wusste keiner meinen Namen. Auf der Straße liefen Menschen vorbei, ohne sich später daran erinnern zu können, dass ich dagewesen war.

Ich war einfach normal, still und unauffällig, Müde schüttelte ich den Kopf, um mich von meinen Gedanken loszureißen. Ich betrachtete mein Spiegelbild, welches mir verschlafen und zerzaust entgegensah. Mein relativ langes, braunes leicht gelocktes Haar, die braungrünen Augen und die vollen Lippen wirkten kalt und gefühllos.

Dann begann ich, meine Haare zu bürsten und meine Augen mit einem dunklen Kajal nachzufahren. Nach etwa einer Viertelstunde war ich einigermaßen einverstanden mit meinem Aussehen und beschloss, dass mehr die Mühe gar nicht wert wäre.

Nachdem ich einen Kaffee getrunken und meine Tasche gepackt hatte, ging ich leise seufzend die Stufen herab bis zur Haustüre und verabschiedete mich von meinem Kater, der mir maunzend nachrief und sich beschwerte, dass ich sein Frühstück vergessen hatte.

Der Busfahrer sah sich meine Karte nicht einmal mehr an, sondern winkte mich nur noch mit einem schlecht gelaunten „Guten Morgen“ nach hinten durch. Auch der Schulweg war nicht anders als sonst: Während der ganzen Zeit starrte ich aus dem Fenster und versuchte, mich geistig auf den kommenden Tag vorzubereiten, und nicht darüber nachzudenken, dass er genau gleich wie alle anderen sein würde. Doch es gelang mir nicht.

Eigentlich tat es das nie.

An der Schule angekommen stieg ich aus und betrachtete kurz das große, alte Gebäude. Es war die einzige Schule in der Umgebung, die noch ein Altbau war und nicht bereits Wände voller Glasscheiben und Tafeln mit einer Touchfunktion hatte. Ich mochte sie eigentlich, und auch mit dem Lernen hatte ich keine großen Probleme.

Müde gähnend ging ich die Stufen herauf zu meinem Klassenzimmer.

Die ersten Stunden vergingen schnell, und ohne irgendwelche Besonderheiten. Natürlich hatte ich auch nichts anderes erwartet. Ich passte auf, schrieb meine Notizen, und wurde nicht beachtet. Doch während der ersten großen Pause änderte sich etwas.

Ich spürte plötzlich etwas, dass ich nie zuvor so stark verspürt hatte: Das Gefühl, beobachtet zu werden. Verwirrt sah ich mich um, im Treppenhaus, auf den Fluren und ich ging sogar bis auf den Pausenhof, um den Ursprung des seltsamen Gefühles einordnen zu können, doch da war niemand. Es schien, als sei alles wie immer, ich fiel nicht auf und keiner machte Anstalten, mit mir zu sprechen oder mich in irgendeiner Weise anders anzusehen als sonst.

Und doch, irgendetwas in mir fühlte sich verfolgt, beobachtet… Dann schüttelte ich den Kopf. Was dachte ich da nur für einen Quatsch. Dieses Gefühl war nur eine Einbildung. Wie könnte es auch anders sein?

Ich hatte mir wohl zu viele Gedanken darüber gemacht, dass mich niemand beachtete. Und jetzt begann ich mir vorzustellen, dass jemand da wäre der mich ansah.

„Wie lächerlich.“, murmelte ich leise.

Dann klingelte die Pausenglocke und signalisierte so, dass es an der Zeit war, wieder nach oben zu gehen. Ich sah mich noch ein letztes Mal um und stieg schließlich all die Treppen wieder herauf.

Ich musste mich konzentrieren und hatte keine Zeit für solche Hirngespinste. Der Rest des Schultages verging eintönig, ich ignorierte den ‚Vorfall’ einfach und konzentrierte mich völlig auf den Inhalt des Unterrichts. Als die letzte Stunde vorbei war, freute ich mich, nach Hause zu kommen. Dann würde ich zeichnen können, oder Musik hören.

Doch gerade als ich die Treppe zum Hauptausgang der Schule herabstieg, sah ich ihn. Er wäre mir kaum aufgefallen, da ich normalerweise die Menschen um mich herum nicht großartig beachtete, doch mit jedem Schritt, den ich die Treppen weiter hinabging, wurde das Gefühl des Beobachtetseins stärker und stärker. Aus Reflex sah ich auf und irgendetwas an ihm fesselte mich sofort.

Es war ein junger Mann, ich hätte ihn auf etwa 19 oder 20 Jahre geschätzt. Er hatte schwarz gelockte Haare, die ihm leicht in die Augen fielen, und trug dunkle Kleidung. Seine schwarze Lederjacke schien wie für ihn gemacht, und die enge Jeans passte perfekt zu seinem Äußeren. Er war groß, ungefähr einen Kopf größer als ich selbst, und hatte eine schlanke Figur. Doch unter seinem dunklen Shirt konnte ich schwach seinen muskulösen Oberkörper sehen, den man nicht erwartete, wenn man sich seine eher schmalen Schultern ansah.

Aber das, was mir als erstes ins Auge gestochen wäre, wenn es da nicht noch etwas viel Erschreckenderes an ihm gegeben hätte, wären seine Augen gewesen. Es waren unglaublich schöne, unnatürlich blaue Augen. Trotz des schwachen Lichtes, das die Wolken durchließen, schienen sie in verschiedenen Blau- und Lilatönen zu leuchten und zu strahlen.

Doch selbst für diese wunderschönen Augen konnte ich nur einen kurzen Blick entbehren, denn auf seinem Rücken lagen riesige, geschwungene Flügel.

Lange, schwarze Federn gingen ineinander über und schillerten als seien sie mit Perlmutt überzogen. Sie wurden, oben angefangen, immer größer und breiter, und am Ende waren sie beinahe so lang wie mein Unterarm. Ich konnte kaum aufhören, sie anzustarren, und wollte mir gar nicht vorstellen, wie riesig diese Flügel erst wären, wenn er sie ganz ausbreiten würde.

Erst als er sich bewegte, wurde ich aus meinem Staunen herausgerissen. Er machte einen Schritt auf mich zu, und ich zuckte so heftig zusammen, wie ich es schon lange nicht mehr getan hatte. Das hier musste ein Traum sein! Es gab in der Realität keine Menschen mit riesigen Flügeln und seltsamen Augen, und es gab in der Realität niemanden, der mich direkt bemerkte. Ich stolperte ein Stück zurück und schloss kurz die Augen, in der Hoffnung, dass er verschwunden wäre, wenn ich sie wieder öffnete.

Doch das war er nicht. Zwar kam er nicht noch näher, doch er machte auch keine Anstalten sich in Luft aufzulösen, wie ein normaler Traumcharakter. Wütend schüttelte ich wieder den Kopf und versuchte, aufzuwachen. Oder zumindest, das hier aus meinem Kopf zu verbannen.

Und tatsächlich, als ich dieses Mal wieder aufsah, war er fort. Alarmiert sah ich mich noch ein paar Mal um, dann rappelte ich mich auf und versuchte, das zu begreifen. Wieso bildete ich mir so etwas ein? Und wieso war es mir so real vorgekommen?

Auf dem Weg nach Hause -und auch dort noch- konnte ich meine Gedanken nicht mehr von  der seltsamen Begegnung losreißen. Erst gegen Abend schaffte ich es, mich endlich davon zu überzeugen, dass es nicht real gewesen sein konnte. Ich setzte mich mit einer Tasse Tee auf mein kleines Fensterbrett und sah nach draußen in die dunkle Nacht. Mein Zimmer hatte einen großen Vorteil gegenüber anderen Zimmern: Ich hatte sowohl ein schräges Dachfenster, als auch ein kleines gerades Fenster mit einer Fensterbank, wodurch ich nachts die Sterne und abends den Sonnenuntergang ansehen konnte. Ich hätte in meinem ganzen Leben nicht damit gerechnet, das an ausgerechnet diesem Abend ein Engel gegen meine Fensterscheibe klopfen würde.

Dementsprechend erschrocken fiel ich von dem kleinen Brett und krachte rückwärts gegen meinen Schreibtisch und dann auf den Boden, als plötzlich das Gesicht des jungen Mannes vor meiner Scheibe auftauchte.

Anfangs zog ich die Beine an und hoffte und betete, dass es nur eine Einbildung gewesen war, doch als das Klopfen wieder und wieder ertönte, sammelte ich all meine Kraft und sah herauf. Und tatsächlich, da war er. Er schaute suchend herein, und als er mich erblickte winkte er und zeigte auf den Griff des Fensters. Ich dachte mir, dass das Letzte was ich tun würde jetzt dieses Fenster zu öffnen wäre, und doch war ich irgendwie neugierig.Ich wollte wissen, was er wirklich war, und was er wollte. Und ich wollte herausfinden, ob er nicht doch nur eine Einbildung war. Nach ewiglangem Zögern und vielen Gedanken, lehnte ich mich vor und öffnete den Griff.

Ich wusste, dass ich diese Tat bereuen würde, und doch konnte ich nicht widerstehen. Man sah seinem Blick an, dass er weniger begeistert über meine Zweifel war, und als ich es geöffnet hatte, war er plötzlich weg. Ich starrte verwirrt nach draußen, wo gerade eben noch ein Mann mit Flügeln vor meinem Fenster geschwebt hatte, und lehnte mich ein Stück vor, um zu sehen, ob er noch in der Nähe war. Doch plötzlich ertönte ein lautes Räuspern hinter mir. Ich wäre beinahe aus dem Fenster gefallen, hätte ich mich nicht gerade noch so an der Wand festhalten können.

Schockiert wirbelte ich herum. „Wie bist du hier rein…“, setzte ich an, doch er ließ mich mit einer genervten Handbewegung verstummen. „Das ist alles unwichtig. Hör zu ich bin ein Engel. Oder ich war es zumindest bevor du ausgewählt wurdest und ich als dein Beschützer hier auf diese schreckliche, verseuchte Erde geschickt wurde. Das hier gefällt mir nicht und dir wird es sicherlich auch keinen Spaß machen, aber du wirst damit klarkommen müssen.“, sagte er. Trotz des genervten und beiläufigen Untertones war seine Stimme wunderschön. Fasziniert sah ich ihn an. Doch dann begriff ich seine Worte, und musste laut loslachen.

Erst ein starkes Pochen meines Kopfes und sein verwirrter Blick ließen mich verstummen. Instinktiv berührte ich mit einer Hand meinen Hinterkopf, und fühlte etwas Warmes, Nasses.

Blut.

Ich hatte mir wohl den Kopf an der Kante meines Schreibtisches angeschlagen, als ich rückwärts dagegen geknallt war. Er starrte auf die rote Flüssigkeit an meinem Finger als sei es eine ansteckende Krankheit und machte einen Schritt zurück. Ich sah ihn an. „Also, wo sind die Kameras? Oder bin ich jetzt völlig durchgedreht?“, sagte ich spöttisch. „Du bist nicht real, und ich glaube, dass ich grade träume. Aber dafür, dass das hier ein Traum ist, tut die Wunde echt verdammt weh.“, seufzte ich. Er legte den Kopf leicht schief, und nun war er es, der amüsiert aussah. „Du denkst, du träumst? Das hier ist kein Traum, Kleine. Es ist die schreckliche, unangenehme und völlig unnütze Realität, in der wir uns befinden. Und du wurdest auserwählt um mir zu helfen, diese Welt zu retten. Ausgerechnet diese.“ Ich verstand nicht wirklich, was er da redete, und ich fühlte mich, als würde ich jeden Moment das Bewusstsein verlieren. Das Pochen war zu einem starken Hämmern angeschwollen und der Schmerz wurde immer unerträglicher.

Wenn das hier also kein Traum war, was machte dann ein Engel in meinem Zimmer? Und wieso sollte ich irgendeine Welt retten? Ich blickte ihn an, und sah dass seine Lippen sich bewegten, doch seltsamerweise konnte ich ihn nicht verstehen. Alles drehte sich und mir wurde klar, dass der Aufschlag wohl fester gewesen war, als es sich anfangs angefühlt hatte. Dann wurde alles immer dunkler, und das Letzte, was ich spürte, waren seine großen Hände die mich vor und zurück schüttelten, und dabei noch heftigere Schmerzen durch meinen Kopf jagten. Dann wurde ich Ohnmächtig.

 

Als ich erwachte, war da immer noch das Gefühl seiner Hände an mir. Doch dieses Mal schien er mich zu tragen. Ich öffnete zaghaft die Augen und rechnete damit, dass gleich wieder ein Schmerz einsetzen würde, doch es geschah nichts. Über mir war der dunkle Nachthimmel, und als ich die Augen richtig geöffnet bekam, stellte ich fest, dass wir flogen. Tatsächlich, er hielt mich in seinen Armen, und wir flogen durch die Nacht. Die großen Flügel schienen nun noch größer, und mit einem leisen  Geräusch flatterten sie auf und ab. Erst jetzt wurde mir klar, in was für einer Höhe wir uns befanden, denn als ich herabsah, waren dort nur kleine Lichtpunkte der Stadt zu erkennen.

Augenblicklich klammerte ich mich fester an ihn, und da schien er zu bemerken, dass ich wach geworden war.

„Man, hast du vielleicht einen tiefen Schlaf. Ich weiß nicht, was ich mit dir anfangen soll. Du bist so nervig und gebrechlich.“, murrte er.

Nun ja, das war nicht grade die netteste Begrüßung, die ich jemals gehört hatte, doch ich traute mich nicht, etwas Unfreundliches darauf zu antworten, solange ich in seinen Armen in solch einer Höhe lag. Ich hatte viel zu viel Angst, dass er mich einfach fallen lassen würde. Und das traute ich ihm auch zu.

„W-Was… machst du da? Wo sind wir? Wohin gehen wir? Bring mich sofort zurück!“

Mit jedem Wort, das ich sagte, wurde meine Stimme hysterischer. Das hier konnte doch gar nicht wahr sein! Ungläubig starrte ich seine Flügel, dann sein perfektes Gesicht und dann die unglaublich weit weg scheinenden Städte und Lichter unter uns an.

„Ich kann dich nicht mehr zurückbringen. Was hältst du davon, wenn du einfach die Klappe hältst und aufhörst, so zu zappeln?“, fragte er.

„Ich soll den Mund halten? Du hast mich, wenn das hier dein Ernst ist, grade von zuhause entführt!“

„Bah! Ich hab dich nicht entführt. Ich bringe dich nur zu deinem eigenen Wohl von deiner Familie fort. Auch wenn ich tausend wichtigere Dinge hätte, als mich um eine menschliche, dumme Nervensäge zu kümmern.“

Wütend funkelte ich ihn an. Meinte er das wirklich ernst? Er schien mich zu hassen. Oder konnte mich zumindest nicht ausstehen. Ich erinnerte mich an seine Worte von zuvor, als er mir erzählt hatte, er sei ein Engel. Und dass er nur meinetwegen hier sein würde. Und dass ich die Welt retten sollte. Allein diese Vorstellung ließ mich schmunzeln. Gerade ich, die Welt retten? Das war das Absurdeste, was ich jemals gehört hatte.

„Wie geht es deinem Kopf?“, fragte er in die entstandene Stille hinein. Ich zögerte kurz und löste dann leicht zitternd eine Hand von der krampfhaften Haltung, in der ich mich an ihn geklammert hatte. Vorsichtig, stets darauf bedacht mich nicht zu weit nach hinten zu lehnen, betastete ich meinen Hinterkopf. Doch da war nichts. Nicht einmal eine Kruste oder Aufschürfung. Verwirrt sah ich ihn an, und krallte mich, nach einem Blick nach unten, wieder an ihm fest.

„Wie ist das möglich?“, fragte ich leise. Ich war mir nicht sicher, ob ich die Frage mehr an mich oder an ihn gestellt hatte, doch offensichtlich fühlte er sich angesprochen.

„Wie es möglich ist? Man, muss ich jetzt wirklich ganz am Anfang beginnen? Ich bin ein Engel. Du bist auserwählt. Ich muss dir helfen damit du auf die Apokalypse vorbereitet bist. Und du bist, nur um das kurz klarzustellen, höchstwahrscheinlich absolut unfähig. Außerdem wirst du sowieso schon sterben, bevor die richtig schlimmen Sachen überhaupt erst passieren! Du siehst, letztendlich bist du absolut unnütz und wertlos.“ Er sagte dies alles mit einem entmutigten Unterton, und erst ein paar Sekunden später wurde mir klar, dass er gerade über mich geredet hatte.

„Wenn ich dir so lästig bin, wieso lässt du mich dann nicht einfach jetzt gleich fallen? Dann hast du uns allen einen Gefallen getan!“, sagte ich wütend und ohne nachzudenken. Ich verstand selbst nicht, wieso mich so ein paar Worte aus dem Mund von diesem Mann so sehr aufregten. Erneut zweifelte ich daran, dass all dies hier real war, doch da ich auch keine Anstalten zu machen schien, aufzuwachen, beschloss ich einfach mitzuspielen. Oder er würde mich tatsächlich fallen lassen, und ich würde das ganze als einen Alptraum ansehen wenn ich aufwachte. Noch während ich darüber nachdachte, fühlte ich plötzlich, wie sich sein Griff lockerte. Und dann…ließ er einfach los.

Ich fiel, und sah sein ironisch grinsendes Gesicht über mir, bevor er immer kleiner wurde und die Lichter unter mir immer heller. Ich schloss die Augen. Er hatte mich gerade tatsächlich…

Naja, vielleicht würde ich ja so endlich aufwachen. Und dann könnte ich in mein gewohntes Leben zurück und müsste mir keine Sorgen mehr um jemanden wie diesen ‚Engel’ machen.

Doch plötzlich flüsterte seine Stimme von hinten in mein Ohr:

„Du denkst doch nicht wirklich immer noch, das hier wäre nicht real? Ich könnte dich jetzt einfach aufprallen lassen, aber dann würde ich ja dein erstauntes Gesicht nicht sehen, wenn du endlich begreifst, dass es sehr wohl real ist.“

Ich zuckte zusammen und riss die Augen auf, unter mir konnte ich bereits wieder die Dächer der Häuser sehen. Doch bevor wir auch nur in die Nähe des Bodens kamen, legte er wieder die Arme um mich und bremste unseren Fall mit einem einzigen, kräftigen Flügelschlag ab. Leicht zitternd und zusammengekrümmt hing ich nun erneut in seinen Armen und starrte ihn an.

Es schien ihm sogar Spaß zu machen, mit mir zu spielen.

Konnte meine Fantasie so jemanden überhaupt erstellen? Und wieso tat ich mir das an? Wir flogen weiter, und bald ließen wir die Städte hinter uns. Ich wagte nicht, noch einmal irgendetwas zu sagen, also schwiegen wir uns an. Ich weiß nicht genau, wie lange wir flogen, doch es fühlte sich an wie mehrere Stunden. Und je länger wir unterwegs waren, desto kälter wurde mir und desto mehr Angst bekam ich.

Wie lange würde denn das hier noch gehen? Konnte es wirklich sein, dass es die Realität war? Dass Engel existierten? Dass die Apokalypse bevorstand?

„Da vorne werden wir für heute Nacht eine kurze Pause einlegen. Meine Kraft hält auch nicht für immer, und so langsam habe ich keine Lust mehr. Du bist so langweilig.“, seufzte er.

Ich folgte seinem Blick zu einer kleinen abgelegenen Hütte an einem leichten Berghang, und stellte gleichzeitig fest, dass wir sehr stark an Höhe verloren hatten. Er landete vor der Hütte, als sei das das leichteste, was er jemals getan hatte und lief einfach weiter. Endlich wagte ich, mich zu rühren und zappelte so stark ich konnte damit er mich runterließ. Nach kurzem Zögern tat er das auch, und irgendwie wirkte er erschöpft.

Aber sollten Engel nicht unermüdliche, mächtige Kraft haben? Er legte die wunderschönen Federn an und trat dann einfach die Türe der Hütte ein. Schockiert sah ich ihm zu. „Das kannst du doch nicht machen!“, rief ich. Doch er zuckte nur die Schultern und stieg über einen Rest des Holzes am Boden. „Wenn du doch sowieso denkst dass es ein Traum ist, kann es dir doch egal sein.“, gab er zurück. Zögernd folgte ich ihm in die kleine Hütte. Er zündete die Öllampe, die er auf dem Tisch gefunden hatte, mit einem Streichholz an. Ihr Licht reichte zwar nicht aus, um den ganzen Raum zu beleuchten, aber mit Hilfe des schwachen Scheins fand er einen Kamin und daneben einen Stapel trockenes Brennholz. Ich stand nur fassungslos da und beobachtete sein Treiben.

War das hier wirklich sein ernst? War ich gerade wirklich hier?

Ein tiefes Seufzen kam über meine Lippen und ich ließ mich einfach auf den Boden fallen. Entmutigt saß ich da und versuchte, diese Geschehnisse zu verarbeiten. Er blickte nur kurz auf und schien amüsiert über meine Verzweiflung. Ich war kurz davor, aufzuspringen und ihn anzuschreien, egal mit welchen Worten, ich wollte nur irgendetwas machen, das ihm dieses amüsierte Lächeln aus dem Gesicht schlug. Aber ich blieb sitzen, und tat nichts. Auch nicht, als er das Feuer angezündet hatte, einen Schrank vor die Tür schob, damit die Warme Luft nicht gleich wieder nach draußen wehte, und auch dann nicht, als er anfing, nach irgendetwas Essbarem zu suchen. Ja, tatsächlich, da stand nun wirklich ein Engel vor mir, mit einer Packung Tiefkühlgemüse in der einen Hand und einem Kochtopf in der Anderen. Mir fiel auf, dass er etwas ratlos schien, was den Herd betraf, und es kam mir vor, als würde er eine Sekunde lang überlegen mich um Hilfe zu bitten. Aber er drehte sich nur weg und suchte in den Schränken nach etwas anderem.

Ich rappelte mich auf, stellte mich neben ihn und nahm die Packung mit dem Gemüse. Es war ein typischer kleiner Gasherd, und ich brauchte ihn nur anzuzünden, damit eine schöne Flamme den Topf erhitzte. Ich fand auch noch ein paar Nudeln und eine Soße, und begann, alles zu kochen.

Normalerweise ernährte ich mich von Tiefkühlpizzen und Fertiggerichten, aber die wenigsten Grundlagen zum Kochen hatte ich mir aus langweile angeeignet. Nach einiger Zeit bemerkte ich seinen Blick auf mir, und als ich aufsah, schaute er mir interessiert zu. Ich wusste nicht, ob ich etwas sagen sollte, oder ob er gleich wieder eine abfällige Bemerkung abgeben würde, also schwieg ich einfach und rührte weiter.

Der Duft des provisorischen Essens erfüllte den Raum und es war schneller fertig als ich erwartet hatte. Vielleicht hätten wir zuhause auch so einen Gasherd gebraucht.

Aber wir würden ihn ja sowieso nie benutzen.

Als ich an mein Zuhause und meinen Vater dachte, traf mich ein leichtes Stechen in der Brust. Ich wollte wieder zurück. Das hier war alles viel zu verrückt und ich wusste nicht, was ich hier genau tat. Nachdenklich verteilte ich das Essen auf zwei Teller und stelle sie an den kleinen Tisch, der in der Mitte des Raumes stand.

„Wie heißt du eigentlich?“, fragte ich kurzerhand, da ich ihn nicht mit Engel ansprechen wollte.

Er sah mich immer noch an und reagierte erst einige Sekunden später, als sei er völlig in Gedanken gewesen.

„Nathan.“, murmelte er. Ich gab ihm seinen Teller und er starrte kurz darauf.

„Nur wegen dir muss ich essen. Früher musste ich das nicht.“ Es klang wie ein starker Vorwurf, aber ich hatte nicht das Gefühl, als würde er wirklich mir gelten.

Ich überlegte. Wahrscheinlich mussten Engel im Himmel nicht essen… Aber hier auf der Erde? Er schien ja auch nicht solch unglaubliche Kräfte zu haben, wie ich es mir von einem Engel vorgestellt hatte. Musste er das aufgeben um auf der Erde zu sein? Ich beobachtete ihn beim Essen. Es sah tatsächlich so aus, als würde er zum ersten Mal eine Gabel in der Hand halten. Ich dachte ja bereits so, als wäre das wirklich real! Leicht schockiert über mich selbst schaute ich auf. Dabei war es doch nur ein Traum, oder?

Nur wie lange würde ich mir das noch einreden können? Er schien meinen verwirrten Ausdruck zu bemerken und lachte. Da er aber den Mund noch voller Nudeln gehabt hatte, verschluckte er sich und drehte sich laut hustend weg. Ich betrachtete ihn, und konnte mir erneut nicht vorstellen, dass dieser Mann tatsächlich ein Engel sein sollte. Aber da waren seine Flügel, und die Tatsache, dass meine Wunde völlig weg war. Was also sollte ich jetzt glauben? Ich war hin- und hergerissen, und während ich beide Möglichkeiten abschätzte, schien er sich wieder von seinem kleinen Anfall erholt zu haben. Er grinste bereits wieder amüsiert, als er das nächste Mal das Wort erhob.

„Das Essen ist miserabel. Du solltest wirklich noch üben, aber da du eh früher oder später draufgehst würde das nichts bringen. Das nächste Mal gehen wir irgendwo essen.“, grinste er.

Ich konnte darüber nicht lachen. Allgemein hatte ich das Gefühl, als hätten mich die meisten meiner Emotionen verlassen und als wäre da nur noch ein leichter Hauch von Angst und Ungläubigkeit. Als ich nicht auf seine Worte einging lehnte er sich zurück und machte ein beleidigtes Gesicht. Erneut bemerkte ich, wie wunderschön er war.

„Nathan… Haben nicht alle Engel einen Namen mit irgendeiner Bedeutung? Was bedeutet deiner?“, fragte ich schließlich, weil ich ihn noch einmal sprechen hören wollte.

„Es kommt von Nathanael, was bedeutet ‚Gott gibt’. Naja er hat mich quasi dir gegeben. Auch wenn dir dieses kleine Geschenk nicht viel Freude bereiten wird.“ Seine Stimme hatte wieder diesen Unterton, es war, als habe er in Bezug auf die Zukunft alle Hoffnung verloren.

Irgendetwas in mir wollte, dass er diesen Ton nicht mehr benutzte. Ich wusste nicht wieso, aber ich wollte ihn lieber wieder Lächeln sehen.

„Wie wär’s wenn du den Abwasch machst?“, fragte ich um das Thema zu wechseln. Aber er widersprach nicht oder gab etwas Beleidigendes wie ‚Mach es doch selber’ oder ‚Wieso sollte ich?’ zurück, sondern stand wortlos auf und räumte das Geschirr ab. Verwundert sah ich ihm nach und stand auf.

„Das war nicht ernst gemeint. Ist schon okay, ich hatte nur nicht erwartet, dass du das wirklich machen würdest.“, sagte ich schnell und versuchte, ihm die Teller aus der Hand zu nehmen.

Doch er machte keine Anstalten sie loszulassen. „Vergiss es, verzieh dich einfach und wärm dich auf.“, sagte er kalt. Ich schüttelte den Kopf und versuchte weiter, ihm die Teller zu entnehmen.

„Man, gib schon her! Ich mach das gerne. Du musst es nicht machen!“. Ich wusste kaum, warum ich es ihn eigentlich nicht machen lassen wollte, aber irgendwie bekam ich ein schlechtes Gewissen wenn ich mir vorstellte, wie er den Abwasch alleine machen würde. „Ist mir egal. Geh dich aufwärmen.“ Mit seiner freien Hand packte er mein Handgelenk und sah mir in die Augen.

„Du bist eiskalt. Geh schon!“, wiederholte er.

Natürlich hatte er recht, während unseres Fluges war mir die Kälte unter die Haut gekrochen und bisher hatte die Wärme des Feuers mich noch nicht lange genug erreicht, um sie wieder zu vertreiben. Ich fragte mich, wie er es schaffte, dass seine Hand so unglaublich warm sein konnte.

„Ich will aber nicht, dass du es allein machst. Dann lass mich dir wenigstens helfen.“, trotzte ich.

Er seufzte tief und ließ mich los. Dann warf er mir ein kleines weißes Handtuch zu und begann, einen der Wasserkanister, die in der Hütte standen in eine kleine Wanne zu kippen. Ich stand wortlos daneben und fühlte mich seltsam. In meinem ganzen Leben hatte mich noch nie eine Person so sehr aufgeregt wie Nathan, und doch war etwas an ihm, was mich unglaublich faszinierte.

Nachdem er den ersten Teller abgewaschen hatte gab er ihn mir und ich machte mich daran, ihn abzutrocknen. Als wir fertig waren setzte ich mich schweigend vor den Kamin, und zu meiner Verwunderung setzte er sich plötzlich neben mich. Es war noch relativ viel Abstand zwischen uns, aber ich fühlte die Spitzen der weichen Federn an meinem Arm. Er seufzte erneut laut hörbar.

„Cas.“ Als er mich plötzlich mit meinem Spitznamen ansprach, zuckte ich zusammen.

Woher wusste er, dass mich jemand so nannte? Mein richtiger Name war Cassandra, aber meine Familie nannte mich Cassie. Nur eine einzige Person hatte mich Cas genannt, und das war meine Mutter. Früher war sie für mich die wichtigste Person in meinem Leben gewesen, bis sie plötzlich an einer unerklärlichen Krankheit starb. Es hatte keine Anzeichen gegeben, und niemand wusste, was mit ihr geschah. Sie brach einfach zusammen und erwachte nie wieder.

Meine Welt war damals zusammengebrochen und ich hatte mich zurückgezogen. Aber woher wusste ausgerechnet Nathan wie sie mich genannt hatte? Ich starrte ihn verwirrt an.

Seine Augen, die im Licht des Feuers eine Mischung aus Lila und Tiefrosa angenommen hatten, ruhten auf mir, und in ihnen schien eine unergründliche Traurigkeit zu liegen, die er zuvor nicht an sich gehabt hatte.

„Ich will, dass du eines weißt: Die Zukunft wird nicht einfach. Du wirst dich aufgeben, und du wirst die Hoffnung verlieren. Vielleicht verlierst du sogar deinen Glauben oder schlimmer noch; dein Leben.Du bist so unfassbar zerbrechlich und ich kann mir nicht erklären, wieso gerade du ausgesucht wurdest um irgendetwas da draußen zu bewirken. Aber ich bin hier, um dich zu beschützen.“

Seine Stimme klang traurig, seltsam, und all die fröhlich-sarkastische Stimmung, die er zuvor gehabt hatte, war fort.„Und es ist meine Aufgabe, dir zu helfen. Glaub mir, ich bin nicht glücklich darüber. Ich kann nicht verstehen, wie du schaffen sollst, was auf dich zukommt. Und ich zweifle.“

Er machte eine kurze Pause, bevor er langsam fortfuhr. „Engel zweifeln nicht. Ich bin hier auf der Erde, und ich bin in deiner Nähe. Und irgendetwas scheint mich zu verändern. Aber ich muss vertrauen, auf Gott, und auf seine Entscheidungen. Ich werde tun was er mir befohlen hat. Aber ich zweifle. An dir. An mir. Und vor allem an dieser Welt. Sie ist bereits völlig zerstört! Das heißt, es ist ein Krieg, der verloren ist bevor er überhaupt begonnen hat.“

Kaum merklich schüttelte er den Kopf und sah in die flackernden Flammen. Plötzlich verstand ich ihn besser. Ich wollte nicht, dass er sich so fühlen musste. Ich folgte seinem Blick zu den Flammen und spürte das Kribbeln der Wärme auf meinem Gesicht. Mir war klar, wie unnütz ich war. Wenn das, was er erwähnt hatte wirklich stimmte und ich ihm helfen musste die Welt zu retten, dann war diese Welt doch schon verloren, oder? Wie könnte denn ein Mädchen wie ich so etwas schaffen? Ratlos zog ich meine Knie an und stütze meinen Kopf darauf.

„Das ist einfach zuviel…“, murmelte ich. Doch als ich aufsah, war Nathan gar nicht mehr neben mir. Er war bereits aufgestanden, hatte die Tür zum einzigen weiteren Raum der Hütte geöffnet und dort eine Lampe entzündet. Ich sah ihm kurz nach und überlegte, ob ich sitzen bleiben sollte, doch dann stand ich auf.

Ich folgte ihm in den anderen Raum, indem ein relativ kleines Bett und ein Nachttisch standen. Die Luft dort war kälter, da die Wärme des Kamins durch die verschlossene Tür noch nicht eingedrungen war, und ich erschauderte leicht.

Nathan kramte in der Schublade des kleinen Schränkchens und schloss sie dann gelangweilt. Als ich in sein Gesicht sah, stellte ich erleichtert fest, dass sein provozierendes Lächeln wieder da war.

„Es gibt nur ein Bett. Was hältst du davon, es zu teilen?“, grinste er.

Ich sah ihn verwirrt an und zuckte mit den Schultern.

„Ich hätte nicht gedacht, dass Engel schlafen müssen.“, gab ich zurück. Er legte den Kopf leicht schief und schien darüber nachzudenken, aber dann sah er mich wieder an.

„Eigentlich nicht. Aber mir würde langweilig werden, wenn ich die ganze Nacht darauf warten müsste, dass du deinen Schönheitsschlaf bekommst.“, sagte er dann. Ich drehte mich leicht weg und sah zurück zum einladend flackernden Feuer.

„Na gut. Dann kannst du das Bett haben. Ich werde es mir vor dem Kamin gemütlich machen.“, murmelte ich. Irgendwo würde sich sicher noch eine weitere Decke finden, und ich hatte nichts dagegen auf dem warmen Boden zu liegen. Letztendlich wäre es wahrscheinlich sogar noch angenehmer als das Bett. Während ich nach einer Decke suchte, warf er mir eines der beiden Kissen, die auf dem Laken gelegen hatten, zu und sagte:

„Okay, dann werde ich eben auch dort schlafen. Da ich auf dich aufpassen muss, ist es besser in deiner Nähe zu bleiben. Wer weiß, vielleicht erstickst du sonst im Schlaf oder verbrennst dich am Feuer oder es gibt ein Erdbeben und die Decke stürzt ein. Und wenn du jetzt schon draufgehst kann ich nicht grade von mir behaupten, meine Aufgabe gut erfüllt zu haben.“.

Eigentlich wollte ich diesem Vorschlag widersprechen, denn er redete von mir, als müsse man wirklich jede Sekunde meines Lebens auf mich aufpassen. Aber ich spürte die aufkommende Müdigkeit in mir und wollte mich einfach nicht noch mehr aufregen. Also legte ich das Kissen auf den Boden und legte mich dann darauf.

Mein Blick fiel nach oben und ich betrachtete den Raum genauer. Die Decke der Hütte bestand, wie der Rest der Hütte auch, aus Holz. Mehrere breite Balken stabilisierten sie, damit nicht alles bereits bei einer dünnen Schicht Schnee zusammenbrach.Einige Bilder hingen an den Wänden, doch ich konnte vom Boden aus nicht erkennen, was darauf zu sehen war.

Neben mir vernahm ich ein Rascheln, als Nathan sich zu mir gesellte. Er drehte mir den Rücken -und somit auch seine angelegten Flügel- zu und legte sich auf die Seite. Kurz betrachtete ich ihn und überlegte, ob er wirklich schlafen würde.

Vielleicht konnte er das ja gar nicht. Wahrscheinlich würde er einfach daliegen und warten, bis der Morgen begann. Ich seufzte leise. Im Grunde tat er Einiges für mich, oder? Er hatte mich den ganzen Weg hierher getragen. Er hatte sogar versucht, Essen zu kochen. Und der Gedanke, dass er mich tatsächlich retten würde, egal vor was, hallte immer wieder durch meinen Kopf.

Ich dachte noch eine Weile über alles nach, was in den letzten paar Stunden passiert war, was noch alles passieren würde und –mal angenommen, all das hier war real- wie meine Zukunft aussehen würde. Irgendwann glitt ich in einen ruhigen, traumlosen Schlaf über, geführt von dem Gefühl, sicher zu sein. 

Chapter 2

 

Als ich wieder erwachte, war ich nicht in meinem warmen Bett.

Ich war nicht in meinem Zuhause, obwohl ich trotzdem einen kühlen Luftzug spürte, der dem glich, den ich am gestrigen Morgen auch verspürt hatte. Kurz hoffte ich, dass mein Wecker piepsen würde. Ich hoffte, mein Vater würde in mein Zimmer kommen und mein Licht anknipsen.Und ich hoffte, ich könnte aufstehen und in die Schule gehen.

Aber als ich die Augen öffnete, sah ich über mir nur wieder die Holzbalken, und neben mir die Kacheln des Kamins. Ich setzte mich auf und blinzelte verschlafen in den hellen Raum. Nathan stand vor dem Schrank, den er am Abend zuvor vor die Türe geschoben hatte, und schien zu überlegen wie er ihn am leisesten wieder zurückschieben konnte.

Es war immer noch unglaublich, ihn zu sehen. Seine Flügel, seine Statur. Ich hatte nie damit gerechnet, dass es tatsächlich Engel geben konnte. Doch so langsam sah ich keinen anderen Ausweg mehr, als das hier als neue Realität zu akzeptieren. Nathan würde nicht einfach so wieder verschwinden. All das hier würde nicht einfach wieder aufhören. Das hier war also tatsächlich wahr, und vielleicht würde bald die Welt untergehen.

Der Gedanke daran jagte mir einen eiskalten Schauer über den Rücken, und ich erinnerte mich, einmal etwas über die biblische Apokalypse gelesen zu haben. Und es war nichts Gutes gewesen.

Nathan schien mittlerweile bemerkt zu haben, dass ich aufgewacht war und schob den Schrank laut knarrend von der Türe weg. Dann drehte er sich um.

„Du musst dir wirklich angewöhnen, weniger tief zu schlafen. Es ist schon fast wieder Mittag, und du wolltest einfach nicht aufwachen.“, murrte er.

Ich war mir bewusst, dass ich schlief wie ein Stein, und ich lächelte schwach.

„Du hättest mich auch einfach wachrütteln können.“, sagte ich nur. Dann stand ich schwankend auf, und gähnte. Er beobachtete mich dabei.

„Was machen wir jetzt eigentlich?“ Meine Gedanken vom gestrigen Abend fielen mir wieder ein. „Ich meine, was hast du jetzt mit mir vor? Werde ich meine Familie wieder sehen? Wohin willst du mich bringen? Ich finde, ich habe wenigstens diese Information verdient.“, sagte ich ernst.

Nathan schien überrascht über die Frage, dann nickte er schwach.

„Okay, wie du meinst. Wir werden weiterfliegen. Zu einer Kirche, in der wir uns mit meinen Brüdern treffen. Gott sandte noch weitere Engel auf die Erde herab, um die Apokalypse aufzuhalten. Vielleicht hast du ja mal in der Offenbarung gelesen?“

Fragend blickte er mich an. Ich schüttelte den Kopf. Auch wenn ich durchaus glaubte, dass ein Gott existierte, war ich niemand, der gerne zu Gottesdiensten ging oder in der Bibel las. Ich betete hin und wieder, wenn etwas Schweres bevorstand oder es jemandem in meiner Familie nicht gut ging, aber sonst tat ich nicht viel für Gott.

Ein weiterer Grund dafür, dass es fast unmöglich war, dass er gerade mich aussuchen sollte.

Die einzige wirklich gläubige Person, die ich je gekannt hatte, war meine Mutter gewesen. Sie hatte von ganzem Herzen an Gott geglaubt. Wieder fragte ich mich, woher Nathan meinen Spitznamen gewusst haben könnte.

„Was habe ich schon Anderes erwartet.“ Nathans abfälliger Ton schreckte mich aus meinen Gedanken. „Also, hör zu. Ich erklär es dir nur einmal. Die Offenbarung ist der Teil der Bibel, der sich mit dem Ende der Welt befasst. Alles was geschehen wird ist vorherbestimmt. Viele Menschen werden sterben und alles auf dieser Welt wird aus den Fugen geraten. Und auch wenn du gerade nichts davon merken magst: Es hat bereits begonnen. Überall geschehen schreckliche Dinge. Noch ist es harmlos, aber bald wird alles zerstört sein. In der Offenbarung steht, dass ihr Menschen all das durchstehen müsst, und am Ende, wenn alles kaputt und zerstört ist, wird Jesus selbst auf die Erde herabsteigen und eine Art ‚Neue Welt’, ein Paradies für alle Gläubigen, auf der Erde errichten. Aber es gibt ein Problem. Und dieses Problem ist der Grund, warum ich und meine Brüder hier sind, und warum du uns helfen musst: Es ist zu früh. Der Teufel, wie ihr ihn nennt, erhebt sich und beginnt diesen Kampf bereits. Doch eure Zeit ist noch nicht abgelaufen. Und wenn diese verfrühte Apokalypse nicht aufgehalten wird, gerät das Gleichgewicht durcheinander und viele müssen früher sterben, als es für sie vorherbestimmt war.“

Ich hörte aufmerksam zu, wie Nathan mir mit ruhiger Stimme all das erklärte. Er sprach ernst und ein kleines bisschen Sorge lag in seiner Stimme, als er fortfuhr.

„Wir sind also hier, um Luzifer aufzuhalten und noch für eine unbestimmte Zeit zurück durch die Tore der Hölle zu schicken. Und auf irgendeine Art und Weise wirst du uns dabei helfen. Und wenn du es nicht schaffst, dann verlieren wir unsere größte Hoffnung, verstehst du? Da Gott selbst dich erwählt hat, um für unsere Seite zu kämpfen, muss es eine Möglichkeit geben, wie du uns und damit diese Welt rettest.“

Ich nickte. Auch wenn ich nicht wirklich glaubte, dass ich eine allzu große Hilfe sein könnte, aber ich würde es versuchen. Das alles war schwer zu begreifen und noch schwerer zu akzeptieren, doch was sollte ich schon tun? Solange ich hier war gäbe es keine Möglichkeit zurück nach Hause zu kommen, und wenn die Welt wirklich untergehen sollte, wäre auch dort nichts mehr wie es war.

„Und nun werden wir uns also mit anderen Engeln treffen?“, hakte ich noch einmal nach.

Ich fragte mich, ob sie alle so waren wie Nathan. Als Antwort nickte er nur schwach und deutete dann auf die Stelle, wo einst die Tür der Hütte gewesen war.

„Lass uns gehen. Wir sind nicht mehr weit weg von der Kirche, zu der wir müssen.“

Mir war klar, dass wir wieder fliegen würden und als ich an die bedrohliche Höhe und die Tatsache, dass ich Nathan erneut völlig vertrauen müsste, dachte, wurde mir mulmig zumute. Unsicher ging ich nach draußen und sah mich in der Berglandschaft um.

Der Himmel war noch immer bewölkt und es war eisig kalt. Die dunkelgrünen Tannen waren mit einer Schicht von weißem Raureif bedeckt und wenn ich ausatmete, bildete sich eine kleine Frostwolke vor meinem Gesicht. Der weiche Pulli den ich angezogen hatte, sobald ich gestern zuhause angekommen war, hielt mich zwar einigermaßen warm, aber er ersetzte keine dicke Winterjacke.

Als Nathan hinter mir heraustrat bemerkte ich, dass er noch nicht einmal zu frösteln schien. Vielleicht konnten Engel keine Kälte verspüren? Ich hatte immer gedacht, sie seien helle Lichtgestalten mit leuchtender Aura. Aber vielleicht hatte Nathan ja auch nur diese Gestalt angenommen, damit er auf der Erde wandeln konnte?

Oder vielleicht auch, damit ich keine Angst vor ihm hatte.

Naja, dieser Plan hätte dann aber nicht sonderlich gut funktioniert.

Er stellte sich neben mich und legte einen Arm um meine Schultern und den anderen um meine Beine, dann hob er mich hoch. Ich spürte seine Kraft und die Nähe zu ihm sorgte dafür, dass ich mich augenblicklich geborgener fühlte.

„Du bist echt schwer!“, sagte er. Dazu spielte er noch ein erschöpftes Keuchen und machte ein paar wackelige Schritte, so als könne er mich kaum tragen. Ich funkelte ihn nur wütend an und ging nicht weiter auf seine Provokationen ein. Sollte er doch denken was er wollte. Immerhin war er es der mich von zuhause weggebracht hatte, oder nicht? Und ich hatte ihn ja nicht darum gebeten, mich zu tragen.

Da ich nicht antwortete, seufzte er gelangweilt und wir hoben ab.

Langsam entfernten wir uns vom Boden und die Hütte lag immer weiter hinter uns. Ich beobachtete die vorbeiziehenden Wolken, und einmal flog sogar ein Rabe an uns vorbei. Das Fliegen machte mir nicht mehr soviel aus wie in der gestrigen Nacht, und das einzig Unangenehme war die klirrende Kälte um uns herum.

Nathan schien bemerkt zu haben, wie sehr ich zitterte, und drückte mich etwas enger an sich. Ich fühlte seinen Körper und seine Wärme und es war eine für mich völlig neue, ungewohnte Nähe.

Verlegen sah ich weg. Doch als ich noch einmal einen kurzen Blick zu seinem Gesicht warf, hatte er seine Lippen zu einem amüsierten Lächeln verzogen.

Ich hasste es, dieses Lächeln zu sehen, und gleichzeitig machte es irgendetwas mit mir. Etwas, was ich mir selbst nicht genau erklären konnte.

Bald erblickte ich vor uns den Turm der Kirche. Ich hatte nicht gewusst, dass es hinter den Bergen, die ich fast täglich sah, ein solches Gebäude gab. Bereits von weitem konnte man die weißen Wände sehen, und auf der Spitze des Turmes war ein goldenes Kreuz angebracht. Erst als Nathan landete, sah ich, wie riesig das alte Mauerwerk wirklich war. Das Eingangstor war fast vier Meter hoch, und verziert von Schnitzereien und Goldeinlässen. Überall waren Muster und Skulpturen, und auch wenn Teile der Wand bröckelig aussahen, hatte das Ganze doch eine sehr spezielle Aura.

Mit einem lauten Knarren öffnete Nathan die Türe und als wir eintraten, kam uns eine angenehme Wärme entgegen, fast so, als habe jemand das Gebäude extra für uns aufgeheizt. Ich blickte mich verwirrt und fasziniert zugleich um. Es war gewaltig; die Bankreihen waren aus einem dunklem Holz und an jedem Ende war eine andere Figur eingeschnitzt. Der Boden schimmerte in unterschiedlichen Farben von Licht, das durch die Buntglasfenster herabgeworfen wurde. Überall waren goldene Verzierungen, an manchen Stellen und Gemälden an der Wand dachte ich sogar, funkelnde Steine entdecken zu können. Und alles führte in einer perfekten Konstruktion zu einem Ziel hin:Einem riesigen, auf den Boden gezeichneten, goldenen Kreuz. Daneben stand ein Altar und ein Redepult, und ich überlegte, wer wohl hier früher einmal gepredigt hatte. Müsste eine solch wunderschöne und riesige Kirche nicht viel bekannter sein?

Wahrscheinlich existierte sie gar nicht. Vielleicht konnte sie ja aber auch einfach nur niemand sehen, immerhin war es so doch auch mit Nathan gewesen, als ich ihn das erste Mal erblickt hatte.

Der Engel sah sich nur kurz um, als sei das alles nichts Besonderes, dann ging er ohne Umschweife auf das Kreuz zu. Nachdem ich genug gestaunt hatte, folgte ich ihm leise. Jeder Schritt hallte an den Wänden und der Decke wieder. Vor dem Kreuz blieb Nathan stehen, und er schien nachdenklich.

„Was jetzt?“, flüsterte ich leise, da ich die andächtige Stille nicht zerstören wollte. Nathan blickte nur kurz auf und sah dann wieder angestrengt auf den Boden.

„Sie werden gleich hier sein. Überlass mir das Reden, okay? Du würdest ja doch nur Müll von dir geben.“, murmelte er. Ich war zwar wütend, dass er so von mir dachte, doch mir blieb nichts Anderes übrig als still neben ihm stehen zu bleiben. Wir warteten, und ich dachte bereits, er würde sich nur einen Spaß erlauben, als plötzlich etwas Seltsames geschah: Das Kreuz begann zu leuchten, und auf einmal stand da eine wunderschöne Gestalt an der oberen Spitze des Kreuzes. Und noch einer der vermeintlich anderen Engel, von denen Nathan gesprochen hatte, an der rechten Seite, genau wie an der Linken. Ich konnte kaum glauben, was ich da sah. Erst jetzt fiel mir auf, dass Nathan sich absichtlich auf das Ende des unteren Strichs des Kreuzes gestellt hatte, denn wenn man nun alle vier Engel miteinander verbunden hätte, hätten sie genau die goldenen Linien ergeben. Nathan packte meinen Arm und schob mich vor sich, direkt in die Mitte, wo sich alle Linien kreuzten. Erschrocken und unsicher starrte ich auf den Boden. Er hätte mich ja auch Warnen können, dass ich gleich mit all diesen Blicken konfrontiert werden würde. Zögernd wagte ich einen Blick nach oben. Natürlich – wie hätte es auch anders sein können – waren sie alle unnatürlich schön.

Der Engel an der Spitze war bereits etwas älter, und sein hellblondes Haar hatte graue Strähnen. Doch seine Augen stachen genauso hervor wie die von Nathan, nur dass sie mehr aussahen wie funkelnde Bernsteine. Der Engel zu meiner Rechten hatte rotes Haar und ich hätte ihn auf Mitte zwanzig geschätzt. Auch seine Augen hatten eine unnatürliche Farbe. Ich drehte mich nach Links und sah zum ersten Mal einen weiblichen Engel. Sie war so wundervoll, dass ich mich bereits unscheinbar fühlte als ich auch nur in ihre Richtung blickte. Wahrscheinlich stammten all die Überlieferungen von bezaubernden Engeln mit goldgelocktem Haar nur von ihr, und ihre eisblauen Augen sahen zu mir herab. Ich konnte es kaum ertragen, sie länger als ein paar Sekunden anzusehen.

Das einzig Verwunderliche an all diesen Engeln war die Farbe ihrer Flügel. Mich hatten die schwarzen Federn von Nathans Flügeln bereits von Anfang an irritiert, da man sich bei einem Engel wohl eher das Gegenteil vorstellte. Doch diese Engel hatten aschgraue Flügel. Nur Nathan stach hervor und ich begann mich zu fragen, was anders an ihm war. Langsam verlor das goldene Kreuz sein Leuchten, und auch die strahlende Aura der Engel wurde etwas schwächer. Nathan stand ruhig da und sah jedem von ihnen tief in die Augen. Dann nickte er in meine Richtung.

„Ich habe das Mädchen gefunden. Gott hat mir diese Aufgabe gegeben, und hier ist sie.“, sagte er. Die Frau nickte und musterte mich mit kritischem Blick.

„Welch schwächlicher Mensch! Und sie soll uns helfen?“

„Ich verstehe diese Entscheidung auch nicht. Aber sie muss Etwas an sich haben, das uns helfen wird. Nur bisher konnte ich noch nicht feststellen, was dieses Etwas sein soll.“ Ich hörte die deutliche Enttäuschung in Nathans Stimme, als er das sagte. Als nächstes meldete sich der grauhaarige Engel zu Wort.

„Nun redet doch nicht so. Ihr verängstigt sie nur.“ Er sah die beiden finster an und wendete sich dann an mich.

„Dein Name ist… Cassandra, richtig? Es tut mir leid, dass wir dich einfach so aus deinem Leben gerissen haben.“ Ich nickte schwach, wusste aber nicht, was ich darauf antworten sollte. Immerhin hatte Nathan mir ja zu reden verboten, also sagte ich einfach nichts.

„Sie wird es schon verkraften. Eigentlich sollte sie sich glücklich schätzen, dass sie überhaupt Engel ansehen und Teil dieses großen Planes sein darf.“, knurrte der vierte Engel mit einem überheblichen Unterton. Ich fühlte mich völlig fehl am Platz und wünschte, ich könnte einfach fortrennen.

„Und was machen wir jetzt mit ihr?“, fragte die Frau. Der ältere Mann legte nachdenklich den Kopf schief.

„Zuerst einmal werden wir uns vorstellen. Ich bin Dokiel, mein Name steht für die Wahrheit. Unsere Schwester ist Armefia, die Gerechte. Und dann ist da noch Lariel, ein Engel der Beständigkeit. Und natürlich Nathanael, aber ich schätze er hat sich längst selbst vorgestellt.“ Ich nickte und versuchte, mir die Namen zu merken. Doch plötzlich ertönte eine Stimme, die ich bisher noch nicht gehört hatte.

„Oh, wie schade. Scheint als hättet ihr vergessen mich auch einzuladen?“

Als ich mich umdrehte sah ich ihn, und mein Herz machte einen kurzen Aussetzer. Ich hätte ihn wohl auch für einen Engel gehalten, oder zumindest für etwas in der Art, wenn seine Flügel nicht gebrannt hätten. Es war eine flackernde, und zugleich wunderschöne Flamme, die auf seinem Rücken die Form von riesigen Federflügeln bildete. Feine Adern, die aussahen als wären sie flüssiges Feuer zogen die Konturen und gingen dann in eine große, aber doch kontrollierte Flamme über. Er war, wenn man von seinem Äußeren ausging, etwa so alt wie Nathan. Abgesehen von seinen flammenden Flügeln hatte er absolut weißes, glattes Haar. Ich fragte mich ob es einfach nur ausgeblichen oder tatsächlich so unnatürlich weißblond war. Und als sei das nicht verrückt genug, waren seine Augen auch noch leuchtend rot. Sie harmonierten mit den flackernden Flammen und als er mich anblickte, dachte ich für einen kurzen Moment sogar seine Augen würden brennen.

Um seine Lippen spielte ein finsteres Lächeln, als er langsam auf mich zu kam. Ich hatte Angst. Irgendetwas an ihm machte mir furchtbare Angst.

Doch Nathan stellte sich ihm in den Weg.

„Darek. Was hast du vor, hm? Denkst du, du kannst hier einfach so hereinkommen und Chaos anrichten? Bedenke dass hier vier Engel vor dir stehen.“, knurrte er. Doch sein Gegenüber schien das eher gering zu beeindrucken.

„Ich will doch kein Chaos anrichten! Was denkst du nur von mir, Nathan. Ich möchte mir nur eure kleine Gefangene mal genauer ansehen. Du solltest dich glücklich schätzen dass es so ein hübsches junges Ding ist!“, lachte er. Nathan ballte seine Hände zu Fäusten und ich sah ihm an, dass er mit dem Gedanken spielte, auf diesen Verrückten loszugehen.

„Verschwinde.“

Trotz der Wut, die er ausstrahlte, war seine Stimme unglaublich ruhig und gelassen. Als ich einen kurzen Blick in Richtung der anderen Engel warf, stellte ich fest, dass sie alle angespannt wirkten. Wer war dieser Darek?

„Gefällt sie dir etwa nicht? Was für eine Verschwendung. Ihr wisst ja nicht mal, was sie für einen Wert hat, und haltet sie dennoch bei euch fest.“, lachte dieser.

„Aber du weißt es?“, fragte Nathan.

Darek’s Gesichtsausdruck wurde etwas ernster, aber das bösartige Lächeln blieb.

„Natürlich.“

Plötzlich war er fort. Nathan starrte verwirrt an die Stelle, an der er noch vor wenigen Sekunden gestanden hatte, und drehte sich dann zu mir um. Hinter mir ertönte ein leises Lachen und ich spürte  warmen Atem an meinem Nacken. Offensichtlich konnte auch Darek von einem Ort zum Nächsten springen.

Ich erstarrte und ein eisiger Schauer lief mir den Rücken herab, als ich seine Stimme direkt neben meinem Ohr leise flüstern hörte.

„Ich werde ihnen jetzt demonstrieren, was du wirklich kannst. Du bist mein Zeuge, Nathanael selbst hat mich darum gebeten.“ Ich wollte mich herumdrehen und ihn wegstoßen oder wenigstens ein Stück von ihm wegstolpern, doch ich konnte nicht. Ich war nicht fähig, mich zu bewegen. Wieder lachte er heiser, und ich spürte wie er mit einer meiner Haarlocken spielte, ehe er plötzlich meinen Arm schmerzhaft nach hinten drehte und mich vor sich zog. Mit lauter Stimme wandte er sich an den Engel der Beständigkeit.

„Lariel! Ich konnte dich eigentlich immer ganz gut leiden, damals im Himmel. Du bist derjenige, der meinem Vater noch am meisten gleicht, was deine Einstellung betrifft. Nur leider bist du, im Gegensatz zu ihm, ein Feigling. Und ich hasse Feiglinge.“ In seiner Stimme konnte ich einen spöttischen Unterton hören und ehe irgendjemand reagieren konnte schubste er mich nach vorne, direkt gegen Lariel.

Aus Reflex fing der Engel mich auf und als ich seine Hand mit meiner berührte, geschah etwas Unmögliches: Die Stelle fing an zu glühen und es war, als würde seine Haut verbrennen. Lariel schrie auf und fiel auf die Knie. Schockiert stand ich da, ich wollte ihm helfen und konnte nicht. Rasend schnell breitete sich die Wunde aus, und nach nur wenigen Sekunden wurden seine Schreie leiser und er sank vornüber auf den Boden. Leblos.

Die dann eintretende Stille war das Schlimmste, was ich je verspürte hatte. Ich stand einfach da, unfähig mich zu bewegen oder Etwas zu sagen, und sah auf den vermutlich toten Engel vor mir herab.

Hatte ich das getan? War dies meine besondere Gabe?

Unglaublich langsam und verkrampft drehte ich mich zu den anderen Engeln um. Darek hatte einen erfreuten Glanz in den Augen und sein Grinsen war so falsch und unpassend, dass ich mir wünschte, er würde hier auf dem Boden liegen und nicht einer der Engel. Armefia starrte auf Lariel herab, und dann zu mir.

Ich konnte die emporsteigende Wut in ihren Augen erkennen, und hätte nicht Nathan sich zwischen uns geschoben, hätte sie mich vermutlich getötet.

Vorausgesetzt, Engel konnten überhaupt töten.

Ich sah zu Nathan, der mit verwirrtem und ungläubigem Blick auf mich herabsah.

„Was hast du getan?“, flüsterte Dokiel, und indem er die Stille brach, zerbrach auch meine Starre. Ich zuckte heftig zusammen und begann zu begreifen, dass ich soeben einen Engel getötet hatte. Einen Engel!

„I-Ich weiß es nicht! Ich weiß nicht was das war. Ich weiß nicht wie ich es gemacht habe! Es tut mir so wahnsinnig leid!“, sagte ich hysterisch, und ich spürte wie Tränen meine Augen füllten.

„Nathan, sie ist nicht unsere Rettung! Sie ist mehr unser Ende, wenn das ihre Gabe ist. Wir müssen sie auf der Stelle aus dem Weg schaffen oder sie wird eine Waffe gegen uns sein. Vater muss sich geirrt haben.“, fauchte Armefia. Doch Nathan sah mich einfach weiterhin an, so als würde er abwägen, ob ich wirklich eine Gefahr darstellte. Darek’s kühle Stimme ließ mich erneut zusammenfahren.

„Ja Nathan, los! Schaff sie aus dem Weg. Bevor sie auf noch jemanden losgeht!“ Er lachte laut auf, und nun schien sich Armefia’s Wut auf ihn zu richten.

„Halt den Mund, Darek! Du wirst das bereuen.“, zischte sie. Nathan nickte einmal schwach und drehte sich dann zu Dokiel um.

„Du solltest es am Besten wissen. Unser Vater irrt sich nie. Sie ist eine Bedrohung, aber vielleicht gleichzeitig unsere einzige Chance diesen Krieg zu gewinnen. Ich habe sie auch schon berührt, und nichts ist mir geschehen. Was, wenn es nur ein Trick ist?“, gab er zu bedenken. Doch Dokiel schüttelte den Kopf.

„Nein. Sie ist nicht die Chance, den Krieg zu gewinnen. Sie wird uns keine Hilfe sein. Es könnte ein Trick sein, aber woher wissen wir es? Wir können es nicht noch einmal testen. Und wir können dieses Risiko nicht eingehen. Armefia, bitte erledige das. Nathanael wird es nicht können.“

Nathan starrte ihn leicht wütend an und als Armefia auf mich zuschritt, hielt er sie auf.

„Ihr werdet sie nicht töten. Ich vertraue auf meine Befehle. Ich werde mit ihrer Hilfe dem hier ein Ende setzen und wenn ihr mir nicht dabei helfen wollt, müssen wir getrennte Wege gehen.“

Dokiel sah ihn fassungslos an. Darek lachte, sah mich an und verschwand plötzlich. Ich hörte nur noch sein leises Flüstern an meinem Ohr: „Wir sehen uns wieder, Schätzchen.“. Dann war er fort.

Armefia versuchte an Nathan vorbeizukommen, doch er ließ sie nicht. Ohne Dokiel’s Antwort abzuwarten wandte er sich mir zu, nahm mein Handgelenk und schloss die Augen. Im nächsten Moment standen wir auch schon vor der Tür der Kirche.

Fassungslos sah ich ihn an.

Hatte er mir gerade das Leben gerettet? Und das obwohl ich so etwas wie seinen Bruder vor seinen Augen umgebracht hatte?

„Wieso?“, war Alles, was ich sagen konnte. Doch Nathan hob mich nur hoch und hob ab. Dieses Mal flogen wir viel höher als die beiden letzten Male, und bald waren wir mitten in einer weißen Schleierschicht von Nebel und Wolken. Ich konnte nicht glauben, was da gerade Alles geschehen war.

„Nathan, wer ist dieser Darek? Wieso hast du mir geholfen? Ich war mir so sicher…“ … dass du mich hasst. Doch ich schaffte es nicht das auszusprechen.

Er antwortete nicht, und so schwiegen wir uns an. Ich wusste auch nicht mehr, in welche Richtung wir unterwegs waren. Vielleicht würden wir ja wieder zurück zu der Waldhütte gehen.

Ich erhoffte mir, dass er mir dort wenigstens ein paar Fragen beantworten würde.

Und tatsächlich, als wir wieder an Höhe verloren und sich der Nebel auflöste, sah ich unter uns wieder die kleine Hütte. Ich bemerkte, dass eine dünne Schneeschicht auf dem Dach lag, und dass mir die Kälte überhaupt nicht aufgefallen war. Wahrscheinlich war ich einfach noch zu durcheinander, um überhaupt irgendetwas zu spüren. Alles in mir wünschte sich nur eines: Nach hause zu kommen. Ich wollte das Alles vergessen! So Etwas konnte nicht wahr sein, ich wollte nicht, dass es wahr war. Ich wollte zu meinem Vater und meinem Zimmer. Und ich wollte, ich hätte niemals etwas von diesen Engeln erfahren.

Als wir landeten, lag mir nur noch eine einzige, letzte Frage auf den Lippen. Und sobald ich hinter Nathan in der Hütte eingetreten war, fragte ich mit zitternder Stimme:

„Warum ich?“

 

Chapter 3

Nathan hielt in seiner Bewegung inne und seufzte tief.

Er stand mit dem Rücken zu mir und schien zu überlegen, was er antworten sollte. Dann drehte er sich um und seine Augen funkelten.

„Weil du mich gesehen hast. In deiner Schule. Ich sollte das Mädchen finden, das mich sehen kann. Und du konntest es, das habe ich gespürt.“, sagte er dann langsam. Ich versuchte zu verstehen, wieso ausgerechnet ich das hätte sein sollen. Es musste doch auf dieser Welt noch mehr Menschen geben, die ihn sehen konnten. Wieso musste ich es sein? Nathan fuhr fort, und strich sich seine Haare aus dem Gesicht.

„Ich verstehe nicht, was du in der Kirche gemacht hast. Ich verstehe nicht, wieso du die Gabe hast, Engel zu töten. Aber ich habe eine Vermutung. Und wenn diese stimmt, bist du wirklich unsere letzte Hoffnung. Du könntest diejenige sein, die alles beendet. Und zwar nicht nur für einige Jahre, sondern für immer. Hör zu, wir müssen uns beeilen. Ich habe nicht meine volle Kraft, und jetzt ist nicht mehr nur die Zeit hinter uns her, sondern auch noch alle bösen und guten Mächte die jemals existierten.“

Ich verstand nicht, was er damit meinte. Wer war hinter uns her?

„Nathan, wer ist Darek?“, fragte ich, da es das Erstbeste war, das mir einfiel. Nathan wirkte augenblicklich etwas angespannter, als ich diesen Namen aussprach. Er zögerte kurz, ehe er auch das zu erklären begann.

„Darek, der Antichrist. Er ist der Sohn Luzifers. In der Offenbarung steht geschrieben, dass ein schrecklicher Antichrist für 10 Jahre auf der Welt wandeln wird und schlimme Dinge anrichtet. Dareks Zeit ist nun gekommen. Er ist unglaublich gefährlich, und er wird uns nicht in Ruhe lassen. Und mit ihm auch alles Böse hier auf der Welt.“ Ich nickte und erschauderte bei dem Gedanken daran. Nathan zündete das Feuer erneut an, und setzte sich dann mit verschränkten Beinen davor.

„Und Darek hat bereits angefangen. Nach diesem Treffen werden uns auch noch die Engel verfolgen. Armefia wird Gerechtigkeit verlangen, und sie wird versuchen, uns mit allen Mitteln aufzuhalten. Und Dokiel wird sie wohl kaum daran hindern wollen, immerhin stand er unserem toten Bruder sehr nahe. Und als sei das nicht schon genug, ist die Welt ja auch noch dabei, von Luzifer völlig zerstört zu werden. Wir haben nicht mehr viel Zeit.“ Nathans Stimme klang leer und ich fragte mich, ob ihm das alles genauso viel Angst machte wie mir. Ich erinnerte mich, dass er anfangs nicht so begeistert davon gewesen war, diese Welt zu retten und dass er sich sicher gewesen war, wir wären eh schon verloren. Dachte er immer noch so? Ich setzte mich zu ihm.

„Und wie werden wir das alles schaffen?“, fragte ich leise.

Er sah mich an, und nun lag in seinen Augen ein neuer Ausdruck: Hoffnung. Ich hätte nicht erwartet, dies bei ihm zu sehen, doch als er mich jetzt so anblickte, konnte ich es sogar spüren: Er hatte einen kleinen, schwachen Funken Hoffnung.

„Wir werden losziehen, und den Teufel jagen. Er ist nie weit weg von Katastrophen, denn er liebt das Leid und die Trauer und die Verzweiflung der Menschen. Er liebt es, ihnen auch nachdem sie alles verloren haben, noch das letzte bisschen Mut zu nehmen. Also werden wir ihn verfolgen, und ihn finden. Und dann… werden wir ihn töten.“ Nathans Stimme war fest und ernst, und ich sah ihn verwirrt an.

„Den Teufel töten? Geht das überhaupt? So steht es doch nicht geschrieben, oder?“, fragte ich. Nathan lachte leise und sarkastisch auf.

„Es ist fast so unmöglich, wie einen Engel zu töten.“ Darauf konnte ich nichts antworten. In meinem Kopf erschien wieder das Bild des vor Schmerz aufschreienden Lariels.

"Und was passiert jetzt mit... Lariel? Ich meine, kommt er in den Himmel, in die Hölle? Was ist, wenn ein Engel stirbt?", fragte ich vorsichtig. Nathan schwieg kurz und schien sich selbst nicht ganz sicher zu sein, als er sprach.
"Ich glaube, keins von beidem. Wenn er in den Himmel zurückgekehrt wäre, hätte ich es gespürt. Und da er ein reines Geschöpf war, kann er nicht in der Hölle enden. Also... verschwindet er wohl einfach. Das ist zumindest meine Theorie." Von Wort zu Wort hatte Nathan mehr gemurmelt als gesprochen und war langsamer geworden, ich zuckte stark zusammen, als er plötzlich mit dem Kopf auf meinem Schoß landete.

Schockiert sah ich auf ihn herab. Seine Augen waren geschlossen, und erst jetzt begriff ich, wie erschöpft er gewesen sein musste. Er hatte mich nicht nur aus der Kirche gerettet, sondern war auch noch den ganzen Weg hin- und zurückgeflogen. Ich betrachtete sein Gesicht, und stellte fest, dass er fiebrig aussah und wohl einfach eingeschlafen war.

Es schien als würde er, je länger er hier war, mehr und mehr menschliche Bedürfnisse verspüren. Er musste essen und schlafen. Mir fielen wieder seine Flügel ein, und ich nahm mir vor, ihn zu fragen was denn so anders an ihm war, sobald er erwachte.

Vorsichtig schob ich eine seiner schwarzen Locken hinter sein Ohr. Nathan schien der Einzige zu sein, der noch daran glaubte, dass ich eine Hilfe wäre. Dabei hätte ich schwören können, er würde absolut gar nichts von mir halten. Bei meiner Berührung fuhr er zusammen und schlug die Augen auf. Erst schien es als wüsste er nicht, was soeben geschehen war, doch dann bemerkte er wo er sich befand. Ruckartig setzte er sich auf und starrte mich an.

„Was hast du mit mir gemacht?“, fragte er.

„Gar nichts!“, entgegnete ich verwirrt. „Du bist einfach umgekippt und eingeschlafen, Nathan. Ich glaube, du hast Fieber.“ Offensichtlich schien ihn das zu schockieren, und fassungslos starrte er mich an.

„Ich bin eingeschlafen?! Aber wieso sollte ich…“ Er hielt inne und schlug sich dann mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Natürlich. Die Anderen nehmen mir meine Kräfte. Sie haben wohl bereits herausgefunden, wo wir sind. Das ist gar nicht gut.“, murmelte er.

„Was meinst du damit, sie nehmen dir deine Kräfte? Können sie das?“, fragte ich verunsichert. Nathan nickte und stand auf.

„Warte!“, sagte ich. Er war erschöpft, wie lange also würde er ohne Schlaf auskommen? „Leg dich wenigstens eine halbe Stunde hin. Glaub mir, das wird dir gut tun.“ Er wollte protestieren, das sah ich in seinen Augen. Aber als er mich direkt ansah, ließ er nur die Schultern hängen und nickte schwach.

Schien, als wäre er wirklich absolut am Ende, denn wann hatte er bis jetzt schon mal die Möglichkeit mir zu widersprechen ausgelassen? Ich schob ihn in Richtung des Schlafzimmers und wartete, bis er sich hingelegt hatte. Vorsichtig streifte ich ihm noch die Decke über, und als ich den Raum verließ, schlief er bereits wieder.

Ich konnte kaum glauben, dass er tatsächlich dalag und seelenruhig schlief. Ausgerechnet Nathan, der mir bisher immer so unnahbar und übernatürlich vorgekommen war. Doch irgendwie beruhigte es mich auch, und es gab mir das Gefühl, dass er doch gar nicht so weit von mir entfernt war wie ich dachte.

Moment… Was war nur mit mir los?

Nathan war immer noch ein Engel. Und nicht mal ein besonders Freundlicher. Er hasste mich und ich konnte ihn doch auch nicht leiden, oder? Leise seufzend setzte ich mich auf einen Stuhl und sah durch das kleine Fenster nach draußen. Es hatte begonnen zu schneien, und hunderte kleiner Schneeflöckchen fielen vom Himmel. Sie bildeten eine feine weiße Schicht auf dem Boden. Auch die umstehenden Bäume hatten bereits weiße Decken auf ihren Ästen, und es schien als würden sie mit dem weißgrauen Himmel verschmelzen. Mir war gar nicht aufgefallen, wie schnell es Winter geworden war. Wir befanden uns hier zwar an einem Berghang, doch die Kälte würde nicht lange brauchen, bis sie auch die weiter unten gelegene Stadt erreichte.

Ein lautes Poltern sorgte plötzlich dafür, dass ich beinahe vom Stuhl gefallen wäre. Ich drehte mich mit einer bösen Vorahnung um und da stand er: Darek. Er lehnte entspannt an einer der Wände und lächelte mich überlegen an. Die Arme hatte er vor der Brust verschränkt und seine Augen ruhten auf mir. Ich überlegte, ob ich einfach loskreischen sollte. Aber es wäre wohl schlauer, Nathan auf eine Unauffälligere Art und Weise zu uns zu locken, oder nicht? Noch fühlte sich der Antichrist sicher, und er rechnete nicht damit, dass Nathan allzu bald aufwachen würde. Die Frage war nur, ob er damit Recht hatte oder nicht.

„Hallo, Süße.“, sagte er grinsend. Ich sah ihn angewidert an und suchte gleichzeitig nach einer guten Fluchtmöglichkeit. Er stieß sich von der Wand ab und kam näher, und als er fast direkt vor mir stehen blieb, verspürte ich eine eisige Kälte, die von ihm ausging. Dieses Gefühl war so widersprüchlich mit den flackernden Flammen seiner Flügel, dass es mich noch mehr beunruhigte.

„Was soll dieser Blick? Ich hab dir doch gar nichts getan. Ich hab nur Nathans Wünsche erfüllt, oder nicht?“ Er schauspielerte eine nachdenkliche Miene, und dann einen entschuldigenden Blick. „Ups! Stimmt ja, der feige Engel ist dabei ausversehen drauf gegangen. Aber lass uns nicht über Andere reden. Viel wichtiger bist doch du. Willst du denn gar nicht wissen, wieso du die Kraft hattest, Lariel zu töten?“, fragte er lächelnd. Ich funkelte ihn nur weiterhin an und konnte mir nicht vorstellen, dass ich je eine Person von der ersten Sekunde an so wenig gemocht hatte wie Darek. Er schnappte sich einen weiteren Stuhl und setzte sich mir damit gegenüber. Seine Augen schienen wieder zu flackern und das Feuer seiner Flügel wiederzugeben. Schnell sah ich weg.

„Nicht so schüchtern. Du kannst gerne alles fragen was du willst. Ich werde dir auch zu etwa vierzig Prozent ehrlich antworten.“ Wieder lachte er auf seine spöttische, ja fast verbitterte Weise. Kurz überlegte ich, und eine Frage brannte mir auf der Zunge.

„Wieso bist du so interessiert an mir?“

Dareks Grinsen wurde noch breiter. „Na, weil du diejenige bist, die Engel töten kann. Jeden Engel außer Nathan und mir. Und, bist du jetzt neugierig warum?“, fragte er. Er wusste genau, dass er mich damit hatte.

Diese Frage hatte ich mir seit Lariels Tod bereits mehrmals gestellt: Wieso geschah mit Nathan nicht dasselbe, wenn er mich berührte? Ich sah Darek nur noch wütender an.

„Also, wieso?“, knurrte ich.

„Wenn du die Antwort wissen willst, musst du mir aber auch was im Gegenzug geben.“

Ich hätte es wissen müssen. Was hatte ich anderes von jemandem wie dem Antichristen höchstpersönlich erwartet? „Und was?“, seufzte ich.

„Einen Kuss.“

Ich sah ihn schockiert an. Das meinte dieser Irre doch nicht ernst? Doch offensichtlich schien er das, denn zum ersten Mal blickte er mich wirklich richtig an und mein Gefühl sagte mir, dass er dieses Mal nicht zu lügen schien.

„Vergiss es. Das mach ich nicht. Auf gar keinen Fall!“, rief ich. Ich hoffte, Nathan würde erwachen und mir helfen. Er wüsste bestimmt auch einen anderen Weg, diese Information aus Darek raus zu bekommen.

„Schsst.“ Plötzlich presste Darek mir einen Finger auf die Lippen und lehnte sich vor mich. Sein Kopf war meinem so nah, dass ich bereits seinen Atem auf meiner Haut spüren konnte. Langsam ließ er den Finger herabsinken und kam noch einen Millimeter näher, und ich wusste, seine Lippen würden in der nächsten Sekunde meine berühren.

Doch er wurde ruckartig nach hinten gerissen, und ich atmete erleichtert aus, als ein extrem verwuschelter und wütender Nathan ihn auf den Boden riss.

„Was machst du da?“, fauchte Nathan. Doch auch wenn sein Gegenüber für einen kurzen Moment überrascht und vielleicht auch enttäuscht ausgesehen hatte, lachte Darek schon wieder.

„Ach Nathan, ich finde es zu süß wie du dich um sie kümmerst.“ Diese Worte schienen den Engel aus der Bahn zu werfen, und er lockerte seinen Griff.

„Das tue ich nicht. Ich erledige nur meine Aufgabe. Und du solltest dich ab jetzt von uns fernhalten oder ich werde dich endgültig aus dem Weg schaffen.“ Ich sah wieder diese seltsame, ruhige Wut in Nathans Augen und sie machte mir beinahe mehr Angst, als Dareks böses Lachen.

„Na, wenn du dich nicht um sie kümmerst, sollte das doch jemand Anderes machen. Menschen haben bestimmte Bedürfnisse und ich schätze außer die Hausfrau zu spielen bist du im Erfüllen dieser Dinge nicht besonders gut.“, grinste Darek. Nathan ließ ihn gänzlich los und sah zu mir auf.

„Alles okay? Es tut mir leid, ich hätte nicht auf dich hören sollen. Es war klar, dass du nicht auf dich selbst aufpassen könntest.“ Ich starrte Nathan wütend an. Machte er mich gerade dafür verantwortlich, dass Darek hier war?

„Siehst du Kleine, er kann nie einen eigenen Fehler einsehen. Am Ende wirst du immer schuld sein. Komm lieber mit mir mit, ich erkläre dir das hier alles und du wirst weitaus glücklicher werden als mit Nathanael.“ Darek hatte sich mittlerweile aufgerichtet und sah Nathan provozierend an. Dieser sah nur unbeeindruckt in meine Richtung.

„Moment mal! Ich werde ganz sicher nicht mit dir mitgehen! Das kannst du vergessen. Aber in einem Punkt hast du Recht.“ Ich sah zu Nathan. „Du bist wirklich spitzenklasse darin, die Schuld auf Andere zu schieben. Tu doch nicht so, als sei ich ein völliger Vollidiot und als hättest du alles besser machen können!“, sagte ich mit einem etwas zu wütenden Ton. Nathan schnaubte leise und nun sah ich die Enttäuschung, die meine Worte bei ihm ausgelöst hatten. Seit wann war er denn so empfindlich? Vielleicht lag es daran, dass ich Darek recht gegeben hatte. Aber so langsam hatte ich genug. Wütend fuhr ich fort: „Es scheint, als würdet ihr euch hassen. Das setzt voraus, dass ihr euch kennt, also was ist zwischen euch passiert? Außerdem wirkt meine Kraft laut Darek bei keinem von euch beiden, was also ist die Verbindung?“ Ich blickte fragend vom einen zum Anderen. Nathan sah leicht geschockt aus und drehte sich zu Darek, so als wollte er ihn davon abhalten etwas auf diese Frage zu antworten, doch es war bereits zu spät. Dareks Lippen formten sich zu einem breiten Grinsen.

„Luzifer ist die Verbindung.“

Ich verstand natürlich nicht, was er damit meinte. Aber ich sah an Nathans Gesichtsausdruck, dass es nichts Gutes war. Die Verbindung zwischen Darek und dem Teufel konnte ich durchaus verstehen, denn Nathan hatte mir ja erklärt, dass der Antichrist so was wie sein Sohn sei. Aber was verband denn einen Engel mit einem halben Dämonen?

„Was meinst du damit? Nathan ist ein Engel. Er hat überhaupt nichts mit Luzifer zu tun, außer die Tatsache, dass er ihn töten möchte.“, sagte ich. Doch zu meiner Verwunderung schüttelte nun Nathan den Kopf und seufzte leise.

„Nein. Er hat Recht.“ Kurz zögerte er, ehe er leise weitersprach. „Luzifer ist das, was uns beide verbindet. Ich bin kein richtiger Engel, Cas. Ich bin gefallen. Ich wurde also quasi aus dem Himmel rausgeschmissen. Es tut mir leid, aber ich habe gelogen.“ Schockiert sah ich ihn an. Ich verstand nicht, was das zu bedeuten hatte. „Ich bin aber nicht auf der Seite von Luzifer. Alles Andere, was ich dir erzählt habe, ist wahr. Die Welt wird untergehen und dieser Prozess muss verhindert werden. Mein Fall ist schon Jahrhunderte her, und Gott hat mir eine zweite Chance gewährt, wenn ich das Mädchen finde, dass mich sehen kann und mit ihrer Hilfe die Welt rette. Er hat mir die anderen Engel geschickt, quasi als Aufpasser und als Unterstützung. Aber nur weil Gott mir eine zweite Chance gewährt hat, heißt das nicht, dass mir die anderen vergeben hätten. Ich habe damals einen Fehler begangen, und das wird mich für immer von den Anderen ausschließen. Aber damit kann ich leben. Ich will nur endlich dem hier ein Ende setzen und zurück zu Gott gehen.“ Nathans Gesichtsausdruck war traurig und ernst.

Endlich ergab alles einen Sinn. Seine schwarzen Flügel, und sein allgemein dunkles Äußeres. Sein Sarkasmus und seine Zweifel. Sein Wille, mir zu helfen. Ihm ging es nicht wirklich darum, mich zu beschützen oder die Welt zu retten, er wollte nur seine Fehler wieder gut machen und wieder nach hause zurückkehren. Ich nickte schwach. Irgendwie konnte ich ihn verstehen, und krampfhaft versuchte ich meine leichte Enttäuschung zu unterdrücken.

„Was war der Grund dafür, dass du aus dem Himmel geworfen wurdest?“, fragte ich leise. Nun ergriff Darek das Wort, ehe Nathan die Möglichkeit hatte, zu antworten.

„Er hat gezweifelt. Das schlimmste Vergehen da oben. Man darf niemals an Gott zweifeln, und an den Entscheidungen die er trifft. Aber Nathan wollte nicht zulassen, dass ein hübsches junges Ding sterben muss. Wenn ich so darüber nachdenke, hatte sie große Ähnlichkeit mit dir! Er hat also seinen Platz im Himmel aufgegeben, um dieses dumme Mädchen zu retten. Wie naiv er doch ist.“ Darek lachte, aber Nathan schüttelte nur den Kopf.

„Sei still! Das ist nicht wahr. Es war Anders. Aber das werde ich dir ein anderes Mal erklären. Jetzt müssen wir erstmal den Antichristen von hier wegkriegen.“

„Nein.“ Ich stand auf und stellte mich vor die beiden jungen Männer. „Entweder du erklärst es mir jetzt oder ich gehe mit Darek mit. Ich habe genug von deinen Geheimnissen und all diesen Lügen! Erklär es mir.“ Nathan wich meinem Blick aus.

„Ja, Nathan. Erklär es ihr doch endlich! Sieh dir an, wie sie dich mit ihren hübschen Augen ansieht. Denkst du, sie würde ihre Worte nicht einhalten? Ich meine, von mir aus kannst du es auch lassen, aber dann nehme ich sie mit mir. Und tief in dir weißt du, dass ich das kann. Ich bin nicht mehr der Alte. Jetzt habe ich meine volle Kraft und du? Du bist nur noch ein schwacher Schatten deiner selbst.“ Darek streckte sich und sah Nathan auffordernd an. Doch Nathans Blick galt nun mir.

„Ich verspreche Dir, ich werde es dir erklären. Aber nicht jetzt! Nicht wenn er hier ist. Wir haben keine Zeit für so etwas!“ Ich sah ihn noch eine Weile an, doch er blickte nur stur zurück. Dann drehte ich mich zu Darek.

„Lass uns gehen.“ Darek lachte laut, und ich bereute meine Worte schon wieder. Doch ich ertrug es nicht mehr länger, so wenig über Nathan zu wissen. Wahrscheinlich war ich einfach unglaublich dumm und naiv, doch ich musste ihm zeigen, dass ich es ernst meinte.

„Mit Vergnügen, Kleine!“, sagte Darek und packte plötzlich meine Hand. Wieder verspürte ich diese eisige Kälte, als ich ihn berührte. Doch ehe ich meine Hand wieder aus seiner ziehen oder nochmal zu Nathan schauen konnte, waren wir fort. Die gesamte Umgebung änderte sich, als Darek uns von der Waldhütte wegbrachte.

Wir standen auf einmal in einem großen, belebten Gebäude, umgeben von vielen Menschen die sich ihren Weg an uns vorbei suchten. Ich blickte mich schockiert um, und fragte mich, ob niemand gemerkt hatte, dass wir soeben einfach hier aufgetaucht waren. Und dann fielen mir Dareks Flügel wieder ein, doch die vorbeilaufenden Menschen liefen einfach durch sie hindurch. Als seien diese großen Flammen gar nicht da. Ich sah Darek an, und bemerkte, dass er sich offensichtlich über meine Verwirrung amüsierte.

„Wenn du ein normaler Mensch wärst, Cassie, dann würdest du sie auch nicht sehen. Doch du hast nun mal die Gabe, Engel zu sehen.“ Ich nickte verwirrt.

„Ja, Engel. Aber du bist kein Engel, du bist-“ Mit einer Handbewegung unterbrach er mich.

„Ich bin auch ein Engel. Oder zumindest ein Halber. Luzifers Kinder, seine Krieger: seine Engel.“ Seine Lippen hatten wieder dieses finstere Lächeln geformt, das mich irgendwie faszinierte. Schnell riss ich mich davon los und sah weg.

„Ich hätte nicht gedacht, dass es auch böse Engel gibt.“ Diese Aussage traf zu, aber ich hatte bis vor einem Tag ja auch nicht gedacht, dass überhaupt so etwas wie Engel existierten. Darek zuckte nur mit den Schultern.

„Naja, es gibt in dieser Welt noch vieles, was du dir nur in deinen schlimmsten Alpträumen vorstellen könntest. Wieso also keine bösen Engel.“ Er lachte leicht auf, und nahm dann wieder meine Hand. „Ich werde dir jetzt ein bisschen was von meiner Welt zeigen. Oder von der Welt, die ich mal vorsichtig meine Zukunft nennen würde.“ Ich versuchte wieder, meine Hand von seiner Kälte zu lösen, doch er ließ mich nicht los.

„Ich will aber nicht sehen, wie du irgendwelche Menschen wahllos tötest. Unschuldige Menschen.“ Darek sah mich entrüstet an, und auch wenn es nur geschauspielert war, dachte ich für eine Sekunde er sei enttäuscht.

„Ich töte nicht einfach wahllos Menschen! Was hast du nur für ein schlechtes Bild von mir, Schätzchen. Ich habe auch meine Prinzipien.“ Er deutete auf die Leute um uns herum. „Du weißt ja, dass du eine Gabe hast. Nun ja, abgesehen von meinem guten Aussehen, habe ich auch eine. Ich sehe das Böse in den Menschen. Es ist eine Art dunkle Masse in ihrer Seele. Und die, bei denen es besonders viel davon gibt, sind mein Ziel. Du siehst also, ich bin gar nicht so ein schlechter Typ. Ich bestrafe nur die, die es verdient haben.“ Ich schüttelte den Kopf, und schaffte es endlich, mich von seiner Hand zu lösen.

„Das ist nicht richtig! Jeder Mensch macht Fehler, aber sie können verziehen werden. Auch wenn man etwas Schlimmes getan hat, solange man es bereut hat das doch keinerlei Bedeutung mehr.“ Ich funkelte ihn an. Er fühlte sich besonders, weil er nur ‚schlechte’ Menschen tötete? Natürlich gab es Menschen, an denen das Gute fast völlig vorübergegangen war. Aber das bedeutete doch nicht, dass sie deswegen sterben mussten! Darek schien über meine Reaktion verwundert.

Was hatte er erwartet? Dass ich ihm dankbar wegen seiner großen Gnade um den Hals fallen würde? Bestimmt nicht. Er legte den Kopf schief und sah zu mir herab.

„Du bist wirklich interessant, Cassie. Aber diese Menschen müssen nun mal sterben.“ Plötzlich stellte er sich hinter mich und hielt mir mit einer Hand die Augen zu. Ich spürte wieder diese Kälte, und doch seine Nähe und mir würde schwindelig von diesen seltsamen Eindrücken.

Dann plötzlich hörte ich einen Schrei, und dann noch einen. Es war nicht diese Art von Schrei, die ein Mensch von sich gibt, wenn er eine große Spinne gesehen hat. Es waren Todesschreie.

Darek tötete die Menschen.

Sofort versuchte ich, mich aus seinem Griff zu lösen und ihn irgendwie zu stoppen, doch er lehnte sich vor und legte den freien Arm fest um meine Hüfte, und von einer Sekunde auf die Nächste war ich unfähig mich zu bewegen. Darek schien weitaus mächtiger zu sein, als ich es erwartet hatte. Immer noch schrien Menschen auf, teilweise hörte ich ein ersticktes Gurgeln. Was tat er ihnen an? Ich ertrug es nicht, und mir schossen Tränen in die Augen. Was sollte ich tun? Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, dabei waren es wahrscheinlich nicht mal 5 Minuten, bis es vorbei war.

Darek lockerte seinen Griff und nahm seine Hand von meinem Gesicht. Augenblicklich stolperte ich von ihm weg und sah mich um. Doch der Raum war leer. All die Menschen, die ihn davor gefüllt hatten, waren fort. Und auch keine Leichen oder ähnliches waren zu sehen. Ich starrte wieder zu Darek, der zum ersten Mal nicht amüsiert grinste, als ich ihn ansah.

„Was hast du mit ihnen gemacht? Wo sind sie alle?“, fauchte ich. Darek zuckte mit den Schultern.

„Die, die es verdient hatten, sind bei meinem Vater. In der Hölle. Und die anderen? Sie sind weg, in ihren Häusern, und sie wissen nicht, was gerade passiert ist.“

Ich konnte es nicht glauben. Er hatte sie also tatsächlich getötet. Und er hatte die Macht, so viele Menschen gleichzeitig umzubringen? Und dann auch noch Andere in ihre Häuser zu bringen, ohne sich selbst auch nur einen Millimeter zu bewegen. Wenn Nathan wirklich versuchen wollte, gegen das Böse vorzugehen, was hätte er da in seiner jetzigen Verfassung schon für eine Chance? Wenn man bedachte, dass Darek nur der Sohn von Luzifer, und damit nur halb so stark war, wie der Teufel selbst. Ein Schauer jagte mir den Rücken herab. Ich hätte Nathan vielleicht niemals allein lassen sollen.

Darek sah mich die ganze Zeit über an. Plötzlich fragte ich mich, ob er auch das Böse in mir sehen konnte?

„Darek, was siehst du in mir? Müsstest du mich nicht eigentlich auch töten?“, fragte ich spöttisch. Mir fiel auf, dass ich mich viel selbstbewusster verhielt als ich es eigentlich war. Der Antichrist grinste.

„Natürlich sehe ich es. Oder, ich würde es zumindest sehen, wenn es da groß was zu sehen gäbe. Du hast die reinste Seele, die ich jemals vorgefunden habe, Süße.“ Er zwinkerte mir zu. Ich schüttelte den Kopf.

„Hab ich nicht. Ich hab schon einige Fehler begangen. Scheint, als sei deine Fähigkeit nicht perfekt“, murmelte ich. Doch Darek lachte nur.

„Sie ist perfekt. Es gibt keine Fehler. Oder naja, doch. Es gibt dich. Aber du bist sowieso sehr interessant, in vielen Hinsichten. Na komm, lass uns an einen anderen Ort gehen. Hier ist es langweilig.“ Wieder streckte er mir seine Hand hin, und ich sah darauf.

„Komm schon. Ich hab dir doch versprochen, ich erkläre dir wieso du deine Fähigkeit hast, und wieso sie nicht bei mir und Nathan funktioniert“, sagte er dann. Ich machte unwillig einen Schritt zu ihm und fasste seine Hand.

Beinahe sofort waren wir weg. Als ich mich dieses Mal umsah, waren wir auf dem Dach eines Hochhauses. Es war nicht mehr Tag, sondern finstere Nacht. Wie hatte er das gemacht? Oder war es bereits so spät?

„Gefällt es dir?“, fragte er. Ich drehte mich zu ihm um, und musste erneut staunen. Seine flammenden Flügel sahen in dieser Dunkelheit einfach atemberaubend aus. Die feinen Adern und Umrisse funkelten und strahlten ein warmes Licht aus, und die flackernden Flammen perfektionierten diesen Anblick. Darek lächelte, und offensichtlich schien er sich der Schönheit seiner Flügel bewusst zu sein. Demonstrativ wandte ich meinen Blick ab. Er sollte nicht merken, dass ich sie bewunderte. Dass ich überhaupt etwas an ihm mochte. Doch er hielt meine Hand immer noch fest und stellte sich näher vor mich, als mir lieb war. Ich spürte wieder seine kalte Aura, doch erst jetzt fiel mir auf, dass es gar keine richtige Kälte war. Es war mehr ein seltsames Gefühl, ein Schaudern das einerseits kühl, andererseits aber auch angenehm war. Darek sah mir tief in die Augen, und die Lichter der Stadt unter uns spiegelten sich in dem tiefen Rot. Ich sah kurz fasziniert zu ihm auf, ehe ich den Blick wieder abwandte. „Was machst du da…“, murmelte ich. Doch Darek nahm meine Hand und drückte sie gegen seine Brust, und ich spürte seinen Herzschlag. „Cassie, ich bin zwar nur ein halber Mensch, aber das heißt nicht, dass ich kein Herz habe.“, sagte er leise und seltsam ruhig. Ich fragte mich, ob er gerade nur schauspielerte, oder ob er tatsächlich einmal etwas ernst meinte. „Ich weiß du denkst ich bin der Böse hier. Und vielleicht bin ich das auch, zur Hälfte. Aber das heißt nicht, dass ich nicht fühle. Oder das ich kein Gewissen habe.“ Ich sah wieder zu ihm hoch. „Wieso tust du das dann?“, flüsterte ich. Nun war es Darek, dessen Blick kurz zur Seite wich, ehe er mich wieder ansah. „Weil ich muss. Aber ich tue es, um zu überleben. Ich mache, was mein Vater mir sagt, und er gibt mir Macht. Aber er hat mich angelogen.“ Enttäuschung lag auf seinem Gesicht, und dieses Mal war es nicht nur eine Grimasse oder ein Scherz, das spürte ich. „Er hat mir ein kleines Detail seines perfekten Planes verschwiegen: Dass ich am Ende sterben werde.“ Verwundert blinzelte ich. „Sterben? Aber du bist doch sein Sohn und so was wie sein mächtiger Krieger, oder nicht?“ Darek lachte kurz ironisch auf. „Das habe ich auch gedacht. Aber sobald er das hat, was er will, wird er keinen Nutzen mehr aus mir ziehen können. Und dann wird er mich töten. Das ist einer der Gründe, warum ich dieses Interesse an dir habe, Kleine.“ Er schaute nachdenklich auf mein Gesicht herab. „Weil du die Macht besitzt, ihn zu töten. Und mit meiner Hilfe könntest du nahe genug an ihn heran, um dem ein Ende zu setzen. Wir könnten uns quasi verbünden.“ Ich konnte es nicht glauben. Hatte gerade der Antichrist höchstpersönlich mir ein Bündnis gegen den Teufel vorgeschlagen? Irgendetwas lief in dieser Welt falsch. Auch wenn das Angebot verlockend war, schüttelte ich den Kopf. Egal, was er vorhatte: Es konnte nichts Gutes dabei herauskommen. Selbst wenn er nicht log, und wirklich vorhatte Luzifer zu verraten; Wie würde es danach weitergehen? Er würde sich nicht einfach brav zwischen die Menschen setzen und sich eine Arbeit oder ähnliches suchen. „Das kann ich nicht. Ich kann dir nicht vertrauen. Bis jetzt habe ich noch nicht die Ehre gehabt, Luzifer persönlich zu treffen, aber ich weiß, was für eine Gefahr du bist. Du bist viel zu mächtig und du würdest diese Macht ausnutzen!“ Doch Darek schüttelte den Kopf. „Mit dem Tod meines Vaters stirbt auch meine Kraft. Es wird sein, als ob ich ein ganz normaler Mensch wäre.“ Ich sah ungläubig zu ihm herauf. War das wirklich möglich? Würde er das wirklich aufgeben wollen? Ich konnte es mir schwer vorstellen. „Und selbst wenn ich zustimmen würde, wie soll ich denn Luzifer besiegen? Ihr alle redet davon, wie wir zu dem Teufel gehen oder ihn jagen werden, aber wenn es zu dem Punkt kommt, wie wir ihn töten redet ihr, als sei es das leichteste auf der Welt. Na schön, ich habe einen Engel getötet. Aber Satan? Die mächtigste böse Kreatur dieser Erde?“ Darek lächelte. „Scheint, als habe da jemand seine Hausaufgaben nicht gemacht. Luzifer ist nicht einfach eine böse Kreatur. Er war einmal ein Engel, Cassie. Er wurde von Gott aus dem Himmel gestoßen, fast wie Nathanael. Nur dass Nathan sich nicht mit Dämonen eingelassen hat.“ Langsam begann ich zu begreifen, worauf er hinauswollte. Ich konnte Engel töten. Und sie dachten, dass es auch bei Luzifer funktionieren würde. „Deswegen also hatte Nathan Hoffnung. Weil ich die einzige Möglichkeit bin, wie ihr den Teufel loswerdet. Aber was macht euch so sicher, dass es klappt? Ich meine, bei euch beiden geht es doch offensichtlich auch nicht.“ Ich deutete auf meine Hand, die immer noch in seiner lag. Darek lächelte. „Bei mir klappt es nicht, weil ich ein halber Mensch bin. Ich bin kein reiner Engel. Und Nathan auch nicht mehr. Seit er gefallen ist, hat er seine Engelskräfte mehr und mehr verloren. Auch wenn er mehrere hundert Jahre nach dir gesucht hat…“ Ich sah schockiert zu ihm hoch. Nathan hatte solange Zeit nach mir gesucht? Nach dem Mädchen das ihn sehen konnte. Anscheinend hatte Darek meinen Blick bemerkt. „Ja, genau. Nach dir.“ Er lachte. „Ein einsamer, gefallener Engel. Unsichtbar in einer Welt, die er nicht versteht, auf der Suche nach dem Mädchen, das ihn sieht. Wie dramatisch.“ Ich konnte es kaum fassen. Wenn das wahr war, wenn Nathan wirklich solange nach dieser einen Person gesucht hatte, die ihn sehen könnte… Wieso war er dann die ganze Zeit so abweisend mir gegenüber gewesen? Wieso hatte er von Anfang an, nach dem er mich gesehen hatte, so hoffnungslos geklungen? „Du magst ihn sehr, oder nicht? Aber doch nicht mehr als mich?“ Darek grinste wieder auf seine übliche Weise, und seine ruhige, ernste Art war verschwunden. „Du musst mich zu ihm zurückbringen.“, sagte ich leise. Doch Darek grinste weiterhin. „Und was, wenn ich nein sage? Immerhin hast du mir gesagt, du kommst mit mir mit. Lass den Engel noch ein bisschen Schmollen. Er wird damit schon zurechtkommen.“ Doch ich schüttelte den Kopf. „Nein. Ich will zurück zu ihm, sofort. Bitte, Darek. Du sagst, du hast ein Herz? Gefühle? Ein Gewissen? Dann beweise es!“, sagte ich. Darek seufzte tief. „Du wirst nicht locker lassen, hm? Na gut. Wir gehen ihn besuchen. Aber erst will ich noch meine Bezahlung. Immerhin habe ich meinen Teil der Verhandlung eingehalten, ich habe dir einige wichtige Informationen gegeben.“ Ich erinnerte mich an seinen Preis; den Kuss. Sofort schüttelte ich den Kopf. „Auf gar keinen Fall. Das werde ich nicht machen.“, wehrte ich ab. „Ist völlig okay, du musst ja auch nichts machen. Nur stillhalten.“ Darek lachte und ehe ich irgendetwas antworten konnte, hatte er sich bereits herabgebeugt und seine Lippen auf meine gepresst. Es fühlte sich unglaublich an, denn mir fuhr ein angenehmer Schauer durch den ganzen Körper. Doch schon nach dem Bruchteil einer Sekunde war es vorbei und Darek richtete sich grinsend wieder auf. Wie hatte er es wagen können? „Na also, es hat dir gefallen.“ Er schien mit sich selbst zufrieden zu sein, und drehte sich weg. „Mach das nie, nie wieder, hörst du?“, fauchte ich wütend. Ich hatte so etwas noch nie verspürt, und obwohl es wundervoll gewesen war, machte es mich unglaublich sauer. Nicht einmal unbedingt wegen Darek. Ich war einfach nur wütend über meine eigene Machtlosigkeit. Ich hatte nicht die geringste Chance gehabt, etwas dagegen zu tun. Darek lächelte nur über meine Worte und sah auf die Stadt herab. „Wunderschön, nicht?“, sagte er. Widerwillig stellte ich mich neben ihn. Er hatte Recht, es war tatsächlich wundervoll. Ich wusste nicht einmal genau, wo wir waren. Es war eine relativ große Stadt, mit mehreren hohen Gebäuden. Überall leuchtete es; in Häusern, Autolampen, Straßenlaternen, Werbeschilder. Es war faszinierend, zu sehen was wir Menschen aufgebaut hatten. Ein System, dass funktionierte. Wir hatten einen Ablauf, Gewohnheiten. Und auch wenn jeder einzelne eigene Gedanken und eigene Interessen hatte, kamen die Menschen dort unten miteinander aus. Plötzlich wurde mir klar, dass ich das nicht verlieren wollte. Ich wollte nicht, dass diese Welt zerstört wurde. Natürlich machten wir Fehler. Manche Menschen lebten sorglos, oder hatten keine Geduld oder kein Gewissen. Aber es gab so viele wundervolle Dinge und Momente, Erinnerungen und Gefühle, die nicht einfach so zerstört werden durften. Ich ballte die Hände zu Fäusten. Ich musste zurück zu Nathan. Und wir mussten einen Plan schmieden, wie wir Luzifer besiegen und diese Welt retten konnten. Ich spürte plötzlich wieder Dareks Hand an meiner, und er sah mich an. Kurz schien es, als wollte er etwas sagen, doch er schüttelte leicht den Kopf. „Lass uns gehen. Du hast gesagt, du bringst mich zurück. Und du hast bekommen, was du unbedingt wolltest.“, sagte ich leise. Darek sah mich weiterhin an, dann strich er sich sein helles Haar aus dem Gesicht. „Ich werde wohl keine andere Wahl haben. Aber ich will, dass du dir eines merkst: Mein Angebot steht. Ich werde es nicht zurück nehmen. Du solltest schlau genug sein, noch mal darüber nachzudenken. Denn deine Chancen diesen Krieg zu gewinnen sind viel größer, wenn du an meiner Seite bist.“ Er schnaubte verächtlich. „Nathan wird dir keine große Hilfe sein.“ Ich sah ihn nur ausdruckslos an. Natürlich hatte er Recht. Aber ich hatte einfach das Gefühl, dass ich Nathan vertrauen konnte. Und ich würde auf mein Gefühl hören. Darek wartete noch einige Sekunden, vielleicht dachte er, ich würde meine Meinung ändern. Und hätte ich damals noch länger dort gestanden und in seine roten Augen gesehen, oder seine Flügel betrachtet, hätte ich das vielleicht auch. Doch er schloss die Augen und brachte uns wieder vor die alte Hütte. Sofort kroch mir eisige Kälte unter die Kleidung, und als ich auf den Boden sah, bemerkte ich die Schneeschicht, die sich gebildet hatte. Sie leuchtete trotz der Dunkelheit weiß und ich konnte Darek neben mir erkennen. „Danke.“, sagte ich. Es schien, als sei er tatsächlich nicht ganz so böse, wie ich gedacht hatte. Natürlich war er kein guter Mensch, oder nett oder Ähnliches. Aber er hatte mich zurückgebracht, und er war bereit gewesen, mir einiges zu erzählen. Trotzdem schwirrten noch immer hunderte von Fragen durch meinen Kopf. „Gerne. Für dich immer, Kleine. Wenn du dich doch umentscheiden solltest… dann ruf mich. Ich werde dich schon hören.“ Und dann war er fort. Von einer Sekunde auf die nächste war ich allein vor der Hütte. Durch das kleine Fenster konnte ich das Flackern des Kamins sehen. Nathan war also noch hier. Ich klopfte gegen den Schrank, der mittlerweile als Türe zu dienen schien. Es dauerte einige Minuten, ehe ich sich nähernde Schritte hörte. „Cas?“, hörte ich eine leise Stimme sagen. Ich klopfte erneut. „Ja, ich bin’s! Mach auf, Nathan.“, hauchte ich. Mein Atem gefror direkt vor meinem Gesicht, und ich hatte angefangen zu zittern. Mit lautem Knarren begann Nathan, den Schrank wegzuschieben. Neben mir raschelte es leise im Unterholz, und ich hoffte, er würde sich beeilen, Die Umrisse der großen Tannen bewegten sich gespenstisch im eisigen Wind, und es wirkte bedrohlich, wie sie nach oben emporragten. Sobald Nathan den Schrank weit genug weggeschoben hatte, drückte ich mich nach drinnen. Sofort machte er sich daran, die Öffnung wieder zu schließen, denn der Wind nutze die Gelegenheit um herein zu brausen und einige Schneeflocken mit sich zu bringen. Ich wartete, bis Nathan fertig war und sich zu mir umdrehte. „Cas. Du bist so unglaublich dumm!“, war das Erste, was er sagte. Ich hatte nichts Anderes erwartet, und antwortete einfach nicht. „Du bist ein naives, dummes Mädchen! Hat er dir was angetan? Verdammt, ich hab mir Sorgen gemacht! Hörst du?“ Ich sah auf den Boden. Hatte er das? Wahrscheinlich schon. Immerhin war seine Möglichkeit, zurück in den Himmel zu kommen, gerade mit seinem Feind abgehauen. Aber ich hatte einfach keine andere Wahl gehabt, und ich bereute es nicht mehr wirklich, mit Darek gegangen zu sein. „Nathan, es tut mir leid, dass ich nicht deinen Erwartungen entspreche. Darek hat mir erzählt…“ Doch er ließ mich nicht zu Ende sprechen. „Es ist mir egal, was er dir erzählt hat. Es war nicht die Wahrheit! Darek kann nicht ehrlich sein. Alles, was er sagt, sind Lügen.“ Nathan sprach mit unterdrücktem Zorn, und ich wünschte, ich hätte Darek gefragt, was zwischen den beiden vorgefallen war. „Na schön.“, schnaubte ich. „Ich habe gerade versucht, mich bei dir zu entschuldigen. Aber es scheint, als wolltest du es nicht hören, also werde ich es eben bleiben lassen. Denk was du willst, ich gehe schlafen. Vielleicht hast du dich ja bis morgen etwas beruhigt.“ Ich ging wortlos in das Schlafzimmer. Zum Glück war dieses Mal die Türe offen gewesen, und die Wärme des Feuers hatte auch diesen Raum erreicht. Ich kuschelte mich unter der dünnen Decke zusammen und schloss die Augen. Er würde sich schon wieder beruhigen. Und morgen würden wir über die Zukunft reden. Ich schlief ein und verfiel in einen unruhigen Schlaf. Immer wieder hörte ich die Schreie der Menschen in meinem Kopf, die Darek heute getötet hatte. Ich durfte ihn nicht unterschätzen. Er war gefährlich. Und dann spürte ich plötzlich wieder seinen Kuss auf meinen Lippen. Ich wusste nicht, ob ich wach war oder träumte, wälzte mich hin und her und versuchte, diese Bilder und Gefühle zu vergessen. Dann waren da wieder die Schreie, und ein schreckliches Bild baute sich vor mir auf, wie die Menschen auf die Knie fielen und erstickten oder verbrannten. Schreiend wachte ich auf. Mein Gesicht war nass und voller Tränen. Im nächsten Moment stürzte auch schon Nathan in das Zimmer. Seine Haare standen in allen Himmelsrichtungen ab; offensichtlich hatte er geschlafen. „Alles in Ordnung?!“, fragte er verunsichert, als er mich sah. Ich nickte schwach und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. „T-Tut mir leid.“, murmelte ich. „Ich hatte wohl einen schlechten Traum.“ Nathan setzte sich auf das Bett und sah mich an. Seine Flügel raschelten leise. „Was hast du geträumt? Hatte es was mit Darek zu tun?“, fragte er. Doch dieses Mal klang er eher einfühlend als wütend oder zornig. Ich nickte schwach. „Aber ist schon okay. Es tut mir leid wenn ich dich geweckt habe. Ich versuche einfach, wieder einzuschlafen, ja?“, sagte ich. Doch Nathan schüttelte den Kopf. „Hör auf dich dafür zu entschuldigen. Du kannst ja nichts dafür, wenn du einen Alptraum hast.“ Er zögerte kurz, und sah weg. „Soll ich mich zu dir legen?“, fragte er dann. Ehe ich darüber nachdenken konnte, hatte ich bereits leicht genickt. Was tat ich da nur? Aber ich wollte seine beruhigende Nähe bei mir haben. Ich wollte wieder das Gefühl der Sicherheit spüren, dass ich am Abend zuvor gehabt hatte. Also rutschte ich zur Seite und er legte sich neben mich. Dieses Mal hatte er nicht den Rücken zu mir gedreht, sondern er ließ seine Flügel über der Bettkante auf den Boden hängen. Sein Blick ruhte kurz auf mir. „Schlaf jetzt. Dir wird nichts passieren, keine Sorge.“ Ich wusste nicht warum, aber augenblicklich glaubte ich ihm. Ich war sicher bei ihm. Dann schloss ich die Augen und als ich seinen warmen Atem auf meiner Hand spürte, schlief ich ein. Und ich versank in einen erholsamen, traumlosen Schlaf.

Chapter 4

 

 

Am nächsten Morgen wurde ich durch laute Rufe geweckt. Ich schlug die Augen auf, und stellte fest, dass Nathan nicht mehr neben mir war. Kurz lauschte ich dem Krach, der von der geschlossenen Türe her abgedämpft zu mir durchdrang.

„Hör endlich auf zu lügen! Natürlich hast du etwas mit ihr gemacht!“ „Hab ich nicht! Ich hab ihr nur ein bisschen was gezeigt, da war nichts Schlimmes dabei. Wieso regst du dich überhaupt so auf, immerhin wollte sie am Ende ja doch zu dir zurück. Und ich habe sie sogar noch hergebracht!“ „Natürlich wollte sie das, nach dem was du ihr angetan hast. Sie hat geschrien, mitten in der Nacht, weil sie das was du ihr gezeigt hast nicht ertragen konnte!“

Daraufhin folgte nur eine Stille. Ich schlug die Decke zurück, und als ich die Türe öffnete, wusste ich bereits was ich sehen würde. Nathan und Darek standen sich wütend gegenüber und stritten. In Nathans Gesicht war Wut und Sturheit zu sehen, etwas Anderes hatte ich auch gar nicht erwartet. Aber Dareks Augen spiegelten abgesehen von seinem amüsierten Grinsen und dem Hass, den er offensichtlich auf Nathan hegte, noch etwas Anderes wieder: Sorge. Irgendwie hatte ich das Gefühl, als habe er tatsächlich ein schlechtes Gewissen wegen Nathans Worten. Oder bildete ich mir das nur ein? Aber wieso war Darek schon wieder hier? Hatte Nathan ihn irgendwie hergeholt, oder war er von selbst gekommen? Als sie mich bemerkten, sahen sie mich beide an. Ich blickte zu Nathan. „Wir müssen reden.“, murmelte ich. Aber ich wollte nicht, dass Darek dabei war. Noch immer traute ich ihm nicht. Für einen kurzen Moment fragte ich mich, ob sich die beiden näher standen, als sie zugeben wollten. Sie kamen mir vor wie Geschwister, die einen üblichen Familienstreit hatten. Wenn es dabei nicht um mich gegangen wäre, hätte ich ihnen das wahrscheinlich sogar gesagt. „Guten Morgen, Süße.“, strahlte Darek schon wieder. „Schön, dass du auch endlich wach geworden bist. Meine Güte, du hast vielleicht einen tiefen Schlaf.“ Nathan sah ihn nur böse an und nickte mir dann zu. „Lass uns das hier noch kurz klären, dann besprechen wir was auch immer du willst, okay?“ Ich zuckte mit den Schultern. Was wollten sie schon klären? Darek würde erst gehen, wenn er es wollte. Und ich hatte Angst, dass Nathan sich selbst überschätzte. Er war kein starker Engel mehr, er hatte das meiste seiner Kraft verloren. Und gegen jemanden wie Darek hätte er nicht den Hauch einer Chance, das war mir am gestrigen Abend bewusst geworden. „Wieso redest du nicht gleich jetzt, Schätzchen? Vor mir müsst ihr beide doch keine Geheimnisse haben.“, lächelte dieser nur. Ich seufzte. „Nathan, Darek hat mir vorgeschlagen, das wir uns verbünden würden. Was hältst du davon?“, sagte ich einfach geradeheraus. Offensichtlich hatte Darek das nicht erwartet, und innerlich freute es mich, als sein Lächeln endlich einmal verschwand. Wenn auch nur für einen kurzen Moment. Nathan dagegen sah mich entrüstet an. „Du hast dem doch wohl nicht zugestimmt, oder?“, fragte er. Sofort schüttelte ich den Kopf. „Natürlich nicht. Aber wir sollten darüber nachdenken. Wenn er es ernst meint, wäre er die größte Hilfe, die wir bekommen könnten. Und du weißt, wie unsere Chancen stehen.“ Ich sah ihn ernst an. „Moment mal! Ich habe gesagt, ich verbünde mich mit dir, Cassie. Nicht mit dem Engelchen.“, knurrte Darek. Ich drehte mich zu ihm. „Du hast keine andere Wahl. Wenn du willst, dass ich deinen Vater töte, wirst du wohl oder übel auch Nathan mitnehmen müssen.“

Nathan sah zu Darek, und dann wieder zu mir. „Er meint das niemals ernst. Wahrscheinlich will er uns einfach an Luzifer ausliefern.“, gab er zu bedenken. Erneut zuckte ich mit den Schultern. „Selbst wenn.“, murmelte ich. Denn letztendlich war ja das unser Plan gewesen: Den Teufel zu finden. Und wenn Darek nun doch versuchen sollte, uns an ihn zu verraten, wären wir ihm wenigstens näher als bisher. Und wir hätten uns die Suche gespart. Nathan schien meine Gedanken zu verstehen und nickte dann nach kurzem Zögern. „Also gut. Aber bilde dir nichts darauf ein Darek.“ Kurz sah er zu mir. „Und halte dich von Cas fern.“ Darek schien mittlerweile nicht mehr so erfreut über diesen Handel zu sein. Offensichtlich hatte er sich unter unserem ‚Bündnis’ etwas Anderes vorgestellt. „Also gut. Macht euch bereit, ich bringe euch an den nächsten Ort, wo Vater sein wird.“ Er wandte sich zur Tür, doch bevor er die Hütte verließ hielt er noch mal inne und sah bedrohlich über seine Schulter. „Ach ja, Nathan.“ Ein Lächeln umspielte seine Lippen, das mir einen Schauer über den Rücken jagte. „Steh mir nicht im Weg.“

Nathan hielt diesem Blick stand, bis Darek sich wieder in Bewegung setzte und ruhig nach draußen lief. Sobald er außer Hörweite war, drehte ich mich zu Nathan um. „Er ist viel stärker als du. Ich bitte dich um eine einzige Sache: Mach, was er sagt. Ich weiß du bist ein Sturkopf und dein dummer Stolz ist dir wichtig, aber vergiss das einfach mal, solange Darek in der Nähe ist, hörst du?“ Ich meinte jedes meiner Worte ernst und funkelte ihn an. „Und wenn es dir schwerfällt, dann stell dir doch einfach vor, wie Darek dich umbringt und danach mit mir macht was auch immer ihm gefällt.“ Nathan schnaubte nur und sah auf mich herab. „Das würde er nicht schaffen. Also hör auf dir Sorgen zu machen. Im Gegensatz zu dir kann ich gut auf mich selbst aufpassen.“ Dann folgte er Darek nach draußen. Mit einem tiefen Seufzen tat ich es ihm gleich. Als ich nach draußen kam, klatschte mir auf einmal ein Schneeball ins Gesicht. Ich schrie leicht auf und sah mich um, und augenblicklich prustete Darek los. Er stand einige Meter entfernt und Schnee prasselte von seinen Händen. Nathan stand ein paar Schritte vor ihm und sah genervt aus. Ich wischte mir die tauenden Flocken aus Gesicht und Kragen. „Du bist so kindisch.“, sagte ich. Darek streckte mir nur die Zunge heraus und drehte sich zu Nathan um. Ich konnte es nicht verhindern. Schnell beugte ich mich herab und formte auch eine kleine Kugel aus Schnee, die ich dann gezielt auf Dareks Kopf warf. Leider war ich kein besonders guter Schütze, und die Kugel traf mitten in Nathans Gesicht. Ich presste mir die Hand auf den Mund. Als Darek begriff, was gerade geschehen war, lachte er los. Nathan hingegen schien das Ganze eher weniger lustig zu finden. Ich konnte ihm erst die Verwirrung ansehen, und als er dann sah, von wo der Ball gekommen war, die aufsteigende Wut. Er schüttelte sich den Schnee aus den Haaren und kam dann auf mich zu. „Dass Darek so etwas macht, ist mir klar. Aber du?“, knurrte er wütend. Ich sah ihn entschuldigend an. „Ich wollte dich nicht treffen, wirklich. Eigentlich hatte ich auf Darek gezielt.“ Ich machte einen Schritt zurück, denn Nathan kam noch immer näher. Erst wenige Zentimeter vor mir machte er halt und beugte sich ein Stückchen herab um mir in die Augen zu sehen. „Meine Güte, du bist wirklich noch ein Kind.“, sagte er. Ich wollte gerade etwas erwidern, als er mich plötzlich hochhob und in einen etwas höheren Schneehaufen warf. Ich spürte, wie mir die kalten Flocken in die Kleidung flogen und mein ganzes Gesicht damit bedeckt wurde. Als ich mich hochstemmte und ihn fassungslos ansah, lag ein Lächeln auf seinem Gesicht. Es war nicht sein ironisches, oder sarkastisches Lächeln. Er war tatsächlich fröhlich, wenn es auch nur wegen meinem Gesichtsausdruck war. Ich rappelte mich auf. „War das wirklich nötig?“, murrte ich. Leise lachte er auf. „Ja.“ „Sorry ihr zwei, wenn ich eure kleine Romanze störe, aber können wir jetzt endlich gehen?“ Darek stand mit verschränkten Armen und einem finsteren Lächeln hinter uns. Sofort verschwand Nathans Lächeln und er nickte ernst. „Ja. Bring uns hin.“ Darek schien gerade anfangen zu wollen, als er plötzlich noch einmal innehielt. „Es gibt da noch eine Sache…“, murmelte er, und sah erst zu Nathan und dann mit einem seltsamerweise unsicheren Blick zu mir. „Ihr beiden habt in letzter Zeit nicht gerade viel von der Welt mitbekommen. Vielleicht hättet ihr mal das Radio da drin anschalten sollen.“ Erst verstand ich nicht, was er meinte. Doch als ich Nathans wissenden Blick sah, wurde auch mir klar, wieso er so zweifelnd geschaut hatte. Das Ende der Welt hatte angefangen. Bisher war mir nicht richtig klar geworden, was das bedeutete. Aber Luzifer würde Katastrophen heraufberufen. Viele Menschen würden sterben. Ich hatte solche Szenen bereits in Filmen gesehen, und ich wollte mir gar nicht erst vorstellen, wie es in der Realität war.

Darek fuhr fort: „Mein Vater hat sein Werk begonnen. Und an genau so einen Ort gehen wir jetzt. Mir macht das nichts aus, und dir Nathan, auch nicht. Aber Cassie…“ Ich fragte mich, ob er sich tatsächlich Sorgen machte. Darek machte sich Sorgen um mich? Das war unmöglich. Vielleicht fürchtete er einfach nur um meine Psyche, denn wenn seine stärkste Waffe durchdrehte wäre das wohl ein großer Nachteil. Ich trat einen Schritt vor. „Ich schaffe das schon. Mit etwas Glück werden wir dem ja ein Ende setzen, oder nicht?“ Doch darauf folgte kein bestätigendes Ja, nicht mal ein Vielleicht. Nur betretene Stille. War ich die Einzige, die sich Hoffnungen machte? „Also gut. Dann gehen wir jetzt.“, nickte Nathan, ehe das Schweigen zu unerträglich wurde.

Darek seufzte leicht. Plötzlich stand er zwischen uns und hielt wieder meine Hand. Das Gefühl seiner Berührung erinnerte mich an den Kuss, und ich zuckte zusammen. Beinahe schien er verwirrt über diese Reaktion, doch er ging nicht weiter darauf ein. Innerhalb einer Sekunde waren wir fort. Wir standen auf einer kleinen Anhöhe vor einer Stadt. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass es die Stadt war, in der ich am Abend zuvor mit Darek gewesen war. Es war eigentlich eine relativ große Gemeinde, und sie wirkte lebendig. Einige Autos fuhren durch Straßen und hin und wieder ertönte ein lautes Hupen. Menschen kamen aus Läden mit geschätzt zwanzig Taschen in den Armen, und Andere saßen in typischen kleinen Cafés oder joggten an einem Gehweg entlang. Ich meinte sogar, das Hochhaus erkennen zu können, auf dem wir am Vorabend gestanden hatten. Hatte er es dort schon gewusst? Ich erinnerte mich an den Anblick der Lichter und an meine Gedanken dabei. „Nein. Ausgerechnet dieser Ort? Du musst dich irren.“, flüsterte ich. Doch Darek schüttelte den Kopf. „Ich hab es dir schon einmal gesagt. Meine Fähigkeiten sind perfekt. Ich irre mich nicht. In wenigen Stunden wird von dieser Stadt und ihren Bewohnern nichts mehr übrig sein.“ „Aber wieso hast du dann gestern diese Menschen getötet? Du hast doch gesagt, nur die ‚Bösen’ müssen sterben!“, rief ich. Darek sah zu mir. „Ich habe gesagt, dass ich nur die schlechten Menschen töte. Aber das gilt nicht für meinen Vater. Für ihn sind alle Menschen gleich. Unwichtige Wesen, die sich selbst für viel zu wertvoll halten. Er will sie alle auslöschen, um dann seine eigene Welt zu erstellen.“, sagte er leise. Ich konnte das nicht glauben. Und ich verstand noch immer nicht den Sinn der Morde, die Darek am Tag zuvor getan hatte. Wieso musste er Menschen töten, die doch sowieso in kürzester Zeit sterben würden? Eine ungewohnte Berührung unterbrach meine Gedanken, als Nathan sich auf meine andere Seite stellte und mir sacht eine Hand auf die Schulter legte. Ich sah zu ihm herauf und versuchte, seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Doch er starrte nur mit leerem Blick nach vorne auf die Stadt herab. Darek sah kurz zu seiner Hand auf mir und drehte sich dann leicht weg. „Wir sollten herab gehen. Vielleicht hat er sich unters Volk gemischt. Ab hier kann ich seine Anwesenheit zwar spüren, aber nicht genau erkennen, wo er sich befindet.“ Nathan nickte und wir liefen den Hang herab. Als wir an der Straße kurz innehielten, kam uns eine junge Frau mit zwei kleinen, lachenden Kindern entgegen. Als sie an uns vorbeilief konnte ich nicht anders, als innezuhalten und ihr nachzusehen. Sie würden sterben, wenn wir Luzifer nicht sofort fanden und aufhielten. Darek bemerkte den Grund für mein Zögern und zog mich wortlos weiter. Noch immer hielt ich seine Hand, und ich fragte mich, wieso ich nicht einfach losließ. Kurz ertappte ich mich dabei, wie ich mir wünschte es wäre Nathans Hand. Doch an so etwas durfte ich jetzt nicht denken, es gab weitaus Wichtigeres. Als wir in die nächste Straße einbogen, war vor uns ein großer Trubel. Offensichtlich war heute ein Markt auf diesem Platz, und von überall her riefen Menschen laut und priesen ihre Waren an. Es gab sogar zwei Straßenmusiker mit einer Gitarre und einer Geige, die fröhliche Musik machten. Dieser Anblick gab mir den Rest. Wie konnten wir hier so stehen und nichts tun? Vielleicht könnten wir sie warnen. Vielleicht hätten sie noch genug Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen. Ich drehte mich zu Nathan um und wollte ihm meinen Vorschlag erklären, doch als würde er meine Gedanken lesen, schüttelte er den Kopf. Er beugte sich herab und flüsterte direkt in mein Ohr. Ich spürte eine seiner weichen, dunklen Locken auf meiner Wange, und konnte mich nicht mehr bewegen.

„Du kannst sie nicht retten. Keinen von ihnen. Dafür ist es bereits zu spät. Aber wir können Andere retten. Viele Andere. Er wird sich erst zeigen, wenn es bereits angefangen hat. Und dann gibt es kein zurück mehr. Wenn wir diese Menschen jetzt warnen, wird Luzifer verschwinden und sich einen anderen Ort suchen. Deswegen müssen wir stark sein, okay? Du musst stark sein.“ Ich sah zu Boden. Das sagte er so einfach. Ich fühlte mich verantwortlich für all diese Leben. Für all diese Menschen, die doch letztendlich nichts für ihr Schicksal konnten. Nathan bewegte sich nicht. „Und die meisten von ihnen werden in den Himmel kommen. Glaub mir, das ist ein wundervoller Ort. Es wird ihnen gut gehen.“, fügte er noch leise hinzu, ehe er sich wieder aufrichtete. Ich schluckte und versuchte, mich auf diesen Gedanken zu konzentrieren. Es wird ihnen gut gehen. Natürlich hatte ich nicht die Sehnsucht in Nathans Stimme überhört, aber im Augenblick gab es mir Halt zu denken, dass diese Menschen nicht lange leiden mussten, bevor sie erlöst wurden. Mit Nathan würde ich später reden können, wenn wir das hier überstanden hatten. Plötzlich begann die Erde zu beben. Es war so heftig, dass ich beinahe umgefallen wäre, hätten nicht Nathan und Darek gleichzeitig meine Hand festgehalten und mich gestützt. Ich fühlte mich seltsam, wie ich nun so zwischen den beiden stand, und sobald ich das Gleichgewicht einigermaßen wiederhatte, ließ ich sie beide los. Ich sah nach vorne zu den Menschen. Noch immer bebte der Boden, doch es schwächte bereits wieder ab. Einige Stände waren umgekippt, die Musiker hatten ihr Treiben eingestellt und irgendwo weinte ein kleines Kind lautstark. Ich hatte erwartet, dass die Menschen aufschreien würden, doch es war mehr eine Stille. Als würden alle auf etwas warten. Auf etwas, das auf dieses Beben folgte. Nur das Weinen des Kindes zerbrach diesen Moment auf eine schaurige Weise. Ich sah kurz zu Darek, der auf den Boden starrte. Ich hatte das Gefühl, als habe er sich so etwas schon viele Male angesehen. Was war in den letzten beiden Tagen alles passiert? Nathan hingegen schien genauso angespannt wie ich, und er starrte nach vorne. Und dann geschah es erneut, es bebte und knarrte. Ein Haus am Ende der Straße brach in sich zusammen, und Staub flog nach oben. Dann ertönte er; der erste Schrei. Es war eine Frauenstimme, und sie kam aus eben diesem Haus. Ab da ging alles ganz schnell. Wie bei einer Kettenreaktion stiegen Andere ein, die Menschen begannen, hin- und herzulaufen. Manche stolperten durch das Beben, und blockierten den Weg für Andere. Einige versuchten zu ihren Häusern zu hasten, doch riesige Spalten brachen im Boden auf und die Menschen, die dort hineinfielen, schrien noch lange, ehe irgendwann auch dieses Geräusch verklang. Weitere Gebäude stürzten ein, Stände wurden in die Tiefe gerissen. Ich sah einen alten Mann, der verzweifelt versuchte, an seinen Gehstock zu kommen um sich zu retten, und ein kleines Kind, das weinend an einem der tiefen Spalte stand und nach dem Namen seiner Mutter rief. Dies war der Moment, in dem Nathan wegsah. Er konnte den Anblick nicht mehr ertragen, und ich auch nicht. Doch anstatt mich wegzudrehen rannte ich los. Darek wollte nach meinem Arm greifen und mich aufhalten, doch er war zu langsam. Erst rannte ich zu dem alten Mann und wollte ihm aufhelfen, doch in der Sekunde, in der ich mich bückte, brach das Haus direkt vor uns zusammen. Teile des Gemäuers stürzten herab, und trafen den Mann. Ich sprang ein Stück zurück, und hörte Nathans besorgte Rufe. Auf einmal war Darek neben mir. Er zog an mir und schrie mich an, doch ich konnte ihn nicht verstehen. Um uns herum war es einfach zu laut. Ich sah mich in dem Chaos um, und riss meine Hand von seiner los. Das Kind. Ich musste das Kind retten. Aber auch dafür war es bereits zu spät. Ich sah wie ein Mann, der versuchte sein eigenes Leben zu retten achtlos an dem Kind vorbei rannte und ihm, ohne es selbst zu merken, einen sachten Schubs gab. Sachte genug, um das Kind sosehr aus dem Gleichgewicht zu bringen, dass es herab fiel. Ich sah seine schockierten, weit geöffneten Augen, als es fiel und den Namen seiner Mutter erneut rief. Tränen liefen mir bereits die Wangen herab. Es wird ihnen gut gehen. Es wird alles gut. Sie kommen in den Himmel. Immer wieder ging ich diese Sätze durch, ich wollte selbst daran glauben. Aber ich schaffte es nicht, mich zu überzeugen. Plötzlich huschte eine Person mit unglaublicher Geschwindigkeit an mir vorbei, und als ich genau hinsah, wurde mir bewusst dass es Nathan war. Er sprang in den Schlund, in dem soeben das Kind verschwunden war. Tausende Gedanken flogen durch meinen Kopf. Er rettete das Kind. Aber er hatte nicht seine volle Kraft. Konnte er überhaupt noch fliegen? Was wäre, wenn er nicht stark genug war? Was wäre, wenn er nicht wieder auftauchen würde? Für kurze Zeit kam es mir vor, als liefe alles um mich herum in Zeitlupe ab. Ich hatte das Gefühl, als würde das Chaos in eine ruhige, gleichmäßige Bewegung verfallen. Ich hörte die Schreie nicht mehr, und alles, auf das ich mich konzentrierte, war dieser Schlund. Das Beben um mich herum wurde stärker, und gleichzeitig hörte ich meinen eigenen Herzschlag laut und deutlich. Ein rasendes Pochen, eine Musik, die sich der Umgebung anpasste. Ich spürte Darek neben mir, und auch er starrte fassungslos in den Schlund hinab. Ich wartete, und mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde meine Angst größer. Was wäre, wenn er nicht käme? Doch plötzlich drehte sich die Zeit weiter. Ich sah die Spitze der wunderschönen, lila schimmernden Flügel, als er sich erhob. In diesem Moment war er dem Bild eines Engels, das die Menschen normalerweise hatten, am nächsten. Er kam herauf, und ich war gebannt von seiner Schönheit, seiner Ruhe und seiner beschützenden Ausstrahlung, als er das Kind in seinen Armen hielt. Er landete auf seinen Füßen, langsam, vorsichtig, als sei der Boden eine zerbrechliche Oberfläche. Und in dem Moment, als er beide Füße aufgesetzt hatte, kamen die Schreie zurück. Nathan sah zu mir, und in seinen Augen lag ein besonderer Glanz. Der Glanz eines Engels. Er stolperte auf mich zu und hielt das bewusstlose Mädchen fest an sich gedrückt. Dann nickte er Darek zu, und dieser zog an meinem Arm. Wir suchten uns einen Weg durch das Chaos, zurück zu dem Hügel, auf dem wir zuvor aufgetaucht waren. Wenn sich vor uns ein Riss auftat, machte Darek einen Flügelschlag und wir sprangen beinahe darüber. Ich sah geradeaus, und war nicht fähig, meinen Blick zur Seite zu wenden. Ich wusste, dass dort Menschen starben. Ich wusste, dass es für sie keinen Ausweg mehr gab. Dass es für sie vorbei war. Und ich wünschte, dass ich nicht hier wäre. Ich wünschte in diesem Augenblick, ich wäre wieder zuhause. Ich wäre vorgestern einfach nicht aufgestanden, wäre liegen geblieben. Ich hätte mich nie auf den Weg zur Schule gemacht, und ich wünschte mir so sehr, ich hätte Nathan nicht gesehen. Doch es war zu spät. Es war alles passiert und es war alles real. Zitternd stolperte ich weiter und versuchte die Schreie zu ignorieren. Darek führte uns zielstrebig heraus, und als wir keuchend auf dem Hügel ankamen und ich mich umdrehte, waren seine Worte wahr geworden. Von den Hochhäusern waren nur noch Trümmer übrig. Manche Häuser waren gänzlich herabgerutscht oder in sich zusammengesunken, und die mittlerweile weniger lauten Schreie der Menschen gaben dem Bild die wahre Grausamkeit. Das hier waren alles unschuldige Menschen gewesen. Kinder. Alte. Mütter. Und sie hatten nicht den Hauch einer Ahnung gehabt, was mit ihnen passieren würde. Noch immer hatte ich kalte Tränen im Gesicht, doch mittlerweile kamen keine Neuen mehr hinzu. Ich verspürte nur noch ein einziges Gefühl: Wut. Darek sah mich an, und ich glaube, in diesem Moment erkannte er die Veränderung in mir. Das, was dieses Szenario in mir ausgelöst hatte. Ich wandte mich zu Nathan. „Wo ist Luzifer? Ihr sagtet, er würde auftauchen, wenn das Leid der Menschen am größten ist. Ich schätze, er hat seinen Einsatz verpasst?“, fragte ich. „Er ist fort.“, antwortete Darek plötzlich. „Ich kann ihn nicht mehr spüren. Er ist verschwunden.“

Fassungslos sah ich ihn an. Also waren wir völlig umsonst hier gewesen? „Das kann nicht sein.“, hauchte ich. „Cas, was hast du erwartet? Ich hatte schon vorher bedenken, als du dir so sicher warst, wir würden das hier heute beenden. Aber so einfach geht das nicht. Hast du ernsthaft geglaubt, wir spazieren hier mal eben hin, finden den Teufel, schubsen dich gegen ihn und er stirbt? Solche Happy Ends gibt es nun mal nicht in der Realität.“, sagte Nathan ruhig. Darek nickte zustimmend. „Er war hier. Aber es kann sein, dass wir uns noch hunderte solcher Orte ansehen müssen, ehe wir ihn überhaupt entdecken. Und dann haben wir ihn noch lange nicht besiegt.“ Mir war klar, dass ich viel zu große Hoffnungen auf diesen Tag gesetzt hatte, und auch, dass ich naiv war. Aber ich hatte versucht mir einzureden, dass es nicht soweit kommen würde. Dass es einfach wäre. Denn ich hatte Angst davor, dass ich das alles hier letztendlich doch nicht verkraften konnte. Ich sah zu dem kleinen Mädchen in Nathans Armen, als es aus seiner Ohnmacht aufwachte. Sie hatte wunderschöne Augen und blondes, verwuscheltes Haar. „Übrigens, das war eine ganz miese Aktion von dir.“, sagte Darek und deutete auf das Kind. Fragend blickte ich zu ihm. „Sie wäre gestorben.“, widersprach ich. „Na und? Du kennst sie doch gar nicht! Wegen dir wäre beinahe dein Engelchen auch noch draufgegangen. Ist sie das wert? Nein! Natürlich nicht. Du solltest mehr denken bevor du handelst.“ Obwohl Darek mir gerade einen Vortrag hielt, lächelte er. Ich stellte mir vor, dass es ihm wahrscheinlich besser gefallen hätte, wenn Nathan nicht wieder aufgetaucht wäre.

„Cassie, er hat Recht. Ich habe sie gerettet, aber es war knapp. Du kannst nicht einfach fortrennen und dich gefährden, denn wenn du stirbst dann gibt es wirklich keine Zukunft mehr. Du musst dein unnützes Mitleid einfach mal vergessen.“ Nathan klang einfühlend, und ich hatte die Vermutung, dass er das Kind nicht nur wegen mir gerettet hatte. Ich fühlte mich miserabel. Es schien, als könnten die beiden sich nur in einem einzigen Punkt einig sein: Dass ich ein dummes, kleines Mädchen war. Und dass ich, egal was ich tat, immer etwas falsch machte. „Wo ist meine Mami?“, hörte ich ein zartes Stimmchen flüstern. Ich sah zu dem Mädchen, dessen Augen sich bereits wieder mit Tränen füllten. „Darek, wir müssen sie in eine Stadt bringen, die noch nicht zerstört ist. Irgendjemand wird so ein kleines süßes Mädchen bestimmt aufnehmen.“ Der Antichrist nickte. Er stellte sich vor Nathan und nahm ihm das Kind ab. Ich beobachtete Nathans Blick, und ich sah, dass er sie nur ungern in Dareks Hände legte. „Ich bin bald zurück. Wartet einfach hier, oder lauft ein bisschen rum.“, sagte Darek. Dann zwinkerte er mir zu und im nächsten Moment war er fort. „Denkst du, er wird sie wirklich an einen sicheren Ort bringen?“, fragte ich skeptisch. Nathan zuckte mit den Schultern. „Es gibt keinen sicheren Ort, Cassie.“

Natürlich hatte er Recht. Egal in welche Stadt oder welchen Ort Darek das Mädchen auch bringen würde, es bestand überall die Chance, dass Luzifer eben diese Stadt als nächstes angriff. Wir konnten also nur beten und hoffen, dass sie Glück hatte. Wir liefen ein Stück, um von dem schrecklichen Anblick wegzukommen. Irgendwann wurde die Stille zwischen uns unangenehm und ich hielt inne und sah ihn an. Seine Flügel hatte er flach angelegt und ihm hingen wie üblich einige seiner Locken ins Gesicht. Doch auch wenn er eigentlich erschöpft gewesen sein müsste, hatte ich das Gefühl als sei seine Ausstrahlung stärker als am Tag zuvor. Lag es daran, dass er das Mädchen gerettet hatte? Plötzlich kam mir eine interessante Idee: Was, wenn Nathan seine Engelskräfte zurückerlangen konnte, indem er Gutes tat? Sein fragender Blick lag auf mir. Kurz überlegte ich, ihm meine Theorie zu erzählen, doch dann hielt ich mich zurück. Er würde es ja doch nur belächeln oder mich für verrückt erklären. Ich würde ihn einfach in Zukunft beobachten. Vielleicht ergab sich ja eine weitere Gelegenheit wie die heutige. „Sag mal, Nathan. Die Menschen um uns herum konnten dich ja nicht sehen, oder? Aber das Mädchen schon. Wieso ist niemandem aufgefallen, was passiert ist?“, fragte ich stattdessen. „Wenn du kurz überlegen würdest, wüsstest du warum. Ihr Menschen denkt meistens an euch selbst. Und dort unten hat jeder versucht, sein Leben zu retten. Niemand bekam mit, was um sie herum passiert ist. Wahrscheinlich hätte sogar Darek sich zeigen können, und sie hätten es nicht gemerkt.“ Ich nickte. Das ergab Sinn, auch wenn es mir nicht gefiel, wie er die Menschen verallgemeinerte. Nicht jeder war so. Ich setzte mich auf das kalte, gefrorene Gras, weil ich merkte, wie mir leicht schwindelig wurde. Nathan blieb neben mir stehen und blickte ausdruckslos nach vorne. Ich fragte mich, wie schon so oft, was wohl gerade in seinem Kopf vorging. „Über was wolltest du heute Morgen reden?“, fragte er plötzlich und drehte sich zu mir. Ich erinnerte mich daran, dass ich eigentlich vorgehabt hatte, ihn zu fragen, in welcher Verbindung er zu Darek stand und ob er wirklich so eine lange Zeit nach jemandem wie mir gesucht hatte. „Ich bezweifle, dass du mir das jetzt beantworten wirst. Aber ich wollte dich fragen, was zwischen dir und Darek vorgefallen ist. Ich meine, einerseits benehmt ihr euch als hättet ihr einen großen Hass aufeinander, aber andererseits redet ihr miteinander als währt ihr Freunde oder Brüder gewesen.“, sagte ich. Ich sah ihm an, dass er auf diese Frage nicht eingehen wollte. Doch dann seufzte er leise und setzte sich neben mich.

„Also gut. Ich werde nicht daran vorbeikommen, es dir irgendwann zu erzählen. Solange Darek noch nicht hier ist, haben wir etwas Zeit.“ Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er wirklich zustimmen würde, und nickte dankbar. Als Nathan begann zu sprechen, wurde sein Blick anders. Er schien in eine andere Zeit zu schauen, in seinen Erinnerungen zu wühlen und sich darauf vorzubereiten, was er mir gleich erzählen würde. „Vielleicht erinnerst du dich daran, was Darek gesagt hat. Über den Grund meines Fallens. Er hat tatsächlich einmal nicht gelogen. Du musst wissen, früher war Darek keine Bedrohung. Als ich noch im Himmel war, hatte ich die Aufgabe, ihn im Auge zu behalten. Wir wussten zwar, was einmal aus ihm werden würde, aber eigentlich gab es keinen Grund zur Sorge solange Luzifer sich noch nicht erhoben und ihm seine Kraft gegeben hatte. Ich habe meine Aufgabe also nicht besonders ernst genommen, und habe mich sogar mit ihm angefreundet. Damals war ich noch ein richtiger Engel, also konnten mich die Menschen sehen, wenn ich es wollte. Er wandelte zu dieser Zeit auf der Erde herum, und ich besuchte ihn fast täglich. Hätte ich gewusst, dass ich irgendwann nicht mehr nach Hause zurückkehren könnte, hätte ich meine Zeit nicht so unglaublich unnötig verschwendet.“ Er machte eine kurze Pause und schien sich zu sammeln.

„Eines Tages als ich herabgekommen war um ihn zu treffen, hatte er diese Frau bei sich. Als ich sie ansah, fühlte ich etwas Seltsames. Natürlich war sie ein Mensch, und konnte nicht an die Schönheit der Engel herankommen, doch sie war der schönste Mensch, den ich seit der Schöpfung jemals gesehen hatte. Als Darek sie mir vorstellte, wünschte ich bereits, sie wäre mein. Doch natürlich hätte das niemals funktioniert. Ein Engel und ein Mensch? Das war unmöglich.“ Nathan schnaubte leise. „Aber ich habe mich trotzdem nicht davon abhalten lassen, über sie zu wachen. Ich habe sie beobachtet, viele Male, und ihr Glück gebracht. Aber eines Tages…“ Er sprach nicht weiter, und ich sah einen Ausdruck tiefen Schmerzes in seinem Gesicht. „Ist schon okay, Nathan. Wenn du nicht darüber reden kannst, musst du nicht. Es geht mich ja nicht mal etwas an.“, sagte ich leise. Doch er schüttelte den Kopf. „Du hast ein Recht, es zu erfahren. Eines Tages befiel sie eine schreckliche Krankheit. Ich habe die Menschen um sie herum, die ebenfalls davon befallen wurden, sterben sehen. Niemand hatte es bisher überlebt. Ich hatte Angst. Angst, dass ich sie verlieren würde. Also tat ich das, was für mich Sinn ergab. Ich ging zu meinem Vater und erbat Heilung.“, sagte er. „Und er hat sie ihr verwährt?“, vermutete ich leise. Nathan nickte. „Ja. Er sagte, diese Frau müsse sterben. Das sei sein Wille und es habe alles seine Richtigkeit, ich müsse nur vertrauen. Doch das konnte ich nicht. Ich hatte meinen Glauben in diese ‚Richtigkeit’ verloren. In diesem Augenblick wusste ich, dass ich sie liebte. Und Gott stellte mich vor die Wahl: Entweder ich blieb bei ihm und alles ginge seinen Lauf, oder ich dürfe hinab auf die Erde und ihr Leben retten. Aber dann würde er die Tore hinter mir verschließen.“

Ich sah ihn an. Er hatte also diese Frau so sehr geliebt, dass er für sie seinen Platz bei Gott aufgegeben hatte? „Ich entschied mich für das Falsche. Niemals hätte ich diesen Verrat tun dürfen, doch ich habe nicht nachgedacht. Ich war blind und naiv. Also ging ich, und fiel. Meine Flügel verfärbten sich, es fühlte sich an als würden sie verbrennen. Und meine Kraft verließ mich. Doch ich ertrug es alles und eilte zu der Frau, die ich liebte.“ Noch immer hatte ich nicht verstanden, was das Alles mit Darek zu tun hatte, doch ich hörte ihm aufmerksam zu. „Und als ich in ihrem Haus ankam, erblickte ich ihn: Es war ein Dämon. Sie hatte einen Pakt mit ihm geschlossen, von Anfang an. Sie hatte ihre Seele verkauft, um ein langes Leben zu haben. Also ganz gleich, welche Krankheit sie befallen würde, sie hätte es überlebt. Und als ich das begriff, wurde mir auch bewusst, woher Darek sie gekannt hatte. Ich machte ihn ausfindig und fragte ihn, ob er davon gewusst hatte.“ „Natürlich habe ich das.“ Ich zuckte zusammen, als ich das finstere Lachen des Antichristen hinter uns hörte. Nathan schien nicht großartig verwundert zu sein, denn offensichtlich hatte er bereits damit gerechnet, dass Darek zurück sein würde, ehe er fertig war. Ich sah Darek verständnislos an. „Aber wenn du es gewusst hast, wieso hast du dann zugelassen, dass Nathan fiel? Ich dachte, ihr wärt so etwas wie Freunde gewesen.“

Doch er zuckte nur die Schultern. „Es gab viele Gründe. Woher hätte ich denn anfangs wissen sollen, dass sich dieser hirnlose Idiot in sie verliebt? Und welches Wesen bei klarem Verstand gibt schon einen Platz im Himmel auf, nur für einen Menschen? Ich hatte ihn, um ehrlich zu sein, für klüger gehalten. Und naja, du weißt ja: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Ich dachte, wenn Gott ihn vor die Wahl stellen würde, dann würde er sich bestimmt richtig entscheiden. Aber das hat er nicht.“ Er sah mit einem gespielt traurigen Blick zu Nathan. „Armes Engelchen.“ Ich konnte es nicht fassen. Darek hatte Nathan also nicht nur diese Frau vorgestellt, er hatte ihn auch nicht gewarnt. Erst jetzt Begriff ich den Zorn, den Nathan auf den Antichristen hegte. Darek hingegen lächelte schon wieder. „Sieh mich nicht so an, Schätzchen. Er hat doch seine berühmte zweite Chance, seine Vergebung bekommen. Und so schwer war die Aufgabe nun auch wieder nicht.“, sagte er. Ich erinnerte mich an seine Worte auf dem Dach. Ein einsamer, gefallener Engel. Unsichtbar in einer Welt, die er nicht versteht, auf der Suche nach dem Mädchen, das ihn sieht. Nathan hatte also seit diesem Tag an nichts Anderes getan als nach mir zu suchen. Nach der Person, die ihm helfen sollte, diese Welt zu retten. Und dann traf er auf mich, ein schwaches, trotziges Mädchen, das noch zur Schule ging. Mir wurde klar, wieso er so enttäuscht und abweisend mir gegenüber war. Ich konnte ihn endlich verstehen, und wünschte mir, das hätte ich schon von Anfang an. Mittlerweile war die Sonne bereits dabei, unterzugehen. Es wurde von Minute zu Minute kälter, und man konnte bereits wieder seinen Atem vor dem Gesicht als weißen Nebel erkennen. Über der zerstörten Stadt war eine große Staubwolke, vielleicht war es auch Asche. Ich war mir nicht sicher, und ich wollte es auch gar nicht so genau wissen. Als ich lauschte, ob man noch Schreie hören konnte, vernahm ich nur das Zwitschern eines Vogels in einem der wenigen umstehenden Bäume. Mit einem tiefen Seufzen sah ich der Sonne beim untergehen zu. Vielleicht würde ich einen weiteren Untergang ja nicht erleben. Dieser Gedanke würde ab jetzt immer gegenwärtig sein: Zu sterben. Denn wenn wir Luzifer fanden, und ich versagte, dann wäre ich bestimmt eines seiner ersten Ziele. Immerhin war ich eine Bedrohung, oder nicht? Ich fragte mich, ob er nicht schon über mich bescheid wusste. Vielleicht wartete er ja auch nur darauf, dass wir ihm in die Fänge gerieten.

„Sollen wir wieder zurück zu der Hütte gehen? Im Moment wird Vater nichts machen, erst morgen früh wieder, schätze ich. Außerdem hab ich Hunger. Vorausgesetzt ihr habt dort noch was zu Essen?“, fragte Darek. Ich sah ihn nur an. Wie konnte er ans Essen denken, nach dem was Heute passiert war? Doch ich erinnerte mich daran, wie er geschaut hatte, während die Stadt zerstört wurde; vielleicht hatte er so Etwas tatsächlich schon öfters mit angesehen. Noch dazu tötete er auch selbst Menschen, also konnte es ihn wohl kaum so sehr mitgenommen haben wie mich oder Nathan. Ich stand auf. „Wir haben nichts mehr da.“, murrte Nathan und tat es mir gleich. Mir fiel auf, dass er genauso groß wie Darek war, und sie beide mich fast um einen Kopf überragten. „Na schön, dann machen wir eben einen Zwischenstopp in irgendeinem Restaurant oder so.“ Es klang fast so, als würde Darek sich darauf freuen. „Und mit was willst du bezahlen?“, fragte ich genervt. Doch als Antwort zog er nur eine kleine blaue Kreditkarte aus seiner Jackentasche. Ich sah sie erstaunt an. Ich hatte mehr erwartet, dass er sich normalerweise die Dinge, die er brauchte, auf eine eher unehrliche Weise zusammensuchte. Aber im Grunde wusste ich ja gar nichts über ihn. Nathan zuckte mit den Schultern. „Von mir aus. Wenn du uns einladen willst.“ Ich hatte zwar keinen Hunger, aber auch ich stimmte ein. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie sich Darek und Nathan an einem gemütlichen Tisch gegenübersaßen, und wollte mir dieses Bild nicht entgehen lassen. Und vielleicht würde es mich ein bisschen ablenken. Darek grinste zufrieden. „Was haltet ihr davon, wenn wir fliegen? Meine Kraft ist auch nicht unendlich und durch den Abstecher zu der alten Dame, die das Mädchen übrigens aufgenommen hat, bin ich müde.“, murrte er. Ich glaubte ihm kein Wort. Er hatte genug Kraft um uns an einen anderen Ort zu bringen, auch ohne seine Flügel. Wahrscheinlich wollte er damit nur Nathan eins auswischen. „Das geht nicht. Du weißt selbst, dass Nathan nicht viel Kraft hat. Und erst Recht nicht, wenn er mich tragen muss, denn im Gegensatz zu euch habe ich kein paar kräftiger Flügel.“, protestierte ich. Doch Darek lächelte weiter. „Er muss dich ja auch nicht tragen. Das kann ich gerne übernehmen.“ „Nein, wirst du nicht. Das geht schon, ich fühl mich gut.“, warf Nathan wütend ein. Offensichtlich verletzte es seinen Stolz, dass ich mir Sorgen um ihn machte. Und er würde letztendlich dann doch mit mir fliegen, nur um nicht gegen Darek zu verlieren. „Nathan, ich fliege mit Darek.“, sagte ich schnell. Er starrte mich kurz an, dann schüttelte er wütend den Kopf. „Mach doch was du willst.“ Im Grunde war es mir egal, ob er wütend war. Das Wichtigste war, dass er nicht wieder so erschöpft wurde wie am Tag zuvor. Nur Dareks gewinnendes Lächeln ging mir auf die Nerven. „Nicht schmollen, Engelchen! Du hast sie ja nachher wieder ganz für dich. Übrigens, weise Entscheidung, Cassie.“ Ich funkelte ihn wütend an. Er wusste ganz genau, weshalb ich das zuließ, und trotzdem machte er sich einen Spaß daraus. Als ich zu ihm trat, damit er mich hochheben konnte, lehnte er sich vor und tat so, als würde er Etwas in mein Ohr flüstern. Doch anstelle dessen drehte er den Kopf zur Seite und hauchte mir einen Kuss auf die Wange. Für Nathan war dies unmöglich zu erkennen, und doch hatte ich plötzlich eine Art Schuldgefühl, und ich wusste nicht mal genau, warum. Beinahe hätte ich ihm eine Ohrfeige gegeben. „Ich hab dir gesagt, du sollst sowas nie wieder machen!“, fauchte ich. Darek schien nicht mit so einer heftigen Reaktion gerechnet zu haben, vielleicht dachte er ja, ich würde ihm jetzt dankbar dafür sein. Er sah mich kurz verwirrt an, dann fasste er sich wieder. „Falsch, Schätzchen. Du sagtest, ich solle das nie wieder machen. Und du hast dich damit auf den gestrigen Kuss bezogen. Aber das gerade eben war etwas Anderes.“, sagte er leise. Sein Blick glitt kurz hinter mich, wahrscheinlich in Nathans Richtung. „Und es hat dir schon wieder gefallen.“, fügte er noch etwas leiser mit einem finsteren Lächeln hinzu. Leider hatte er Recht. Aber das würde ich niemals zugeben, denn ich wollte nicht, dass er dachte, er sei etwas Besonderes. Ich hatte nie zuvor jemanden geküsst oder ähnliches, und es war für mich etwas Neues. Nur deswegen fand ich es so interessant. „Lass uns einfach gehen.“, murmelte ich erschöpft und verwirrt. Er nickte und hob mich hoch. Ich bemerkte seinen festen Griff, und auch wenn ich ihn nicht leiden konnte und ihm nicht traute, freute ich mich auf das Fliegen. Als wir abhoben, war die Sonne bereits völlig hinter den Hügeln am Horizont verschwunden. Alles was sie hinterlassen hatte war ein roter Streifen am Himmel, der dann in einem sachten Übergang von Pastellfarben erst in ein helles Gelb, und dann schließlich in ein schwaches Blau überging. Auf der Gegenüberliegenden Seite des Himmels, wo er sich bereits dunkelblau färbte, konnte man vereinzelt einige Sterne entdecken. Ich fragte mich, was mein Vater wohl gerade machte. Ob er sich Sorgen machte? Wahrscheinlich schon. Aber da überall auf der Welt das pure Chaos herrschen musste, würde er es auf den ‚Weltuntergang’ schieben können. Jedenfalls konnte er sich ganz bestimmt nicht vorstellen, dass ich gerade mit einem gefallenen Engel und einem Antichristen durch die Luft flog. Ich hatte Angst, dass ich ihn nie wieder sehen würde. Dass ich mein Zuhause nie wieder betreten konnte. Dieser Gedanke flog immer wieder durch meinen Kopf, und ich versuchte, ihn zu vergessen. Ich durfte nicht so denken. Alles würde letztendlich gut werden.

Chapter 5

 

Bereits nach kurzer Zeit erblickte ich das Städtchen, auf das wir zusteuerten, vor uns. Darek deutete Nathan schon ein Stück weiter vorne zu landen, da ansonsten die Gefahr bestand, dass jemand mich in der Luft schweben sehen würde. Mir war zwar eisig kalt, doch ich hatte den Flug genossen. Die Nachtluft war rein und kühl, und ich hörte eine Grille irgendwo im Gras zirpen.

Wir liefen in die Stadt hinein, und noch immer kam es mir seltsam vor, dass die Menschen durch Dareks Flügel hindurchgingen oder Nathan gar nicht beachteten. Darek führte uns zu einem gemütlich wirkenden, kleinen Restaurant. Es waren Kerzen auf den Tischen, der Raum war warm und angenehm. Ich blickte mich um, und stellte fest, dass nur wenige Tische besetzt waren. Wahrscheinlich versteckten sich die meisten Menschen in ihren Häusern, weil sie von der Zerstörung der Nachbarstadt gehört hatten. Während Darek uns einen Platz beschaffte, starrte ich auf den kleinen Bildschirm, der in einer der oberen Ecken angebracht worden war. Normalerweise würden hier Fußballspiele oder andere Sportevents übertragen werden, doch an diesem Abend waren es Bilder der Zerstörung. Der Fernsehsender hatte sich nicht zurückgehalten; man sah Menschen, die gerade dabei waren zu sterben, Haufen von Leichen die von Rettungskräften zusammengetragen wurden und pures Chaos auf allen Bildern. Dann zeigten sie eine Weltkarte, auf der mit Rot alle Stellen eingezeichnet waren, in denen Zerstörung herrschte. Schockiert sah ich das Bild an. „Derzeit sind in beinahe jedem Land dieser Welt einzelne Städte oder Dörfer betroffen. Es gibt tausende Vermisste, und Millionen Tote. Wissenschaftler können sich die plötzlich auftretenden Naturkatastrophen nicht erklären. Vereinzelte Menschen predigen den Weltuntergang, die biblische Apokalypse. Es ist nicht sicher, wann oder wo weitere Katastrophen auftreten werden. Bleiben sie deswegen bitte in ihren Häusern und geraten sie nicht in Panik.“ Ich sah in das Gesicht der hübschen Nachrichtensprecherin, die mit monotoner Stimme ihre Stichworte vorlas. Es waren gerade mal drei Tage vergangen, und Luzifer hatte bereits so einen Schaden angerichtet? Nathan hatte sich neben mich gestellt und den Bericht wohl auch verfolgt. Er sah mich an. „Nicht nur die Katastrophen sind schlimm. Überall tauchen Menschen auf, die sich als Jesus ausgeben wollen und Rettung versprechen. Die vereinigten Staaten und Nordkorea haben einen heimlichen Krieg angefangen, und es wird nicht mehr lange dauern, ehe sie sich mit Atombomben angreifen. Wir müssen uns beeilen.“, seufzte er. Seine Worte machten mir noch mehr Angst, als es dieser Bericht getan hatte.

„Na, das nenne ich mal eine gelungene Apokalypse. Er hat viel Kraft, wie ihr merkt. Und dass er pro Tag mehrere hundert Städte angreift macht die Sache natürlich noch viel schwerer, beinahe unmöglich.“ Darek war hinter uns getreten und unserem Blick gefolgt. „Kommt jetzt, lasst und was Essen. Ehe meine gute Laune vergeht!“, lächelte er dann. Nathan und ich drehten uns gleichzeitig um und sahen ihn genervt und abschätzend an. Doch Darek lachte nur und deutete auf den runden kleinen Tisch, der uns zugewiesen wurde. Ich seufzte leise und setzte mich. Als wir das Essen bestellten kam mir Nathan etwas verloren vor. Da der Kellner ihn nicht sehen konnte, musste ich das Doppelte für mich bestellen. Dann sah ich zu Darek, der mich beobachtet hatte. „Was ist?“, fragte ich. „Nichts. Gar nichts. Ich sehe dich nur gerne an“, sagte er. Ich schüttelte genervt den Kopf und konzentrierte mich dann auf das Essen. Als noch mehr Leichen gezeigt wurden, schaltete die Wirtin den Fernseher aus. Wahrscheinlich war ihr aufgefallen, dass dies nicht die beste Unterhaltung während eines Essens war. Ich beobachtete Darek und Nathan. Sie sahen sich nicht ein einziges Mal an oder sprachen miteinander. Für einen kurzen Moment wünschte ich mir, ich hätte sie kennengelernt, als sie noch Freunde gewesen waren. Bevor so viel Schlechtes geschehen war. Plötzlich nahm ich ein leichtes Beben wahr. Es war nicht so wie das, was wir am Vormittag erlebt hatten. Mehr eine schwache Schwingung des Bobens, und wäre ich nicht so ruhig dagesessen, hätte ich sie niemals bemerkt. Ich schaute auf und wechselte Blicke mit Nathan und Darek. Offensichtlich hatten auch sie es gespürt. „Luzifer?“, fragte ich ängstlich. Doch Darek schüttelte den Kopf. „Er ist nicht hier. Es sind...“ „Engel.“, antwortete eine bekannte Stimme hinter mir. Als ich den Kopf drehte, stand mir Armefia mit einem bösen Lächeln gegenüber. „Hallo, Menschlein.“ Hinter ihr stand Dokiel, etwas abseits. Er sah so aus, als wäre er sich nicht ganz sicher, ob er Armefia das Wort überlassen sollte, doch als er mich ansah, schien er sich zu erinnern, weswegen sie hier waren. Ich hatte einen ihrer Brüder getötet. Dass das niemals meine Absicht gewesen war, zählte nicht. Ich war eine Bedrohung, und musste ausgelöscht werden. Und nach dem, was Nathan mir über seine Vergangenheit erzählt hatte, würden sie auch nicht davor zurückschrecken auch ihn zu beseitigen.

Darek war aufgestanden und hatte seinen Schock schon wieder heruntergeschluckt. Ich sah seinem selbstsicheren Gesicht an, dass er keinerlei Angst vor den mächtigen Gestalten zu haben schien, und fragte mich, ob er sich da nicht etwas überschätzte. „Schön – oder auch nicht – euch wieder zu sehen!“, lächelte er. Armefia warf ihm einen wütenden Blick zu. „Zu dir kommen wir später, Darek.“, zischte sie. Doch Darek lief seelenruhig um den Tisch herum und stellte sich vor mich. Was tat er da? „Tut mir leid, dich zu enttäuschen... Aber wenn ihr was von Cassie wollt, müsst ihr erst an mir vorbei.“ Ich kam mir vor, wie in einem schlechten Film, als auch Nathan aufstand und sich neben mich stellte. Schnell warf ich einen Blick zu den anderen Gästen, doch es schien, als würde niemand etwas von unserer Unterhaltung mitbekommen.

Armefia lachte auf. „Uns geht es nicht nur um die Kleine.“ Ihr Blick glitt zu Nathan. Zumindest vermutete ich das, denn Darek hatte sich so gezielt vor mich gestellt, dass ich nur die Hälfte ihres Gesichtes erkennen konnte. In der nächsten Sekunde war Dokiel neben mir, und ohne dass ich irgendetwas tun konnte, rammte der Engel einen Dolch in Nathans Bauch. Ich schrie erschrocken auf, und während Nathan mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden ging, war Darek für eine Sekunde abgelenkt. Armefia nutzte diesen kurzen Moment, um ihn zu berühren und ehe ich überhaupt begriffen hatte, was gerade alles geschehen war, waren sie fort. Armefia, Dokiel, Darek. Und ich stand in einem Restaurant voller Menschen, die schockiert auf den vor Schmerz schreienden, am Boden knienden Engel zu meinen Füßen sahen.

Ich brauchte einige Sekunden, bis ich aus meiner Schockstarre erwacht war und mich neben Nathan kniete. Er keuchte und ich sah die dunkleren Flecken, wo sich das Blut in sein schwarzes Oberteil sog. „Verdammt… Cassie wir müssen hier raus! Sie haben mich sichtbar gemacht…“, keuchte er erschöpft. Man konnte seinem Gesicht ansehen, dass seine Kraft mehr und mehr schwand. „Nathan es tut mir so leid! Das alles passiert nur wegen mir. Du musst dich beruhigen.“ Mir war klar, dass ich ihn nicht mehr aus dem Restaurant herausbekommen würde. Die Menschen hatten ihn sowieso schon gesehen, und mit ihm auch seine Flügel. Ein jüngeres Pärchen wich schockiert vor mir zurück, als ich aufstand und mich an die Menschen wandte. „Bitte, ist hier irgendjemand der eine solche Stichwunde behandeln kann?“, fragte ich laut, aber meine Stimme brach am Ende des Satzes. Niemand antwortete. „Bitte!“, flehte ich erneut, und dieses Mal klang ich noch verzweifelter. Ich hatte die Hoffnung fast aufgegeben und mich wieder zu Nathan gewandt, als plötzlich ein älterer Mann vortrat. „Ich bin zwar ein Rentner… Aber früher war ich Arzt beim Militär. Aber sag mir… ist er ein Engel?“, fragte er ehrfürchtig. Ich wusste nicht genau, was ich antworten sollte, denn mein Kopf begann zu Pochen. „J-Ja. Sowas in der Art. Aber er braucht dringend Hilfe, jetzt gleich!“, hörte ich mich sagen. Der Mann nickte, und rief der Wirtin etwas zu. Ich hatte einmal gelesen, dass Menschen in einer Notsituation nur noch funktionieren. Ab einem bestimmten Moment schaltet man alle Gefühle aus, und steht einfach nur noch da. Wenn man einen Befehl bekommt, führt man ihn aus, ohne nachzudenken. Ohne überhaupt irgendetwas zu denken.

Ich fühlte mich, als sei ich ausgeschaltet. Der Mann gab mir Anweisungen, und ich tat was er sagte. Das Dröhnen in meinem Kopf war so laut, dass ich mich fragte, wieso ich ihn überhaupt verstand. Minuten später kam die Wirtin mit einigen Flaschen hochprozentigen Alkohols angerannt, und das junge Paar zeriss eine Tischdecke. Heute kann ich sagen, wenn damals dieser alte Mann nicht gewesen wäre, wäre Nathan ohne jegliche Hilfe am Boden liegen geblieben. Wir wären wahrscheinlich alle nur herumgestanden, hätten Panik bekommen oder wären weggerannt. Aber er gab jedem eine kleine Aufgabe und sorgte so dafür, dass Nathan nach etwa einer halben Stunde ruhig am Boden lag und sich in einem Stadium zwischen Schlaf und Ohnmacht befand. Der Dolch lag irgendwo am Boden, und um die Wunde war eine Art provisorischer Verband aus einem Vorhang und einer halben Tischdecke gewickelt worden. Die Menschen beruhigten sich gegenseitig, und langsam wurde auch mein Kopf wieder klarer. Ich sah mich um. Außer dem jungen Pärchen waren da noch zwei Frauen, die ich auf Mitte dreißig geschätzt hätte, eine sehr alte Frau mit einem Hund und die Wirtin. Der alte Mann ging zu jeder der Personen, sprach ein paar Worte und es schien, als würden sie sich beruhigen. Fassungslos sah ich ihm zu. Als er zu mir kam, blickte er mich lange an. „Danke…“, flüsterte ich leise. „Ohne sie-“ „Du brauchst dich nicht zu bedanken. Wenn er ein Engel ist, habe ich nur meinen Dienst im Namen Gottes getan.“ Erst jetzt sah ich das kleine, goldene Kreuz, das um seinen Hals hing. „Aber da du mit einem Engel reist, wer bist du? Und ist das dort draußen wirklich die Apokalypse?“ Er sprach mittlerweile leiser, damit die Anderen unser Gespräch nicht verfolgen konnten. Ich zögerte kurz, und nickte dann schwach. „Ja, das ist sie. Aber eigentlich sollte sie noch nicht geschehen. Deswegen ist er hier.“ Mit einem schwachen Kopfnicken deutete ich in Nathans Richtung. „Wir wollen das Ende aufhalten.“ Es fühlte sich seltsam an, das auszusprechen, noch dazu vor einem Fremden. Doch der Mann nickte nur. „Mein Name ist Joêl. Ich bin froh, dass ich euch helfen konnte. Aber der Engel wird, solange er nicht irgendwelche Kräfte hat, mit denen er sich heilen kann, noch einige Tage brauchen ehe er wieder einigermaßen gesund ist.“ Ich schluckte. Einige Tage? In dieser Zeit konnte so Vieles passieren, das mir beinahe übel beim Gedanken daran wurde. Außerdem konnten wir nicht solange hier drin bleiben. Diese Menschen hatten sich beruhigt, doch wie würden Andere auf Nathans Flügel reagieren? Und was würde mit ihrer Hoffnung geschehen, wenn sie sahen, dass der Engel, der sie retten sollte beinahe getötet worden wäre? Joêl nickte nachdenklich. „Ihr könnt mit zu mir kommen.“, sagte er, als habe er meine Gedanken gelesen. Ich sah zu ihm. „Sind sie sich sicher? Ich meine, das kann ich wohl kaum von ihnen verlangen.“, sagte ich. Doch er nickte. „Wir haben ein großes Gästezimmer, und das Essen wird auch reichen. Ich bin gerne bereit zu teilen, denn immerhin riskiert ihr beide euer Leben für diese Welt, und dadurch auch für mich.“ Er blickte kurz nachdenklich auf Nathan herab. „Aber wenn ich dir einen kleinen Rat geben darf: Halte ihn nicht versteckt. Wenn er soweit ist, dass er stehen kann, dann bringe ihn raus auf unseren Versammlungsplatz. Die Menschen haben Angst. Sie denken, sie werden alle sterben.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Vielleicht werden sie das auch, aber es ist leichter, wenn sie etwas Hoffnung haben können.“ Ich verstand erst nicht, was er meinte. Doch dann wurde mir klar; die Menschen wussten nicht, was hier vorging. Sie hatten keine Gewissheit und keine Ahnung, wer hinter diesen Katastrophen steckte. Wenn sie aber einen Engel sehen würde, wüssten sie, dass es sich lohnt zu glauben. Sie würden vielleicht etwas weniger Angst haben. Ich nickte. „Sie haben Recht. Aber widerspricht das nicht dem, was man normalerweise sagt? Dass die Menschen an Gott glauben sollen, ohne handfeste Beweise zu haben?“, fragte ich. Joêl nickte. „Das tut es. Aber wenn das hier wirklich die Apokalypse ist, dann haben sie es verdient, die Wahrheit zu erfahren.“, sagte er. Ich wusste, dass das Armefia nicht gefallen würde. Und diese Erkenntnis machte mich noch sicherer. „In Ordnung. Ich verspreche ihnen, wenn es irgendwie möglich ist, werde ich den Menschen in diesem Dorf ihren Glauben und ihr Vertrauen zurückgeben.“, sagte ich mit fester Stimme. Joêl lächelte und nickte. Dann drehte er sich zu den Leuten um. „Wir brauchen Hilfe. Der Engel muss in mein Haus, bis er sich erholt hat. Aber wir dürfen ihn nicht zuviel bewegen, sonst platzt die Wunde wieder auf.“ Dir Wirtin meldete sich zu Wort. „Wir haben noch Bänke hinten im Lagerraum. Vielleicht können wir sie als Trage benutzen.“ „Wieso rufen wir nicht einfach einen Krankenwagen?“, fragte eine der beiden Frauen. Doch Joêl schüttelte den Kopf. „Unsere Stadt hat kein Krankenhaus, wie ihr wisst. Und die umliegenden Krankenhäuser sind alle voll, allein schon durch die zerstörte Nachbarstadt. Außerdem, was wollt ihr den Ärzten dort erzählen? Dies ist eine gläubige Gemeinde, hier kann sich der Engel am besten erholen. Andere Leute würden vielleicht auf die Idee kommen, er hätte etwas mit diesen Katastrophen zu tun. Ihr alle kennt doch den Wahn der Wissenschaftler.“ Die Frau schwieg daraufhin nur, und half der Wirtin beim herein tragen der Bank. Ich beobachtete das Treiben und setzte mich neben Nathan, als sie versuchten ihn leicht zur Seite zu rollen um dann die Bank unter ihn zu schieben. Durch eine Mischung aus zu großem Schmerz und Alkohol schien er nicht viel von dem, was um ihn herum geschah, mitzubekommen. Einzelne Schweißperlen lagen auf seiner Stirn. Traurig blickte ich zu ihm herab. „Es wird alles wieder gut werden.“, flüsterte ich leise. In kürzester Zeit hatten Joêl, die beiden älteren Frauen und der jüngere Mann Nathan relativ stabil auf die Bank gelegt. Joêl erklärte ihnen den kürzesten Weg zu seinem Haus, das wohl ganz in der Nähe lag, und ehe ich mich versah hing Nathan in der Luft. Seine Flügel hingen links und rechts von der Bank schlaff auf den Boden, und ich hatte Angst, dass die wunderschönen Federn einfach zerbrechen würden. Doch sie gaben nach und schliffen nur sacht über die Straße, an der wir entlangliefen. Die Stadt war wie leergefegt, offensichtlich hatten die meisten Menschen den Rat der Nachrichtensprecherin befolgt und waren in ihren Häusern und Wohnungen geblieben. Nur einmal begegnete uns eine junge Frau, die schockiert stehen blieb und uns nachsah. Sobald wir an ihr vorbei waren, hörte ich, wie sie anfing zu beten. Schien als sei diese Stadt tatsächlich ziemlich gläubig.

Unser Weg führte uns an einigen Läden vorbei, in denen Licht brannte. Ich war in diesem Moment zum ersten Mal froh darüber, dass die Fenster mit Werbeplakaten zugeklebt waren, denn noch mehr Menschen, die Nathan anstarrten hätte ich nicht ertragen. Andere Häuser und Schaufenster waren völlig abgedunkelt, Rollläden waren geschlossen worden und Fenster verriegelt. Die beiden Frauen diskutierten darüber, dass auch sie hätten zuhause bleiben sollen, und ich konnte sie verstehen. Die gesamte Stadt hatte eine beunruhigende Aura, fast als sei hier bereits etwas geschehen. Kurz war ich verwirrt, denn eigentlich sollten sich die Leute doch nicht so sehr verstecken, solange sie nicht wussten, dass sie in einem Gefahrengebiet wohnten. Joêl klärte mich auf, offensichtlich hatte er mir meine Gedanken wieder aus dem Gesicht abgelesen. „Das hier ist ein Ort, den manche Leute als ‚nicht bewohnbar’ bezeichnet hätten. Siehst du den Berg dort?“ Er deutete auf einen hohen Berg, der zwar ein ganzes Stück weg lag, aber bedrohlich in die Höhe ragte. Ich nickte. „Das ist ein ruhender Vulkan. Es ist schon mehrere Jahrzehnte her, seit er das letzte Mal ausgebrochen ist. Nun ja, damals hat er viele Dörfer an seinem Hang zerstört und er wurde erstmal gemieden. Aber das Ackerland und die Erde, sind in der Umgebung eines Vulkans immer viel besser als andernorts. Deswegen hat es nicht lange gedauert, ehe sich hier wieder Menschen angesiedelt haben. Unsere Stadt liegt zwar mehrere Kilometer weg, und ist nicht unbedingt durch Lavaströme oder Ähnliches gefährdet, aber so ein Vulkan kann noch viel schlimmere Auswirkungen haben. Es gibt die bekannten Vorbeben, mit deren Hilfe Wissenschaftler meistens frühzeitig Vulkanausbrüche prophezeien können. Und Aschewolken, die ganze Dörfer bedecken oder gar so stark sein können, dass die Sonne verdunkelt wird. Aber das schlimmste, das, was die Menschen hier fürchten, sind die sogenannten pyroklastischen Ströme.“, erklärte er. Ich konnte mich vage erinnern, dass wir einmal Vulkanismus in der Schule durchgenommen hatten, und auch der Begriff war mir nicht fern, aber ich wusste nicht mehr genau um was es sich dabei handelte. „Diese Ströme aus heißem Gas können bei einer Explosion des Vulkanes entstehen. Sie sind rasend schnell und zerstören alles. Und wenn sie auf ein Dorf treffen, bleibt meist nichts mehr übrig. Die Menschen wissen meist gar nicht, dass sie sterben, weil alles so schnell geht. Aber es ist ein grausamer Tod, denn man verbrennt und erstickt gleichzeitig. Es gibt keinen Sauerstoff, und es sind unglaubliche Temperaturen, mit denen das Gas sich vorwärts schlingt.“ Ich schauderte und sah ihn schockiert an. Auch die Anderen waren still geworden, und hatten ihre Blicke gesenkt. „Und wieso denkt ihr, würde euch genau das treffen?“, fragte ich. Joêl zuckte mit den Schultern. „Wir wissen es nicht. Es könnte genauso gut ein Erdbeben sein, oder ein Wirbelsturm. Aber genau das ist damals, beim letzten Ausbruch des Vulkanes, mit den Menschen hier passiert.“ Ich hoffte für sie, dass ihnen das nicht passieren würde. Und ich hoffte, dass Nathan sich nicht allzu viel Zeit mit seiner Genesung ließ.

Joêls Haus war ein altes Fachwerkhaus. Es hatte zwei Stockwerke, und soweit ich das im Dämmerlicht erkennen konnte, einen kleinen Balkon. Als wir vor die Türe traten ging ein kleines Licht an, und ich sah dass Nathan noch schwächer wirkte als zuvor. Schnell wandte ich den Blick ab, denn mit meiner Sorge kam auch das Pochen in meinem Kopf und das Gefühl, jeden Moment umzukippen wieder zurück Und ich hatte allen Grund mir Sorgen zu machen. Nathan war fürs erste versorgt und in Sicherheit, doch was wenn die Bewohner recht hatten und tatsächlich ein solcher heißer Gasstrom das Dorf treffen sollte? Und was war mit Darek geschehen? Armefia hatte ihn mit sich genommen, und ich wollte mir gar nicht erst vorstellen, was sie mit ihm machen würde. Ich fragte mich, ob es einem Engel überhaupt gestattet war, etwas Böses zu tun. Doch Darek war nicht gerade jemand, der für die gute Seite oder die Menschenrechte einstand. Es wäre also eine art Bekämpfung des Bösen, und ich war mir sicher, dass das Armefia als Begründung reichen würde. Joêl öffnete die Türe und wir trugen Nathan herein. Mit vereinter Kraft schafften wir es, ihn zu dem kleinen Gästezimmer zu bringen und ihn dort auf das Bett zu legen. Der alte Mann nickte unseren Helfern dankbar zu und brachte sie zur Türe. Ich wollte mich auch persönlich noch bedanken, doch ich konnte Nathan einfach nicht allein lassen. Ich hatte viel zu viel Angst davor, dass er aufwachen würde und sich versehentlich seine Wunde aufriss. Natürlich war mir bewusst, dass er ein Engel war und eigentlich nicht sterben können sollte. Er hatte es selbst als ‚unmöglich’ abgestempelt, und nur aus diesem Grund war ich etwas Besonderes. Aber er war noch immer kein reiner Engel, und er hatte etwas Menschliches. Und auch wenn ich mir nicht sicher war, wie stark er wirklich war, hätte eine solche Wunde einen Menschen getötet. Das hatte ich Joêl leise murmeln gehört, während er das Messer aus Nathans Bauch geholt hatte. Wie lange also würde Nathan brauchen, um gesund zu werden? Mit einem tiefen Seufzer setzte ich mich auf den kleinen Holzstuhl, der einladend vor dem Fenster des Raumes stand und sah mich um. Das Zimmer war hübsch eingerichtet, an den Wänden waren Tapeten mit einem fortlaufenden, hellroten Muster und in den Ecken standen kleine Zimmerpflanzen. Es gab neben dem großen Doppelbett einen kleinen Schreibtisch und einen Schrank, in dem man Kleidung für etwa eine Woche hätte verstauen können. Als Joêl leise an der Tür klopfte, drehte ich mich ihm mit einem dankbaren Blick zu. „Joêl, vielen Dank dass sie uns hier wohnen lassen. Ich hätte nicht gewusst, was ich sonst getan hätte.“, sagte ich. Der alte Mann lächelte freundlich und nickte. „Ist schon gut. Ich habe dir doch gesagt, dass meine Hilfe selbstverständlich ist. Immerhin ist er ein Engel im Auftrag des Herrn, wie könnte ich euch da einfach euch selbst überlassen?“ Ich zuckte schwach mit den Schultern. „Um ehrlich zu sein, weiß ich zurzeit nicht genau, was wirklich Gottes Wille ist.“, seufzte ich kaum hörbar. Doch Joêl schien mich verstanden zu haben: „Das weiß niemand genau. Aber eins ist sicher: Er tut immer das Richtige. Wir können nur darauf vertrauen, dass Alles genau so passieren wird, wie unser Vater im Himmel es vorsieht. Deswegen musst du auch keine Angst vor der Zukunft haben.“, sagte er. Ich nickte. Auch wenn es mir schwer fiel, seine Worte zu glauben, beruhigte mich der Gedanke daran. Nachdem Joêl mir ein Nachthemd von seiner Tochter, die ihn hin und wieder besuchen kam, gegeben hatte verabschiedete er sich und ging zu Bett. Ich blieb allein mit Nathan in dem stillen Raum. Zuerst wartete ich und sah ihn an, doch dann lief ich ein wenig im Raum herum. Eine Tür führte zu einem kleinen separaten Nebenraum, in dem es eine Toilette und eine Dusche gab. Kurzerhand zog ich mich um und stellte mich unter das warme Wasser. Es war beruhigend und die Wärme fühlte sich unfassbar gut auf meiner Haut an. Ich brauchte mindestens eine halbe Stunde, ehe ich widerwillig den Hahn ausdrehte und in das weiche Nachthemd schlüpfte. Ich setzte mich neben Nathan auf das Bett und betrachtete sein wunderschönes Gesicht und seine Flügel, die unter ihm leicht zerknittert und angelegt lagen. Ich hoffte, dass es ihm keine Schmerzen bereitete, so da zu liegen. Sanft strich ich mit einer Hand über die weichen Federn, und bewunderte ihren schimmernden Glanz. Ich weiß nicht mehr genau, wann ich einschlief, doch irgendwann verlor ich mich in meinen Gedanken und Sorgen und fiel neben Nathan in einen unruhigen, seltsamen Schlaf.

 

Chapter 6

 

 „Hey. Cassie! Meine Güte, man bekommt sie wirklich nicht wach. Dieses Mädchen…“, hörte ich Nathan fluchen. Augenblicklich setzte ich mich schockiert auf und sah neben mich, wo er mit einem breiten Grinsen im Bett lag. Er war ein Stückchen nach oben gerutscht, und lehnte seine Schultern am überstehenden Holz des Bettes an. Seine blauen Augen schillerten in der Morgensonne, die durch das Fenster hereinstrahlte, leicht lila. „Nathan! Geht es dir gut? Tut es noch weh?“, murmelte ich besorgt. Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und sah ihn dann wieder an. „Guten Morgen dummes Mädchen.“, sagte er nur. Er strich sich einige seiner Haare aus dem Gesicht, und ich konnte sehen, dass diese Bewegung ihm Schmerzen bereitete. „Du solltest dich noch gar nicht so weit aufsetzen! Leg dich wieder hin und ruh dich aus!“ Ich funkelte ihn an. „Oh, wie niedlich. Du machst dir Sorgen um mich? Ich komme zurecht. Sorg dich lieber um dich selbst.“, sagte er abweisend. Ich seufzte tief. „Ich werde Joêl fragen, ob er noch Schmerztabletten hat.“, murmelte ich und stand auf. Das weiße, knielange Nachthemd flatterte leicht, und ich kam mir seltsam vor, als Nathan mich plötzlich anstarrte. Sein Blick wirkte trüb und er sah völlig verwirrt aus, als er an mir herab sah. Dann schüttelte er den Kopf und drehte sich weg. Ich zog mich in dem Nebenraum um und als ich fertig war, warf ich Nathan noch mal einen verwirrten Blick zu. Er sah mir nach, bis ich nach draußen gegangen war und die Türe geschlossen hatte. „Wer ist Joêl?“, hörte ich ihn noch sagen. Als ich mich im Wohnzimmer umsah, entdeckte ich den alten Mann mit einer Tasse Kaffe und einer Zeitung auf dem Sofa. Er blickte nur kurz auf und lächelte mir zu. „Guten Morgen. Ist er schon aufgewacht?“, fragte er. Ich nickte schwach. „Ja. Tut mir leid, wenn ich sie schon wieder um Etwas bitte, aber haben sie vielleicht noch ein paar Schmerztabletten? Er will es nicht zugeben, doch er kann sich kaum bewegen ohne Schmerzen.“ Joêl nickte und brachte mir ein kleines Tablett mit zwei kleinen, weißen Pillen, zwei Brötchen und etwas zu trinken. Ich dankte ihm und ging wieder zurück zu Nathan. Als ich hereinkam, schien er sich beinahe über das kleine Frühstück zu freuen, und nahm auch ohne Widerworte die Tabletten. „Wie hast du mich hierhergebracht?“, fragte er plötzlich. Ich sah ihn an. „Die Leute aus dem Restaurant haben dich hergetragen. Einer der Männer war ein Arzt, und in seinem Haus sind wir jetzt auch. Er hat sich um deine Wunde gekümmert.“, erklärte ich. Nathan nickte. „Sie haben mich also alle sehen können? Was hast du ihnen erzählt, dass es eine Fernsehshow oder so ist?“, lächelte er. „Nein. Ich hab ihnen die Wahrheit erzählt. Sie wissen, dass du ein Engel bist.“

Nathan lachte sarkastisch. „Ich bin kein richtiger Engel. Ein richtiger Engel blutet nicht.“ Doch ich zuckte mit den Schultern.

„Das müssen sie ja nicht wissen. Das hier ist eine kleine Stadt voller gläubiger Menschen.“ Ich erklärte ihm ihre Ängste vor dem Vulkanausbruch, und dann auch mein Versprechen an Joêl. „Bist du verrückt?“ Nathan knirschte mit den Zähnen. „Ich kann ihnen keine Hoffnung geben. Allein dass ein paar der Menschen mich sehen konnten ist schon schlecht, aber mich allen zeigen? Niemals. Nichts was ich sagen könnte, würde irgendetwas bewirken.“, murmelte er. Ich sah ihn an. „Das ist egal. Du musst nichts sagen. Ich werde reden. Du musst nur dabeistehen und den Engel spielen.“ Nathan war noch immer nicht überzeugt, doch er würde letztendlich nicht ablehnen können. Wir steckten in diesem Dorf sowieso solange fest, bis er wieder völlig genesen war. „Wie lange wirst du in etwa brauchen?“, fragte ich und deutete auf seine Wunde.

„Nicht lange. Ich bin verwundbar, aber ich werde höchstens ein paar Tage herumliegen müssen, bis das wieder völlig verheilt ist. Also keine Sorge, wir können bald weiter.“ Er sah mich kurz an. „Wo ist Darek?“, fragte er dann. Ich wich seinem Blick aus. „Armefia hat ihn mitgenommen.“ Daraufhin sagte er nichts mehr, und starrte nur noch auf seinen leeren Teller. - Die nächsten drei Tage verliefen eintönig, Nathan blieb im Bett und suchte sich allerlei Gründe um an mir herumzumeckern, und ich half Joêl so gut es ging im Haushalt, um mich wenigstens ein kleines bisschen für seine Hilfe und sein Entgegenkommen zu bedanken. Er sorgte dafür, dass ich ein paar passende Klamotten bekam, und kochte jeden Tag für Nathan und mich mit. Der Engel erholte sich schneller als ich es erwartet hatte. Bereits am zweiten Tag konnten wir den Verband abnehmen, und ab dem Dritten brauchte er auch keine Schmerztabletten mehr. Als ich am nächsten Morgen sein Frühstück nach oben brachte, saß er auf der Bettkante und streckte sich.

„Okay, lass uns heute dein Versprechen einlösen und dann von hier verschwinden.“, sagte er. Ich war zwar verwirrt, aber als ich Joêl fragte, nickte dieser. „Ich werde so viele Leute zusammentrommeln, wie ich kann. Wir haben einen kleinen Versammlungsplatz in der Mitte der Stadt, wo man euch gut sehen kann.“ Und dann war er auch schon fort. Ich seufzte leise und half Nathan dann beim Aufstehen. Er kam eigentlich ganz gut zurecht, nur hektische Bewegungen taten ihm noch weh. Luzifer hatte sich in den letzten Tagen stark zurückgehalten, es gab nur noch vereinzelt Katastrophen und es schien fast, als würde er eine kleine Pause einlegen. Mir war dies Recht, denn so hatten wir mehr Zeit und Nathan konnte sich die Ruhe nehmen, die er gebraucht hatte. Nach etwa einer Stunde, die ich schweigend neben Nathan auf dem Sofa verbracht hatte, kam Joêl zurück. Er lächelte freudig und erzählte uns, dass er fast alle Menschen dazu überredet hatte, zu kommen. Ich war skeptisch und hatte ein seltsames Gefühl im Bauch, so als sei es nicht richtig, dass wir das taten. Nathan stand auf. „Dann zeig uns wo. Cassie wird den Menschen ihre Hoffnung zurückgeben.“, sagte er. Verwirrt sah ich ihn an. Woher hatte er plötzlich diese Zuversicht? Oder hatte er einfach gemerkt, dass ich mir meiner Sache mittlerweile nicht mehr allzu sicher war? Joêl nickte und führte uns nach draußen. Im Tageslicht erschien mir die Stadt noch leerer als damals im Halbdunkel. Anfangs war keine Menschenseele zu sehen, und der sanfte Nieselregen ließ mich stark erschaudern. Erst als wir uns dem kleinen runden Platz, der mit Pflastersteinen ausgelegt war und über ein kleines Podest verfügte, näherten, verschwand das Bild der leeren Geisterstadt. Viele Gesichter hatten sich dort versammelt, es waren die unterschiedlichsten Menschen. Und als wir uns näherten, sahen sie uns alle an. Wäre ich ein normales Mädchen gewesen, hätte mich das vielleicht gar nicht so sehr gestört. Doch mich hatte früher nie jemand angesehen. All diese Blicke machten mich unglaublich nervös, und am liebsten wäre ich davongerannt. Wieso hatte ich dem nur zugestimmt? Nathan würde mich gar nicht brauchen. Er fände bestimmt auch ohne mich die richtigen Worte, und allein sein Äußeres sollte genug bewirken, um die Menschen zu faszinieren. Plötzlich spürte ich seine warme Hand in meiner. Ich sah zu ihm hoch und er blickte mich beruhigend an. „Naives Mädchen. Du hättest dir früher überlegen müssen, zu was du dich bereit erklärt hast. Jetzt musst du es auch durchziehen.“, lächelte er leise. Ich schluckte und nickte schwach. Ich werde das schon schaffen. Joêl brachte uns auf das kleine Podest, von dem aus wahrscheinlich normalerweise der Bürgermeister der Stadt seine Reden hielt, oder vielleicht ein Pfarrer oder Ähnliches. Ich war mir nicht sicher, wofür eine Stadt so etwas überhaupt brauchte, doch es war mir auch egal. Suchend sah ich mich in der Menge um, als ich plötzlich zwei vertraute Gesichter erkannte: Die beiden Frauen aus dem Restaurant winkten mir freundlich zu. Ich würde einfach zu ihnen sprechen. Dann musste ich nicht auf all die anderen erwartungsvollen Gesichter sehen, die jetzt fasziniert zu Nathan starrten. Langsam wurden die Gespräche leiser und die Augen größer, denn mehr und mehr Menschen erkannten Nathans Flügel. Ein junger Mann rief etwas davon, dass das nur ein Witz sei und niemals echt, und ehe ich etwas dazu sagen konnte breitete Nathan seine wunderschönen Flügel ganz aus. Sie wurden noch größer als sie es ohnehin schon waren, und ihre Schönheit ließ letztendlich alle Menschen verstummen. Doch sein Blick galt nur mir, und nervös drehte ich mich wieder zur Menge um. „Mein Name ist Cassandra.“, sagte ich leise, doch meine Stimme brach. Es war unheimlich still auf dem Platz und verzweifelt versuchte ich, die richtigen Worte zu finden und sie zu einem sinnvollen Satz zu ordnen. Nathan drückte leicht meine Hand, und sofort fühlte ich mich sicherer. „Ich bin heute hier, weil ich euch etwas Dringendes zu sagen habe.“, erklärte ich. Ich wurde von Wort zu Wort lauter und fester, und sah nun doch durch die Reihen. Was ich hier tat, war um den Menschen zu helfen. Bisher hatte ich nichts für Nathan tun können, und schon gar nichts für die Welt. Vielleicht war das hier endlich meine Chance, etwas zu bewirken oder zumindest ein paar Menschen zu helfen. „Ihr alle habt mitbekommen, was da draußen vor sich geht. Es ist nicht mehr nur eine Nachricht, die man sich im Fernsehen ansieht und bei der man sich kurz Gedanken macht. Es ist eine akute Gefahr, die jedem Angst macht. Eure Nachbarstadt wurde zerstört. Die Krankenhäuser sind überfüllt und es geschieht überall auf der Welt. Vielleicht hattet ihr Verwandte, von denen ihr nicht wisst, ob sie noch am leben sind oder nicht. Und es stellt sich die Frage: Was geht hier vor? Ich weiß, dass das hier eine Stadt ist, in der die Leute an Gott glauben. Aber in Zeiten solcher Not, ist es schwer, darauf zu vertrauen dass er euch retten wird.“ Einige der Menschen nickten zustimmend, oder sahen plötzlich schuldbewusst auf den Boden. „Ihr dürft nicht zweifeln.“, sagte ich dann. Ich sah jeden von ihnen an, suchte ihren Blick und versuchte ihnen durch Blicke zu vermitteln, dass ich meine Worte mehr als nur ernst meinte. „Gott ist da, auch wenn zur Zeit der Teufel auf der Erde wütet. Er hat einen Engel geschickt, um diese Zerstörung aufzuhalten. Und hier ist dieser Engel, in eurer Stadt.“ Mit einer schwachen Bewegung deutete ich auf Nathan. „Ich kann euch nicht versprechen, dass ihr gerettet werdet. Ich kenne eure Angst vor dem Vulkan, und ich kann sie verstehen. Ich kann euch auch nicht versprechen, dass ihr das hier übersteht oder dass nichts geschehen wird. Aber ich kann euch eines sagen: Gebt nicht auf. Hört nicht auf zu glauben! Denn ganz egal was dann passiert, ob ihr sterbt oder lebt, Gott wird euch zu sich holen und ihr werdet es schön haben. Ich und Nathanael sind hier auf der Erde, um sie zu retten. Wir werden alles dafür geben, dass Satan diesen Krieg nicht gewinnt und wieder zurück in das Loch verschwindet, aus dem er gekommen ist.“, sagte ich. Nathan nickte zustimmend. „Also vertraut darauf, dass Gott alles gut machen wird. Betet für diese Welt, betet für seine Hilfe. Und gebt nicht auf, ganz gleich was geschieht. Ihr werdet das hier überstehen. Ihr seid stark, eine starke Gemeinde, eine starke Stadt. Euer Glaube macht euch mächtig und hält euch zusammen. Versteckt euch nicht, sondern genießt die Zeit, solange ihr könnt. Verbringt sie mit euren Freunden, mit den Personen die ihr liebt, mit euren Familien.“ Ich sah, wie sich die beiden Frauen freundschaftlich an den Händen nahmen, und viele Andere taten es ihnen gleich. Mütter umarmten ihre Töchter, Liebende stellten sich etwas enger aneinander. Und irgendjemand begann zu klatschen. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis Andere einstiegen und alle zu mir herauf sahen. „Ihr seid eine Einheit, und ihr werdet das durchstehen. Ganz egal, was kommt.“, sagte ich noch, dann drehte ich mich zu Nathan. Er sah mich ungläubig an, und ich hatte Angst etwas Falsches gesagt zu haben. Erst als ein leichtes Lächeln seine Lippen umspielte, entspannte ich mich. „Nicht schlecht, Cas.“, sagte er dann. Wir stiegen gemeinsam von dem Podest herunter, und wurden sofort umringt. Manche der Leute wollten die weichen Flügel bestaunen, andere schüttelten meine Hand oder umarmten mich. Ich war völlig überfordert und sah mich um, und Nathan ging es genauso. Die Menschen lächelten und die Stimmung, die zuvor noch ängstlich und verwirrt gewesen war, war nun locker und offener. …Und dann geschah es. Ein lautes, dumpfes Grollen ertönte. Es war so fern, und doch durchfuhr es jeden einzelnen Teil meines Körpers und ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Langsam drehte ich mich zu dem fernen Berg hin. Die Menschen schienen zu erstarren. Ab da ging alles ganz schnell. Ich sah wie entlang des Berghangs eine Art Explosionswelle entlangfuhr, doch es war weit mehr als das. Die Bäume, an denen es vorbeigezogen war, brannten oder waren nur noch schwarze verkohlte Flecken. Der Strom bewegte sich mit unglaublicher Geschwindigkeit auf uns zu, und für eine Sekunde hatte ich das Gefühl, als würde jemand über dem Vulkanhang in der Luft stehen, umhüllt von einer schwarzen Aura mit riesigen schwingenden Flügeln. Neben mir hauchte Nathan leise: „Luzifer.“ In der nächsten Sekunde war dieses Bild schon wieder verschwunden. Mein Herz klopfte so heftig, dass ich das Gefühl hatte als würde jeder es hören können. Ich wirbelte zu den Menschen herum, die alle zu dem Vulkan starrten. Ein Ausdruck purer Panik lag in ihren Augen, Angst, und Verzweiflung. Ich erblickte Joêl, der schwach nickte. Er bewegte seine Lippen, und auch wenn ich ihn nicht verstehen konnte, wusste ich, was er geflüstert hatte: „Danke.“

Ich wollte zu ihm gehen, wollte ihn irgendwie beschützen. Ich wollte sie alle beschützen. Es waren nur noch wenige Sekunden, bis der heiße Gasstrom uns erreichen würde. Und dann wären wir alle tot. Joêl, die beiden Frauen, das junge Pärchen, die Kinder und alten Leute. Und ich. Ehe ich Joêl erreicht hatte, packte Nathan meinen Arm und hielt mich auf. Er riss mich zurück, und ich stolperte rückwärts gegen seine Brust. Er legte seine Arme von oben um mich, und stützte sein Kinn auf meinen Kopf. Dann begann die Zeit, sich zu verlangsamen. Um uns herum bildete sich eine Kugel aus reinem, weißem Licht. Die Menschen schienen sie nicht zu sehen, und blickten weiterhin ihrem Tod entgegen. Die Kugel war wunderschön, und gerade groß genug, dass sie Nathan und mich völlig einschloss. Die Luft darin fühlte sich warm und angenehm an, und einzelne Schlieren aus Licht wirbelten herum wie Federn. Dann erreicht das Gas das Dorf. Durch die Wände des Lichtballs verging alles um uns herum in Zeitlupe, und es bildete sich ein Anblick purer Grausamkeit. Ich schrie, zappelte, weinte. Ich wollte, dass er mich losließ. Diese Menschen sollten nicht sterben, nicht so. Ich hatte ihnen gesagt, dass sie es schaffen konnten. Und nun sah ich ihnen dabei zu, wie sie vor meinen Augen verbrannten. Und das taten sie. Ich hörte ihre erstickten Schreie, und sah, wie sie auf die Knie fielen. Ihre Kleidung brannte, ihre Haut brannte. Ihre Münder waren geöffnet, doch nach wenigen Sekunden war alles, das herauskam ein ersticktes Keuchen. Ich sah ihre Tränen. Und ich spürte ihre Verzweiflung. Sie alle starben, und es würde nichts übrig bleiben. Menschen, die an mich geglaubt hatten. Menschen, die mir vertraut hatten. Menschen, die in meinen Worten Hoffnung gefunden hatten. Und jetzt war alles verloren. Wieder und wieder versuchte ich, mich aus Nathans Griff zu lösen. Sie hatten es nicht verdient. Ich wollte raus rennen, wollte auch sterben. Wo war die Gerechtigkeit dieser Welt? Wieso hatte ich die Chance zu leben, und all diese guten Leute, die versucht hatten zu Glauben, nicht? Doch Nathan ließ mich nicht gehen. Ich wusste, dass ich ihm wehtat, indem ich mich so stark wehrte. Ich trat nach ihm, und versuchte verzweifelt, ihn von mir wegzustoßen. Doch er ließ nicht los. Noch immer hatte er seine kräftigen Arme fest um mich geschlungen, und die Augen geschlossen. „Es tut mir leid, Cassie.“, flüsterte er leise. In seiner Stimme schwang Schmerz mit. Doch ich wollte ihm nicht zuhören. Alles, an das ich denken konnte, waren die Menschen, die meinetwegen starben. Wie groß war die Chance, dass Luzifer ausgerechnet dieses Dorf angriff? Er musste von mir wissen. Von mir und Nathan und unserem Vorhaben. Und wenn das stimmte, dann waren diese Menschen nur aus einem einzigen Grund gestorben: Weil sie uns ihre Hilfe angeboten hatten. Sie hatten ihr Leben geben müssen, nur weil sie freundlich gewesen waren. Ich starrte wieder hinaus. Weinend sah ich zu, wie jemand versuchte, ein paar Schritte zu gehen, und wie Andere am Boden herumlagen und sich vor Schmerz wanden. Alle Bewegungen waren verlangsamt, und durch das helle Licht erschien es mir wie ein schrecklicher Traum. Wahrscheinlich hätte diese Prozedur normalerweise höchstens ein paar Sekunden gedauert, doch es schien nicht aufzuhören. Ich wollte meine Augen schließen, wollte all das nicht mehr sehen. Aber ich konnte nicht. Wie in einem Bann starrte ich hinaus und sah all das Leid und hörte die erstickten Geräusche. Und dann war es vorbei. Die Zeit verging etwas schneller, und niemand bewegte sich mehr. Es blieben nur brennende Häuser und verkohlte Überreste, und die leuchtende Kugel um uns sank in sich zusammen und verschwand dann völlig. Ein schrecklicher Geruch lag in der Luft. Ich fiel auf die Knie, als Nathan mich endlich gehen ließ. Doch er berührte mit einer Hand meinen Nacken und im nächsten Moment waren wir fort, auf einem leeren Acker. Ich drehte mich um, wollte ihn schlagen, wollte irgendetwas tun. Er hätte mich einfach sterben lassen sollen. Doch ehe ich irgendetwas sagen konnte, fiel er bewusstlos auf den Boden. Er sah unglaublich erschöpft aus, und erst da wurde mir bewusst, was er gerade getan hatte. Er hatte mir das Leben gerettet. Auch wenn ich tausendmal lieber gestorben wäre, und Joêl oder das junge Pärchen leben gesehen hätte, hatte er mich gerettet. Er hatte all seine Kraft investiert, um mich in diesem seltsamen Lichtball zu halten, durch den mir nichts geschehen konnte. Schockiert sah ich auf ihn herab. Er hatte es ertragen, dass ich ihn geschlagen hatte. Wahrscheinlich hatte ich mehr als einmal seine Wunde getroffen. Er war meinen Tritten nicht einmal ausgewichen, und hatte sich fest um mich geschlungen. Und mich nicht sterben lassen. Tränen füllten meine Augen und liefen über meine Wange herab. Dieser dumme Idiot!

Ich ließ mich neben ihm auf die Knie fallen. Zitternd hob ich seinen Kopf auf meinen Schoß. „Du bist ein Idiot, hörst du? Wieso hast du das getan? Wieso?“, schrie ich ihn an. Doch er regte sich noch immer nicht. Ich konnte es nicht verstehen. Wir hatten doch sowieso keine Chance gegen Luzifer. Wir würden ihn niemals finden. Und selbst wenn, dann würde er doch mit einer einzigen Handbewegung jeden von uns töten! Darek war fort, und Nathan war unglaublich geschwächt. Wir konnten es nicht schaffen. Mit einem erstickten Schluchzen sah ich zum Himmel über mir herauf. „Wieso…“, wimmerte ich leise. Dieses Mal galt die Frage nicht mehr nur Nathan, sie galt der ganzen Welt. Sie galt Luzifer, Darek, und vor allem: Gott. Ich starrte nach oben, meine Sicht war verschwommen durch die Tränen, die noch immer mein Gesicht herab liefen.

Wieso ließ Gott all das zu? Wir hatten nicht unbedingt in seinem Sinne gehandelt. War es bereits vorbei gewesen, als Darek mit meiner Hand Lariel getötet hatte? Hatten wir ab da den falschen Weg gewählt? Ich dachte wieder an Joêl. Er hatte sich bei mir bedankt, aber wofür? Ich hatte das, was er von mir verlangt hatte zwar getan, aber es hatte letztendlich nichts bewirkt. Es war alles umsonst gewesen. „Das war es nicht. Sie sind mit Hoffnung und Glauben gestorben.“

Ich zuckte zusammen, als ich plötzlich diese warme Stimme in meinem Kopf hörte. Verwirrt blickte ich mich um, doch niemand war da. Auf einmal regte sich Nathan. Ein helles Leuchten umgab ihn für einige Sekunden, und dann richtete er sich mit einem Ruck auf und sah sich verwirrt um. „Nathan! Was ist passiert? Geht es dir besser?“, fragte ich sofort. Nathan drehte den Kopf zu mir und blinzelte mich an. „Ja. Mir geht es gut.“, sagte er ruhig. Dann zog er mich zu sich, und lehnte mich an seine Schulter. Erst war ich verwirrt, wieso er das tat, aber dann konnte ich mich nicht mehr zurückhalten. Unkontrolliert begann ich zu schluchzen und weitere Tränen kullerten über mein Gesicht. Nathan strich mir sanft über den Rücken. „Ist schon okay. Es tut mir so leid, dass du das sehen musstest. Aber ich hatte nicht genug Zeit, um uns wegzubringen. Das Risiko es nicht schnell genug zu schaffen, war einfach zu hoch.“, sagte er. Ich nickte schwach, und versuchte schluchzend, wieder Kontrolle über meine Gefühle zu bekommen. Doch was war gerade eben mit Nathan geschehen? Vielleicht war genau das die Bestätigung für meine Theorie. Er hatte zwar nicht die anderen Menschen gerettet, aber er hatte mich gerettet. Hatte Gott ihm dafür seine Kräfte wieder zurückgegeben, so wie bei dem Mädchen?

Und diese Stimme? Nach etwa einer Viertelstunde war ich soweit wieder ansprechbar, dass Nathan mich auf die Beine zog. „Was tun wir jetzt?“, fragte ich. „Und wie fühlst du dich?“ Nathan schien selbst etwas verwirrt über sich zu sein, als er sagte: „Um ehrlich zu sein, ich fühle mich großartig. Ich habe mich seit Jahren nicht mehr so stark gefühlt, wie jetzt. Vielleicht hat Armefia einfach aufgehört, mir meine Kraft zu nehmen.“, vermutete er. Ich nickte schwach, auch wenn ich das noch mehr als eine Bestätigung meiner Theorie sah.

Etwas zögerlich sah ich ihn an. „Was sollen wir jetzt machen? Darek ist weg…“, murmelte ich. Nathan zuckte leicht mit den Schultern. „Ich glaube, ich kann ihn finden. Aber nicht mehr heute. Es ist schon genug geschehen, und ich habe das Gefühl, dass Darek sehr gut auf sich selbst aufpassen kann.“ Verwundert sah ich ihn an. „Was meinst du damit, du kannst ihn finden?“

„Ich hab dir doch erzählt, dass es von Anfang an meine Aufgabe war, ein Auge auf Darek zu werfen. Deswegen habe ich die Fähigkeit, ihn aufzuspüren.“ Ich nickte. „Heißt das, wir könnten ihn finden? Aber was dann? Wir haben doch keine Chance gegen Armefia!“ „Natürlich haben wir die. Das letzte Mal hat sie den Überraschungseffekt genutzt, und ich hab mich überrumpeln lassen. Aber dieses Mal wird sie diejenige sein, die nicht mit unserem Kommen rechnet. Ich schätze, die denkt dass sie mich erstmal beseitigt hat, vor allem wenn sie den Vorfall auf die Stadt mitbekommt. Denn vor einer solchen Naturgewalt ist normalerweise nicht mal ein Engel sicher.“, erklärte er. Sein Blick ruhte dabei gelassen auf mir, und ich war in diesem Moment unglaublich froh, dass ich ihn wiederhatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, was ich machen sollte, wenn er sich nicht wieder von dem Angriff erholt hätte.

„Aber wir werden erst morgen gehen. Heute erholst du dich noch ein bisschen.“, sagte er dann in einem Ton, der keine Widerrede zuließ. Ich wusste es war unmöglich ihn jetzt noch überzeugen zu wollen, und vielleicht hatte er ja sogar recht: Darek war stark und er hatte auch sonst auf sich selbst aufpassen können. Vielleicht war er ja längst aus Armefia’s Fängen entwischt und vergnügte sich irgendwo, weil er dachte wir hätten nicht überlebt.

Ich zuckte also mit den Schultern, und sah Nathan an. „Okay. Aber morgen müssen wir ihn suchen.“, sagte ich dann bestimmend. Denn auch wenn ich nicht daran glaubte, hatte ich so ein schwaches Gefühl dass es Darek nicht so gut ging wie ich mir einzureden versuchte. Dann kam mir ein anderer Gedanke. „Nathan? Kannst du mir vielleicht dafür einen anderen Gefallen machen?“, fragte ich vorsichtig. Der Engel legte den Kopf schief und sah mich dann nachdenklich von oben bis unten an. „Kommt ganz darauf an.“, sagte er mit einem zweifelnden Unterton.

„Ich würde gerne… noch mal nach Hause. Ich weiß, das ist keine gute Idee und ich will ja auch gar nicht bleiben. Ich möchte nur ein letztes Mal mein Zuhause sehen und ein paar Dinge holen. Immerhin hab ich gar keine Kleidung hier und das letzte Mal hatte ich nicht wirklich die Chance, irgendetwas mitzunehmen. Denn da wurde ich ja von dir entführt.“, sagte ich mit einem schwachen Lächeln, um es nicht allzu sehr wie einen Vorwurf klingen zu lassen. Nathan sagte nichts, und ich hatte schon Angst, er würde uns einfach wortlos zur Hütte teleportieren, als er dann meine Hand nahm. Doch von einer Sekunde auf die Nächste standen wir vor einer Tür. Meiner Tür. Wir waren tatsächlich vor meinem Zuhause, der Altbau ragte über mir auf. Erst jetzt wurde mir klar, wie sehr ich diesen Anblick vermisst hatte. Dankbar drehte ich mich zu ihm und wollte irgendetwas Nettes sagen, doch er drehte nur den Kopf weg und murmelte: „Du hast höchstens eine halbe Stunde, dann stehst du wieder hier und wir gehen.“ Und dann war er fort. Ich seufzte leise und überlegte, ob ich klingeln sollte. Aber da fiel mir ein, dass mein Vater normalerweise bis Abends arbeitete und wahrscheinlich sowieso nicht da wäre. Und außerdem war es, wenn ich genauer darüber nachdachte, sowieso keine gute Idee ihn zu sehen. Ich würde ja doch wieder gehen müssen und vielleicht hatte er es gerade ein bisschen geschafft, über mein Verschwinden hinwegzukommen. Mit einem leisen Seufzen bückte ich mich und suchte hinter einem alten, kaputten Blumentopf nach unseren Ersatzschlüsseln. Als ich sie fand und die Türe aufmachte, kam mir ein angenehmer Geruch nach Holz entgegen, und ich stieg die Treppen nach oben bis zu unserer Wohnung hinauf. Beinahe hätte ich losgeschrien vor Freude, als mir meine Katze entgegenkam. Der schlanke, grau getigerte Kater mit den wunderschönen, grünen Augen und seiner süßen rosa Stupsnase schien sich ebenfalls zu freuen, mich wieder zu haben, denn er schlich mir maunzend und schnurrend um die Beine. Ich tätschelte ihm den Kopf und lief einmal in jeden Raum der Wohnung, um sie mir alle einzuprägen. Das hier war meine Heimat. Hier hatte ich jahrelang gelebt und ich würde das alles heute wahrscheinlich zum letzten Mal sehen. Ich nahm mir einen großen Rucksack aus dem Schrank meines Vaters und begann, einige Dinge hineinzustopfen: Meinen Beutel mit Zahn- sowie Haarbürste, Duschzeug und Make-up, einige warme Pullis und Leggins, mehrere Paar Socken und Unterwäsche, ein T-Shirt in dem ich schlafen konnte und ein paar warme Handstulpen sowie eine Wollmütze. Ein paar kleine Sachen wie ein Feuerzeug oder eine Kerze fand ich auch noch, dann setzte ich mich auf mein Bett und sah mich um. Was bräuchte ich noch? Mein Blick fiel auf meinen Zeichenblock und ich packte auch diesen noch ein, zusammen mit einigen Bleistiften, Kugelschreibern und einem Radiergummi. Auch mein kleines Heft, auf dem „Poesie“ stand, steckte ich noch in die Tasche. Dann fiel mir noch etwas ein, was mir unglaublich wichtig war und woran ich seltsamerweise seit dem ich entführt worden war nicht mehr gedacht hatte.

Ich schob mein Bett ein Stück nach vorne und holte eine kleine Schatulle hervor, die mit vielen kleinen Plastiksteinchen und Farben verziert worden war. Mit einem leisen Klacken öffnete ich die Schnalle und lächelte schwach, als ich all die wertvollen kleinen Sachen sah, die ich darin angesammelt hatte. Ein Foto von der Hochzeit meiner Eltern lag ganz oben, und ich betrachtete es kurz, ehe es in meinem Rucksack landete. Darunter kam eine schlichte Kette zum Vorschein, die einen kleinen silbernen Anhänger hatte. Ich hatte sie bereits seit meiner Geburt, denn es war anscheinend eine art Tradition in meiner Familie, dass sie weitergereicht wurde. Doch das zählte für mich kaum, viel wichtiger war es, dass meine Mutter sie so sehr an mir gemocht hatte. Ich hatte sie nicht mehr getragen, seit der Beerdigung vor einigen Jahren. Ich betrachtete den Anhänger genauer; eigentlich war es wirklich sehr schlicht. Er formte ein Herz, allerdings nur die Umrandung, denn es war nicht ausgefüllt. Um diese Umrandung herum wickelte sich ein dünnes Band, vielleicht sollte es eine Ranke sein, aber ich war mir nicht sicher. Das ganze wirkte irgendwie zerbrechlich, und doch hatte ich das Gefühl als könnte es niemals kaputt gehen, ganz einfach, weil ich es so sehr liebte und es mich gleichzeitig an das Lächeln meiner Mutter erinnerte. Nach kurzem Überlegen steckte ich es in eine kleine Seitentasche des Rucksacks. Dann stand ich auf, zog noch meine Armbanduhr an, holte mein Erspartes und packte einige Brötchen, die auf dem Küchentisch in einer Tüte lagen, in den Rucksack. Nathan hatte bestimmt Hunger. Als ich die Treppen wieder hinab stieg hielt ich es einfach nicht mehr aus. Ich ließ den Rucksack fallen, rannte wieder nach oben und schrieb meinem Vater einen kleinen Zettel. „Hey Dad. Mir geht es gut, mach dir keine Sorgen. Ich hoffe, du versuchst trotzdem glücklich zu sein und-“ Ich unterbrach, weil eine Träne auf das Blatt tropfte und die Schrift verwischte. Seltsam, wie viel man weinen kann, dachte ich. Schnell schrieb ich weiter. „… und weißt dass ich dich liebe. Deine Cassie.“ Ich faltete das Papier zusammen und schrieb seinen Namen darauf, ehe ich es auf seinen Schreibtisch legte. Wahrscheinlich war es eine ganz schlechte Idee, ihn das finden zu lassen, aber ich konnte einfach nicht anders. Ich vermisste ihn so sehr und ich hatte Angst, dass er sich noch immer sorgte. Auf dem Weg zurück zu meinem Rucksack streichelte ich noch mal meinen Kater und gab ihm eine große Portion Katzenfutter, damit er mich gehen ließ. Traurig sah ich mich ein letztes Mal um, dann ging ich runter und wartete auf Nathans Rückkehr.

Chapter 7

 

 

Er ließ sich ganz schön Zeit, und ich befürchtete bereits er habe mich vergessen, als Nathan dann endlich auftauchte. Sein Gesichtsausdruck verriet nicht, wo er gewesen war, aber er wirkte irgendwie aufgeregt oder wütend. Ich beschloss, ihn nicht darauf anzusprechen, denn womöglich täuschte ich mich nur. „Können wir gehen?“, fragte er. Ich nickte schwach. „Nathan… Danke noch mal. Dass ich hier her kommen durfte.“, sagte ich. Er zuckte mit den Schultern und stellte sich vor mich. „Ist schon okay.“, murmelte er. „Ich bring uns wieder zur Hütte zurück.“ Im nächsten Moment hatte er auch schon meine Hand ergriffen und wir standen im Inneren der Hütte. Es war kalt, weil seit Armefia’s Angriff niemand mehr hier gewesen war. Nathan ließ meine Hand sofort los und wandte sich dem Ofen zu, um ihn anzuzünden und das Holz zu einem kleinen Haufen zu stapeln. Ich gab ihm mein Feuerzeug, damit er nicht mehr minutenlang mit einem Streichholz davor knien musste und sich dann die Finger verbrannte. Dann holte ich die Brötchen heraus und richtete zwei Teller auf dem kleinen runden Esstisch. Ich bereute, dass ich nicht daran gedacht hatte etwas Marmelade oder Butter einzupacken, und wir uns jetzt mit trockenen Brötchen zufriedengeben mussten. Da Nathan das Feuer immer noch nicht anbekommen hatte, beschloss ich meine Kleider in den kleinen Schrank im Schlafzimmer auszuräumen. Als ich die Türe öffnete, verließ ein Aufschrei meine Kehle. Sofort war Nathan neben mir uns sah in den Raum hinein, in dem unser einziges Bett stand. Aber es war nicht, wie erwartet, leer, sondern ein schlafender Mann lag darin. Er schnarchte so laut, dass er meinen Schrei offensichtlich nicht einmal bemerkte. Nathan starrte verwirrt auf ihn herab. Der Mann war ungefähr dreißig, vielleicht auch ein paar Jahre jünger. Er hatte dunkelbraune, relativ kurze Haare und einen Drei-Tage-Bart. Seine Kleider waren irgendwie seltsam, sie erinnerten mich an Militärklamotten, waren aber teilweise zerrissen und kaputt oder verstaubt. Ich wandte mich an Nathan. „Was machen wir jetzt?“, zischte ich. Doch der Engel hatte sich schon wieder umgedreht und schritt mit einigen schnellen Schritten in die Küche. Dort füllte er einen Becher mit Wasser und ohne dass ich auch nur den Hauch einer Chance gehabt hatte, ihn davon abzuhalten, kippte er dessen Inhalt direkt über den Kopf des schlafenden Mannes. Dieser keuchte einmal laut auf und setzte sich abrupt auf. Ich sah kurz etwas in seiner Hand aufblitzen, und ein lauter Schuss ertönte als er reflexartig den Abzug der Pistole drückte und auf Nathans Gesicht zielte. Ich wollte bereits in Panik verfallen, aber Nathan war schneller. Offenbar hatte er wirklich einen Teil seiner Engelskräfte zurück, denn er hielt die Kugel noch in der Luft ab und ließ sie zu Boden fallen. Der Mann starrte ihn nur schockiert und schlaftrunken an, und schien erst jetzt Nathans Flügel zu sehen. Offensichtlich war er noch immer sichtbar für Menschen, obwohl ich gehofft hatte, dass dies durch seine wieder gewonnene Kraft nicht mehr so sei. „Was zum Teufel geht hier vor sich?“, fluchte der Mann verwirrt. Nathan lächelte sarkastisch, so wie ich es von ihm gewohnt war. „Mit dem Teufel hat das hier grade nicht so viel zu tun.“, sagte er.

„Oder mehr, als ihnen lieb sein wird.“, fügte ich hinzu. Der Mann sah von mir zu Nathan und wieder zurück, dann zog er die Augenbrauen hoch. „Und was genau macht ihr hier? Ich meine, ihr habt meinen verdammten Schlaf gestört. Und in dieser Welt gibt es nicht mehr viele Orte wo man noch ruhig schlafen kann.“, murrte er. Ich war verwirrt, dass er nichts über Nathans Aussehen sagte, oder darüber dass wir vom Teufel geredet hatten. Es schien, als habe er keine anderen Probleme als seinen gestörten Schlaf. „Ich bin Cassie, das da ist Nathan. Wir wohnen hier, zumindest zeitweise. Also frage ich mich eher, was sie hier machen.“, gab ich zurück. Er zuckte mit den Schultern. „Nett euch kennenzulernen. Oder, auch nicht. Keine Ahnung. Ich bin Jake Le Fuet. Gebürtiger Franzose, versteht sich. Eigentlich war ich nur auf der Durchreise, als ich dieses hübsche Hüttchen gefunden hab. Wisst ihr, es gibt wirklich nicht viele Orte, wo man ein paar Stunden ohne Sorgen schlafen kann. Man, da draußen geht’s vielleicht ab!“, sagte er. „Das erwähnten sie bereits. Also, Jake. Würde es ihnen was ausmachen wenn sie jetzt abhauen würden?“, knurrte Nathan. Ich sah ihn an und wandte mich dann an Jake. „Hören sie nicht auf ihn. Was meinen sie mit ‚Da draußen geht’s ab’? Von wo genau kommen sie?“, fragte ich. Jake lächelte schwach. „Du bist ein nettes Mädchen. Ich komme von einer großen Stadt nördlich von hier. Da ist grad ’ne Krankheit ausgebrochen, meine Güte, sind die Menschen da abgedreht. Einer nach dem Andern wurde völlig bekloppt und hat angefangen, irgendwelche kranken Sachen zu machen. Ich sag’s euch, überall ist es besser als dort.“, erklärte er. Ich tauschte einen Blick mit Nathan aus. „Okay, Jake. Sie können bleiben, solange sie wollen. Haben sie Hunger?“, fragte ich. An Nathans Reaktion merkte ich, dass ihm das absolut nicht gefiel, aber ich ignorierte ihn einfach. Ich war zu müde um mich auf eine Diskussion einzulassen, und am heutigen Tag war schon zuviel passiert. Mir war ganz egal ob Jake, eine wütender Engel oder eine Elefantenherde in dieser Hütte waren, solange ich nur bald irgendwo schlafen und diesen Tag vergessen konnte.

Jake hatte tatsächlich Hunger, er verputze vier Brötchen, sodass Nathan und ich uns eins teilen mussten. Danach bedankte er sich mehrmals, fluchte noch ein oder zwei Mal über die Welt und verschwand dann wieder im Schlafzimmer. Ich bereitete uns ein kleines Lager aus Decken und Kissen vor dem Kamin, wie bei unserer ersten Nacht in der Hütte. Während Nathan nach draußen ging und Holz für die Nacht holte, packte ich mein kleines Heft aus, in dem ich hin und wieder ein paar kleine Gedichte verfasste. Ich lehnte mich gegen die warmen Kacheln des Kamins, wickelte mich in eine Decke ein und begann, zu schreiben. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, seit ich das letzte Mal etwas in das Heft geschrieben hatte, und tausende Gedanken schwirrten durch meinen Kopf. Ich war so darin versunken, dass ich nicht einmal merkte, wie Nathan wieder hereinkam und sich neben mich setzte. Erst durch den warmen Klang seiner Stimme wurde ich aus meinen Gedanken und meiner Schreibphase gerissen: „Cas, was machst du da?“, fragte er leise. Ich blickte auf und sah in seine schönen Augen. „Ich schreibe.“, antwortete ich. „Und was?“

„Ein Gedicht.“ „Von was handelt es?“ „Von allem.“ Verwirrt sah er mich an. Ich wusste selbst nicht genau, was ich damit meinte, aber irgendwie passte es. „Aber ich komme nicht weiter.“, murmelte ich. Er nickte und deutete darauf. „Les mal vor, was du bis jetzt hast. Vielleicht kann ich dir helfen.“ Ich zögerte kurz und begann dann, mit zittriger und leiser Stimme, die Worte die ich gerade aufgeschrieben hatte, vorzulesen.

 

Wir dachten immer, alles wird gut. Dachten, was kann schon geschehn? Doch jetzt versinkt die Welt in Blut,

und wir alle müssen sehn: Nichts ist etwas wert,

nichts wird ewig bleiben.

Wenn Luzifer wiederkehrt

Wird er Geschichte schreiben. Asche zu Asche,

Staub zu Staub

Nimmt er seine Rache

Weil er daran glaubt:

Engel machen Fehler,

Dämonen lieben nicht! Entzwei meine Seele

Zwischen Dunkel und Licht“.

 

Mit einem unsicheren Ausdruck sah ich zu Nathan auf. Wahrscheinlich hielt er mich jetzt für völlig verrückt, aber im Grunde war mir das egal. Mein Kopf tat sowieso meistens seltsame Dinge, wenn ich einen Stift in der Hand hielt. Doch Nathans Blick war irgendwie trüb, er sah mich an und war doch an einem anderen Ort. „Nathan?“, fragte ich unsicher. Er schien zurückzukommen und schüttelte verwirrt den Kopf. „Verzeih. Du hast nur für eine Sekunde geklungen wie…Ist ja auch egal. Das Gedicht ist ganz gut, aber du könntest dich noch verbessern. Ich würde es jetzt einfach so lassen, und nicht noch mehr schreiben. Außerdem machen manche Dinge keinen Sinn.“ Da war er wieder, der kalte und abweisende Nathan den ich kannte. Er stand auf und schenkte sich etwas Wasser zu trinken ein, dann wandte er sich von der Küche aus zu mir. „Schlaf jetzt, anstatt hier herumzusitzen und sinnlose Dinge vor dich hin zu kritzeln. Morgen musst du wohlauf sein, sonst können wir Darek nicht befreien.“, sagte er ruhig. Ich starrte ihn noch kurz an, dann legte ich mich hin. Die Wärme des Kamins umhüllte mich und ließ mich leicht erschaudern. Ich schloss die Augen und versank in einen seltsamen Zustand zwischen Wachsein und Schlafen, bei dem ich mir nicht sicher war, was davon ich eigentlich gerade tat. Vor mir knisterte das Holz und irgendwann spürte ich eine sanfte Hand an meinem Rücken, und ich glaubte zu hören, wie Nathan etwas murmelte. Aber ich verstand nicht was und war auch nicht fähig nachzufragen. Mit dem warmen Gefühl seines Armes, der sich zart um meine Seite legte, verfiel ich dann endlich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

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Am nächsten Morgen wachte ich schon früh auf. Nathan lag noch immer neben mir, aber sein Arm war herabgerutscht und berührte mich nicht mehr. Leise setzte ich mich auf und legte etwas Holz in den noch glühenden Ofen nach. Mit einem lauten Seufzen kam Jake aus der Schlafzimmertür heraus, und sah aus, als habe er tagelang geschlafen. Ich deutete ihm, leise zu sein und nickte in Nathans Richtung. Jake zuckte mit den Schultern und nickte schwach. Er öffnete ein paar Schränke, offenbar auf der Suche nach einem Frühstück. Ich lächelte entschuldigend und flüsterte: „Sorry, aber wir waren bisher noch nicht wirklich einkaufen.“ Was ich dabei nicht erwähnte war die Tatsache, dass jede Stadt in der wir bisher gewesen waren, von Luzifer zerstört worden war. Jake ließ enttäuscht die Schultern hängen und setzte sich auf einen Stuhl. „Erzähl mal, Cassie. Wie kommt ihr eigentlich hierher und wieso hat dein seltsamer Freund so riesige Federdinger auf dem Rücken?“, fragte er. Ich überlegte, wie viel ich ihm erzählen wollte und konnte, und entschied mich dann dazu, einfach die Wahrheit zu sagen. Ich erzählte diesem wildfremden Mann also einfach alles, von Anfang bis Ende. Nathan schlief die ganze Zeit, und ich fragte mich, ob das normal war. Er war doch jetzt wieder einen Schritt näher am Engeldasein, wieso also hatte er noch immer menschliche Bedürfnisse? Vielleicht tat er ja auch nur so, als ob er schliefe. Aber sicher war ich mir nicht. Jake hingegen schien zum ersten Mal hellwach, er hörte mir aufmerksam zu und nickte ab und zu nachdenklich. Als ich fertig war, schmunzelte er. „Das klingt so verdammt verrückt, das glaubt mir keiner! Und am Ende, wenn ihr’s dann geschafft habt, kann ich behaupten dass ich euch gesehn’ hab.“ Ich lächelte schwach. „Wenn wir es denn schaffen.“, sagte ich nur. „Natürlich schafft ihr das! Ich meine, so wie du das erzählst hast du zwei starke Männer an deiner Seite, und da du deine Gabe noch hast, handelst du wohl auch richtig.“ Er lächelte aufmunternd, auch wenn ich diese Zuversicht nicht teilen konnte. Es war einfach zu viel passiert, und meine Hoffnung hatte mir immer nur im Weg gestanden.

Mit einem schnellen Atemzug und einem leisen Aufstöhnen erwachte Nathan. Er sah sich um und verkrampfte sich augenblicklich, als er mich neben Jake sitzen sah. Ich lächelte ihm beruhigend zu. „Guten Morgen, Schlafmütze.“, sagte Jake. Nathan stand auf und tat dann genau das, was Jake zuvor getan hatte: Er durchsuchte alle Schränke nach etwas Essbarem. Als auch er nicht fündig wurde, setzte er sich zu uns und sah Jake an. „Könntest du jetzt bitte endlich die Hütte verlassen?“, murrte er. Jake hob beschwichtigend die Hände und lachte auf. „Klar. Is’ kein Problem, wirklich. Danke noch mal, dass ich hier übernachten durfte. Ich muss mich eh wieder auf den Weg machen, vielleicht find ich ja da unten irgendwo ’nen Laden oder ein Hotel oder sowas.“, erklärte er. Es tat mir leid, wie Nathan ihn hinauswerfen wollte und ich sah ihn an. „Ist das wirklich in Ordnung? Sie können auch gerne noch bleiben, Jake. Und sie können auch jederzeit wieder zurückkommen.“, sagte ich schnell. Der Mann nickte dankbar. „Ich danke dir, Cassie. Vielleicht werde ich das irgendwann müssen, wer weiß was noch so alles passiert. Aber vorerst mach ich mich mal auf den Weg.“, sagte er. Ich nickte, und begleitete ihn zur Tür. Natürlich mit Nathans durchbohrendem Blick im Rücken. Bevor Jake sich seltsamerweise zum Abschied leicht verbeugte, flüsterte ich ihm noch ins Ohr: „Danke, dass sie mir zugehört haben.“ Dann ging er mit eiligen Schritten davon, und hätte ich damals gewusst, was Jake Le Fuet noch für eine Bedeutung spielen würde, hätte ich mich ganz gewiss nicht bei ihm bedankt.

„Cassie.“

Nathan stand mit verschränkten Armen in der Küche und sah mich vorwurfsvoll an. „Was soll das? Du kannst nicht zu jedem so zuvorkommend und nett sein.“, knurrte er. Ich zuckte mit den Schultern. „Er war doch ein netter Mann. Denkst du wirklich, wir könnten die Hütte die ganze Zeit nur für uns beanspruchen? Immerhin gehört sie auch nicht wirklich uns. Was hättest du gemacht, wenn der eigentliche Besitzer wieder aufgetaucht wäre, um sich hier in Sicherheit zu bringen?“, konterte ich. Nathan schien keine gute Antwort zu wissen, also drehte er sich weg und murmelte noch etwas Unverständliches vor sich hin.

„Wo warst du eigentlich gestern, während ich bei mir Zuhause die Sachen gepackt habe?“, fragte ich, um einem Streit aus dem Weg zu gehen. Doch er antwortete nicht, sondern drehte sich nur wortlos wieder zu mir und trat dann näher vor mich, als mir lieb war. Er sah von oben zu mir herab und fragte dann mit einem leisen Vorwurf in der Stimme: „Merkst du eigentlich nicht, dass ich mir Sorgen mache?“

Ich ertrug es fast nicht, dass dieser wunderschöne Mann einen solchen, beinahe verletzten Gesichtsausdruck hatte, nur wegen mir. Seine Haare fielen ihm stark ins Gesicht, weil er sich meinetwegen leicht vorgebeugt hatte und seine blauen Augen ruhten auf Meinen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also sah ich nur zu ihm herauf und flüsterte dann: „Das musst du nicht. Immerhin kann mir nichts passieren, ich hab ja dich. Versuch mir doch einfach mal zu vertrauen.“. Er schüttelte schwach den Kopf. „Ich bin nicht gerade der Beste im blind vertrauen, falls du dich an meine Vergangenheit erinnerst.“, sagte er.

„Doch, bist du. Du hast auf die Liebe vertraut. Du hast deinen Gefühlen vertraut. Es war auf längere Sicht hin vielleicht falsch, aber du hast eine Entscheidung getroffen, die du aus Liebe gewählt hast.“, sagte ich leise. Nathan starrte mich ungläubig an, und kurz dachte ich, er würde sich herabbeugen und mich küssen. Doch wenige Millimeter vor meinem Gesicht hielt er inne und schien sich selbst daran zu erinnern, was er da tat. Sofort ging er wieder auf Abstand und drehte sich weg. „Tut mir leid.“; murmelte er. Ich stand da und hatte ein komisches Gefühl, als würde mein Herz stärker pochen als es sollte. Schnell versuchte ich, mich wieder in den Griff zu kriegen. Was dachte ich da nur? Er hatte es selbst gesagt: Engel und Mensch, das geht nicht. Nur wegen so einem Fehler hatte er damals seinen Platz im Himmel verloren, und ich durfte auf keinen Fall riskieren, dass so etwas noch mal passierte! Ich fasste mich wieder und verbannte den Gedanken an mein schneller schlagendes Herz an irgendeine, weit entfernte dunkle Ecke meines Kopfes. „S-Sollen wir jetzt Darek suchen?“, fragte ich also. Auch Nathan schien kurz gebraucht zu haben, um sich darüber klar zu werden, was er gerade fast getan hätte. Er nickte etwas verwirrt. „Ich weiß aber nicht, wie lange wir dafür brauchen werden. Selbst wenn ich ihn sofort finde, kann es noch Tage dauern, bis sich die Gelegenheit ihn zu befreien ergibt.“, sagte er dann. Ich zuckte mit den Schultern. „Das ist schon in Ordnung. Ich will nur, dass wir ihm helfen können.“ „Falls er denn überhaupt noch in Gefahr ist.“, fügte Nathan hinzu und ich nickte mit einem schwachen Lächeln. Es wäre Darek tatsächlich zuzutrauen, dass er sich irgendwo vergnügte. Nathan wollte bereits meine Hand nehmen, um mit seiner Suche zu beginnen, als mir etwas einfiel. Ich ließ ihn los und rannte noch mal zu meinem Rucksack. Dort kramte ich kurz nach der Kette, die ich am Abend davor hineingepackt hatte. Ich hatte irgendwie das Gefühl, als sei es an der Zeit sie wieder anzulegen. Vielleicht würde sie mir ein kleines bisschen Sicherheit geben, denn niemand wusste was uns jetzt erwarten würde. Bisher hatte keine unserer kleinen Unternehmungen aus der Hütte heraus gut geendet. Vorsichtig öffnete ich den Verschluss und legte sie mir um. Obwohl das Metall sich auf meiner Haut hätte kalt anfühlen müssen, erschien sie mir angenehm und warm, und irgendwie gab sie mir ein gutes Gefühl. Schnell hastete ich wieder zu Nathan zurück, der mich zwar fragend ansah, aber zum Glück nichts sagte. Ich wollte ihm nicht erklären, von wo die Kette kam und wieso ich sie jetzt angelegt hatte oder wieso sie mir so wichtig war. Er seufzte leise, nahm meine Hand wieder in Seine und schloss dann angestrengt die Augen. Ich betrachtete sein Gesicht, und es war fast so, als würde er in seinem Kopf verschiedene Orte durchgehen, an denen Darek sein könnte. Dann plötzlich wirkte er entspannter und unsere Umgebung begann, sich zu verändern.

Ich konnte es kaum fassen, als wir plötzlich in einer belebten Stadt vor einem kleinen Café standen. Ich verstand kein Wort von dem, was die Leute um uns herum sagten. Sie sprachen Französisch. Waren wir hier etwa tatsächlich in Frankreich? Vielleicht hatte sich Nathan geirrt, ich konnte mir nur schwer vorstellen Darek hier zu finden. Es sei denn, er amüsierte sich wirklich gerade.

Dann fiel mir ein, dass die Leute Nathan doch eigentlich sehen müssten, doch es wirkte nicht so, als würden sie ihn wirklich bemerken. Hatte er es doch wieder geschafft, unsichtbar für Menschen zu sein? Als würde er meine Gedanken lesen, nickte er schwach und deutete auf seine Flügel. „Keine Sorge, die sieht niemand.“ Ich nickte schwach, war erleichtert, dass wir zumindest dieses Problem nicht hatten. „Bist du dir sicher, dass wir hier sicher sind?“, fragte ich dann. Doch Nathan deutete auf das Café. „Er ist da drin.“, sagte er. Ich starrte zu dem einladend wirkenden Geschäft, das voller Leben und fröhlichen Gesichtern war. Es war ein unglaublich seltsames Gefühl, so viele glückliche Menschen zu sehen, nachdem die letzten Menschen die ich wirklich gesehen hatte nur noch verbrannte Knochen waren. Es gab einige Tische, die draußen in der wärmenden Sonne standen. Obwohl es nicht mehr als sieben Grad haben konnte, waren sie alle besetzt und Kellnerinnen versuchten einen Weg zwischen den Stühlen hindurch zu finden. Zwei kleine Hunde bellten sich an, gefolgt von zwei streitenden, etwas dickeren Frauen. Etwas entfernt rannte eine junge Frau mit hohen Schuhen weinend davon, und hinter ihr kam ein Mann aus einem Haus, der einen zerzausten Strauß Rosen in der Hand hielt. Nathan hielt noch immer meine Hand in seiner, und zog mich in Richtung des Cafés vorwärts. Ich folgte ihm, gebannt von all den Eindrücken. Auch im Inneren des Ladens war alles hübsch eingerichtet. Es duftete nach Kaffee und Kuchen, und hinter einer Glasvitrine wurden die unterschiedlichsten und verlockendsten kleinen Gebäcke angeboten, die ich je gesehen hatte. Auch hier waren fast alle Tische besetzt, und überall war Leben und Fröhlichkeit. Ich fragte mich, ob diese Menschen überhaupt den Hauch einer Ahnung hatten, was da draußen gerade alles vorging? Oder überspielten sie den Gedanken daran einfach, indem sie ihren gewohnten Alltag weiterführten? Nathan blieb abrupt stehen, was dazu führte, dass ich gegen ihn lief. Sofort entschuldigte ich mich und sah ihn verwirrt an. Er deutete auf eine kleine silberne Tür hinter dem Tresen, auf der ein weißes Männchen abgebildet war und irgendetwas von „Personal“ stand. „Ist Darek da drin?“, fragte ich unsicher. „Ja. Ganz sicher. Und er ist nicht allein.“ Ich schluckte und nickte dann. „Okay, lass uns reingehen.“

Nathan nickte, hielt aber noch immer meine Hand fest. Er wandte sich an eine Kellnerin und sah sie für ein paar Sekunden an. Offensichtlich hatte er eine sehr berauschende Wirkung auf sie, denn es schien als sei sie hin und weg. Er deutete auf die silberne Tür mit einem unglaublich unwiderstehlichen Lächeln, und als sei sie hypnotisiert nickte sie und ließ und durch. Ich lächelte schwach. Seine Ausstrahlung hatte als noch mehr Vorteile. Nachdem sie uns die Türe aufgeschlossen hatte, zog Nathan sie direkt hinter sich zu. Die arme Kellnerin hatte gar keine Möglichkeit, ihrem neuen Schwarm zu folgen. Beinahe hätte ich gekichert, aber der Anblick, der sich vor uns bot ließ das Kichern in meiner Kehle ersticken.

Das konnte nicht wahr sein. Zuerst sah ich nur Blut, in einer riesigen Lache am Boden. Dann glitt mein Blick nach oben, an einem silbernen Tischbein entlang bis hin zu einer silbernen Tischplatte, auf der eine Person festgezurrt war. Mehrere Schlösser waren um Arme und Beine gelegt worden, zusammen mit engen Schnallen. Und es war nicht nur irgendeine Person. Es war Darek. Er trug kein Hemd mehr und sein nackter Oberkörper war übersät mit tiefen Schnitten, aus denen stetig Blut floss. Diese Schnitte liefen an seinen Armen herab, und auch in seinem Gesicht hatte er einige tiefe Kratzer. Schweiß klebte an seiner Stirn und ließ seine normalerweise glatten weißblonden Haare in kleine, nasse Locken übergehen. Seine Lippe war aufgeplatzt, wahrscheinlich durch Schläge, die er hatte erleiden müssen, und ein heftiges Husten durchfuhr seinen Körper. Auch einzelne Brandnarben entdeckte ich bei genauerem Hinsehen an seiner Brust und Taille, und die offenen Kratzer hatten sich teilweise schon entzündet und eiterten. Seine wunderschönen Flügel, in denen einst leuchtende Feueradern gezüngelt hatten, wirkten mehr wie schwach flackernde Kohle, die kurz davor war zu erlischen. Als die Türe, die Nathan gerade zugezogen hatte, mit einem lauten Knall in ihr Schloss fiel, zuckte Darek zusammen. Er versuchte seinen Kopf zu drehen, und ich konnte ihm ansehen, was das für Schmerzen für ihn bedeutete. Dann erst konnte ich den Blick von ihm abwenden, denn ich sah die Frau, die für all die in mir aufsteigende Wut verantwortlich war: Armefia. Sie trat hinter einem Schrank hervor, aus dem sie wohl gerade ein kleines geschwungenes Messer geholt hatte, und erstarrte dann in ihrer Bewegung. Zuerst sah sie mich an, und dann mit weitaus größerem Entsetzen Nathan. Im Hintergrund konnte ich auch Dokiel sehen, der aber so wirkte, als ginge ihm das alles zu weit. Er hatte den Blick von Darek und von uns abgewandt, und war in sich zusammengesunken. Vielleicht war diese Folter selbst für einen Engel wie Dokiel zu viel.

Ein leises Husten brachte meinen Blick wieder zu Darek. Er sah mich an, seine schönen, roten Augen hatten meinen Blick erhascht und ein schwaches Lächeln spielte um seine Lippen. „Meine Heldin ist da.“, lachte er leise, doch es ging in ein weiteres, heftiges Husten über. Ich sah ihn an, und noch mehr Zorn überkam mich. Wie hatte sie ihm das antun können? Auch in Nathan schien etwas vorzugehen, denn seine Stimme hatte noch nie so bedrohlich geklungen wie in diesem Moment. „Armefia. Lass ihn sofort gehen oder ich werde dich umbringen.“ Die Engelsfrau schien auch seine Wut zu bemerken, und ließ das Messer sinken. „Ich rate dir, zu überlegen was du tust, Nathan. Das hier geht dich nichts an. Willst du wirklich noch mehr in Ungnade fallen, nur wegen dieser Ausgeburt der Hölle hier?“, fauchte sie. Ich funkelte sie an. „Er ist ganz bestimmt keine ‚Ausgeburt der Hölle’! Darek ist Anders! Er hat nichts Unrechtes getan, zumindest nicht euch!“, sagte ich. Doch Armefia zog nur die Augenbrauen hoch. „Mädchen, halt deinen vorlauten Mund. Du hast keine Ahnung, du bist nur ein beeinflussbarer, dummer Mensch. Du gehörst genauso auf die Seite der Hölle.“, sagte sie. Ich spürte, wie sich Nathans Hand in meiner verkrampfte vor Wut, als sie sprach. Er trat einen Schritt vor. „Ich mein es Ernst. Ich werde euch beide umbringen, ganz gleich wie lange es dauert. Lasst Darek gehen!“, rief er wütend. Armefia ließ die Schultern hängen. „Reg dich doch nicht so auf. Ist schon gut. Ich war sowieso fertig mit ihm.“, murmelte sie dann. Darek lachte daraufhin nur. „Das ist aber interessant. Gerade eben noch hast du mir gedroht, mich hier tagelang festzuhalten und davon gesprochen, dass wir eine schöne Zeit haben würden. Und jetzt enttäuschst du mich, Armefia. Wie kannst du nur so etwas tun?“, keuchte der Antichrist mit einem sarkastischen Lächeln.

Armefia warf ihm nur einen wütenden Blick zu und machte sich dann daran, die Fesseln zu öffnen. Sie war absichtlich grob und kam immer wieder an die tiefen Schnitte an Dareks Arm, während sie ihn freiließ. Nathan war noch immer unglaublich verkrampft und angespannt. Irgendwie ging das hier zu leicht. Wieso sollte Armefia so leicht aufgeben? Sie hatte doch bisher auch nichts über ihre Gerechtigkeit und ihren Stolz gestellt, wieso also sollte sie und Darek jetzt mit so geringem Protest übergeben? Ich drehte mich zu Nathan um, um ihm meine Vermutung mitzuteilen, als plötzlich Dokiel hinter ihm auftauchte. Ich hatte bereits Angst, das Ganze würde sich wiederholen und gleich hätte mein Engel ein Messer im Rücken, doch Dokiel hob nur eine kleine Spritze hoch und stach sie dann in Nathans Hals, ehe ich ihn warnen konnte. Ich schrie auf und wollte mich zu Armefia umdrehen, doch es war bereits zu spät. Auch in meinen Nacken stach schmerzhaft eine dünne Nadel, und ich konnte fühlen wie sich eine brennende Flüssigkeit rasend schnell in meinem Körper ausbreitete. Augenblicklich fühlte ich mich unglaublich schwach, und meine Beine konnten mich nicht mehr tragen. Der ganze Raum drehte sich, und meine Sicht wurde verschwommen. Das letzte, was ich spürte, waren Nathans zitternde Arme, als er mit letzter Kraft versuchte mich aufzufangen. Dann wurde alles leer und schwarz.

 

Ich weiß nicht, wie lange ich bewusstlos gewesen war. Vielleicht nur wenige Minuten, vielleicht aber auch Stunden oder Tage. Als ich endlich aufwachte und die Augen aufschlug, lag ich in einem völlig weißen Raum, der von einer unnatürlich hellen Lampe ausgeleuchtet wurde. Ich lehnte an einer kahlen Wand, und ansonsten war der Raum völlig leer. Bis auf eine leblose, zusammengesunkene Person neben mir: Darek. Das getrocknete Blut, das den Boden unter ihm beschmutzte, zerstörte den sauberen und perfekten Anblick des hellen Raumes. Schnell kroch ich zu ihm, auch wenn mir durch die plötzliche Bewegung erneut schwarz vor Augen wurde. „Darek!“, flüsterte ich verzweifelt, und strich ihm die Haare aus dem Gesicht. Er hing erschöpft auf der Seite, wahrscheinlich war er sogar Bewusstlos. Ich strich ihm weiterhin einzelne Strähnen hinters Ohr und zog ihn dann auf meinen Schoß. Immer wieder flüsterte ich verzweifelt seinen Namen. Man konnte doch Engel nicht töten, oder? Aber Darek hatte selbst gesagt, er sei kein richtiger Engel. Was würde ich also machen, wenn er dieser Folter erlag? Ich wollte nicht, dass er starb. Er war nur in diese Situation gekommen, weil er mich hatte beschützen wollen. Ich zitterte und keuchte laut auf, als er auf einmal begann, laut zu Husten. Das Geräusch durchfuhr seinen ganzen Körper mit einem starken Ruckeln, ehe er wieder kraftlos auf meinen Schoß zurücksank. Zu meiner Erleichterung blinzelte er schwach und sah mich kurz an, ehe er seine Augen wieder schloss und die Lippen zu einem sanften Lächeln formte. „Dir geht’s gut.“, hauchte er leise. Eine Träne lief meine Wange herab. „Natürlich geht’s mir gut. Hör zu, du wirst das überstehen, Darek. Klar?“, befahl ich. Er lächelte erneut. „Klar. Für dich mach ich alles, Schätzchen.“, flüsterte er. Ich strich ihm über die Wange. „Es ist mir egal, für wen du es überstehst. Hauptsache, du erholst dich wieder.“, murmelte ich. Darek nickte schwach. Er schien kurz Kraft zu sammeln, dann drehte er sich unter leisem Stöhnen und mit schmerzverzerrtem Gesicht auf den Rücken. „Wo sind wir hier?“, keuchte er. Ich sah mich wieder um, doch in diesem Raum schien es nichtmal eine Türe zu geben. „Ich glaube, Armefia hat uns hierher gebracht. Aber ich bin auch gerade eben erst aufgewacht.“, seufzte ich. Darek schien nachzudenken. „Wahrscheinlich ist das hier ihre Art Hauptlager. Die Engel, die auf der Erde unterwegs sind, wegen verschiedensten Aufgaben, haben irgendwo so einen Ort. Davon hab ich gehört.“, erklärte er leise. Wieder durchfuhr ihn ein starkes Husten und ich hatte Angst, er würde gar nicht mehr aufhören.

„Am besten, du erholst dich jetzt erstmal. Also auch nicht mehr reden.“, bestimmte ich. Darek lächelte. „Dann musst du eben reden.“, keuchte er.

„Im Erzählen bin ich ja ganz gut.“, sagte ich. „Aber in den letzten Tagen ist nicht gerade viel Erfreuliches passiert.“ Er schüttelte schwach den Kopf. „Macht nichts. Ich will nur deine Stimme hören, egal was du sagst.“ Also begann ich zu erzählen, was nach unserem letzten Zusammenstoß mit Armefia passiert war. Ich erzählte ihm von den ruhigen Tagen bei Joêl, von meiner ermutigenden Rede in der Stadt, vom pyroklastischen Strom und dem Leid der Menschen. Dann erzählte ich ihm von Nathans Rettungsversuch und meinem kurzen Besuch bei mir Zuhause. Ich wusste nichtmal warum, aber ich erzählte ihm auch von der Kette, von meiner Mutter, von meiner Vergangenheit und meiner Kindheit. Ohne wirklich zu merken, dass ich ihm das alles beichtete und erklärte, fuhr ich fort. Und während all der Zeit lag er nur ruhig da, auf dem Rücken. Ich dachte kurz, er wäre längst wieder eingeschlafen, denn seine Augen waren geschlossen. Aber als ich eine kurze Pause machte, öffnete er sie wieder und versicherte mir, dass alles okay wäre und es ihm helfen würde, mir zuzuhören. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte ich ihm alles anvertraut, was mir seit Tagen, Monaten und Jahren durch den Kopf geschwirrt war. Ich war verwundert über mich selbst und fragte mich, seit wann ich ihm eigentlich so sehr vertraute. Aber irgendwie beruhigte es mich, dass Darek mir zuhörte und dass er am Leben war. Er sah mich wieder an, seine wunderschönen Augen zogen mich quasi in ihren Bann. Ich konnte nicht verstehen, wie irgendjemand länger in diese wundervollen roten Lichtkugeln sehen konnte, ohne sich in sie zu verlieben. Aber gleichzeitig erinnerten sie mich auch an Nathans Augen, die genau denselben Glanz in sich trugen und eine ähnlich anziehende Ausstrahlung hatten.

Ich wollte ihn gerade etwas fragen, als plötzlich die helle Beleuchtung über uns ausging und der gesamte Raum stockdunkel wurde. Das einzige Licht, das noch da war, waren Dareks schwach glühende Flügel. Die kleinen Fünkchen, die davon aufstiegen, spiegelten sich in seinen noch immer auf mir ruhenden Augen wieder. Ich versuchte krampfhaft, meinen Blick abzuwenden, um mich nicht von dieser Schönheit beeindrucken zu lassen.

Stattdessen konzentrierte ich mich auf die Ursache für die plötzliche Dunkelheit. Wieso hatten sie das Licht ausgeschaltet?

„Sie werden dich gleich holen kommen, das spüre ich. Aber ganz egal, was dir diese Engel erzählen, glaub ihnen kein Wort.“, keuchte Darek leise, ohne seinen Blick von mir abzuwenden.

„Was auch passiert, wir kommen hier schon wieder raus. Ich verspreche es dir.“, sagte ich mit fester Stimme. Darek lachte leise und nickte dann schwach. Im nächsten Moment stand eine strahlende Person vor mir, die ich dann als Dokiel erkannte. Ich hob sanft Dareks Kopf von meinem Schoß und stand dann auf Trotzig sah ich in die Augen des Engels, der meinem Blick nicht standhielt. „Komm. Armefia hat eine kleine Überraschung für dich.“, sagte er nur. Er trug Handschuhe und packte mich unsanft am Arm, wahrscheinlich hatte er Angst ich könnte ihn durch eine Berührung töten. Und um ehrlich zu sein, ich hatte ja selbst Angst davor. Verzweifelt sah ich ihn an. „Du weißt ganz genau, dass wir nichts Unrechtes getan haben. Darek hat mich geschubst, ich habe Lariel nicht absichtlich getötet! Ich wollte das ganz bestimmt nicht, und du warst da. Du weißt, dass Armefia lügt. Dass das nicht meine Absicht war.“, sagte ich. Und Dokiel’s Gesichtsausdruck wurde schuldbewusster, aber er brachte uns trotzdem aus dem Raum heraus. Ich hatte nichtmal die Chance, mich von Darek zu verabschieden.

Wir fanden uns in einem weißen Flur wieder, der, genau wie der Raum, mit mehreren hellen Lampen beleuchtet war. Es gab nicht einen einzigen dunklen Punkt oder Schatten. Vielleicht hatte Darek recht, und das hier war tatsächlich so eine Art ‚Quartier der Engel’.

Wir liefen den Gang entlang, und durch die eintönige Umgebung verlor ich jedes Zeitgefühl. Erst als vor uns, an einer der Seitenwände, eine große silberne und schön verzierte Tür auftauchte, brach ich das Schweigen, das bisher geherrscht hatte. „Dokiel, du musst das nicht machen. Ich weiß, dass du wütend bist wegen dem was dort in der Kirche geschehen ist. Aber ist es wirklich alles in Gottes Sinne, was ihr hier treibt? Das, was Armefia mit Darek gemacht hat?“, fragte ich leise. Kurz hielt Dokiel inne, doch dann schüttelte er kaum merklich den Kopf und schob mich weiter in Richtung der Türe. Als wir davor ankamen, klopfte er leise, öffnete sie dann und drückte mich ins Innere. Er selbst blieb draußen im Flur, wenn es denn überhaupt ein Flur war.

Ich sah mich in dem Raum um. Er unterschied sich nicht besonders von dem, in dem Darek lag: Ein helles Licht bestrahlte jeden noch so kleinen Ecken und vermied so jegliche Schatten. Auf der gegenüberliegenden Seite stand Armefia, und ein paar Schritte links von ihr Nathan. Ich atmete erleichtert auf, als ich sah, dass es ihm gut zu gehen schien.

„Oh, Cassandra. Wurde ja auch mal langsam Zeit, dass du erwacht bist.“ Ein Schnauben entfuhr Armefia’s Nase, und sie betrachtete mich mit einem spöttischen Blick. Doch meine ganze Aufmerksamkeit galt Nathan und dem Ausdruck, der ihm ins Gesicht geschrieben stand: Verzweiflung.

Kurz meinte ich, dass er mir einen entschuldigenden Blick zuwarf. Was war die ‚Überraschung’, von der Dokiel gesprochen hatte?

„Zu seinem Glück hat sich Nathanael für das Richtige entschieden. Er wird ab jetzt keine Fehler mehr begehen, und erst recht nicht mit dir.“, lächelte sie. „Los, sag ihr, was du zu sagen hast.“

Ich starrte den Engel an. Was hatten sie mit ihm gemacht? Ein mulmiges Gefühl schlich sich langsam durch meine Magengegend, als Nathans Gesichtsausdruck noch trauriger und widerwilliger wurde und er auf mich zuschritt.

„Cas. Armefia hat mich dazu gezwungen, dass ich nur noch die Wahrheit sagen kann.“ Er machte eine kurze Pause, und ich bekam mehr und mehr Angst vor dem, was jetzt kommen mochte. „Als ich dich das erste Mal sah, damals vor deiner Schule, war ich so unglaublich enttäuscht. Du bist nicht nur schwach und nutzlos, du bist auch noch kindisch, störrisch und stur. Du bist die erbärmlichste Hilfe, die ich hätte bekommen können.“, sagte er mit einem kalten Ton. Das einzige, was den Schmerz, den seine Worte bei mir auslösten, noch zurückhielt, waren seine Augen. Denn sie spiegelten noch immer Widerwillen und Trauer in sich wieder.

„Du könntest überhaupt nichts für diese Welt machen. Meine ganze, jahrelange Suche war umsonst gewesen! Und dann hast du auch noch einen meiner Brüder getötet. Lariel war ein guter Engel! Er hatte kein besonders gutes Bild von Menschen, aber er war immer freundlich und zuvorkommend. Und du hast sein Leben beendet. Du hast alles durcheinandergebracht, Cassie!“ Wieder machte er eine Pause, und ich versuchte, einfach nicht zuzuhören. Das, was er da sagte war nicht die Wahrheit. Es waren Worte, die Armefia ihm in den Mund legte…oder? „Ich hätte mich ja sogar damit noch abgefunden. Aber dann hast du dich mit der einzigen Person auf der Welt, die ich mehr hasse als alles andere, zusammengetan. Du hast mich immer wieder dazu gezwungen, mit Darek zusammenzuarbeiten. Und das widert mich an.“ Ich kämpfte gegen die Tränen an, die sich in meinen Augen sammelten. Ich hatte nicht gewollt, dass Nathan das dachte. Aber er wusste doch selbst mittlerweile, dass Darek nicht so böse oder schlecht war, wie er vorgab zu sein.

„Und dann deine ständigen Fehler. Du bringst alle um dich herum wieder und wieder in Gefahr, nur aus deinen eigenen egoistischen Gründen! Ich wäre fast gestorben, weil ich deinetwegen das kleine Kind retten musste. Sogar deinem Vater bringst du noch mehr Kummer als es nötig gewesen wäre!“, sagte er. Hinter ihm sah ich, wie Armefia meinen kleinen Brief in der Hand hin- und herwedelte. Wütend starrte ich sie an. „Das stimmt nicht!“, wimmerte ich. Und noch mehr Leid trat in Nathans Augen. Er beugte sich vor und packte mich an beiden Schultern, sodass Armefia kurz keinen Sichtkontakt mehr zu mir hatte. Dann schob er unauffällig etwas Kleines, Kaltes in meinen Ärmel. Ich starrte ihn an. „Und alles in allem… hast du mir nichts gebracht. Du warst völlig unnötig. Deinetwegen müssen diese Menschen da draußen sterben. Deinetwegen ist Joêl gestorben. Du redest viel von Hoffnung und Liebe und Zukunft, aber es sind alles nur leere Worte.“ Er lehnte sich wieder zurück und drehte sich halb zu Armefia um. „Ich wünschte, ich wäre dir nie begegnet.“

Mit diesen Worten löste er tief in mir einen starken Schmerz aus, stärker als Tränen ihn verkraften konnten. Mit ausdruckslosem Gesicht und leerem Blick starrte ich in den Raum. Das waren nicht seine Worte. Er spielte Armefia’s Spiel nur mit, damit wir hier raus kamen! Aber was, wenn das tatsächlich seine wahren Gedanken waren? Denn im Grunde hatte er recht. Ich hatte seit unserer Begegnung so viele Fehler gemacht, ich war so schwach und stur gewesen. Und beinahe jede Hilfe war besser als ein unnützes kleines Mädchen. Erst das zufriedene Lachen der Engelsfrau riss mich aus meinen Gedanken. „Sehr gut, Nathanael. Das ist die richtige Einstellung. Und, was meinst du, wie sollen wir jetzt mir ihr verfahren?“, fragte sie. Nathans Ton war kalt, als er weitersprach. „Sie hat einen Engel getötet und die Welt in Gefahr gebracht. Wir müssen sie vor das Gericht bringen und dort einen endgültigen Entschluss fassen.“ Armefia nickte und klatschte dann einmal in die Hände. „Ich werde das Verfahren einleiten.“ Sie sah mich an. „Du kannst solange bei deinem mickrigen Dämonenfreund bleiben, auch wenn ich mir schwer vorstellen kann, dass er dich so sehr mag wie er es vorgibt. Er will nichts weiter als deine Kraft für sich ausnutzen, und offensichtlich hat er dich schon völlig auf seine Seite gezogen.“ Auf das Klatschen hin öffnete sich die Türe und Dokiel kam herein, um mich wieder nach draußen zu zerren. Ich warf Nathan noch einen letzten Blick zu, mit dem ich ihn irgendwie beruhigen wollte, denn ich ertrug den Anblick seiner traurigen Augen nicht mehr.

Dokiel schleppte mich wortlos den ganzen Weg wieder zurück, und brachte mich schließlich in den Raum, in dem Darek lag, zurück. Ich verabschiedete mich mit einem wütenden Blick von ihm und wandte mich dann wieder Darek zu. Noch immer war das Licht ausgeschaltet, und es war ein angenehmer Gegensatz zu den hellen Strahlen die mich in den letzten Minuten umgeben hatten. Darek lehnte nun leicht aufgerichtet an der Wand, und auch seine Flügel hatten wieder etwas von ihrer Flamme zurückbekommen. Ich ließ mich neben ihm auf den Boden sinken und kramte in meinem Ärmel nach dem Gegenstand, den Nathan mir zugesteckt hatte. Darek keuchte leise, als ich es auspackte. Es war ein kleines, durchsichtiges Fläschchen mit einer Flüssigkeit, die im Licht der Funken leicht orange schimmerte. Ich starrte darauf. „Was ist das?“, fragte ich leise, weil ich mir nicht ganz sicher war ob Darek wirklich wach war. Doch er nickte schwach. „Das da… Ist sowas wie ein Wundermittel für Engel. Man könnte sagen, pure Energie. Woher hast du das?“, fragte er. Ich erklärte ihm kurz, was geschehen war. „Vielleicht kann ich mich damit soweit erholen, dass ich dich hier raus bringen kann.“, sagte er dann. Ich schüttelte den Kopf. „Ich werde nicht gehen. Nicht ohne dich und Nathan.“, sagte ich bestimmt. Es war mir egal, was er gesagt hatte und ob es nun seine wahren Gedanken waren oder nicht. Immerhin hatte er mir dieses Fläschchen gegeben, was bedeutete, dass er noch Hoffnung hatte. Ich hielt es Darek hin. „Vielleicht geht es dir dann wenigstens ein bisschen besser. Aber versprich mir, dass wir nur zusammen gehen. Mit Nathan.“ Darek sah mich kurz an, dann nickte er. „Also gut.“ Er nahm das Fläschchen in seine zitternde Hand und öffnete es. Während er die Flüssigkeit bis auf den letzten Tropfen austrank, suchte ich den Raum nach irgendeiner Fluchtmöglichkeit ab. Aber es gab tatsächlich keine, solange man nicht ein Engel war und von einem Ort zum nächsten springen konnte.

Als ich mich wieder dem Antichristen zuwandte, war er eingeschlafen. Seine Hand mit dem leeren Fläschchen war schlaff herabgesunken, seine Augen geschlossen und er atmete in einem ruhigen und regelmäßigen Abstand. Ich setzte mich wieder neben ihn und lehnte nach kurzem Zögern meinen Kopf gegen seine Schulter. Das angenehm kühle Schaudern, das mich immer durchfuhr wenn ich ihn berührte, setzte kurz ein und begleitete mich dann in einen unruhigen Schlaf.

Chapter 8

 

Ich erwachte zum Klang von Nathans Stimme und seiner warmen Hand auf meiner Stirn. Er flüsterte leise meinen Namen, und als ich die Augen öffnete kniete er vor mir. Seine dunklen Locken hatte er sich aus dem Gesicht gestrichen, er wirkte wie immer unnahbar und wunderschön. Dann erst erinnerte ich mich, wo ich mich eigentlich befand und setzte mich verwirrt auf. Wir saßen noch immer in dem Raum, neben mir schlief Darek. „Wie bist du hier reingekommen?“, flüsterte ich leise und sah Nathan an. Er lächelte sanft. „Ganz einfach: Gar nicht.“, sagte er. Er strich mit einer Hand eine lockere Haarsträhne hinter mein Ohr und blickte tief in meine Augen

„Du träumst, Cas. Deswegen kann ich hier sein.“

Fassungslos sah ich ihn an. Konnte das wirklich sein? War der echte Nathan hier in meinem Traum oder bildete mein Kopf ihn sich nur ein?

„Es tut mir leid, was ich dort zu dir gesagt habe.“, flüsterte er. Ich nickte schwach. „War es die Wahrheit?“, sprach ich die Frage aus, die mich am meisten beschäftigte. Nathan schien kurz zu zögern, und sah zur Seite. „Ich weiß nicht. Ganz am Anfang habe ich tatsächlich so von dir gedacht. Aber das hat sich geändert. Armefia hat sich nur die negativen Gedanken in meinem Kopf herausgesucht und sie so formuliert, dass sie verletzend auf dich wirken.“, erklärte er. Wieder nickte ich, und irgendwie war ich erleichtert. Ja, es waren seine eigenen Gedanken gewesen. Und er hatte tatsächlich mal so gedacht. Aber immerhin hatte ich jetzt Gewissheit, dass das nicht wirklich das einzige war, was er von mir dachte.

„Nathan, wie sollen wir hier nur wieder rauskommen?“, fragte ich verzweifelt. Er deutete auf Darek.

„Du wirst mit Darek verschwinden. Ich kann euch vielleicht irgendwie den Raum öffnen, und dann haut ihr beide von hier ab. Ich verspreche dir, ich werde nachkommen.“

Doch ich schüttelte den Kopf. „Du kannst mich gerne wieder stur nennen… Aber ich werde diesen Ort nicht ohne dich verlassen!“

„Meine Güte, Cassie! Sei einfach vernünftig. Es gibt keinen anderen Weg. Du kommst auch gut ohne mich zurecht, solange du in Dareks Nähe bleibst!“, knurrte Nathan. Doch ich wollte nicht gehen und ihn hier zurücklassen. Wenn Armefia erfuhr, dass ich mit Darek geflohen war, würde sie automatisch Nathan die Schuld dafür geben. „Nein, Nathan. Ich will nicht, dass dir meinetwegen schon wieder etwas passiert.“, sagte ich leise. „Das wird es nicht. Ich komme allein zurecht, also hör endlich auf dir ständig Sorgen um mich zu machen, Cas.“ „Du hast selbst gesagt…“, begann ich, aber dann brach ich ab. Nein. Ich durfte ihm seine Worte jetzt nicht mehr länger vorwerfen. Er hatte sich entschuldigt, und es war nicht seine Absicht gewesen sie auszusprechen. Und sie stimmten ja nichtmal mehr. Nathan sah mich traurig an. Er schien deswegen wirklich ein schlechtes Gewissen zu haben, und ich hatte selten so viele Gefühle in seinem sonst eher kalten und leeren Gesichtsausdruck gesehen. „Tut mir leid. Also gut, ich werde mit Darek gehen. Aber du hast nicht mehr als einen Tag, dann musst du auch da sein, okay? Ich mache mir Sorgen, auch wenn du sagst das soll ich nicht… was wenn Armefia dich nicht gehen lässt?“, gab ich zu bedenken. Aber Nathan schüttelte den Kopf. „Wenn ich weiß, dass du außer Gefahr bist, kann ich anders handeln. Dann komme ich mit Armefia zurecht. Aber im Moment muss ich immer darauf bedacht sein, mit meinen Taten nicht unmittelbar auch dein Wohlergehen zu gefährden. Wenn du in Sicherheit bist, finde ich ganz sicher einen Weg hier raus.“, erklärte er. Ich nickte, war aber noch immer nicht ganz überzeugt. Armefia war stark, und wenn das hier wirklich sowas wie ein Lager der Engel warn, war sie nicht allein. Nathans Kraft mochte gestiegen sein, aber er war noch immer kein richtiger Engel und sie würde nicht ewig halten.

Mit einem Seufzen stand er auf. „Ich muss jetzt gehen, dummes Mädchen.“, sagte er leise mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen. „Wenn ich noch länger bleibe, wird irgendjemand merken was ich mache und dann sinken eure Chancen hier rauszukommen um Einiges.“ Ich stand ebenfalls auf, machte einen Schritt auf ihn zu und wollte ihn umarmen, doch in genau diesem Moment verschwand sein Bild vor mir, und ich fiel auf die Knie.

Mit einem heftigen Zusammenzucken schlug ich die Augen auf. Tatsächlich, es war ein Traum gewesen. Und doch schien mir ein helles Licht entgegen, und als sich meine Augen daran gewohnt hatten erkannte ich eine kleine Öffnung in einer der Wände des Raumes. Er hatte es also geschafft, den Raum zu öffnen. Wie hatte er das gemacht? Mit einem tiefen Atemzug erwachte auch Darek neben mir, wahrscheinlich durch meine plötzliche Bewegung. Er blinzelte ein paar Mal, als das grelle Licht in seine Augen fiel. „Was zum…“, murmelte er.

Ich war hellwach. Wenn wir uns jetzt nicht beeilten, würde womöglich irgendwer die Öffnung bemerken und Alarm schlagen. Schnell wandte ich mich an Darek und berührte ihn sacht am Arm, stets darauf bedacht an keine seiner Wunden zu kommen. „Darek, wir müssen jetzt hier raus. Nathan hat uns eine Fluchtmöglichkeit gegeben.“, hauchte ich. Diese Nachricht schien auch Darek endgültig aus seinem Halbschlaf herauszureißen,. Und er blinzelte mich verwundert an. „Wie hat er das…?“ Doch ich ließ ihn nicht ausreden. Stattdessen half ich ihm, sich vorsichtig aufzusetzen. Mittlerweile hatten seine Flügel beinahe wieder ihre alte Schönheit erreicht, und auch seine Wunden wirkten irgendwie weniger schlimm. Nathans kleines Wundermittel bewirkte also tatsächlich etwas bei ihm.

Der Antichrist schaffte es unter Schmerzen, auf allen Vieren bis zu dem Loch zu kriechen. Es war gerade groß genug, dass er in dieser Haltung hindurchkrabbeln konnte, und mit einem leisen Keuchen schaffte er dies auch. Ich tat es ihm gleich und musste mich im hellen Gang erst wieder an die Beleuchtung gewöhnen, ehe ich aufstand und Darek stützte. „Du kannst dich auf mich lehnen, dann sind wir schneller.“, schlug ich vor. Widerwillig nickte er und ließ sich von mir helfen. Er klammerte sich an meinem Arm und der Wand fest, als er aufstand und lehnte sich dann mit einem Arm auf mich. Ich hatte nicht erwartet, dass es so schwer war, jemanden zu stützen der einen Kopf größer als man selbst ist. Dementsprechend schnappte ich leise nach Luft, als er sich von der Wand abstieß und ganz auf meine Schultern lehnte. Doch ich biss die Zähne zusammen und kämpfte mich vorwärts, Schritt für Schritt und stets daran denkend dass es für Darek weitaus mehr Schmerzen bedeutete als für mich.

So kämpften wir uns langsam voran. Ich merkte dem Antichristen an, dass er sich nicht wohl dabei fühlte, so auf meine Hilfe angewiesen zu sein. Normalerweise war er derjenige, der sich beschützerisch vor mich stellte oder selbstbewusst von sich redete. Wahrscheinlich hatte er selten in seinem Leben Hilfe von Anderen angenommen. Da ich hoffte, in der anderen Richtung schneller einen Ausgang zu finden, liefen wir nicht in die Richtung in die mich Dokiel am Vortag gebracht hatte. Immer wieder hielten wir kurz an und lauschten, ob sich irgendjemand näherte oder wir Schritte vernahmen, die nicht unsere eigenen waren.

Unser Weg kam mir wie eine Ewigkeit vor. Mein Herz pulsierte vor Angst, auf Armefia oder Dokiel zu treffen, und es wollte einfach kein Ausgang vor uns in dem makellosen Weiß auftauchen. Auch Darek wurde schwächer und seine Schritte schleppender, je weiter wir kamen. Ich befürchtete, dass er zusammenbrechen würde, wenn wir nicht bald auf irgendetwas stießen.

Und dann endlich tauchte eine Tür auf. Ich hatte die Hoffnung bereits aufgegeben, als ich endlich vor uns die silbernen Verzierungen sah. Licht, das noch heller war als das ohnehin schon strahlende des Flurs, kam aus dem kleinen Fenster, dass die Türe hatte. Darek hing keuchend und hustend auf meiner Schulter, als wir uns vorsichtig der Glasscheibe näherten. Ich half ihm, sich an der Wand abzustützen und spähte dann vorsichtig in den Raum. Mir blieb beinahe der Atem weg. Es war ein Gerichtssaal. Und zwar ein richtiges Gericht der Engel. Ich sah einen Halbkreis von Stühlen, die um ein großes Pult herum aufgestellt waren. In der Mitte des Halbkreises stand ein einzelner Tisch mit einem schlichteren Hocker. Alle Sitze des Halbkreises waren besetzt, und es war unglaublich: Engel. Eine wahre Wand der Schönheit und Eleganz hatte sich gebaut. Am großen Pult, das womöglich das Richterpult war, saß Armefia mit ausdruckslosem Gesicht. Rechts von ihr, auf einem der normalen Stühle, erkannte ich Dokiel. Armefia hatte ihre schönen, weißen Flügel als Einzige ganz ausgebreitet, und sie schien den Moment und ihre eigene Wichtigkeit zu genießen. Dann erst glitt mein Blick zu dem Hocker und dem kleinen Tisch zurück, auf dem dann wohl der Angeklagte sitzen musste. Mein Herz machte einen weiteren kleinen Aussetzer, als ich erkannte, dass es Nathan war.

Er saß seelenruhig da, wirkte aber angespannt. Hätten sich seine Flügel nicht so sehr von denen der Anderen unterschieden, wäre mir wahrscheinlich nicht aufgefallen, dass er es war. Aber sie hingen schlaff von seinem Rücken herab, und die großen schwarzen Federn schimmerten Lila im strahlenden Licht.

Im nächsten Moment schlug Armefia mit der Faust auf ihr Pult und schrie ihn an, doch durch die seltsame Tür konnte ich ihre Worte nicht verstehen. Nathan zuckte sichtlich zusammen und sah auf. Erst jetzt sah ich seine Augen, wenn auch nur von der Seite. Er wirkte unglaublich verzweifelt, so als würde er um sein Leben kämpfen. Ich hielt es nicht mehr aus. Mit einem lauten Klacken drückte ich den Griff der Türe nach unten und riss sie auf. „Nathan!“, rief ich und trat ein. Helles Licht umfasste mich, und plötzlich fühlte sich die Kette meiner Mutter auf meiner Haut unglaublich schwer an. Ein kurzes Pochen durchzuckte mich, dann verschwand das Gefühl wieder und ich stand keuchend in einem Raum voller fassungsloser und überraschter Engel. Armefia erkannte mich augenblicklich und in ihren Augen spiegelte sich Wut wieder. Ein paar der anderen Engel steckten ihre Köpfe zusammen und flüsterten sich etwas ins Ohr oder tauschten bedeutende Blicke. Ich sah mich um, und stellte mich dann zu Nathan. Er starrte mich ungläubig an. Er schien nichtmal wütend zu sein, weil ich mich nicht an mein Versprechen gehalten hatte. Er wirkte einfach nur verwirrt. „Wie hast du das gemacht, kleine Göre?“, fragte Armefia dann. Ich wandte mich ihr zu, mit festem Blick. „Wie habe ich was gemacht?“ „Wie bist du hier rein gekommen? Dieser Raum war abgesichert, mit starker Kraft. Was hast du für einen höllischen Trick angewendet, um hier reinzukommen?“, fauchte sie. Erst jetzt verstand ich Nathans Verwirrung. War das das seltsame Pochen gewesen? Aber ich hatte doch eigentlich gar nichts gemacht…

„Sprich!“, schrie Armefia. Offensichtlich hatte ich durch mein Auftreten ihre ganze Sicherheit und Zufriedenheit vernichtet. Ich überlegte, was ich antworten sollte. Egal, was ich sagte, Armefia würde es gegen mich benutzen und mir die Worte im Mund umdrehen. Ich blickte durch die Reihen. Vielleicht hatte ich ja noch eine Chance, die anderen Engel von mir zu überzeugen. Armefia würde mir niemals vergeben, aber vielleicht die Anderen. Selbst wenn es eine Lüge kostete. Ich holte kurz Luft und sah dann wieder in Armefia’s Augen. „Wieso sollte mir eure Engelskraft etwas ausmachen? Gott hat mich auserwählt, um die Welt zu retten. Denkst du wirklich, er würde zulassen, dass mich ein paar Engel von dieser Aufgabe abhalten?“, sagte ich so ruhig und beiläufig wie ich konnte.

Im nächsten Augenblick stand Armefia wenige Zentimeter vor mir, und wenn Blicke töten könnten, wäre ich in diesem Augenblick tot umgefallen. Sie funkelte mich mit purer Wut an. Einer der anderen Engel war aufgestanden, und hatte ihren Namen gesagt, doch sie reagierte nicht. Langsam beugte sie sich zu mir herab und atmete in mein Gesicht. „Damit wirst du nicht durchkommen, kleine Göre.“, zischte sie. Ich spürte plötzlich einen kühlen Schauer an meinem Rücken, und ehe ich mich versah, bekam ich einen starken Schubs nach vorne. Armefia sprang zurück, das sie ja erlebt hatte was mit Lariel geschehen war. Doch dieses Mal würde ich mich nicht einfach fallen lassen. Sie hatte genug angerichtet. Sie hatte uns von Anfang an verfolgt, unsere Suche erschwert. Sie hatte Dokiel dazu gebracht, Nathan einen Dolch in die Seite zu stechen. Nur wegen ihr waren wir in dieser Stadt gefangen gewesen, bis sich der Engel erholt hatte. Sie hatte Darek gefoltert, wahrscheinlich tagelang. Und sie hatte dafür gesorgt, dass Schuld und Trauer in Nathans Gesicht geschrieben standen.

Mit zitternder Hand, und als würde die Zeit langsamer verstreichen, hob ich meinen Arm. Armefia hatte gerade genug Zeit gehabt, um meinem Fall auszuweichen, nicht aber meiner Bewegung. Sie war zu nah an mich herangekommen. Ich streifte ihre Wange nur für wenige Sekunden, doch es war genug. Durch den Schwung knallte ich auf die Knie, doch ich drehte mich augenblicklich zu der Engelsfrau um. In ihren Augen lag pures Entsetzen. Die Stelle, an der ich sie berührt hatte, wurde erst rot und fing dann, wie bei Lariel, zu leuchten an. Armefia schrie auf und presste sich eine Hand auf die Wange, was nur dafür sorgte, dass es sich schneller ausbreitete. Ich beobachtete sie traurig dabei, wie sie immer mehr schrie und dann innerhalb von wenigen Minuten zusammenbrach und leblos auf den Boden sank. Kurz schwieg der ganze Raum. Die Engel starrten auf sie herab, schienen nicht zu begreifen, was gerade eben geschehen war. Dann setzte ein allgemeines Raunen ein. Ich drehte mich zu Darek um, der, ohne das ich es gemerkt hatte, den Raum betreten und mich nach vorne geschubst hatte. Er hielt mir seine zittrige Hand hin, damit ich aufstehen konnte, doch ich rappelte mich aus eigener Kraft auf. Besorgt sah ich seine glasigen Augen und den Schweiß, der wieder auf seiner Stirn stand. Wahrscheinlich hatte er hohes Fieber. Dann wandte ich mich an Nathan, der ruhig auf seinem Stuhl saß und kalt auf Armefia’s Körper herabsah. Ich hatte erwartet, dass er mich jetzt anschreien würde. Dass er mir Vorwürfe mache würde. Doch er saß nur da und schwieg und sah auf den Boden. Das Raunen der Engel wurde unterdessen immer lauter. Sie fingen an, untereinander zu diskutieren, ob ich eine Gefahr sei oder nicht. Ich wandte mich ihnen zu. Es war sowieso egal, was ich jetzt sagen würde. Sie hatten miterlebt, wie ich eine von ihnen vor ihren Augen ermordet hatte. Und dieses Mal war es tatsächlich Absicht gewesen, ich konnte nicht mehr erzählen oder behaupten, es wäre nicht meine Schuld. Ich hatte sie töten wollen.

„Hört mir zu!“, begann ich dann laut. Als sie mich sprechen hörten, wurden die Engel langsam leiser. Dokiel saß fassungslos auf seinem Platz und starrte zu Armefia herab.

„Mein Name ist Cassandra. Und ich habe nicht gelogen: Ich wurde quasi auserwählt, um diese Welt zu retten. Nathan ist ein gefallener Engel, wie ihr vielleicht wisst. Er und Darek werden mir helfen, und wir werden Luzifer aufhalten. Das war von Anfang an unser Plan. Dass ich Lariel töte war nicht gewollt. Und auch Armefia hat sich ihr Schicksal selbst ausgesucht. Aber ich hatte einfach keine Wahl. Wir wollen keine Komplikationen, und wir sind auch nicht Verbündete Satans. Wir wollen nur unsere Aufgabe erfüllen.“, erklärte ich ruhig. Die diskutierenden Engel waren in Schweigen verfallen und hörten mir zu. Nathan war unterdessen aufgestanden und hatte sich neben mich gestellt um Darek zu stützen, denn offensichtlich war auch ihm die schwindende Kraft des Antichristen aufgefallen.

„Also bitte, lasst uns gehen. Dieses Problem muss nicht eures werden. Wenn wir es nicht schaffen sollten, wird Luzifer uns sowieso töten. Und wenn doch ist die Welt gerettet! Ihr habt nichts zu verlieren. Dass ich Lariel getötet habe, war ein Versehen. Ich hatte keine Ahnung von dem, was ich kann. Und ich bereue es.“ Ich senkte den Blick, und auch der eine oder andere Engel schien sich an seinen Bruder zu erinnern. „Aber das, was Armefia gemacht hat, ist nur schwer zu verzeihen. Es war falsch, sie zu töten, und es war unüberlegt. Aber sie hat uns schon soviel Leid angetan. Sie hat nie auch nur versucht, mich zu verstehen.“, fuhr ich fort. „Ich bin keine Mörderin. Eigentlich bin ich noch nichtmal erwachsen. Ich weiß nicht, wieso ausgerechnet ich das hier machen soll, oder wie ich es schaffen soll. Aber ich weiß, dass nicht noch mehr Engel sterben müssen. Ich bin keine Gefahr für euch. Alles was ich will, ist Luzifers Herrschaft auf der Erde ein Ende zu setzen.“

Ich sah in die Runde. Die Engel sahen sich an, und begannen wieder miteinander zu reden. Ich verfolgte schweigend das Geschehen. Dann stand einer der Engel auf und rief, dass ich doch nur hier sei um sie zu bedrohen. Und das war der Auslöser für eine wütende Diskussion, bei der sich ein paar Engel auf meine Seite durchschlugen und Andere an Armefia’s Unschuld festhielten. Ich wandte mich kurz zu Darek um, der mir schwach zulächelte. „Gut gemacht, Kleine. Du hast schon deine ersten Anhänger.“ Ich merkte, wie er leicht schwankte und womöglich nur noch stand, weil Nathan ihn stützte. Dann stand auf einmal einer der Engel, die eher gegen mich gestimmt waren, vor mir und holte mit einem Messer aus, doch ein Anderer schlug es ihm aus der Hand. Von diesem Moment an brach Chaos in dem Gerichtssaal aus. Die wunderschönen Wesen zogen ihre Waffen und gingen aufeinander los.

In all diesem Chaos, den Rufen und dem wütenden Schnauben versuchte ich, mit Nathan und Darek zur Türe zu kommen. Doch Nathan hielt inne.

„Wir können hier nicht raus. Nur richtige Engel können aus diesem Haus raus. Und weder ich noch Darek zählen zu dieser Kategorie.“, rief er, damit ich ihn überhaupt verstehen konnte. Ich fluchte leise und drehte mich wieder zu den kämpfenden Engeln um. Einer der Engel, die sich dafür entschieden hatten mir beizustehen, kam auf mich zu. Er wich einem Schlag auf seinen Kopf aus und blieb dann vor mir stehen. Obwohl er leise sprach, konnte ich ihn deutlich hören. Er hatte eine ruhige, tiefe Stimme, und beinahe schwarze Augen. „Ich habe beschlossen, deinen Worten zu glauben. Also enttäusche uns nicht, kleine Cassandra.“, sagte er. Dann berührte er meine Stirn und schloss die Augen. Das helle Licht um uns herum wurde schwächer, als er Nathan, Darek und mich aus dem Gebäude herausbrachte. Als die Umgebung sich wieder gefestigt hatte, standen wir in einer leeren, zerstörten Stadt. Der Engel, der uns gerettet hatte, war nicht mehr da. Ich drehte mich sofort zu Darek und Nathan um, und sah gerade noch, wie Darek auf die Knie fiel und kurz heftig hustete. Nathan stand neben ihm und hielt ihn aufrecht, doch sein Blick galt mir. Ich hasste es, dass ich seinen Ausdruck nicht deuten konnte. Ich war mir nicht sicher, ob er wütend, enttäuscht, traurig oder verletzt war. Aber ebenso gut hätte er glücklich sein können, und es wäre kein großer Unterschied gewesen. Sein Gesicht blieb regungslos.

Darek dagegen war deutlicher anzusehen, wie miserabel er sich fühlte. Noch immer waren seine Augen glasig, und sein Husten krampfhaft. Ich ging neben ihm in die Hocke und presste eine Hand auf seine Stirn. Es war das erste Mal, dass mich kein kalter Schauer erwartete, als ich ihn berührte. Seine Stirn glühte. Ich hätte mir beinahe die Hand daran verbrannt, und schockiert sah ich ihn an. „Ist schon okay, Schätzchen. Mir geht’s klasse.“, sagte er heiser. Ich sah ihn weiterhin besorgt an und wandte mich dann an Nathan. „Wir müssen ihn hier wegbringen. Ich bin zwar kein besonders guter Arzt, aber wir müssen seine Wunden wenigstens desinfizieren und er muss sich ausruhen.“, sagte ich.

„Ich schätze, das muss warten. Aus dieser Stadt kann ich uns nicht wegbringen. Hier liegt eine Art Bann, der vom Lager der Engel ausgeht.“ Mit einem Kopfnicken deutete Nathan auf das Gebäude hinter mir. Es war eine verlassene Schule, mit vielen Fenstern und einer kaputten Fassade. Es war einmal in einer schrecklichen lachsrosa Farbe gestrichen gewesen, doch an vielen Stellen bröckelte der Putz ab. Von den Glasscheiben in den Fenstern waren nur noch einige wenige Splitter übrig, die meisten lagen am Boden um das Haus herum.

Ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass in diesem Gebäude tatsächlich das makellos perfekte, helle und moderne Lager war, in dem wir uns gerade noch befunden hatten. Auch der Rest der Stadt war totenstill und leer. Ein leichter Wind trug Staub durch die Straßen und klapperte an einem abgebrochenen Fensterladen, der schräg von einer Wand abstand.

„Wo genau sind wir hier?“, fragte ich in Anbetracht auf die seltsame Umgebung leise.

Darek lachte leicht auf. „In der Umgebung von Tschernobyl.“

Ich sah ihn an. Nathan nickte zustimmend. „Das würde Sinn ergeben.“

Noch einmal blickte ich mich um. „Und wie kommen wir jetzt von hier wieder weg?“, fragte ich dann.

Nathan schien zu überlegen. „Wir müssen laufen. Irgendwo gibt es eine Grenze, ab der der Bann nicht mehr stark genug ist. Aber ich weiß nicht, wie weit das sein wird.“ Er deutete auf Darek. „Und wie lange wir laufen können.“ Der Antichrist hustete erneut. „Ich hab euch doch gesagt, mir geht’s super. Nicht mehr lange und ich bin wieder auf den Beinen. Im Lager wurde ich von der Kraft meines Vaters abgeschottet, doch je schneller wir von hier wegkommen, desto besser werde ich mich erholen.“, erklärte er. Ich hatte ein schlechtes Gefühl dabei, dass Darek so sehr auf den Kräfteschub seines Vaters vertraute. Hatte Luzifer nicht längst gemerkt, dass Darek gemeinsame Sache mit seinen Feinden machte?

Darek schien meine Gedanken zu erraten, denn er ließ sich von Nathan auf die Beine ziehen und wuschelte mir dann über den Kopf. „Keine Sorge. Solange ich meine Aufgabe erledige, kümmert sich Vater nicht um mich.“

Ich wollte ihn fragen, was er mit ‚Aufgabe’ genau meinte, doch Nathan unterbrach mich. „Plaudert später weiter. Wir sollten jetzt von hier weg. Dieser Ort ist nicht besonders gut für dich, Cassie. Immerhin bist du ein Mensch, und die Strahlung ist durchaus noch vorhanden.“

Dagegen konnten weder ich noch Darek etwas sagen, und wir setzten uns in Bewegung. Anfangs war der Weg anstrengend und schleppend. Darek lief zwischen uns, damit wir ihn von beiden Seiten stützen konnten und wir schneller voran kamen. Überall lagen kaputte Dinge herum, über die wir klettern mussten oder die wir umgehen mussten. Staub brannte ich meiner Lunge, und meine Haare hatten sich gelöst und hingen mir in die Augen. Der Boden war sandig und steinig, mit jedem Schritt fühlten sich meine Füße schwerer an. Aber wie der Darek prophezeit hatte, wurde es von Minute zu Minute besser. Je weiter wir von dem Schulgebäude wegkamen, desto weniger stützte er sich auf uns. Er war noch immer schwach, doch wir kamen deutlich besser voran und nach etwa ein bis zwei Stunden anstrengenden Weges sprach Nathan die erlösenden Worte: „Wir sind weit genug weg. Ab hier kann ich uns zurück zur Hütte schaffen.“

Erleichtert und dankbar nahm ich seine Hand, als er sie mir hinhielt. Auch Darek schien froh darüber zu sein, von hier wegzukommen.

Nathan schloss die Augen und innerhalb von wenigen Sekunden standen wir im Inneren der Hütte. Ich ließ mich erschöpft auf den Boden fallen, und war unglaublich glücklich darüber, wieder hier zu sein. Diese Hütte war tatsächlich mein derzeitiges Zuhause geworden, wie ich verwundert feststellte.

Neben mir fiel Darek ebenfalls auf die Knie. Offensichtlich war seine körperliche Kraft zwar gestiegen, sein Fieber jedoch noch immer nicht schwächer geworden. Ich sammelte mich kurz und kroch dann neben ihn. „Du musst dich jetzt ausruhen, Darek.“, sagte ich leise. Zum Glück nickte er und ließ sich dann von Nathan und mir ohne Protest in das Bett legen. Ich brachte ihm noch einen kühlen Lappen, den ich auf seine Stirn legte, und schloss dann die Türe damit er Ruhe hatte. Mit einem lauten Seufzen setzte ich mich auf einen der Stühle. Nathan stand in der Küche und wusch ein Glas ab. Dann wandte er sich mir zu und setzte sich neben mich. Ich war mir nicht sicher, ob es etwas gab, worüber wir hätten reden können. Noch immer wusste ich nicht, ob er wütend auf mich war oder nicht. Aus dem Augenwinkel spürte ich seine blauen Augen auf mir ruhen. Er starrte mich an, schien auf irgendetwas zu warten. Musste ich mich entschuldigen? „Nathan, ich…“

Doch er schüttelte sofort den Kopf und deutete mir leise zu sein.

„Ist schon gut. Ich bin nur froh, dass es dir gut geht. Ich hatte nicht gerade große Hoffnungen darauf, dass wir wirklich aus diesem Lager herauskämen.“, erklärte er. Verwundert sah ich ihn an. Also war sein Schweigen nur seine gewohnte Art, und er war nicht traurig oder sauer, weil ich einen weiteren Engel ermordet hatte?

Noch immer sah er zu mir herüber.

„Cassie. Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?“, fragte er dann. Etwas verwirrt nickte ich. „Dann erklär mir jetzt bitte, wie du in diesem Raum reingekommen bist.“

Ich erinnerte mich an die Verwunderung im Gerichtssaal, und an Armefia’s Worte. Eigentlich hätte ich also gar nicht dort hinein gekonnt?

„Ich weiß es selbst nicht. Ich habe kurz etwas gespürt, als ich eingetreten bin, aber es verschwand dann auch gleich wieder. Wie ein Pochen.“, sagte ich. Nathan sah mich weiterhin an. „Bist du dir ganz sicher?“, fragte er.

Ich nickte. Ja, das war es, was ich gefühlt hatte. Und meine Kette hatte sich seltsam angefühlt, aber das war wahrscheinlich nur Einbildung gewesen.

„Ich kann es mir nicht erklären. Du müsstest jetzt eigentlich tot sein.“, murmelte er leise. Ich hatte genug von all der Angst und den Zweifeln. „Wärst du dann glücklicher gewesen, wenn du das nervige Mädchen nicht mehr gehabt hättest, auf das du Acht geben musst?“, fragte ich mit einem Zwinkern. Eigentlich hatte ich meine Worte nicht ernst gemeint und versucht, ihn irgendwie zu einem Lächeln oder einer spöttischen Antwort zu bewegen. Doch Nathan schien das nicht zu verstehen und packte mein Handgelenk. „Sag nicht sowas. Du weißt ganz genau, dass ich dich brauche.“, sagte er aufgebracht. Ich lächelte leicht. Dass ich dich brauche. Ja, das wusste ich durchaus. Er brauchte mich, um Luzifer zu töten. Er brauchte mich, um Darek in Schach zu halten. Und er brauchte mich, um zurück in den Himmel zu kommen. Und ich hasste es, dass ich so dachte, aber innerlich wünschte ich mir, er würde mich wirklich brauchen. Nicht nur für seine Zwecke, für seine große Aufgabe. Ich wünschte mir, er würde mich als Person brauchen. Als Mädchen. Nicht nur als eine Waffe, die ihm helfen konnte, sein Ziel zu erreichen. Doch das würde nie so sein, und damit musste ich mich abfinden. Schnell verbannte ich den Gedanken in eine andere dunkle Ecke meines Kopfes, zu all dem restlichen Leid, was ich dort schon angesammelt hatte. Dort konnten sie verstauben, und vielleicht würde ich all diese schlechten Gedanken und Gefühle irgendwann einfach vergessen. Irgendwann, wenn das hier alles vorbei war.

Ich stand auf und löste meine Hand aus seinem Griff. „Ja, das weiß ich.“, murmelte ich leise. Dann beschloss ich, mich ein bisschen hinzulegen. Nathan sah mir verwirrt hinterher, so als würde er sich darüber wundern dass ich einfach wegging, doch ich achtete nicht darauf. Unser Rettungsversuch hatte funktioniert, wir waren alle hier und vorläufig in Sicherheit. Aber ich fühlte mich noch elender, als ich es davor getan hatte. Müde und erschöpft legte ich mich auf mein Deckenlager vor dem Kamin und schlief augenblicklich ein. Dieses Mal träumte ich nicht von Nathan, sondern von Darek. Der Antichrist saß auf einem Felsen am Rande einer Klippe, und ich ging geradewegs auf ihn zu. Als er mich bemerkte, lächelte er, packte mich und warf mich dann den Hang der Klippe herab. Regen peitschte in mein Gesicht, und unter mir sah ich schon die bedrohlichen Felsen, die meinen Tod verheißen würden. Doch als ich darauf aufprallte, wachte ich nicht wie gewohnt auf. Das Szenario wiederholte sich, immer und immer wieder. Die Umgebung änderte sich, der Aufbau änderte sich, aber am Ende war ich immer diejenige, die starb. Unruhig warf ich mich im Schlaf hin und her, und Nathans Versuche mich aufzuwecken waren zwecklos. Ich war in einer Art Alptraum gefangen, der mich erst viele Stunden später wieder freiließ. Als ich dann keuchend und schwitzend erwachte, war es dunkel um mich herum. Das Feuer des Kamins war erloschen, nur ein paar größere Holzscheite glühten noch. Von draußen rauschte ein schwacher Wind am Dach der Hütte. Doch je wacher ich wurde, desto mehr merkte ich, dass es nicht nur ein schwacher Wind war. Es war mehr ein Sturm, ein lautes Heulen. Auch ein stetiges Prasseln ertönte, das mir zuvor nicht aufgefallen war. Ich setzte mich vorsichtig auf und sah mich nach Nathan um. Er lag nicht neben mir, und auch sonst konnte ich ihn im Dunkeln nirgends erkennen. Leise rief ich ein paar Mal nach ihm, doch als er auch darauf nicht reagierte, begann ich mir Sorgen zu machen. Wo war er? Ich rappelte mich auf und taumelte schlaftrunken in Richtung des Schlafzimmers.

Als ich die Türklinke herabdrücken wollte, stellte ich fest, dass sie bereits offen war. Mit einem leisen Knarren drückte ich die dünne Holztüre auf. In diesem Moment zuckte ein Blitz vom Himmel, und durch das kleine Fenster im Inneren des Raumes konnte ich das leere Bett vor mir sehen. Weder Darek noch Nathan waren zu finden. Fröstelnd sah ich auch noch mal in der Küche nach, doch auch dort blieb ich erfolglos.

Wo waren die beiden? Es war so gar nicht typisch, dass sie mich allein ließen. Im Grunde machte es mir nichts aus, doch ich machte mir Sorgen. Besonders um Darek, denn wenn sein Fieber nicht seltsamerweise auf einmal verschwunden war, gehörte er ins Bett.

Dann plötzlich hörte ich es.

Ein lautes, wütendes Rufen. Die Worte konnte ich nicht verstehen, denn der Donner, der in diesem Moment einsetzte, übertönte sie, doch ich war mir ganz sicher: Irgendjemand hatte gerade eben etwas gerufen. Und zwar draußen. Waren sie etwa in diesen Sturm raus gegangen? Doch wieso sollten sie? Von Sekunde zu Sekunde stieg meine Sorge weiter an. Was wenn irgendetwas geschehen war? Wenn die Engel wiedergekommen waren, und sie jetzt draußen kämpften? Oder war vielleicht Luzifer hier…?

Schockiert zog ich mir, so schnell ich konnte, meine Jacke über und schob den ungeheuer schweren Schrank einen kleinen Spalt zur Seite, gerade weit genug, dass ich hindurchklettern konnte. Von einer Sekunde auf die Nächste war es eiskalt. Dicke, schwere Tropfen fielen mit rasender Geschwindigkeit vom Himmel und verursachten ein ohrenbetäubendes Rauschen. Helle Blitze zuckten in unregelmäßigen Abständen vom Himmel und erhellten meine Umgebung für wenige Sekunden. Zwar war der Schnee geschmolzen, doch das nasse Gras war schlammig und aufgeweicht Die dunklen Tannen ragten nach oben und bogen sich gefährlich im Sturm. Ein grollender Donner ließ den Boden erbeben, lauter und stärker als ich es jemals zuvor gehört hatte. Es schien, als seien wir mitten im stärksten Punkt des Sturmes. Der Sturm peitschte mir meine Haare ins Gesicht, und ich konnte kaum etwas erkennen, weil mir immer wieder Tropfen in die Augen fielen, die der Wind in alle möglichen Richtungen herumwirbelte. Verzweifelt versuchte ich, irgendwo Darek und Nathan zu erkennen. Und dann sah ich sie. Die beiden Halbengel standen sich gegenüber, in einer bedrohlichen und angespannten Haltung. Sie standen am Rande eines kleinen Hanges, der einige Meter neben der Hütte steil nach unten abfiel.

Dareks silberne, glatte Haare waren tropfnass, genauso wie Nathans Locken. Sie hingen in seine Augen, stärker als sonst. In seinem Blick konnte ich Wut erkennen.

Die Flügel der Beiden bildeten einen seltsamen Anblick. Da sie sich seitlich gegenüberstanden und sich einander zugedreht hatten, wirkte es, als würden die beiden Flügelpaare zu einem einzigen Engel gehören, der auseinandergerissen war. Als ich das feststellte, krachte ein einziger, unglaublich riesiger Blitz genau zwischen ihnen in einen Baum weiter weg. Dieses Bild war so unglaublich, dass ich versuchte, es irgendwie in meinen Kopf einzubrennen um es nicht wieder zu vergessen..

Dann verdunkelte sich wieder alles, und nur Dareks Flügel fielen noch auf. Trotz dem Regen, der auch von seinen Haaren, seiner Nase und seinem Kinn tropfte, waren die Flammen hell und züngelten sich in den Himmel. Doch auch Nathans Flügel hatten einen besonderen Glanz. Immer, wenn irgendwo ein Blitz aufleuchtete, schimmerten sie unglaublich hell auf und wirkten, als seien sie aus Diamanten angefertigt.

Ich sah, wie die beiden sich anschrien. Wegen des heftigen Donners, der auf den Blitz folgte, konnte ich ihre Worte aber nicht verstehen.

Vorsichtig kämpfte ich mich vorwärts. Der Wind drohte mich mitzureißen, und ich hatte tatsächlich das Gefühl, als sei er stark genug um mich einfach auf den Boden zu werfen oder in die Luft emporzuheben. Durch die wechselnden Richtungen, in die er die Regentropfen warf, war ich innerhalb von Sekunden von allen Seiten nass.

Mit jedem Schritt, den ich näher kam, wurden Nathans und Dareks Stimmen, die versuchten den Sturm zu übertönen, lauter. Sie hatten mich offensichtlich noch nicht bemerkt, und ich versuchte ihr Gespräch zu verstehen.

 

„Was soll das heißen?“, schrie Nathan wütend. „Das weißt du ganz genau!“, rief Darek zurück. Noch immer konnte man die Spannung zwischen den beiden förmlich sehen, die sich immer weiter aufzubauen schien. Wieder schlug ein Blitz nicht weit von uns ein, und dem lauten Krachen den er verursachte nach traf er auf einen Baum.

„Ich habe sie in die Hölle geschickt. Für meinen Vater!“, hörte ich Darek wieder. Noch immer wusste ich nicht, um was es ging.

„Für deinen Vater? Also hast du diese Menschen getötet, um ihm eine Armee aufzubauen! Das ist deine Aufgabe?“, brüllte Nathan. Ein Donnerschlag übertönte seine nächsten Worte, doch ich konnte von seinen Lippen ablesen, dass er laut fluchte.

„Ja, das ist sie. Und im Gegenzug hat er mir Kraft gegeben. Wieso regst du dich so auf? Was hast du erwartet, dass er ein großes Herz hat und mich deswegen durch die Welt laufen und Spaß haben lässt?“, knurrte Darek. Nathan sah ihn fassungslos an, und auch ich versuchte seinen Worten zu folgen.

„Du hättest es uns sagen müssen!“

„Was hätte das schon geändert?“

„Es hätte vieles geändert. Sie hätte eine andere Wahl getroffen, als mit dir durch Städte zu reisen und zusammenzuarbeiten. Sie hätte dich vielleicht nichtmal retten wollen!“

Verwirrt sah ich zwischen ihnen hin und her. Der Boden bebte, und eine besonders starke Sturmböe riss mich aus dem Gleichgewicht. Von was redeten sie? Ging es etwa um Dareks Aufgabe? Das, wovon er zuvor gesprochen hatte? Aber was meinte er damit, er habe Menschen getötet und eine Armee zusammengestellt? „Denkst du das wirklich? Denkst du, sie würde sich deswegen einfach mit dir zufriedengeben? Du bist so ein naiver Idiot.“ Darek lachte sarkastisch auf. Doch Nathans Gesicht blieb versteinert, als er laut zurück schrie. „Halt den Mund, Darek! Du hast schon einmal in meinem Leben alles kaputt gemacht, noch mal werde ich das nicht zulassen!“ Der Engel machte einen bedrohlichen Schritt auf den Antichristen zu. Das war genug. Wenn ich nichts unternahm, würden sie womöglich aufeinander losgehen. War das der Weg, wie es enden sollte? Wir hatten Einiges riskiert, um Darek zu retten. Ich hatte das Gefühl gehabt, als seien die beiden erstmals wieder miteinander ausgekommen, seit so langer Zeit des Hasses. Ich konnte mir nicht vorstellen, ohne Nathan oder Darek weiterzumachen. Für mich gehörten die beiden dazu, wir waren sowas wie ein Team. Wir waren die letzte Streitmacht, die das Gute gegen Luzifer noch hatte. Und nun sollte das kaputtgehen? Vielleicht war es genau das, was der Teufel wollte. Vielleicht war das sein Plan. Wenn er uns auseinanderbrachte, dann wären wir schwächer. Viel schwächer. Unsere jetzige einzige Chance bestand darin, zusammen gegen ihn anzutreten. Und wenn er uns trennte, war das Unmöglich. Wir brauchten uns gegenseitig.

Ich schluckte, wartete den nächsten Blitz ab und lief dann weiter. Gerade als Darek ausholen wollte, um Nathans Gesicht mit seiner Faust einen Hieb zu versetzen, stellte ich mich zwischen sie. Da der Wind am Rande des Hanges die Richtung geändert hatte, flatterten meine Haare abrupt nach hinten und wehten davon. Ich streckte meine beiden Arme aus und schob sowohl Nathan als auch Darek ein Stück nach hinten, und das genau in der Sekunde, als der Donner einsetzte. Ich spürte eine Kraft in mir, die ich zuvor noch nie gespürt hatte, als ich dann das Wort erhob. „Hört auf!“, schrie ich. Und Nathans Augen weiteten sich. Auch Darek starrte verwirrt zu mir herab. „Hört endlich auf, ihr dummen Idioten!“ Ich keuchte auf, weil ich Erleichtert darüber war, dass sie mir zuhörten. „Was ihr hier macht bringt uns nicht weiter! Ihr seid doch völlig bescheuert! Die Welt geht unter, kapiert ihr das nicht? Da draußen sind Engel, die uns töten wollen. Da ist Luzifer, der womöglich nur darauf wartet, dass wir getrennte Wege gehen. Und da sind Menschen, die Hoffnungen haben! Hoffnung auf eine Zukunft. Hoffnung auf Rettung. Und wir sind diese verdammte Rettung! Aber alles was ihr beiden Sturköpfe tun könnt, ist zu streiten? Ich bitte euch, lasst nicht zu, dass das geschieht. Wir haben keine Chance das alles durchzustehen, wenn wir uns dazu verleiten lassen, und gegenseitig zu bekriegen.“ Obwohl ich gegen Ende kraftloser und leiser geworden war, hatten die Beiden mich verstanden. Es schien, als sei das Gewitter innerhalb von Sekunden vorbeigezogen. Noch immer schüttete es, und auch der Sturm wehte noch stark, doch die Blitze waren weniger hell und der Donner ließ länger auf sich warten, ehe er erklang. Und am Horizont meinte ich, einen hellen Schimmer erkennen zu können, wo bald die Sonne aufgehen würde. Schwer atmend sah ich von Nathan zu Darek, die mich noch immer anstarrten. Dann bemerkte ich, wie Darek leicht schwankte.

Ich hatte es gewusst. Er war noch immer krank, und nach diesem Sturm würde er das wohl auch erstmal bleiben. Kurz blickte ich fragend zu Nathan, der irgendwie geistesabwesend wirkte und dann schwach nickte. Dann trat ich näher an Darek heran und fasste ihm an die Stirn. Noch immer war sie glühend heiß. Im nächsten Moment brach er auch schon zusammen und landete bewusstlos auf dem kalten, nassen Grasboden.

Ich versuchte, ihn aufzufangen, aber ich war zu schwach. Nach kurzem Zögern und einem verwirrten Kopfschütteln kam auch Nathan neben mich. Er half mir, Darek nach drinnen zu tragen. Wir trockneten seine Haare und zogen ihm sein Oberteil aus. Dann wickelten wir ihn in mehrere Decken ein und trugen die Matratze des Bettes in die Nähe des Kamins, damit er genügend Wärme abbekam.

Währenddessen schwieg Nathan. Da ich nicht wusste, über was ich hätte reden sollen, tat ich es ihm gleich und konzentrierte mich auf Dareks Versorgung. Ich war unglaublich erleichtert, dass mir Nathan dabei half, und sich nicht weigerte oder über den Streit sprach.

Erst als wir fertig waren und uns auf zwei der Stühle setzten, brach er das Schweigen.

„Cassie, es tut mir leid.“, brachte er hervor. Ich war verwundert, das aus seinem Mund zu hören.

„Für was tut es dir leid?“, fragte ich, da ich mir nicht sicher war.

„Ich habe ihm gesagt, dass wir besser draußen weiterreden. Ich wollte nicht, dass du aufwachst. Du hattest sowieso schon so einen unruhigen Schlaf.“, erklärte der Engel.

„Wegen was habt ihr gestritten?“, fragte ich, um meinen Verdacht zu bestätigen.

„Es ging um Dareks Aufgabe. Um die, die Luzifer ihm im Gegenzug für die ganze Macht gegeben hat.“, sagte er leise. „Und was ist das für eine Aufgabe?“ Nathan seufzte. „Er hat eine Art Armee für den Teufel aufgebaut, damit Luzifer am Ende die Bibel neu schreiben und selbst auf der Erde herrschen kann.“ Ich erinnerte mich daran, was geschah, als ich das erste Mal mit Darek allein gewesen war. An das lebhafte Gebäude, in dem wir gestanden hatte. Und an die Schreie der Menschen, die mich bis in meine Träume verfolgt hatten. Erst jetzt ergab das einen Sinn. Immerhin war die Stadt am nächsten Morgen zerstört worden. Ich hatte mich sowieso gewundert, was es gebracht haben sollte, in der Nacht davor nur ein paar Menschen zu töten. Jetzt wusste ich, wieso.

Darek hatte sie also nicht einfach nur getötet. Er hatte sie direkt in die Hölle verfrachtet um sie dort auf Luzifers Seite zu drehen. „Wie oft?“, fragte ich schockiert. „Wie oft hat er das schon gemacht?“

Nathan zuckte schwach mit den Schultern. „Seit wir uns getroffen haben noch einige Male. Und genau deswegen war ich so wütend. Er arbeitet noch weiter für den Teufel, obwohl er bei uns behauptet, er würde gegen ihn sein. Was, wenn er uns nur benutzt?“, knurrte er. Kurz spürte ich Misstrauen in mir aufkommen, doch dann schüttelte ich den Kopf. „Nein. Darek ist keine gute Person, aber ich bin mir sicher, das würde er nicht tun. Vielleicht arbeitet er weiter für das Böse, damit er nicht seine Macht verliert und Luzifer keinen Verdacht schöpft. Denn ohne Darek sind wir weitaus schlechter dran, du weißt selbst wie mächtig er ist, wenn er gerade gesund ist.“, überlegte ich. Nathan schien verärgert darüber, dass ich ihm nicht zustimmte.

„Du bist viel zu leichtgläubig, Cassie. Darek war schon immer ein manipulativer, hinterhältiger Kerl. Und von Anfang an hast du ihm viel zu schnell vertraut!“, sagte er mit einem vorwurfsvollen Blick.

Doch ich sah nicht ein, wieso ich nicht auf mein Gefühl vertrauen sollte. Darek hatte weder mir noch Nathan etwas Schlimmes angetan, obwohl er besonders anfangs die Gelegenheit dazu gehabt hatte.

„Habe ich nicht! Ich konnte ihn nicht ausstehen, und ich mag ihn auch jetzt noch nicht besonders. Aber Darek ist nicht so schlecht, wie du ihn darstellst. Er ist auf unserer Seite, und du solltest das endlich einsehen und vielleicht mal deine Vergangenheit aus dem Spiel lassen. Denn nur aus diesem Grund bist du doch so wütend auf ihn: Weil du ihm noch immer nicht verziehen hast.“, sagte ich, ehe ich darüber nachgedacht hatte. Nathans Blick veränderte sich, er sah für einen kurzen Moment verletzt aus. Sofort bereute ich meine Worte, doch als ich mich entschuldigen wollte, stand er einfach auf und machte eine abfällige Geste mit der Hand.

Seine Verletzlichkeit verschwand und machte wieder der kalten, abweisenden Mauer platz, die er um sich herum aufgebaut hatte.

Ohne ein weiteres Wort ging er ins Schlafzimmer, knallte die Türe zu und ließ mich allein.

Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Er hatte schließlich Grund genug, wegen seiner Vergangenheit wütend zu sein. Und dass er Darek noch nicht verziehen hatte, war auch verständlich.

Ich warf einen traurigen Blick auf den schlafenden Antichristen, dann beschloss ich, noch ein bisschen frische Luft zu schnappen.

Das Gewitter war mittlerweile ganz fort, nur der Wind und ein paar dunklere Wolken waren noch geblieben. An der Stelle, an der ich zuvor den hellen Schein gesehen hatte, ging in genau dieser Sekunde die Sonne auf. Tiefrote Strahlen färbten die unteren Ränder der Wolken, und dort, wo das Licht langsam schwächer wurde, wurde aus dem Rot ein schwaches Rosa und Lila.

Ich lief zur Kante der Klippe zurück, wo sich Nathan und Darek noch zuvor gegenübergestanden hatten.

Wieder schlug der Wind stark um, und die großen Fichten und Tannen rauschten laut. Ich schloss die Augen und genoss den Moment.

Und in der Sekunde, in der die Sonne als schöne, runde Kugel den Horizont erklomm, fasste ich einen Entschluss: Diese Welt würde nicht Untergehen.

Ich würde nicht zulassen, dass Luzifer diesen Krieg gewann. Er war mächtig, und er war schlau. Aber letztendlich würden wir ihn besiegen, koste es was es wolle. In den nächsten Wochen würden wir nur ein Ziel haben: Kraft sammeln. Mittlerweile war ich mir beinahe völlig sicher, dass Nathan stärker werden konnte indem er Gutes tat. Und genau das würden wir machen: Sobald es Darek besser ging mussten wir an Orte gehen, in denen Krieg oder Chaos herrschte, und Nathan würde Menschen retten. So konnte er stärker und mächtiger werden, und wir halfen gleichzeitig noch ein paar wenigen Leuten. Darek würde wohl oder übel weiter für seinen Vater arbeiten müssen, aber vielleicht konnten wir eine Möglichkeit finden, wie er wenigstens weniger Menschen zu ihm brachte. Und ich selbst würde an meiner körperlichen Kraft arbeiten müssen. Ich musste lernen, mich selbst zu verteidigen und auf mich selbst aufpassen zu können. Während die ersten angenehm warmen Strahlen der Sonne auf mein Gesicht fielen und mich erschaudern ließen, ging ich im Kopf diesen Plan immer und immer wieder durch. Wir würden es schaffen. Und am Ende würde alles gut werden. Nathan konnte zurück in den Himmel, und würde mich vergessen. Mit etwas Glück würde auch ich ihn vergessen. Darek wäre ein normaler Mensch und könnte irgendwo arbeiten und sich eine Wohnung suchen. Aber am allerwichtigsten war: Ich konnte zurück zu meinem Vater, meinem Zuhause und meinem alten, langweiligen Leben. Und die Welt würde sich weiterdrehen.

Chapter 9

 

Ich weiß nicht, wie lange ich dort draußen gestanden hatte, doch als ich mich endlich entschied, wieder in die warme Hütte zu gehen, stand die Sonne viel höher als zuvor. Nathan war noch immer nirgends zu entdecken, wahrscheinlich war er zu stolz um wieder herauszukommen. Aber als ich leise an Darek vorbeigehen wollte, regte sich der Antichrist.

„Cassie…“, murmelte er leise. Sofort war ich neben ihm und sah ihn besorgt an.

„Wie fühlst du dich, Darek?“, fragte ich besorgt. Er lächelte.

„Wenn du bei mir bleibst ganz gut.“

„Ich werd’s versuchen.“, sagte ich mit einem schwachen Lächeln. Irgendwie war ich erleichtert, dass Darek noch immer er selbst war.

„Es tut mir leid, wegen vorhin.“, murmelte er. Ich nickte schwach. „Ist schon okay. Aber Nathan hatte Recht in einem Punkt: Du hättest es uns sagen müssen.“

„Ich weiß. Aber ich hatte Angst, dass du dann nicht mehr mit mir zusammenarbeiten wolltest.“

„Hm.“

„Was hältst du von einem kleinen Gute-Besserung-Kuss?“, fragte er mit einem amüsierten Glitzern in den Augen. Ich sah ihn gespielt vorwurfsvoll an.

„Nicht besonders viel.“

„Schade. Dabei würde es mir danach bestimmt um einiges besser gehen.“, gab er zu bedenken. Ich lächelte.

„Vergiss es, Darek. Du wirst auch so wieder gesund werden. Deine Wunden sehen schon gar nicht mehr so schlimm aus und das Fieber kommt von der Erschöpfung. Ich werd mal schauen, ob es hier noch Irgendwas zu essen gibt.“

Darek machte ein trauriges Gesicht, lächelte aber schon gleich wieder. Währenddessen war ich aufgestanden und begann, die Schränke zu durchsuchen. Ich fand ein paar Konservendosen, in denen laut Aufschrift Nudelsuppe sein sollte. Für einen Fieberkranken würde das schon reichen. Nachdem ich etwas Wasser aufgewärmt hatte und die Suppe bereits leicht köchelte, kam Nathan aus dem Schlafzimmer. Sein Gesicht war noch immer kalt und gefühllos, und ohne ein Wort zu sagen verschwand er nach draußen.

Ich sah ihm nach. Vielleicht war er jetzt derjenige, der frische Luft schnappen wollte. Wenn er zurückkam, würde ich mich bei ihm entschuldigen.

Darek setzte sich leise keuchend auf und schloss kurz angestrengt die Augen. Wahrscheinlich drehte sich für ihn alles um sich herum.

Ich schöpfte zwei Teller der Suppe aus und setzte mich dann damit neben ihn.

„Hier. Aber pass auf, sie ist noch heiß.“, sagte ich und hielt ihm vorsichtig den Teller und einen Löffel hin. Darek nahm ihn entgegen und lächelte mich dann an.

„Ich hoffe, sie ist nicht versalzen?“, fragte er neckisch. Ich verdrehte die Augen und pustete meinen Teller an, damit ich mich nicht verbrühte. Als ich allerdings den ersten Löffel probierte, stellte ich fest, dass sie tatsächlich versalzen war.

Hoffentlich war Dareks Fieber stark genug, dass er das nicht schmeckte.

Doch der Antichrist hatte ganz andere Probleme. Seine Hand zitterte so stark, dass er die Hälfte der Suppe, die auf seinem Löffel war, wieder herunterschüttelte. Noch dazu vergaß er zu pusten und hustete keuchend, als er sich die Zunge verbrannte. Ich konnte mir das nicht mit ansehen.

Kurzerhand nahm ich ihm Löffel und Teller aus der Hand. Ich pustete für ihn und hielt es ihm dann vor den Mund. Sein Blick war amüsiert.

„Was machst du da, Kleine?“

„Nach was sieht es denn aus? Mach den Mund auf oder ich kipp es dir über den Kopf.“, sagte ich. Doch seinem Blick hielt ich nicht stand, und ich sah zur Seite.

Er lachte leise und tat dann wie geheißen. Zum Glück ersparte er mir weitere Kommentare, bis der Teller leer war. Als ich dann aufstehen und seinen Teller wegbringen wollte, packte er plötzlich mein Handgelenk und hielt es so fest, dass es beinahe schmerzte. Ich verzog das Gesicht und sah ihn verwirrt an. „Was soll das? Lass mich los“, sagte ich. Doch er dachte nichtmal daran.

„Danke, Cassie. Das war sehr nett von dir.“, sagte er mit seiner warmen, angenehm rauen Stimme. Seine Augen hatten meine fixiert und ich starrte ihn an. Dieses tiefe Rot, was unergründliche Weiten wiederzuspiegeln schien, und dann die helleren Lichtreflexe darin…

„Was macht ihr da?“, hörte ich Nathan laut sagen. Ich erwachte wieder aus meiner seltsamen Faszination und stellte fest, dass ich Dareks Gesicht weitaus näher gekommen war, als ich es gewollt hatte. Als der Antichrist Nathans Stimme hörte, ließ er mein Handgelenk los und machte ein beleidigtes Gesicht.

„Schade. Die Spaßbremse ist zurück.“, sagte er nur.

Völlig verwirrt sah ich von Nathan zu Darek und wieder zurück. Was war da eben geschehen? Und wie musste das für Nathan ausgesehen haben? Wütend sprang ich auf und machte einen Schritt von Darek weg. „Du bist so ein Mistkerl.“, sagte ich nur und drehte mich dann um. Mein Handgelenk brannte und tat weh, doch ich wollte mir nichts anmerken lassen.

Nathan hielt eine kleine Plastiktüte in der Hand, und nachdem er sich von seiner Starre erholt zu haben schien, ging er damit in die Küche und packte die Sachen aus, die er offensichtlich irgendwo eingekauft hatte: Etwas Obst und Gemüse, Nudeln, weitere Konservendosen, Soße und sogar ein paar Minutensteaks, die man schnell und einfach aufwärmen konnte. Außerdem etwas zu trinken, eine Tafel Schokolade (wofür ich ihm sehr, sehr dankbar war) und Grillanzünder. Ich traute mich nicht irgendetwas zu sagen, weil ich noch immer viel zu durcheinander wegen Dareks seltsamer Wirkung auf mich war. Also brachte ich nur ein leises „Danke“ heraus.

Nathan reagierte nicht darauf, sondern räumte die Sachen ordentlich in die Schränke ein.

Mit einem leichten Seufzen setzte ich mich auf einen der Stühle. Ich hasste die angespannte Stimmung, die nun herrschte. Und ich hatte Angst, die Stille zu brechen und etwas Falsches zu sagen.

Nathan schöpfte sich etwas von meiner Suppe und setzte sich dann neben mich.

Als er den ersten Löffel genommen hatte, verzog er leicht das Gesicht.

„Die ist versalzen.“, sagte er.

Ich zuckte zusammen und fluchte innerlich leise. Darek hatte es nicht gemerkt, aber dass Nathan es schmeckte hätte ich mir denken können.

„Ich weiß.“, murmelte ich nur. Nathan sah mich kurz an, dann aß er weiter.

„Und jetzt? Was machen wir jetzt?“, fragte er in die wieder entstandene Stille hinein.

Ich zuckte schwach mit den Schultern. War es eine gute Idee, schon jetzt meinen Plan zu erklären? „Ich denke, wir verfolgen weiter unser Ziel. Luzifer zu finden?“, fragte ich vorsichtig.

„Wahrscheinlich.“

„Und ähm… vielleicht sollten wir erstmal Kraft sammeln?“

„Hmhm.“

„Und Darek muss gesund werden…“

„Jap.“

Ich hasste es, wenn er nicht richtig antwortete. Nathan schien sich völlig auf die versalzene Suppe zu konzentrieren und mir nur beiläufig zuzuhören. Er war immernoch sauer.

„Hör zu Nathan. Es tut mir leid was ich vorhin gesagt habe! Ich hab nicht nachgedacht und ich hab dich damit verletzt und es tut mir eben leid. Würdest du jetzt bitte aufhören, dich so zu verhalten?“, fragte ich dann vorwurfsvoll.

Der Engel legte seinen Löffel zur Seite und drehte sich zu mir.

„Oh ja, Nathan. Hörst du, wie du sie in den Wahnsinn treibst mit deinem Verhalten?“, lachte Darek von seiner Matratze aus. Er hatte sich wieder hingelegt und schien uns zuzuhören.

Nathan beachtete den Antichristen nicht im Geringsten. Er suchte den Blickkontakt zu mir und senkte dann seine Stimme, damit Darek nicht alles mithören konnte, was er sagte.

„Es ist okay, Cas. Du hast mich nur an die Vergangenheit erinnert, und vielleicht kannst du dir vorstellen, dass ich darüber nicht allzu gerne nachdenke. Was mich viel mehr ärgert, ist dass du dich so schnell von unserem armen kranken Pflegefall überzeugen lässt. Er hat die totale Macht über dich, wenn du zulässt, dass er dir so nahe kommt.“

Ich sah kurz zu Darek.

„Aber er würde mir nichts Schlimmes tun. Da bin ich mir sicher, Nathan. Ich weiß, es fällt dir schwer, ihm zu vertrauen, aber Darek ist anders. Ich weiß nicht, wie er früher war, aber du hast selbst gesagt, ihr wart mal Freunde. Also muss es etwas gegeben haben, was dich ihm hat vertrauen lassen.“, versuchte ich ihn zu Überzeugen. „Er tut dir nichts Schlimmes?“ Nathans Stimme war wieder lauter, und er nahm sanft meine Hand und deutete auf mein rotes und noch immer schmerzendes Handgelenk. „Das da ist also nicht schlimm genug?“

Ich wich seinem Blick aus.

„Nein. Denn er könnte viel schrecklichere Sachen machen. Stell dir mal vor, er wäre unser Feind. Was wäre, wenn er sich nicht freiwillig bereiterklärt hätte, uns zu helfen? Dann hätten wir wirklich keine Chance. Du weißt selbst, wie mächtig er durch Luzifer ist. Wäre er nicht sowas wie unser Verbündeter, wären wir längst tot!“, warf ich ein.

Plötzlich stand Darek neben uns. Er schwankte zwar, aber anscheinend ging es ihm gut genug dass er mit beiden Händen zwischen uns auf den Tisch schlagen konnte.

„Es reicht jetzt.“, sagte er. „Ich finde es ja ganz süß, dass ihr über mich redet, aber am besten klärt Nathan sein Problem mit mir allein. Ich brauche kein Mädchen, das sich schützend vor mich stellt.“, knurrte er. Verwirrt sah ich ihn an.

„Darek, leg dich wieder hin und ruh dich aus…“, fing ich an, doch Nathan unterbrach mich.

„Willst du tatsächlich einen Streit anfangen? Du bist im Moment wirklich nicht in der Lage dafür. Du solltest Cassie lieber danken, dass sie gestern zwischen uns getreten ist, als dich deswegen zu beschweren. Immerhin ist sie die einzige Person auf dieser ganzen Welt, die noch wirklich an dich glaubt und dich verteidigt.“

Darek starrte ihn an. Kurz hatte ich das Gefühl, als wolle er etwas sagen oder irgendetwas machen, doch dann lehnte er sich zurück und setzte sich wortlos an einen der anderen Stühle.

„Also gut. Wir klären das, wenn es mir besser geht, Engelchen.“, hauchte er. Dann wandte er sich an mich.

„Und du erklärst uns jetzt deinen Plan, Cassie.“ Ich war verwirrt, wie er darauf kam, dass es einen Plan gab. Immerhin hatte ich das in keiner Weise erwähnt. Aber wahrscheinlich erwartete er auch gar keine richtige Antwort und es war mehr als eine Art Scherz gemeint. Ich zuckte leicht mit den Schultern und fing an zu reden.

Ich erklärte den beiden meine Beobachtungen im Bezug auf Nathans Kraft, und Darek stimmte mir zu. Auch Nathan schien den Gedanken schon gehabt zu haben.

Dann schlug ich ihnen vor, was ich geplant hatte: An Orte zu gehen, wo Chaos herrschte, damit Nathan stärker und mächtiger wurde indem er Leben rettete. Darek könnte unterdessen versuchen, mir ein bisschen mit meiner eigenen, körperlichen Kraft zu helfen.

Und vielleicht könnten wir irgendwie Kontakt zu den Engeln aufnehmen, die sich für unsere Seite entschieden hatten. Denn gegen Luzifer konnten wir jede Hilfe gebrauchen.

Als ich fertig war, nickte Nathan zustimmend. Auch Darek erklärte sich einverstanden, und ich war erleichtert, dass es keine großartige Diskussion gab und Nathan nichts dagegen einzuwenden schien, dass Darek mein Training übernahm.

Ich sorgte dafür, dass der Antichrist sich wieder hinlegte und ging dann freiwillig nach draußen, um ein wenig trockenes Geäst einzusammeln, das wir zum anzünden und erhalten des Feuers benutzen konnten.

Allerdings war es nach dem gestrigen Sturm beinahe völlig unmöglich, irgendetwas zu finden, was nicht vor Nässe triefte.

Als ich mich gerade gebückt hatte, um einen dünnen Stock unter einem Stein hervorzuziehen, berührte mich plötzlich eine Hand von hinten an der Schulter. Alarmiert wirbelte ich herum und stolperte sofort einen Schritt zurück, direkt über den Stein. Hätte nicht Nathans warme Hand mich gerade noch aufgefangen, wäre ich wahrscheinlich mitten im Matsch gelandet, und hätte noch dazu die paar wenigen Äste, die ich bereits gefunden hatte, fallen gelassen. Verwundert sah ich zu ihm auf. „Was machst du hier?“, fragte ich. „Ich wollte noch mal mit dir reden. Ohne Darek. Aber in der Hütte hatte ich dazu ja keine Möglichkeit, und solange er ans Bett gebunden ist, ist das hier die einzige Chance die ich habe.“, erklärte er. „Mit mir reden, über was?“, fragte ich leicht misstrauisch.

„Über deinen Plan.“ Nathans Blick war ernst und eindringlich. „Das alles ist schön und gut, und ich denke, dass ich so auch wieder an Kraft gewinnen kann. Aber ich halte nichts davon, dich unnötig in Gefahr zu bringen.“ „Was meinst du damit, mich in Gefahr zu bringen? Ich habe es doch selbst vorgeschlagen, also liegt es ja wohl in meiner Verantwortung. Außerdem werde ich ja immer bei Darek sein, also kann mir kaum etwas Schlimmes passieren oder nicht?“ Ich versuchte ruhig zu klingen. „Genau da liegt das Problem! Du wirst durchgehend bei Darek sein, und ich weiß nicht ob ich immer ein Auge auf dich haben kann. Der Gedanke dich allein mit ihm zu lassen… gefällt mir nicht.“ Ich hätte mir denken können, dass Nathan etwas dagegen hatte. Es wäre auch zu seltsam gewesen, wenn er einmal mit einem Vorschlag von mir einverstanden sein könnte. „Nathan, das hier ist meine Entscheidung. Ich weiß, du brauchst mich um zurück in den Himmel zu kommen. Aber das gibt dir nicht das Recht, über mich zu bestimmen! Du willst nicht, dass ich mir Sorgen um dich mache? Dann erwarte nicht von mir, dass ich akzeptiere dass du dir welche um mich machst. Ich kann vielleicht noch nicht gut auf mich selbst aufpassen, aber ich kann sehr wohl entscheiden mit wem ich meine Zeit verbringe und ob ich ihm vertraue.“, sagte ich leicht wütend. Nathan starrte mich an. „Begreif es doch endlich, Cas! Darek spielt mit dir. Er macht was er will und nutzt jede Gelegenheit schamlos aus um ‚Spaß’ zu haben. Aber denkst du er ist auch nur im Geringsten wirklich an dir interessiert? Er nutzt dich nur für seine Zwecke aus, damit Luzifer ihn am Ende nicht umbringen kann. Alles was er tut ist reiner Egoismus! Er tut nichts wirklich für dich oder für mich, sondern er handelt für sich selbst. Es gibt nichts und niemanden, was ihm wichtiger ist als sein eigenes Wohlbefinden, und wenn es darauf ankommt wird er das auch über dein Leben stellen. Genau das ist der Grund warum ich nicht will, dass du allein bei ihm bist!“ Wütend sah ich in seine Augen und hielt seinem Blick stand. „Du sagst, Darek benutzt mich nur? Er ist nur hier, weil er mich für seine Zwecke braucht? Nathan, ich bitte dich. In diesem Punkt unterscheidest du dich doch auch nicht von ihm.“ Ich hatte leise gesprochen, mit einem verbitterten Unterton, und erneut bereute ich meine Worte sofort. Doch ich hatte sie ernst gemeint. Natürlich unterschied Nathan und Darek so einiges, und Nathan würde auch niemals sein eigenes Wohl direkt an erste Stelle setzen, das hatte er mir schon oft genug bewiesen. Aber dennoch brauchte er mich nur für einen einzigen Zweck: Um zurück in den Himmel zu kommen. Dass diejenige, die ihn sehen konnte, gerade ich gewesen war, spielte dabei eigentlich keine große Rolle. Es hätte auch jedes andere Mädchen oder auch ein junger Mann oder eine alte Frau sein können, und er hätte nicht anders gehandelt. Aber trotzdem hatte ich nicht das Recht dazu, ihm das zum Vorwurf zu machen, denn ich konnte ihn ja auch verstehen. Es war nichts weiter als mein eigener Stolz, der mir zu schaffen machte und meine seltsamen Gefühle wenn es um den Engel ging. Plötzlich wurde ich hart nach hinten geschubst, und knallte mit dem Rücken gegen einen Baumstamm. Nathans Blick war nun noch wütender, und ich konnte auch verstehen warum. Ich hätte das nicht zu ihm sagen sollen. Kleine Äste zerkratzen mir die Seite, doch ich spürte es fast nicht. Beinahe sofort war Nathan wieder direkt vor mir, und ich hatte keine Möglichkeit mehr einen Schritt zurück zu machen. Dieses Mal wich ich seinem Blick aus und sah auf den Boden, doch er packte mein Kinn und drückte es zu sich hoch, sodass ich keine andere Wahl hatte als ihn anzusehen. Auf einmal war er meinem Gesicht so nah, dass ich bereits seinen Atem auf meiner Wange spüren konnte. Mein Herz pochte leicht und ein warmes Kribbeln durchfuhr mich, dass sich unglaublich falsch anfühlte und doch wunderschön. Ich hatte Angst vor seiner Wut und sah ihn unsicher an. „Denkst du wirklich so?“ Erst jetzt, am Klang seiner Stimme, erkannte ich, dass er gar nicht mehr wirklich wütend war. Er war vielmehr… verletzt. Für einen kurzen Moment durfte ich wieder hinter seine Mauer schauen. Gerade als ich antworten wollte, ließ er mich mit einem schwachen Kopfschütteln verstummen. „Du musst nichts sagen. Ich kann das verstehen. Hör mir nur bitte zu, Cassie. Als ich sagte, ich brauche dich, da habe ich nicht nur deine Gabe gemeint.“ Er schien nach Worten zu suchen, und ich hatte das Gefühl als würde ihm das extrem schwerfallen. „Ich meine damit… wenn du in Gefahr bist, dann mache ich mir nicht nur Sorgen, nicht mehr in den Himmel zu können. Sondern ich sorge mich um dich. Obwohl du nur ein einfaches Mädchen bist und es immer wieder schaffst, dich noch mehr in Gefahr zu bringen als du es sowieso schon bist, hast du ein unglaublich gutes Herz. Du gibst jedem eine Chance, selbst jemandem wie Darek. Ich weiß nicht, vielleicht bist du ja auch einfach nur dumm.“ Ein schwaches Lächeln spielte um seine Lippen, ein Lächeln das ich so sehr vermisst hatte. „Jedenfalls will ich dass du weißt, dass du mir etwas bedeutest. Ich bin nicht wie Darek. Ich bin vielleicht ein sturer Idiot aber… wenn es um dein Leben ginge würde ich lieber weitere hundert Jahre als Unsichtbarer auf der Erde wandeln, als es zu gefährden. Und genau deswegen mache ich mir ja so viele Sorgen. Ich verlange schon so vieles von dir, und kann trotzdem nicht immer auf dich aufpassen.“ Es lagen Vorwürfe in seinem Gesicht, die er an sich selbst stellte, und ich wünschte mir nichts mehr als sie verschwinden zu sehen. Am liebsten hätte ich mich von dem Baum abgestoßen und ihn umarmt oder ihm irgendwie Nähe geschenkt, damit er sie vergessen konnte, doch ich traute mich nicht. Also sah ich ihn nur weiterhin an, und versuchte irgendetwas sagen zu können um ihm verständlich zu machen, dass alles in Ordnung war und dass er sich nicht zu Sorgen brauchte und dass ich glücklich war, dass er mir das gesagt hatte. Aber genau in dem Moment, als ich zu sprechen ansetzte, tauchte Darek neben uns auf. Seine Augen waren erschrocken, und er starrte mich erschöpft an. „Luzifer ruft mich.“ Ich brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, was er gesagt hatte. Das hieß, er sollte nun wieder losziehen um Menschen in die Hölle zu schicken. Und wenn er das nicht tat, würde Luzifer Verdacht schöpfen, seine Aufmerksamkeit auf Darek werfen und dann herausfinden, was wir vorhatten. Wir hatten keine Wahl. Und trotzdem wollte ich nicht, dass Darek ging. „Dann mach, was er dir befiehlt.“, sagte Nathan kalt. Er sah dabei keinen von uns beiden an, sondern starrte nachdenklich in die Ferne. „Das meinst du doch wohl nicht ernst, Engelchen.“, knurrte Darek. „Noch gestern hast du mir gedroht und mir Vorwürfe gemacht, weil ich seine Befehle ausführe und nun sagst du, ich soll damit weitermachen?“ Nathan zuckte mit den Schultern. „Geh endlich. Sonst wird er es tatsächlich noch merken und dann hat das hier alles keinen Sinn mehr.“ Verwirrt sah ich von Nathan zu Darek, und nickte dann schwach. „Darek, es tut mir leid aber ich glaube er hat recht. Das ist unsere einzige Möglichkeit, Luzifer nicht auf uns Aufmerksam zu machen.“ Darek schien kurz die Welt nicht mehr zu verstehen, aber dann fasste er sich und sah mir in die Augen. „Denk daran, dass du das gesagt hast. Ihr beide.“, sagte er verbittert. Dann war er fort. Erst jetzt ging Nathan ein Stück zurück, sodass ich mich von dem Baum wegdrücken konnte und auch mein Herzschlag sich wieder normalisierte. „Wie kommt es, dass du plötzlich damit einverstanden zu sein scheinst, dass er geht?“, fragte ich leise. Nathan nahm meine Hand. „Na, weil wir ihm jetzt folgen werden. Und vielleicht können wir es dann so aussehen lassen, als haben wir gar nichts mit ihm zu tun, sondern wollten einfach nur die Leute retten. Denn von unserer Existenz weiß Luzifer bestimmt schon lange. Das Einzige, was er nicht wissen darf, ist dass Darek auf unserer Seite steht. Oder zumindest auf deiner.“, erklärte er ruhig. Erst jetzt verstand ich sein Vorhaben, und nickte. Ich fragte mich nur, wie wir Darek aufhalten sollten oder irgendetwas bewirken konnten, denn ich wusste ja wie stark er war und höchstwahrscheinlich bekam er für diese Aufgabe noch mal einen extra Kräfteschub von Luzifer. Doch Nathan schloss auch schon die Augen und unsere Umgebung verschwamm. Als wir aber neben dem Brunnen wieder auftauchten, in dem ich schon als kleines Kind oft herumgeplanscht hatte, und neben uns die Bank stand, von der ich einmal runtergesprungen war und mir ein Bein gebrochen hatte, machte sich in mir ein unglaublich schreckliches Gefühl breit. Wir waren in meinem Zuhause, dem Dorf, in dem ich aufgewachsen war und in dem ich lebte. Aber Darek würde doch nicht… Erst jetzt erinnerte ich mich an seine Worte. Denk daran, dass du das gesagt hast. Immerhin hatten wir ihn losgeschickt. Wir hätten ihn aufhalten sollen, und nun war es zu spät. Wir mussten ihn finden, und zwar schnell. Offensichtlich hatte auch Nathan begriffen, wo wir waren, oder vielleicht hatte er es auch einfach nur an meinem fassungslosen und überraschten Gesicht abgelesen, aber er wirbelte sofort zu mir herum und griff erneut nach meiner Hand. „Dein Vater, Cassie! Luzifer will dir schaden, und genau das ist die beste Möglichkeit an dich heran zu kommen.“, keuchte er. Meine Augen weiteten sich. „Wir müssen zu ihm.“, hauchte ich, denn meine Stimme brach sich bereits und ich versuchte, das starke Zittern meiner Hände zu unterdrücken. Nathan nickte und wir rannten los. Es war nicht weit, nur wenige Straßen, und doch kam es mir wie eine schrecklich lange Zeit vor, bis wir endlich vor der Haustüre standen. Schockiert stellte ich fest, dass sie offen war, und auch als wir die Treppen hoch gerannt waren, fanden wir eine offene Wohnungstüre vor. Dann erst hörte ich das leise Keuchen. Ich stolperte in die Wohnung, folgte dem Geräusch bis ins Wohnzimmer und blieb dann für einen kurzen Moment erstarrt stehen. Vor mir stand Darek in seiner vollen Macht, mit leuchtenden und zischenden Flügeln, die nun noch größer wirkten als sonst. Er hatte eine Hand erhoben, mit der er meinen Vater am Hals in die Luft hielt und ihm langsam die Möglichkeit zu atmen nahm. In seinen Augen lag eine abweisende Kälte, ganz anders als normalerweise. Er wirkte gefährlicher als jemals zuvor, und es schien als würde er nichts um sich herum wahrnehmen. Erst jetzt schaffte ich es, mich aus meiner Starre zu lösen und sofort rannte ich neben ihn und versuchte, seinen Arm herabzureißen. „Darek! Hör sofort auf!“, schrie ich so laut ich konnte, und zerrte mit aller Kraft an ihm. Und tatsächlich, er ließ meinen Vater los. Aber nur, damit er genug Platz hatte um mich abzuschütteln. Reflexartig drehte er sich zu mir herum und schlug mich mit voller Wucht und übernatürlicher Kraft zurück, sodass ich gegen die harte Wand hinter mir knallte. Mein Kopf traf auf den harten Rauputz und für wenige Sekunden verlor ich mein Bewusstsein, aber beinahe augenblicklich schlug ich die Augen wieder auf. Nathan stand nun vor Darek, mit einem noch beängstigerenden Ausdruck auf dem Gesicht als ihn der Antichrist zuvor gehabt hatte. Doch Darek war schneller. Er beugte sich herab, berührte meinen noch immer nach Luft ringenden Vater am Arm und in der nächsten Sekunde waren sie fort. Ich sank in mich zusammen. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Vielleicht träumte ich ja nur wieder? Doch der Schmerz an meinem Kopf und Rücken war zu echt, und auch Nathans lauter Fluch, der mir einen Schauer durch den Körper jagte, klang realer als es mir lieb war. Ich zitterte und sah zu ihm herauf. „Ich hätte es wissen müssen. Wir hätten das nicht zulassen dürfen.“, murmelte er. Beim Gedanken daran, was Darek meinem Vater antun könnte, stiegen mir Tränen in die Augen. Wieso hatte er den Befehl ausgeführt, wenn er doch wusste, dass es mein Vater war? Und noch dazu hatte er mich einfach weggestoßen. Vielleicht hatte Nathan von Anfang an recht gehabt: Darek war nicht die Person, die er bei mir zu sein vorgab. Ich spürte Nathans Hand an meinem Arm, und als ich wieder aufblickte, kniete er neben mir. „Bist du verletzt? Es tut mir leid, dass ich dich nicht beschützt habe. Und deinen Vater auch nicht.“, murmelte er leise. Er war noch immer wütend, aber auch besorgt, das sah ich ihm an. „Das war nicht deine Schuld. A-Aber wir müssen ihnen folgen, wir müssen ihn wieder finden bevor er meinem Vater etwas antut!“ Ich versuchte mich aufzusetzen, doch mein ganzer Körper tat weh von dem Aufprall und alles drehte sich um mich herum. Nathan drückte mich wieder sanft zurück. „Bleib liegen. Ich hole etwas Kühles für deinen Kopf.“ Kurz verschwand er aus meinem Sichtfeld, aber schon nach wenigen Sekunden spürte ich eine angenehme Kälte auf meinem Hinterkopf, als er mir eine Packung mit Eiswürfeln darauf drückte. „Nathan, wir können uns hier nicht lange aufhalten! Was soll ich denn tun wenn er ihm was antut? Ohne meinen Vater… darüber will ich gar nicht nachdenken! Wir müssen ihm sofort folgen.“, murmelte ich. Doch Nathan schüttelte schwach mit dem Kopf. Fassungslos sah ich ihn an. „Es tut mir leid, Cas. Ich habe heute schon wieder zu viel Kraft gebraucht. Ihm einmal zu folgen war aufwendig und anstrengend. Ich schaff es nicht noch ein zweites Mal.“ Nathan sprach leise und wich meinem Blick aus. Verzweifelt versuchte ich diese Nachricht zu verarbeiten. Das bedeutete, dass es keine Möglichkeit gab, Darek zu folgen. Dass wir keine Möglichkeit hatten, meinem Vater im Augenblick zu helfen. Und dass meine letzte Hoffnung Darek war. Denn er war derjenige, der im Moment das Schicksal meines Vaters in der Hand hielt. Wenn Luzifer ihm wirklich befohlen hatte, ihn umzubringen, dann würde es auffallen, wenn er den Befehl nicht ausführte. Noch dazu hatte ich das Gefühl, als sei Darek irgendwie anders gewesen. Als habe er seine Gefühle ausgestellt. Ein Darek ohne jegliche Gefühle, als Marionette Luzifers? Das wäre unser Ende. Nicht nur, dass er wusste wo wir waren, sondern er kannte auch alle unsere Schwachpunkte. Und mit meinem war er soeben verschwunden. „Was… sollen wir denn jetzt machen?“, keuchte ich leise und unterdrückte weiterhin die lästigen Tränen, die sich in meine Augen schieben wollten. Nathan wechselte seine Position und hob mich einfach hoch. Dann trug er mich zu unserem alten, grauen Sofa und legte mich vorsichtig darauf ab. „Du wirst dich jetzt erstmal ausruhen. Wir können nichts machen, so leid es mir tut. Für heute bleiben wir hier, und vielleicht schaffe ich es morgen früh ihn ausfindig zu machen.“ Ich war zwar nicht einverstanden, aber im Grunde blieb mir nichts anderes übrig als das zu tun, was er sagte. Als plötzlich mein Kater neben mich auf eine der Decken hüpfte, zuckte ich zusammen. Mit seinen hübschen grünen Augen blinzelte er mich an und begann zu schnurren. Traurig streichelte ich ihm über den Rücken. Nathan starrte ihn an, als wäre er ein Alien. „Ich kann noch immer nicht begreifen, wieso die Menschen angefangen haben sich solche Wesen zuhause zu halten.“, murmelte er. Mein Kater verdrehte die Ohren und zuckte mit dem Schwanz, fast so, als sei sein Stolz verletzt worden. Ein trauriges Lächeln legte sich ungewollt auf meine Lippen. „Haustiere sind manchmal ein ganz guter Ersatz für Freunde, weißt du. Immerhin haben sie keine hohen Ansprüche und sind trotzdem mit ein wenig Liebe zufrieden.“ Nathan zog die Augenbrauen hoch und streckte dann vorsichtig eine Hand aus, um über das weiche Katzenfell zu streicheln. Mit einem leisen Schnurren schmiegte sich der graue Hauskater gegen seine Hand und legte sich dann neben uns. „Es hat einiges an Überzeugung gebraucht, bis mein Vater mir erlaubt hat wieder eine Katze zu halten. Er hatte Angst, ich würde mich nicht richtig darum kümmern. Aber da ich sonst nie groß etwas zu tun hatte, hab ich das gemacht. Und immerhin war ich so etwas weniger allein.“, sagte ich. Nathan nickte schwach. „Wie ist dein Vater so? Bisher habe ich nur Gutes gehö… ach, vergiss es.“, unterbrach er sich. Verwirrt starrte ich ihn an. „Was meinst du damit, du hast nur Gutes gehört? Ich habe dir doch kaum was von ihm erzählt.“, fragte ich verwirrt und misstrauisch. Woher sollte Nathan denn etwas über meinen Vater hören? Er zuckte leicht mit den Schultern. „Ich meinte, ich stelle ihn mir eben gut vor. Da du dir ja solche Sorgen um ihn machst, musst du ihn gern haben.“ Ich erkannte, dass er log. Woran genau konnte ich nicht sagen, aber mir war bei jedem seiner Worte klar, dass er versuchte sich herauszureden. „Nathan! Hör sofort auf mich anzulügen.“ Ich sah ihn ruhig an. Doch er stand einfach wortlos auf und sah sich in der Wohnung um. „Ihr habt schöne Möbel.“, sagte er dann feierlich. Fassungslos sah ich ihn an. War das etwa sein Ernst? Als er meinen Gesichtsausdruck bemerkte, seufzte er hörbar. „Ich hab mich eben versprochen und jetzt interpretierst du da irgendetwas hinein. Wahrscheinlich hast du dir deinen Kopf einfach nur etwas zu fest angeschlagen.“ Ich konnte es nicht glauben. Er würde mir nicht sagen, was er gemeint hatte, dazu war er viel zu stur. Aber früher oder später würde er sich wieder versprechen, da war ich mir fast sicher. Mit einem beleidigten Blick wandte ich mich von ihm ab und drehte ihm den Rücken zu. Erst jetzt fielen mir die Schmerzen auf, die mit jeder Bewegung, die ich machte, durch meinen Rücken zuckten. Wieder fielen meine Gedanken zurück an meinen Vater. Darek durfte ihn nicht töten. Das könnte ich nicht verkraften. In der ganzen letzten Zeit hatte ich zwar auch gehandelt, Leid gesehen und mich für vieles verantwortlich gemacht, aber ich hatte irgendwo tief in mir immer die Zuversicht gehabt, am Ende wieder hierher zurückzukehren. Dass Luzifer meinen Vater und mein Zuhause gegen mich verwenden würde, hätte mir auch früher einfallen können, aber ich hatte mich völlig der Illusion hingegeben, dass alles was mir lieb war sicher und beschützt blieb. Was für ein dummer Fehler. In diesem Moment hasste ich Luzifer noch mehr als jemals zuvor. Alles, was bisher geschehen war, hatte mich zwar berührt, aber es waren immer fremde Menschen gewesen. Und nun hatte Luzifer das Ganze persönlich werden lassen. Wenn er meinem Vater etwas antat, würde ich nicht mehr leben wollen. In mir stieg eine unglaublich tiefe Wut auf. Das würde ich nicht zulassen. Ich würde irgendeinen Weg finden müssen, die anderen Engel zu kontaktieren, die uns aus dem Lager geholfen hatten. Oder Nathan dazu bringen, alleine loszuziehen und Kraft zu sammeln. Ohne, dass ich es gemerkt hatte, war ich eingeschlafen. In meinem Traum lief ich einen steinigen Weg entlang, links und rechts von mir waren dunkle Schlieren und verzweifelte Schreie, dich mich baten ihnen zu helfen. Doch ich lief geradeaus weiter und stand dann Darek gegenüber, der mich mit seinem belustigt ironischen Lächeln musterte und dann eine Hand nach mir ausstreckte. Seltsamerweise nahm ich sie und lächelte dann fröhlich. Erst da fiel mir auf, dass er gar keine Flügel hatte und auch seine Kleidung ganz anders aussah. An einer seiner Schultern hing locker ein grauer Rucksack, und er hatte sich die Haare nach hinten gegeelt. Nur die Farbe seiner Augen war noch dieselbe, übernatürliche Mischung aus einem dunklen Rot und helleren Orangetönen. Doch auch an ihnen war eine große Veränderung zu erkennen: Sein Blick war voller Emotionen, er schien sich zu freuen mich zu sehen und gleichzeitig spiegelte sich sein Lächeln darin wieder. Normalerweise war es, als würde ein dunkler Vorhang sie verstecken, ähnlich wie bei Nathan. Ein seltsames Gefühl erhaschte mich, als ich in diese warmen und glücklichen Augen sah. Ein Gefühl der Sehnsucht. Beinahe sofort versuchte ich es zu unterdrücken, doch ich hatte keine Kontrolle über den Traum. Die Stimmen um uns herum wurden immer lauter und die dunklen Schlieren kamen näher, doch ehe sie uns erreichen konnten riss mich Nathan an der Schulter zu sich herum. Er schrie etwas und deutete auf Darek, der noch immer lächelte, doch ich konnte ihn nicht verstehen. An seinen Lippen las ich ein paar Mal meinen Namen ab, und mit einem heftigen Zucken erwachte ich. Nathan hing über mir und rüttelte an meiner Schulter. „Cassie! Na endlich… ich versuche schon seit einer halben Stunde, dich irgendwie wach zu bekommen!“, keuchte er erschöpft. Verwirrt starrte ich ihn an. „Du hast angefangen, um Hilfe zu schreien. Du wolltest, dass jemand dich holen kommt und dich rettet. Was hast du denn nun schon wieder geträumt?“, fragte er schockiert. Ich wollte es ihm erzählen, aber irgendwie konnte ich nicht. Ich wollte nicht vor ihm zugeben, dass mein Kopf sich eingebildet hatte glücklich mit Darek zu sein. Mit einem normalen Darek. Und ich wollte ihm auch nicht erzählen, dass ich all die Schreie ignoriert und den Antichristen vorgezogen hatte. Also schloss ich meinen Mund wieder und schüttelte nur schwach den Kopf. „Ist nicht weiter wichtig. Es war nur ein Alptraum. Danke, dass du mich aufgeweckt hast.“, murmelte ich. Nathan sah nicht wirklich beruhigt aus, doch er löste den festen Griff um meine Schulter wieder. Um uns herum war es fast dunkel, offensichtlich hatte ich den ganzen restlichen Tag verschlafen. „Wie fühlst du dich, Nathan? Hast du schon wieder etwas von deiner Kraft zurück?“, fragte ich sofort. Er schüttelte schwach den Kopf. „Nicht genug, um Darek zu finden. Ich hab es versucht, aber er ist viel mächtiger als ich. Gerade im Moment sogar noch mehr, als je zuvor. Es scheint, als habe er noch mehr Kräfte von seinem Vater bekommen um seine Befehle auszuführen. Ich schätze selbst mit meiner vollen Kraft als Engel könnte ich ihn nicht finden.“, seufzte er leise. Meine Hoffnungen verschwanden wieder und traurig sah ich ihn an. „Aber was machen wir denn jetzt.“, flüsterte ich. „Cas… Es tut mir leid das sagen zu müssen, aber ich denke, wir können gar nichts machen. Zumindest nichts, was deinem Vater im Moment hilft. Alles, was uns im Moment noch übrig bleibt, ist deinem eigentlichen Plan zu folgen.“, erklärte er. „Du meinst also, wir sollen die Tatsache, dass mein Vater gerade vielleicht getötet wird, einfach ignorieren?“, fauchte ich aufgebracht. „Nein. Wir werden sie nicht ignorieren, aber solange wir nichts ausrichten können helfen wir ihm so am besten! Wenn wir mehr Kraft erhalten sind unsere Chancen ihn zu finden wenigstens etwas höher. Es ist besser als hier herumzusitzen und auf ein Wunder zu warten, oder etwa nicht?“ Er bemühte sich, ruhig und überzeugend zu klingen und suchte meinen Blick mit seinen schönen Augen. Doch auch wenn das, was er sagte, Sinn ergab konnte ich mir nicht vorstellen einfach so weiterzumachen, ohne zu wissen, ob mein Vater noch lebte oder wo er sich gerade befand. „Nathan, ich kann nicht…“, setzte ich an, doch er ließ mich nicht ausreden. „Es ist mir egal, ob du kannst oder nicht. Du musst! Wenn du ihm wirklich helfen willst, musst du das hier durchstehen. Versuch gar nicht erst, aufzugeben. Noch gestern Nacht hast du gesagt, wir sollen dafür sorgen, dass Luzifer nicht seinen Willen bekommt. Und nun machst du genau das, was er von dir möchte! Du bist verzweifelt, und du hast Angst, das kann ich verstehen. Aber solange wir hier sitzen und warten, wird nichts passieren. Je länger wir nichts tun desto geringer sind die Chancen für deinen Vater.“ Ich biss mir auf die Lippe und sah zu Boden. Er hatte recht. Das hier würde niemandem etwas bringen. Also nickte ich schwach und setzte mich auf. Noch immer tat mir alles weh, doch ich wollte das nicht vor Nathan zugeben. Er würde sich nur weiterhin Sorgen machen. „Dann lass uns losgehen. Aber wir müssen erst zurück zur Hütte, ich brauche den Rucksack. Denkst du, du schaffst das?“, fragte ich ihn. Er nickte. „Es ist etwa vier Uhr, morgens.“, erklärte er zu meinem Erstaunen. Also hatte ich mehr als nur den Tag verschlafen. „Am besten du frühstückst noch etwas, du hast in letzter Zeit kaum etwas gegessen. Du hast sowieso Zeit bis die Sonne aufgeht.“, schlug er vor. Es passte mir zwar nicht, noch mehr Zeit zu vergeuden, und ich verstand auch nicht ganz wieso wir auf die Sonne warten mussten, doch ich erklärte mich einverstanden. Es waren noch ein paar Aufbackbrötchen im Kühlschrank, die uns wohl ausreichen mussten. Da sie knapp zwanzig Minuten backen mussten, beschloss ich davor noch kurz duschen zu gehen. Nachdem ich mich im Badezimmer eingeschlossen, ausgezogen und das Wasser angemacht hatte, fühlte ich mich für einen kurzen Moment wie früher. Ich schloss die Augen und wünschte mir, jetzt von draußen das genervte Klopfen meines Vaters zu hören, weil ich viel zu lange das Bad besetzte. Ich hätte früher wohl nie gedacht, dass ich dieses Klopfen einmal so sehr vermissen könnte. Frisch geduscht, mit noch feuchtem lockigen Haar und ein paar frischen Klamotten an kam ich wieder aus dem mittlerweile angenehm warmen Zimmer heraus. Nathan saß bereits am Tisch, offensichtlich hatte er die Brötchen herausgeholt. Schien als hatte ich auch heute wieder etwas länger gebraucht, als ich es eigentlich wollte. Nathan sah kurz auf und lächelte mir schwach zu. Dann deutete er auf den Backofen. „Also die Katzen kann ich noch verstehen. Aber das da? Das Ungetüm ist schlimmer als Feuer!“, beschwerte er sich. An seinem Arm sah ich einen langen, roten Streifen, wo er anscheinend an den Rand des Backofens gefasst hatte. „Tut mir leid! Ich hätte dich warnen sollen. Komm, wir müssen kaltes Wasser darüber laufen lassen, sonst brennt es noch mehr!“, sagte ich sofort und zog an seinem unverletzten Arm. Nathan hatte nicht mit einer solch plötzlichen Bewegung gerechnet und fiel beinahe von dem engen, antiken Stuhl, auf den mein Vater besonders stolz war. Er konnte sich gerade noch so festhalten, doch der einzige Halt, den es gab war ich. Leider war ich zu leicht, um ein geeignetes Gegengewicht abzugeben, und wir landeten beide auf dem harten Holzboden. Erneute Schmerzen durchfuhren mich, von meinem Rücken ausgehend bis hoch zu meinem Kopf, und fast hätte ich noch mal das Bewusstsein verloren. Nathan lag unter mir und starrte mich schockiert an. „Alles in Ordnung?“, fragte er sofort, als er mein schmerzverzerrtes Gesicht sah. Ich biss die Zähne zusammen und nickte, damit er sich nicht noch mehr Sorgen machte. Er durfte nicht merken, wie schlecht es mir wirklich ging, sonst würde er unseren Aufbruch womöglich noch weiter aufschieben. Vorsichtig rollte ich mich von ihm herab und rappelte mich irgendwie auf. Nathan tat es mir gleich und warf mir dann noch einen besorgten Blick zu, ehe ich ihn zum Waschbecken schob und wir etwas kaltes Wasser über die rote Stelle laufen ließen. Mir fiel auf, dass er durchgehend mich ansah, anstatt auf seinen verletzten Arm zu schauen. Doch ich ging nicht weiter darauf ein und nachdem es einigermaßen gekühlt war und ich noch einen kleinen, provisorischen Verband darum gewickelt hatte, aßen wir zusammen die Brötchen. „Ich hoffe so sehr, dass es ihm gut geht.“, murmelte ich gedankenverloren. Nathan nickte schwach, schob sich den letzten Bissen in den Mund und stand dann auf. „Wir sollten los, wenn du davor noch zur Hütte willst.“, erklärte er. Ich nickte und sprang sofort auf. Mein Kater fiel mir wieder ein, und ich überlegte, was ich mit ihm machen sollte. Denn wenn wir meinen Vater nicht in den nächsten Tagen finden würden, wer würde sich dann um ihm kümmern? Mit einem leisen Seufzen beschloss ich, ihn nach draußen zu lassen, obwohl er eigentlich eine reine Wohnungskatze war. Aber so konnte er zumindest etwas zu fressen finden. Traurig stieg ich die Treppen herab, mit dem süßen Fellknäuel auf meinem Arm und öffnete die Haustüre. Als ich den Kater sanft absetzte, hörte ich ein vertrautes, amüsiertes Lachen.

Darek stand neben mir, lässig mit einem Fuß an die Wand gelehnt, und mit einem Lächeln auf den Lippen, dass ich ihm am liebsten mithilfe eines Messers herausgeschnitten hätte.

 

Chapter 10

Ich wirbelte zu ihm herum und sah mich nach irgendetwas um, mit dem ich mich gegen ihn wehren konnte. Da ich nichts fand beschloss ich, mich einfach auf ihn zu stürzen. Alle Erinnerungen an das Gesicht meines Vaters und an den Schmerz, den er in seinen Augen gehabt hatte, strömten beim Anblick von Dareks selbstgefälligem Lächeln wieder in meinen Kopf. Wenn nicht Nathan in dieser Sekunde hinter mir die Türe aufgemacht und einen Schritt zwischen uns gemacht hätte, wäre ich vermutlich tatsächlich auf Darek losgegangen. Stattdessen kam mir der Engel zuvor. Er drückte den Antichristen fest an die Wand und presste ihm seinen Unterarm an die Kehle. „Wo ist Cassandras Vater?“, hauchte er bedrohlich. Doch Darek lächelte noch immer. Ein spöttischer Glanz lag in seinen Augen, als er leise keuchte: „Ich weiß es nicht.“ Fassungslos starrte ich ihn an. „Was soll das heißen, du weißt es nicht? Wo hast du ihn hingebracht?“, rief ich ungläubig. Darek blickte nun zu mir, und zuckte schwach mit den Schultern. Man sah ihm an, dass langsam seine Luft knapp wurde und es ihm von Sekunde zu Sekunde erheblich schwerer fiel, zu sprechen. „Tut mir leid, Süße. Ich kann mich… nicht erinnern.“, keuchte er. Ich legte leicht eine Hand auf Nathans Arm um ihm zu signalisieren, dass er Darek loslassen sollte. Was nützte es mir schon, wenn er jetzt erstickte. Außerdem war ich mir fast sicher, dass er sich hätte wehren können, wenn er gewollt hätte. Nathan drückte noch einmal fester zu, dann ließ er den Arm sinken. Allerdings blieb er alarmiert und angriffsbereit stehen. Darek hingegen lachte schon wieder und rieb sich den Hals. Er warf Nathan einen gespielt beleidigten Blick zu. „Das war nicht gerade nett, Engelchen.“ Dann wandte er sich wieder mir zu. „Hör zu. Ihr habt mich gestern gehen lassen. Ich bin extra zu euch gekommen, und nicht einfach abgehauen. Aber ihr beide wart diejenigen, die gesagt haben, ich soll gehen. Dann hat Luzifer die Kontrolle über mich bekommen, und ich kann mich um ehrlich zu sein nur schwach daran erinnern, was genau ich während dieser Zeit getan habe.“ Ich starrte ihn an. Das konnte nicht stimmen. Ich erinnerte mich an damals zurück, als er mir die Augen zugehalten hatte und die Menschen in dem belebten Haus in die Hölle geschickt hatte. Damals war er doch auch noch er selbst gewesen. Als ob er meine Gedanken gelesen hätte, zuckte er mit den Schultern und sah mich an. „Das gestern war etwas Anderes. Luzifer wollte die Tat quasi selbst durchführen, also hat er die Kontrolle übernommen. Vielleicht ging es ihm nur darum, dein Leid zu sehen oder vielleicht schöpft er auch schon Verdacht, was mich betrifft. Denn obwohl ich mich an den Vorfall in der Wohnung noch wage erinnern kann, hab ich keine Ahnung wohin ich deinen Vater gebracht habe oder was mit ihm geschehen ist.“, beteuerte er. Ich glaubte ihm kein Wort, wollte ihm auch gar nicht glauben. Denn das hieß, dass ich nun gar keine Chance mehr hatte, zu erfahren was mit meinem Vater geschehen war oder ob er noch lebte. Ich drehte mich weg. „Nathan, lass uns gehen. Bitte.“, sagte ich. Wir würden das machen, was wir beschlossen hatten. Wir würden einfach weitermachen. Aber ohne Darek. Nathan nickte leicht und nahm dann meine Hand. Ich hörte noch Dareks Lachen, als sich unsere Umgebung auch schon veränderte. Unter mir spürte ich weiches, nasses Gras, als wir vor der Hütte auftauchten. Es war nirgends mehr Schnee zu entdecken, nur ein glänzender Raureif hatte sich auf den kleinen grünen Blättchen gebildet. Nathan hielt noch immer meine Hand, auch, als er den Schrank beiseite schob und wir ins Innere kletterten. Ein angenehmer Geruch nach Kaffee strömte mir entgegen, und ungläubig starrte ich in die Küche, in der Darek gerade die dunkelbraune Flüssigkeit auf drei Tassen verteilte. Er drehte sich zu uns herum und gähnte laut. „Du wirst ja immer langsamer, Engelchen.“, lächelte er. „Verschwinde von hier!“, schrie ich ihn an. Er hatte nicht mit so einer plötzlichen Reaktion gerechnet und verschüttete beinahe die volle Tasse, die er in der Hand hielt und von der er nun schlürfend einen Schluck nahm. Er legte den Kopf leicht schräg und grinste mich an. „Scheint, als hättest du heute Nacht nicht besonders gut geschlafen? Bestimmt hebt der Kaffee deine Laune ein bisschen an.“, sagte er mit einem unechten, freundlichen Ton. Ich schnaubte leise, ließ Nathans Hand los und stapfte ins Schlafzimmer, um meinen Rucksack zu holen. Denn mehr brauchte ich ja auch gar nicht. Sobald ich ihn hatte, konnten wir von hier verschwinden und Darek konnte von mir aus bleiben, wo er wollte. Noch immer glaubte ich ihm seine Worte nicht. Wie konnte es denn sein, dass er sich gar nicht mehr erinnerte, wohin er meinen Vater gebracht hatte? Oder zumindest, ob er noch lebte? Als ich die Türe hinter mir geschlossen hatte, sank ich auf die Knie. Ein leises Schluchzen durchfuhr meine Kehle. Nicht weinen. Nicht jetzt. Ich versuchte verzweifelt, diese Gefühle zu unterdrücken. Gerade jetzt musste ich stark sein, ich wollte nicht wie ein armseliges kleines Mädchen vor Darek stehen. Nicht weinen. Aber es tat so weh. Es tat so weh, nicht zu wissen, wo mein Vater war. Mein Herz krampfte sich zusammen beim Gedanken daran, dass er vielleicht tot war. Dass ich ihn nie wieder sehen würde! Und ein Gedanke schwirrte in meinem Kopf herum: Was, wenn Darek nicht gelogen hatte? Was er sagte, ergab Sinn. Wieso sollte Luzifer nicht auf Nummer sicher gehen? Noch dazu hatte er diesen Ausdruck gehabt, als er mich wegschleuderte. Das war nicht Darek gewesen. Und nun machte ich ihn dafür verantwortlich, obwohl wir ihn doch hatten gehen lassen. Obwohl ich doch diejenige war, wegen der mein Vater überhaupt erst in Gefahr gekommen war. Im Grunde war ich nur auf Darek sauer, weil ich mir selbst nicht eingestehen wollte, dass ich nichts tun konnte. Weil ich nicht zugeben wollte, dass meine letzte Hoffnung in dem Moment gestorben war, in dem er gelächelt hatte und sagte, dass er es nicht wüsste. Mittlerweile hatten meine Tränen es doch geschafft. Unkontrollierbar liefen sie mir über die Wange. Ich versuchte weiter, es zu unterdrücken. Ich durfte nicht mehr nachdenken! Es fiel mir unglaublich schwer, aber ich schaffte es tatsächlich. Ich schluckte all die Sorge herunter, so wie ich es bisher immer getan hatte, auch wenn ich wusste, dass mich das innerlich auffraß. Und nachdem ich meinen Kopf geleert hatte, konnte ich auch aufhören, zu weinen. Schnell wischte ich mir die nassen Tropfen aus dem Gesicht und hoffte, man würde es mir nicht sofort ansehen. Um sicher zu gehen, wartete ich noch einige Minuten ehe ich mir den Rucksack über die Schulter hing und leise die Türe wieder öffnete. Draußen hörte ich, wie sich Nathan und Darek leise zischend unterhielten. Vorsichtig schlich ich mich etwas näher heran, um zu verstehen, wovon sie sprachen. „Ach komm schon, du weißt ja wohl selbst, dass ihr mich braucht!“ „Das tun wir nicht. Wir kommen sogar weitaus besser zurecht, wenn du nicht immer in der Nähe bist und ich aufpassen muss, dass du deine Finger von Cassie lässt!“ „Denkst du wirklich, das wäre eure größte Sorge? Denkst du, ich wäre euer größtes Problem? Dann tut es mir nämlich leid dich enttäuschen zu müssen, aber ich denke du schätzt die Sache da ein bisschen falsch ein.“

Mir war bereits klar, worauf diese Diskussion herauslaufen würde, und dennoch hielt ich inne um zu hören, was Nathan sagen würde. „Du weißt genau was ich meine. Hältst du es wirklich für angebracht, sie immer wieder zu verwirren mit deinen seltsamen Tricks? Du machst nichts anderes als sie zu benutzen und mir ihr zu spielen, Darek.“ Ein heiseres Lachen ertönte. „Na und? Sie kann selbst auf sich aufpassen. Du behandelst sie doch schon von Anfang an, als sei sie ein Kleinkind. Und dennoch verlangst du von ihr, sich Luzifer zu stellen? Ich dachte eigentlich, du wärst schlau genug um seine Kraft richtig einschätzen zu können, aber offensichtlich habe ich mich im Bezug auf deine Intelligenz ein weiteres Mal getäuscht.“ „Und wie genau willst du sie bitte besser darauf vorbereiten als ich?“ „Indem ich genau das mache, was sie gesagt hat: Ich trainiere sie. Und währenddessen wirst du schön brav ein bisschen Kraft sammeln.“ Dareks Stimme wurde etwas unruhiger, als er fortfuhr. „Die Zeit läuft uns davon. Es gibt weitere Berichte über verschwundene Städte und seltsame Seuchen, und vor allem über Kriege. Bald werden die Menschen sich alle gegenseitig ausrotten, und wenn wir das zulassen haben wir keine Chance mehr, diesen Planeten zu retten oder meinen Vater aufzuhalten.“ Kurzerhand machte ich noch einen Schritt nach vorne, um den beiden zu signalisieren, dass ich den Raum nun betreten hatte. „Er hat recht. Wir dürfen das nicht zulassen, und wir können nicht noch mehr Zeit vergeuden. Ich weiß nicht, ob du die Wahrheit sagst, Darek. Aber im Moment gibt es nur ein Ziel, das wir erreichen müssen, und daran sollten wir uns auch halten.“, meinte ich.

Darek nickte, und Nathan sah mich verwirrt an. „Heißt das, du willst dass er mitkommt?“, fragte der Engel. Ich nickte. „Solange er bereit ist uns zu helfen, sollten wir das annehmen. Ich hab ihm nicht verziehen und ich werde es auch nicht, solange er mir keinen glaubhaften Beweis dafür liefert, dass er sich wirklich nicht mehr erinnert. Aber wenn er dennoch bereit ist mitzukommen, wieso nicht? Du weißt, dass er uns sowieso folgen kann, so wie gerade eben.“

Darek lächelte noch mehr und stand dann plötzlich vor mir. Ehe ich mich versah hatte er die Arme ausgestreckt und sie schwach um mich geschlungen, um mich zu umarmen. Schockiert versuchte ich sofort, ihn wegzudrücken, doch er ließ nicht los. „Ich hatte schon Angst, ich müsste mir jetzt ewig deine Vorwürfe anhören. Und trotzdem… lässt du mich mitkommen.“ Er lachte spöttisch auf. „Damit hätte ich nun wirklich nicht gerechnet. Auch wenn ich euch sowieso nicht allein hätte gehen lassen.“ Noch immer versuchte ich, ihn von mir wegzuschieben. Ich fragte mich, was er mit dieser Umarmung bezwecken wollte. Vielleicht ging es ihm einfach nur darum, Nathan zu ärgern oder mich, oder aber er meinte seine Worte ernst. Doch alles was mir durch den Kopf ging war der Fakt, dass ich dieses unglaublich seltsame und angenehme Gefühl, dass seine Berührung in mir auslöste, nicht noch länger spüren wollte. Es sorgte dafür, dass sich alles um mich herum drehte und dass ich mir irgendwie wünschte, ihn nie wieder loslassen zu müssen. Und es erinnerte mich an meinen Traum, als ich so bereitwillig seine Nähe akzeptiert und die Schreie ignoriert hatte. Endlich ließ er mich los und lächelte mir noch mal schwach zu, ehe er sich wieder an Nathan wandte. „Na, Engelchen? Sollen wir gehen?“, fragte er provozierend. Nathan hatte seine Hände zu Fäusten geballt und starrte auf den Boden. Anstatt zu antworten nickte er nur schwach und verschwand. Verwirrt sah ich an den Ort, an dem er gerade noch gestanden hatte und dann zu Darek. „Scheint, als wolle er dich nicht mitnehmen. Dann kommst du eben mit mir mit.“, grinste der Antichrist. Hatte Nathan mich gerade tatsächlich mit ihm allein gelassen? Das passte doch nicht zu seinem normalen Verhalten, oder war er einfach nur wütend wegen der Umarmung? Darek nahm meine Hand, zog mich zu sich und brachte uns fort. Staubige Luft erfüllte plötzlich meine Lunge, und laute, krachende Geräusche ertönten. Als sich wieder alles stabilisiert hatte, stellte ich fest dass wir nicht mehr in Deutschland sein konnten. Der Boden bebte leicht, doch dieses Mal nicht wegen einer Naturgewalt. Es waren Bomben, die irgendwo einschlugen und dafür sorgten, dass ich beinahe das Gleichgewicht verlor. Viereckige Häuser mit geraden Dächern und Tüchern als Türen umgaben uns. Vereinzelte Menschen rannten schreiend und rufend umher, dicht eingewickelt in Tücher, und der Boden bestand nur aus steinigem, grobem Sand. Obwohl die Menschen auch hier große Angst hatten und voller Panik umherliefen, bemerkte ich, dass es mir mittlerweile etwas weniger ausmachte. Schockiert über meine eigenen Gefühle versuchte ich, mich an Darek festzuhalten und nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Es kam mir vor, als seien meine Gefühle und Empfindungen eingefroren, übertroffen von Wut und Willenskraft. Vielleicht war dies gar nicht so schlecht, und dennoch fühlte ich mich irgendwie nicht wie ich selbst. Der Antichrist sah sich sofort um und suchte nach Nathan, der aber weit und breit nicht zu entdecken war. Hatte er uns wirklich allein gelassen? Aber er war doch einverstanden gewesen, zu gehen. Darek drückte kurz meinen Arm und nickte dann in die Richtung von zwei laut schreienden Frauen, die gerade von einem eher amerikanisch aussehenden Mann weggezerrt wurden. Ich vermutete, dass wir uns mitten in einem Übergriff auf diese Stadt befanden, doch konnte nicht genau zuordnen, zu welchem Land die verhüllten Männer und Frauen gehörten. Ich gab Darek ein Zeichen und ließ ihn los, damit er den Frauen helfen konnte. Wir mussten unbedingt Nathan finden. Ohne ihn hatte diese Unternehmung letztendlich keinen Sinn, immerhin war er derjenige, der die Leute retten sollte. Erneut ließ ich meinen Blick über das Szenario schweifen, doch ich konnte ihn nirgendwo entdecken. Verdammt, wo steckte er?

Darek rief laut meinen Namen, und trotz dem allgemeinen Lärm und den Schreien hörte ich ihn sofort. Als ich mich zu ihm umdrehte, konnte ich gerade noch erkennen, wie mehrere der Männer, die zuvor die Frauen mitnehmen wollten, um ihn herum standen und ihm eine Waffe an den Kopf hielten. Ein besorgter Schrei entglitt meiner Kehle, und ich stürzte sofort los um sie aufzuhalten. Doch leider nahm ich das „Stürzen“ etwas zu wörtlich und stolperte vorwärts auf meine Knie. Gerade als ich mich wieder aufrappeln wollte, hörte ich neben mir ein leises Zischen, so unecht und seltsam, dass ich innehielt und mich danach umsah. In eben dieser Sekunde ging die Granate hoch, genau neben mir. Das Zischen weitete sich in Bruchteilen einer Sekunde zu einem lauten Knall aus, und verschluckte dann alle anderen Geräusche um mich herum. Ich hatte keine Chance mehr, davonzulaufen oder mich wegzudrehen, also schloss ich die Augen und bereitete mich auf meinen Tod vor. So also sollte es sein? Für das hier hatten wir bis jetzt durchgehalten? Es brauchte nicht die Engel, oder gar Luzifer, um mich zu töten. Eine kleine Handgranate erledigte ihren Job, ohne zu wissen, wen sie gerade in die Luft sprengte. Doch seltsamerweise spürte ich keinen Schmerz. Zwar waren alle Töne verklungen, doch noch immer kniete ich zusammengekauert auf dem Boden, die Augen voller Erwartung auf das Kommende zusammengepresst. Vorsichtig öffnete ich sie wieder. Irgendetwas stimme hier nicht. Oder war ich bereits tot, auf dem Weg zum Himmel oder zur Hölle oder wo auch immer ich landen würde? Um mich herum herrschte Dunkelheit, die nicht dunkel war. Tatsächlich, obwohl es kein Licht und weder Himmel noch Erde gab, war ich von einer schwarzen Leere umgeben. Doch sie fühlte sich nicht leer an, vielmehr warm und voll und… hell. Und dann plötzlich hörte ich Schritte. „Cas.“ Mein Herz machte einen Aussetzer, wenn es denn überhaupt noch wirklich schlug. Meine Gedanken wirbelten Augenblicklich in meinem Kopf herum, hämmerten gegen seine Wände und kratzen an den Mauern meiner Erinnerung. „Mama…?“ Meine Stimme war so leise und zerbrechlich, dass ich mich selbst kaum sprechen hörte. Und auch wenn es unmöglich war, dass sie gerade meinen Namen gesagt hatte, zitterte ich am ganzen Körper vor Aufregung. „Ja, Cas. Ich bin hier. Ich bin da…“, hörte ich sie sagen. Plötzlich fühlte ich ihre Wärme, roch ihren Geruch und spürte ihre weichen Hände, die mich umarmten. Sie stand vor mir. Fassungslos starrte ich sie an, und fiel ihr dann um den Hals. Sie war so wunderschön, wie ich sie in Erinnerung gehabt hatte. Blonde Locken, warme, rehbraune Augen und ein Lächeln, bei dem man sich wünscht, nie wieder etwas Anderes ansehen zu müssen. „Bin ich tot, Mama?“, fragte ich mit tränenerstickter Stimme. Doch sie schüttelte den Kopf. „Nein. Noch nicht. Du kannst noch nicht sterben, mein Schatz. Meine kleine, hübsche Cas. Deine Aufgabe da unten ist noch nicht vorbei. Deswegen darf ich dich retten, ganz gleich was es gekostet hat.“ Sie nahm mein Gesicht in beide Hände und gab mir einen Kuss auf die Stirn, wie sie es früher immer gemacht hatte, wenn sie mich ins Bett brachte. „Aber die Granate…“, wand ich ein. Mit einer Handbewegung brachte sie mich zum Schweigen. „Ist schon gut. Dir ist nichts passiert, und gleich wirst du wieder zurück sein. Unsere Zeit ist so knapp… Aber ich werde auf dich warten, genau hier, und auf dich aufpassen. Ich will dir nur noch eines sagen.“ Ich biss auf meine Unterlippe und bemühte mich, nicht so laut zu schniefen, dass ich sie nicht mehr hören konnte. „Ich bin unglaublich stolz auf dich. Du hast bis jetzt immer auf dein Herz gehört, und genau das war das Richtige. Also mach dir keine Sorgen um die Dinge, die noch vor dir liegen. Solange du genau das tust, was du für richtig hältst, wird alles gut werden.“ Ich merkte, wie ihre Stimme immer leiser wurde, und das Gefühl ihrer Anwesenheit immer schwächer. „Nein! Lass mich nicht allein, bitte. Nicht noch mal. Ich bleibe bei dir, hier… bitte!“, rief ich verzweifelt. „Das geht nicht. Du musst doch auf Papa aufpassen, vergiss das nicht. Und du weißt, dass die Welt dich noch braucht, mein Schatz. Bleib stark, und irgendwann werden wir uns wiedersehen. Ich…. liebe… di…“ Und dann war sie fort. Ich fiel herab, raus aus der schwarzen Leere, und konnte plötzlich unter mir mich selbst sehen. Vor mir kniete Darek und strich über mein Gesicht, voll mit Blut und Dreck. Je näher ich diesem Anblick kam, desto seltsamer kam es mir vor, zu mir herabzuschauen. Ich fiel weiter, und landete schließlich zurück in meinem Körper, wo ich keuchend die Augen aufriss.

Über mir zuckte Darek sichtlich erleichtert zusammen, und drückte mich fest an sich. „Ich hatte schon Angst, du hättest unsere kleine Party verlassen.“, flüsterte er keuchend. Er roch nach Blut, nach diesem bitteren Eisengeschmack, und vorsichtig löste ich mich von ihm indem ich ihn sacht wegdrückte. Er hatte eine Hand um meine Taille gelegt, und die andere um meine Schultern. Widerwillig ließ er die obere etwas lockerer, sodass ich ihn ansehen konnte. Er sah furchtbar aus. Wie ich schon von oben vermutet hatte, war er völlig beschmutzt. Ein Teil seiner Schulter war blutig und von vielen kleinen Granatensplittern zerfetzt, und er hatte eine blutende Platzwunde am Kopf. Seine Augen waren nicht so strahlend und leuchtend wie sonst, sondern eher dunkel. Vielleicht passten sie sich auch einfach der Farbe des Blutes an. Aber auch seine Flügel flackerten schwächer. Zwar nicht so schwach wie zuvor im Lager der Engel, aber sie waren dennoch nicht so schön und auffallend wie normalerweise. Mit einem schiefen Lächeln sah er zu mir herab. „Du hattest Glück, dass ich mich losreißen konnte. Sonst beständest du jetzt vielleicht nur noch aus kleinen Fetzen.“ Erst jetzt begriff ich, wieso seine Schulter so aussah. Er musste sich zwischen mich und die Granate geworfen haben, und zwar in letzter Sekunde. Aber auch wenn er mir damit das Leben gerettet hatte, war ich verletzt. Ein starker, pochender Schmerz schoss mir durch die Beine, und als ich den Blick endlich von Darek lösen konnte und an mir herabsah, erschrak ich. Einzelne, kleine Splitter hingen in meiner Hose und waren umgeben von dunkelroten, blutigen Flecken. An manchen Stellen war die Hose ganz aufgerissen, und meine Knie waren noch dazu völlig aufgeschürft. Außerdem klebte überall Dreck und Sand, der das ganze noch grässlicher und schlimmer aussehen ließ. Ich sah schockiert wieder zu Darek hoch, der ein betrübtes Gesicht machte. „Es tut mir leid, ich war etwas zu spät.“, erklärte er. Ich wusste nicht genau, was ich antworten sollte. Im Grunde war ich ihm so unglaublich dankbar dafür, dass er mich gerade gerettet hatte, aber gleichzeitig hatte ich immernoch die Gedanken an das Verschwinden meines Vaters im Hinterkopf. Und die seltsame Begegnung, die ich gerade gehabt hatte, machte mir das klare Denken auch nicht wirklich leichter. Ehe ich dann doch noch etwas herausbringen konnte, stand Darek schwankend mitsamt mir auf. Ich sah, dass er Schmerzen hatte, doch das heftige Pochen meiner eigenen Beine machte es mir unmöglich, alleine zu laufen. Darek sah sich um. Mittlerweile war unsere Umgebung zunehmend zerstörter geworden. Die meisten der Häuser waren teilweise verwüstet, oder hatten große Risse. Irgendwo in der Ferne hörte man das Knattern und Knallen eines Maschinengewehrs, und noch mehr Schreie. Von den Einwohnern der Stadt war nicht mehr viel zu sehen, die Wenigen, die ich durch meine mit Tränen gefüllten Augen noch ausmachen konnte, lagen entweder reglos am Boden oder liefen schnell umher, um sich einen Unterschlupf zu suchen. Was in der nächsten Stunde passierte, weiß ich nicht mehr genau. Ich befand mich in einem Zustand zwischen Schock und Ohnmacht, und der Schmerz trübte alle meine Eindrücke. Alles was ich wahrnahm waren Dareks starke Hände, sein leises Stöhnen bei jedem Schritt, der ihm unglaubliche Schmerzen zufügen musste und dann die extrem staubige, trockene Luft, die mich plötzlich umgab und dafür sorgte, dass sich meine Lunge unglaublich schwer anfühlte. Erst, als ich meine Augen für eine kurze Weile geschlossen hatte und ich eine kühle Flüssigkeit in meinen Mund fließen spürte, begann ich, mich etwas besser zu fühlen. Nach einer weiteren kurzen Zeit schwächten die Schmerzen in meinem Bein ab und ich konnte auch wieder klarer denken. Als ich soweit war, dass ich mich aufsetzen und umsehen konnte, stellte ich fest, dass wir uns in einem dunklen, großen Raum befanden. Um uns herum lagen noch viele andere Menschen am Boden, und auch Darek und ich knieten am Boden. Er hielt mich noch immer in seinen Armen, und als er bemerkte, dass ich wieder ansprechbar war, seufzte er leise. „Alles okay. Deine Wunden wurden versorgt, gleich ist alles besser.“, meinte er mit einem schwachen Lächeln. Ich blinzelte verwirrt und deutete dann auf seine Schulter. „Du musst dich auch versorgen lassen.“, keuchte ich leise. Er nickte schwach, hob mich dann etwas höher und deutete auf zwei sitzende Personen ein paar Meter weiter. „Sieh mal, ich hab deinen Schutzengel gefunden.“, meinte er sarkastisch. Ich brauchte kurz, bis sich meine Augen auch wirklich an das schwache Licht gewöhnt hatten und ich fähig war, zu erkennen was er meinte. Nathan saß im Schneidersitz neben einer Frau. Sie trug ähnliche Kleidung wie die anderen Menschen, die wir zuvor draußen gesehen hatten, aber ihr Gesicht war nicht verhüllt und ihre Haare fielen in langen, braunen Locken bis zu ihrer Hüfte herab. Lächelnd redete sie mit Nathan und schien dabei eine Wunde an seiner Brust zu verarzten. Aber erst als ich in Nathans Gesicht sah, fühlte ich diesen kleinen Stich in meinem Herzen. Er lachte leicht, betrachtete sie auf eine seltsame Weise. Dann senkte er seine Stimme und flüsterte ihr etwas zu. In diesem Moment wandte ich den Blick ab. Was genau machte er da? Erst hatte er uns allein gelassen, und nun schien er sich noch immer nicht darum zu kümmern, wie es Darek oder mir ging. Aber wieso sollte er auch? Er konnte ja weder Darek ausstehen, noch hatte er irgendein Interesse an mir. Kurz erinnerte ich mich an seine Worte, bevor Darek aufgetaucht war, am Vortag im Wald. War das wirklich alles nur leeres Geschwätz gewesen, um mich etwas von Darek zu distanzieren? Der Antichrist hatte währenddessen ebenfalls Hilfe von einer nett wirkenden Frau erhalten, doch sobald sie seine Wunden verbunden hatte bedankte er sich nur kurz und sah mich dann wieder an. „Scheint, als habe er bessere Gesellschaft gefunden, hm?“, sagte er. Ich zuckte schwach mit den Schultern. „Wieso auch nicht. Das ist seine Entscheidung, oder?“, meinte ich nur kühl. Dann sah ich mich erneut um, vermied aber absichtlich den Blick auf Nathan. „Wo genau sind wir hier eigentlich?“, fragte ich Darek. „Ich weiß es selbst nicht so genau. Ein paar Männer haben mich hier her gewunken, als sie dich gesehen haben. Das hier ist unterirdisch, vielleicht eine Art Schutzbunker oder sowas. Immerhin ist das hier schon länger ein Kriegsgebiet. Die Frauen, die hier Wunden verarzten und sich um Leute kümmern, sind ausgebildet dafür. Scheint also, als sei der Ort nicht ganz so überrascht von diesem Angriff wie die Amerikaner vielleicht gedacht haben.“, erklärte er nachdenklich.

Mit einem schwachen Nicken stimmte ich seinen Worten zu. Das hier war nicht unorganisiert, es gab sogar ein paar rustikale Klappbetten, und ein Mann brachte einen Kanister mit Wasser herein. Ich konnte nicht besonders viel erkennen, aber die meisten der am Boden liegenden Personen schienen verarztet zu sein und Verbände zu tragen. Die Frauen, die von Bett zu Bett gingen waren alle verhüllt und redeten leise in einer Sprache miteinander, die ich nicht verstand. Alle, bis auf eine. Ich versuchte, nicht zu ihnen zu schauen, doch noch immer lächelte Nathan. Ihre Hand lag auf seiner Brust, und ihr Blick war nun ernst. Was erzählte er ihr wohl gerade? Die plötzliche Berührung von Dareks Hand holte mich aus meinen Gedanken. Er drehte meinen Kopf wieder zu sich herum, sodass ich ihn anschauen musste. „Hör schon auf, diesen Ausdruck auf deinem schönen Gesicht erträgt ja nichtmal der Sohn Luzifers länger als ein paar Sekunden!“, flüsterte er mit einem leichten Lächeln. „Nimm das nicht zu ernst. Vielleicht versucht er ja auch einfach nur, freundlich zu sein. Er wird bestimmt früher oder später herkommen und nach dir sehen, Kleine.“ Ich starrte nach unten, wand mein Gesicht aus seiner Hand. „Darek, du hast mir gerade das Leben gerettet. Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.“ „Am besten gar nicht. Sonst fühle ich mich noch, als habe ich was Gutes getan!“, sagte er. Ich schüttelte schwach den Kopf. „Stell dich nicht so dar. Du bist nicht so Böse, wie du dich selbst immer machst.“ Darauf antwortete er nichts mehr, sondern legte mich nur sanft auf eine Decke unter mir, die mir gar nicht aufgefallen war. „Am besten du schläfst jetzt ein bisschen. Und wenn du aufwachst, wird es dir schon besser gehen, versprochen. Wir können nicht ewig hierbleiben, ich werde mal mit Mr. Perfekt reden.“ Er strich mir ein paar Haare aus dem Gesicht und stand dann auf, und verschwand aus meinem Sichtfeld. Ohne Kontrolle darüber zu haben, fielen augenblicklich meine Augen zu. Mit dem Gedanken an meine Mutter und an Nathan schlief ich langsam ein.

Chapter 11

 

„Cassie!“ Nein, noch nicht. Ich wollte noch nicht aufwachen. Nur noch ein kleines bisschen. „Cassandra!“ Bitte. Mein Traum war so schön, und so warm wie die Begegnung mit meiner Mutter. Vielleicht konnte ich noch mal einschlafen, vielleicht konnte ich noch mal mit ihr reden… „Kleine, steh schon auf.“ Ich schlug die Augen auf, als ich den tiefen, warmen Ton von Dareks Stimme zum dritten Mal hörte. Es war noch immer dunkel und auch der Boden unter mir fühlte sich noch hart und sandig an, trotz der Decke. „Na endlich. Komm, der Engel will weiter. Und du musst was essen und trinken.“ Ich setzte mich auf, Darek kniete neben mir. In seiner Hand war ein Becher mit Wasser, den er mir übergab und auf seinem Schoß lag eine Scheibe Brot. „Du hast fast zwei Tage geschlafen. Wie geht’s dir?“, meinte er nur kauend. Ich nickte kurz. „Ganz gut, eigentlich.“ Das eigentlich traf es wohl sehr gut, denn auch wenn sich mein Bein schon viel besser anfühlte, dröhnte mein Kopf und mein Körper fühlte sich schwer und kribbelnd an. Ich hatte wohl tatsächlich sehr lange einfach nur dagelegen. Dankend nahm ich auch das Brot von ihm an und stellte den Becher neben mir ab. „Versuch mal, aufzustehen.“ Er hielt mir eine Hand hin, und nachdem ich fertig gegessen hatte, nahm ich sie zitternd. Mit unglaublicher Kraft zog er mir einhändig auf die Beine und legte dann die freie Hand stützend um meine Taille. Zum Glück, denn ohne sie wäre ich einfach wieder zusammengeklappt. Der stechende Schmerz in meinem Bein war stärker, als ich erwartet hatte. Nicht unmöglich auszuhalten, aber dennoch erschrak ich darüber.

Darek handelte schnell, hielt mich fest und legte meinen Arm um seine Seite. Wie jedes Mal, wenn ich ihn berührte, fühlte ich dieses kühle Kribbeln und im Grunde wollte ich mich schon wieder von ihm losdrücken, doch ich hatte keine andere Wahl als seine Hilfe anzunehmen. Vorsichtig und stets darauf bedacht, nicht an seine verletzte Schulter zu kommen, machte ich ein paar Schritte. Mit jedem Mal wurde es etwas besser, und nachdem wir ein paar Meter hin- und hergelaufen waren, fühlte es sich nur noch halb so schlimm an. Zwar war noch immer ein leichtes Ziehen da, doch ich würde es ertragen können. Erst jetzt sah ich mich nach Nathan um. Er stand am Eingang des Raumes, einem Loch in der Wand mit einem Teppich davor, der schräg zur Seite geklemmt war. Neben ihm stand die Frau, diese wunderschöne, schlanke Frau. Sie war ihm zugewandt, und er sah nur kurz zu mir auf, ehe er wieder mit ihr sprach. Erneut war es Darek, der mich von seinem Anblick ablenkte. „Na siehst du, das klappt doch schon. Bis in ein oder zwei Tagen kannst du sicher wieder etwas besser laufen. Zum Glück waren es nur oberflächliche Wunden, scheint als hättest du Hilfe von da oben gehabt.“, sagte er mit einem Schmunzeln. Seine Worte ließen auch mich leicht lächeln, denn er wusste nicht, wie recht er damit hatte. Kurz dankte ich innerlich meiner Mutter, oder ihrem Geist oder was auch immer das gewesen war. Denn sie hatte mich tatsächlich gerettet. Darek dankte der Frau noch mal, die uns beide versorgt hatte, dann half er mir dabei, zu Nathan zu laufen. „Klar, ich hab kein Problem damit.“, hörte ich ihn sagen. Als wir näherkamen verstummte er und musterte mich kurz. „Alles klar?“ Ich konnte nicht fassen, dass seine erste Frage genau diese war. Natürlich war nicht alles klar. Es war gar nichts in Ordnung, aber alles was ich tat war mit den Schultern zu zucken und mich wieder Darek zuzuwenden. Ich würde mich nicht aufführen wie ein eifersüchtiges kleines Mädchen. Nathan konnte selbst entscheiden mit wem er sich abgab und was er tat, und ich fühlte mich auch schuldig Darek gegenüber. Immerhin hatte er mich dieses Mal gerettet, und nicht der Engel, der eigentlich für meinen Schutz verantwortlich war. Oder? Darek musterte die Frau, und sie sah zurück mit einem schwachen und freundlichen Lächeln. „Ich bin Shamara.“, stellte sie sich mit einer hohen und schönen Stimme vor. „Nathan hat gesagt, ich kann euch vielleicht begleiten und helfen.“ Ihre Worte ließen mich zusammenzucken. Darek starrte erst sie, und dann Nathan an. Der Engel zuckte schwach mit den Schultern. „Sie kann kämpfen. Und Wunden verarzten, und sie möchte hier raus.“ Der Antichrist sah kurz zu mir herab, dann nickte er der Frau zu. „Ich bin Darek, der Böse hier. Und das da ist Cassandra, die Weltretterin. Wenn du mitkommst, erwarte nicht dass ich nett zu dir bin.“, erklärte er nur kurz, dann ging er an ihr und Nathan vorbei und zog mich einfach hinter sich her. „Was genau sollte das?“, fragte ich ihn leise zischend. Im Grunde war ich froh über diese Geste, aber dennoch fühlte ich mich schlecht für Shamara. Vielleicht war sie ja eine ganz nette Person. Darek zog mich ein paar Stufen nach oben, bis wir fast ganz von der Dunkelheit des engen Flurs umgeben waren. Dann drückte er mich plötzlich gegen die sandige Wand hinter mir, und lehnte sich nah zu mir nach vorne. „W-Was machst du denn da…?“, keuchte ich leise und schockiert. Er hielt meinen Arm fest nach hinten gedrückt, sodass ich mich nicht losreißen konnte und lehnte sich mit der anderen Hand gegen die Wand. Ich hatte also keine Fluchtmöglichkeit. Fassungslos sah ich nach oben in sein Gesicht, dass nur durch das leichte Glimmen seiner Flügel erhellt wurde und mit einem schwachen Lächeln zu mir heruntersah. „Ich hab mich jetzt ganz schön lange zurückgehalten, Kleine. Aber jetzt bist du zumindest nicht mehr ganz so wehrlos, das kann ich mit meinem Gewissen vereinbaren.“ Ich zappelte und versuchte, ihn von mir wegzuschieben – natürlich ohne Erfolg. Er war viel kräftiger als ich, und noch immer fühlte ich mich schwach durch die letzten Tage ohne Bewegung und Essen. „Darek, ich hab gerade angefangen dir zu vertrauen. Mach es nicht kaputt… Bitte!“, flüsterte ich verzweifelt, doch das Grinsen aus seinem Gesicht verschwand nicht. Er beugte sich noch näher vor, bis uns nur noch wenige Millimeter trennten. Erst jetzt sah ich in seine Augen, und für den Bruchteil einer Sekunde war dort etwas Trauriges zu sehen. Zum ersten Mal hatte er tatsächlich ein kleines Gefühl gezeigt, wenn auch unbeabsichtigt. Doch mir blieb nicht lange Zeit darüber nachzudenken, denn schon im nächsten Moment berührten seine Lippen mich sanft und er küsste mich leidenschaftlich. Ich versucht irgendwie, mich von ihm zu lösen, ihn loszuwerden, doch ich konnte nicht. Ich war wie erstarrt, konnte mich nicht mehr bewegen. In mir baute sich ein Gefühl auf, dass ich schwer erklären kann, eine Mischung aus angenehmer Kälte und Angst und gleichzeitig diesem Kribbeln im Bauch, dass so typisch ist, wenn mich Darek berührt. Zitternd unterließ ich meine Versuche ihn wegzudrücken, aber nur so lange, bis er sich endlich von mir löste. Augenblicklich verflog der Zauber, und mir wurde bewusst dass ich ihm wieder einmal völlig unterlegen war. Mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, schubste ich ihn nun zurück und sah ihn verletzt an. „Ich kann nicht verstehen, was in deinem Kopf vorgeht, und wieso du dir herausnimmst das immer wieder aufs Neue tun zu dürfen! Bleib weg von mir!“, rief ich, dann eilte ich an ihm vorbei. Ehe ich ganz oben angekommen war packte er noch mal mein Handgelenk und hielt mich auf. „Ich wollte herausfinden, was er tun würde. Ich wollte es dir nur zeigen.“ Dann ließ er mich gehen, noch fassungsloser als zuvor stolperte ich auch noch den letzten Schritt nach oben. Nathan hatte mir nicht geholfen, und das, obwohl er nur wenige Schritte entfernt gestanden hatte. Und jetzt, nachdem ich Darek angeschrien hatte, musste er es einfach gehört haben. Ich starrte die Treppen herab, hoffte, dass er mir nachkommen oder nach mir sehen würde, aber es blieb einfach nur dunkel und still. Er würde nicht kommen, um mir zu helfen. Ich war jetzt auf mich allein gestellt, und das hatte mir Darek gerade noch mal bewiesen. Aber ich verstand nicht, wieso. Was hatte ich denn so schlimmes getan? War es nur wegen dieser einen Umarmung gewesen? War sein Stolz so sehr verletzt deswegen? Oder einfach, weil ich gesagt hatte, Darek könne mitkommen? Ich verstand die Welt nicht mehr.

Draußen war es dunkel, und recht kühl im Vergleich zu dem Tag, an dem wir hier angekommen waren. Die Stadt war nur noch ein Trümmerhaufen, es gab eine kleine Feuerstelle um die ein paar Männer saßen und mir leicht zunickten, als ich zu ihnen sah, und ein paar provisorische Zelte schienen nun als Unterkünfte zu dienen. Die Leichen hatten sie wohl weggeschafft, es waren nirgends mehr welche zu sehen. Nur noch vereinzelt gab es dunkle Blutflecken im Sand, die etwas Unwirkliches hatten und mich wieder an den Lärm und die Grausamkeit des Kampfes erinnerten. Endlich hörte ich hinter mir ein paar Stimmen, als zuerst Nathan und Shamara und kurz darauf auch Darek die Stufen hinaufkamen. Der Antichrist warf mir einen Blick zu, aber ich wich ihm aus und starrte dann zu Nathan. „Ich schlage vor, du und Darek geht zurück zur Hütte. Shamara und ich werden weiter nach Plan vorgehen.“ Er wusste ja gar nicht, wie sehr mich diese Worte verletzten. Ich schluckte und nickte dann, ganz schwach. Selbst Darek schien über diese Idee etwas überrascht zu sein, zuckte jedoch mit den Schultern. „Wenn es das ist, was du willst, Engelchen.“ Ich wünschte mir so sehr, er hätte irgendetwas geantwortet. Ich wünschte mir, mein Engel würde wieder zu mir gehören und auf mich aufpassen und sich über mich beschweren. Aber er tat nichts, nahm nur Shamara’s Hand und verschwand dann mit ihr. Innerlich spürte ich einen starken, unerklärlichen Schmerz. Ich wollte nicht, dass er mich allein ließ. Darek trat neben mich, ohne mich anzusehen und sah sich dann noch mal in dem Lager um. „Wusstest du, dass die Frauen die hier arbeiten, fast alle gar keine Ausbildung haben? Sie helfen, weil sie es wollen. Sie ist eine nette, tolle Frau, und ihre Seele hat nichts Dunkles an sich. Aber vergiss niemals, dass du diejenige bist, die er braucht. Und erinnere dich daran, was er dir im Wald gesagt hat. Ein Engel wie Nathan sagt solche Dinge nicht, ohne sie ernst zu meinen.“ Ich sah zu dem Antichristen auf. Wieso versuchte er mich aufzumuntern? Wieso war er überhaupt für mich da? Noch immer verstand ich es nicht, verstand ich ihn nicht. War er nun gut, böse, gemein oder unglaublich nett? In der einen Sekunde machte er abfällige Bemerkungen, in der nächsten küsste er mich. Er versuchte mich auf seine Seite zu ziehen, und sprach mir dann wieder Mut im Bezug auf Nathan zu. Was genau war Darek für mich? Und noch wichtiger, was war ich für ihn? Nathan hatte immer wieder gesagt, ich wäre bloß sein Spielzeug, und dass er versuchte, mich auszunutzen. Aber dennoch hatte er mir nie etwas Schlimmes angetan, abgesehen von den Küssen und seinen nervigen Sprüchen. Im Gegenteil, er war gerade in den letzten Tagen eher für mich da gewesen. Aber dieselben Fragen konnte ich mich auch bei Nathan fragen. Was genau sah er in mir? War ich nur das Mädchen, das ihn in den Himmel zurückbrachte? Oder war ich diejenige, um die er sich wirklich sorgte? Ich wurde erst aus meinen Gedanken geworfen, als Darek kurz gegen meinen Arm tippte. „Noch da?“, fragte er mit einem schwachen Lächeln. Ich nickte kurz, unsicher darüber was ich sagen sollte. „Lass uns gehen. Wir können hier nichts mehr machen.“, sagte ich. Doch Darek schüttelte den Kopf. „Wir können hier so einiges machen. Und ich habe keine Lust, das zu tun was Nathanael von uns verlangt. Du hast doch die Männer da drüben gesehen?“ Er deutete auf das Lagerfeuer. „Ich werde sie mal fragen, was sie so an Waffen auftreiben können. Immerhin soll ich dich ja trainieren. Und sobald es hell ist, können wir ihnen vielleicht beim aufbauen des Dorfes helfen, oder beim verarzten der Verletzten. Ich denke die Grundlagen hast du im Sanitätskurs deiner Schule bereits gelernt.“ „Woher weißt du davon?“, fragte ich ihn erstaunt. Ich hatte in der siebten und achten Klasse tatsächlich einen Grundkurs über Erste Hilfe belegt, aber er konnte doch unmöglich davon wissen. Eigentlich wusste niemand davon, meinem Vater hatte ich es nie erzählt und in der Schule hatte mich natürlich auch keiner wahrgenommen. „Ich weiß so einiges über dich, Kleine.“ Mit einem Zwinkern ließ er mich stehen und lief zu den verhüllten Männern, um ein Gespräch mit ihnen anzufangen. Offensichtlich verstanden sie ihn, und er setzte sich bald schon zu ihnen. Etwas verloren blieb ich stehen, ging dann aber zurück zum Eingang des unterirdischen Krankenlagers. Ich würde meine Schüchternheit wohl oder übel ablegen müssen. Ich brauchte nicht lange, um mich an die Dunkelheit zu gewöhnen, da es ja auch draußen nicht viel heller gewesen war. Suchend blickte ich mich nach einer der Frauen um, die sich auch um Darek und mich gekümmert hatten. Gerade in diesem Moment kam ein hübsches junges Mädchen auf mich zu, sie war vielleicht ein oder zwei Jahre jünger als ich. Auch ihr Gesicht war nicht ganz verhüllt, und schwarzbraune Locken, die denen von Shamara ähnelten, fielen aus den Tüchern hervor. Auch die großen, runden Augen des Mädchens sahen wie kleine Kopien von den mandelförmigen, warmen Augen der jungen Frau aus. Wenn ich Shamara’s Alter nicht völlig falsch eingeschätzt hatte, war sie aber noch zu jung für eine so große Tochter. Es blieb also nur die Möglichkeit einer kleinen Schwester, die mir sehr wahrscheinlich vorkam. „Entschuldige…“, fing ich an. Das nett wirkende Mädchen schenkte mir ein Lächeln und sah mich fragend an. „Ich wollte fragen, ob ich irgendwie helfen kann.“ Sie schien kurz zu überlegen. Vielleicht verstand sie mich ja gar nicht, ich bezweifelte, dass sie allzu oft deutschsprachige Menschen um sich herum hatte. Dann nickte sie. „Ja. Kannst du Verbände legen?“, fragte sie dann plötzlich in einem recht guten Deutsch. Sie lächelte erneut, offensichtlich sah sie mir meine Überraschung im Gesicht an. „Mein Großvater war einmal ein deutscher Mann. Er hat früher viel Zeit mit mir verbracht.“ An manchen Worten hörte man dennoch ihren starken Akzent, aber ich war unglaublich froh, dass es jemanden gab der mich verstand. Mir fiel erst jetzt ein, dass Shamara ja auch beinahe perfektes Deutsch gesprochen hatte. Dass mich das vorher nicht verwirrt hatte, fand ich nun beinahe etwas absurd. „Das freut mich! Ja, ich kann Verbände legen und Wunden säubern. Zeig mir bei wem und womit.“, meinte ich dann nur. Sie nickte und führte mich zu einem kleinen Hocker, auf dem zerrissene Tücher und Lappen und ein paar mit Wasser gefüllte Eimer standen. Anfangs fiel es mir noch unglaublich schwer, einfach zu den fremden Leuten hinzugehen und sie anzufassen oder zu versorgen. Manche der Männer und Frauen husteten heftig, waren voll mit Blut oder zitterten am ganzen Leib. Es gab einige schlimme Wunden, aber darum musste ich mich nicht kümmern. Doch schon nach kurzer Zeit fiel es mir leichter, es machte mir sogar Spaß. Ich vergaß für kurze Zeit all die Sorgen, um Nathan, um die Zukunft und um Luzifer, und war einfach nur für diese Menschen da. Ich half ihnen, wusch sie so gut es ging, verband kleine Wunden, brachte ihnen etwas Wasser oder sprach ihnen Mut zu. Einer der Männer bedankte sich besonders stark bei mir, und drückte mir sogar ein kleines silbernes Armbändchen in die Hand, welches er einmal gefunden habe. Er wollte, dass es mir Glück bringt. Ich nahm es dankend an, und mir wurde wieder aufs Neue bewusst, wie unglaublich wichtig es war, anderen zu helfen. Erst, als Darek mit schweren Schritten die Stufen herab trat und mich zu sich rief, kam die Realität zu mir zurück. Obwohl ich schon an seinem Blick ablesen konnte, dass wir wohl nicht mehr lange bleiben würden, hatte mir dieser Ort gut getan. Schon seltsam, oder nicht? Ein Ort voller Schmerzen und Krankheit und Angst, und dennoch fühlte ich mich gut. Dabei lag es einfach nur daran, dass ich hatte Menschen helfen können, und dass ich einfach mal wieder die unbekannte Cassie sein durfte, die ich einst war. Bevor ich zu Darek ging, passte ich noch mal das nette Mädchen ab, das mir zuvor geholfen hatte. Ich drückte ihr das silberne Armband in die Hand, und umarmte sie leicht. „Danke, und viel Glück auch weiterhin. Es ist toll, was du hier machst.“, sagte ich leise. Sie lächelte schwach. „Bring mir nur bitte Shamara zurück.“, hörte ich sie noch leise flüstern, als ich mich bereits wieder umgedreht hatte. Ich wollte noch mal innehalten und mit ihr reden, doch Darek ging das Ganze offensichtlich zu lange und er rief erneut nach mir, dieses mal um einiges ungeduldiger. Mit einem leisen Seufzen ging ich zu ihm, aber bevor wir den Raum verließen, drehte ich den Kopf dann doch noch mal zu dem Mädchen um und rief: „Ich verspreche, wenn ich es irgendwie schaffe wird sie sicher zu dir zurückkommen!“ Dann folgte ich dem Antichristen zurück nach oben, wo zwei der verhüllten Männer von zuvor uns erwarteten. In ihren Händen hielten sie zwei gebogene, leicht verrostete Säbel, eine Pistole, ein paar kleinere Messer und ein etwas größeres Gewehr. Darek bedankte sich mit einer angedeuteten Verbeugung und schlug ihnen vor, die Sachen auf den Boden zu legen. Die Männer tauschten einen kurzen Blick und ließen sie dann fallen. Darek tauschte noch mal ein paar Worte mit ihnen in einer Sprache aus, die ich nicht verstand, dann verließen sie uns um sich wieder ans Lagerfeuer zu gesellen. Dass ich überhaupt etwas sehen konnte, lag nun am Schein von Dareks Flügeln. Konnten die Männer denn auch dieses Licht nicht sehen? Fasziniert blieb mein Blick kurz an den züngelnden Feueradern hängen, ehe ich es ihm gleichtat und mich den Waffen widmete. Er hob jede einzelne kurz hoch, schien das Gewicht abzuschätzen und entsicherte auch die Pistole mit einem beunruhigenden Klicken. Dann hielt er mir das kleine und handliche Geschoss hin. „Ich denke, damit solltest du klarkommen. Die Messer kannst du auch haben.“, meinte er. Ich starrte auf die Waffe in meiner Hand. „Wen soll ich denn damit umbringen? Ich töte keine Menschen!“, sagte ich fest. Doch Darek lachte nur kurz auf und band sich dann das Gewehr - oder was auch immer es genau war – mit einer dafür vorgesehenen Schnalle um den Rücken. Die gebogenen Säbel ließ er am Boden liegen. „Wir werden ja sehen, wofür sie noch gut ist. Aber es kann nicht schaden, wenn du dich wenigstens ein bisschen selbst verteidigen kannst. Ich hoffe, du fühlst dich besser?“ Mit einem kritischen Blick besah er mich von oben bis unten, dann drehte er sich um. „Anscheinend gibt es einen kleinen Übungsplatz, nicht weit weg von hier. Laut den Männern hier wird er im Moment nicht benutzt, da die Truppen dort abgezogen wurden. Ich würde sagen, wir versuchen unser Glück.“ „Du meinst, wir laufen jetzt einfach zu irgendeinem verlassenen Trainingsplatz ohne zu wissen wem er gehört, um was es hier überhaupt geht oder ob er auch wirklich nicht besetzt ist?“, fragte ich ungläubig. Darek grinste und nickte dann.

„So in etwa, ja. Irgendwelche Einwände? Nein? Na dann, los!“ Ehe ich auch nur den Mund aufmachen konnte um etwas zu sagen, packte er meine Hand und lief schnellen Schrittes los. Fassungslos ließ ich mich von ihm mitziehen und aus der Stadt herausbringen. Sobald wir die Trümmer und zerfallenen Hütten hinter uns gelassen hatten, waren wir allein mit der Wildnis. Es gab keine Orietneirungspunkte mehr, nur noch Sand und Staub und vereinzelt ein paar Kakteen oder dürre Grashalme. Am Horizont schlich die aufgehene Sonne ihren Weg entlang und bot uns einen wunderschönen Anblick; ihre noch schwachen Strahlen ließen den Boden glühen und gaben jedem noch so kleinen Steinchen einen besonderen Glanz. Der Himmel hatte sanfte Farbtöne angenommen, ein schwaches Rosa und sanftes Blau gingen perfekt ineinander über. Darek schien sich nicht besonders für diese atemberaubende Schönheit zu interessieren, sondern stapfte einfach zielstrebig weiter. Beinahe musste er mich ziehen, denn wenn er nicht meine Hand gehalten hätte, wäre ich vermutlich mit offenem Mund stehen geblieben. Bald schon erreichten wir den Trainingsplatz, der nicht aus mehr als einem verlassenen Bunker und einem mit kleinen Markierungen versehenen Übungsfeld bestand. Ein paar Zielscheiben standen noch herum, beinahe völlig zerfetzt und leicht im Wind flackernd. Mittlerweile war die Temperatur deutlich angestiegen, die Sonne wurde bereits so früh schon unerbittlich heiß und brennend. „Na dann, versuch es mal.“, meinte Darek einfach und schob mich in einiger Entfernung vor eine der Zielscheiben. „Wenn du das Ding triffst, bekommst du eine Belohnung.“ Er grinste mich an, doch mein eher genervter Blick ließ ihn mit den Schultern zucken. „Du musst dir keine Sorgen machen, du wirst es sowieso nicht treffen.“, fügte er dann hinzu. Ich hob die Pistole mit beiden Händen leicht zitternd nach oben, schloss ein Auge und versuchte mich auf das Ziel zu konzentrieren. Mit einem lauten Knall flog die Kugel davon, beinahe 10 Meter daneben. Darek lachte auf und sah mich an. „Das wird ein langer Tag.“ Dann trat er hinter mich, unangenehm nah hinter mich, und legte einen Arm an meine Hüfte. Mit dem Anderen umschloss er meine Hände ganz sanft, und richtete sie erneut nach oben in Richtung der Zielscheibe. Ich spürte seine Haare an meiner Wange, seinen Atem auf meiner Schulter als er sich leicht vorbeugte und meine Haltung durch leichten Druck seines Amres verbesserte. „Und jetzt schließ die Augen, und versuche die Pistole in deiner Hand zu fühlen. Sie gehört zu dir, und das Ziel ist nur ein Hindernis. Wenn du die Augen wieder öffnest, drückst du ab ohne lange nachzudenken.“ Seine Stimme war leise, rau und tief und er sprach ganz ruhig und langsam. Ich erschauderte leicht, dann tat ich was er sagte. Mit einem lauten Knallen drückte ich erneut ab, nachdem ich die Augen wieder geöffnet hatte. Durch den Rückprall stolperte ich ein kleines bisschen mehr gegen Darek, doch er hielt mich fest. Als ich nun zum Ziel sah, erkannte ich, dass es ein weiteres Loch auf einer der Seiten hatte. Fassungslos drehte ich mich zu dem Antichristen um. „Wie.. wie hast du das gemacht?“, fragte ich ihn. Doch er ließ mich los und hob abwehrend die Hände, ein breites Grinsen auf seinem Gesicht. „Ich habe gar nichts gemacht. Das warst du. Und du bist ein wahres Naturtalent, wie’s aussieht.“ Verwirrt sah ich zu ihm hoch und schüttelte den Kopf. „Aber vielleicht sollte ich jetzt mein Wort halten und dir deine Belohnung geben.“ Ich zuckte zusammen und machte schnell einen Schritt zurück, doch Darek war schneller. Er griff nach meinem Handgelenk, zog mich an sich und beugte sich herab. Ich wollte mich wehren, aber ich konnte nicht. Seine Lippen berührten meine, ganz sacht, ganz kurz nur, doch ein angenehmes Schaudern durchfuhr mich und ich erstarrte. Ich hatte es wirklich nicht gewollt, aber ich war so frustriert wegen Nathan, seiner tollen neuen weiblichen Begleitung, seinem Verhalten und Dareks plötzlicher Nähe, dass ich es tatsächlich genoss. Das war die Sekunde, in der ich es spürte. Nathan. Es war seltsam, aber ehe sich Darek wieder von mir löste, wusste ich, dass Nathaniel hier war. „Scheint als kämen wir ungelegen.“

Darek drehte sich um, ein gewinnendes Lächeln auf dem Gesicht, und sah direkt in das Gesicht des Engels. Auch Shamara war hier, sie stand ein Stückchen hinter Nathan, und war, wie er auch, bedeckt mit Staub und kleinen Kratzern. Nun war mir auch klar, warum ich Nathan sofort gespürt hatte: Er schien noch mehr Kraft erlangt zu haben. Seine Aura war viel stärker, viel mächtiger, und seine Flügel glänzten mehr denn je. Nur sein Gesichtsausdruck passte nicht, er sah enttäuscht aus, wütend, verwirrt. Ich fragte mich, ob er wirklich so überrascht war, oder ob es ihm einfach nur darum ging, dass er Dareks Grinsen nicht ertragen konnte. Immerhin war er doch bei Shamara, er hatte mich mit Darek zurückgelassen. Ich hatte nun mal keine Chance gegen den Antichristen. „Nathan, wie’s aussieht wart ihr erfolgreich?“, fragte ich leise, mit einem leicht verbitterten Unterton. Dieses Mal würde ich mich nicht entschuldigen, ich würde nicht versuchen es zu erklären. Er würde mir ja doch nicht glauben. Darek sah kurz mit hochgezogenen Augenbrauen zu mir, dann wandte auch er sich wieder an den Engel. Nathans Gesicht hatte unterdessen von enttäuscht zu wütend gewechselt. „Was genau treibt ihr hier eigentlich? Ich habe euch in der Hütte gesucht. Und dann spüre ich euch hier auf und…?“

Ich sah ihn lange an, sagte aber nichts. Dann berührte Shamara von hinten leicht seinen Arm, etwas, was ich so gerne auch gemacht hätte. „Vielleicht ist es ja ein Missverständnis, Nathan. Vielleicht solltet ihr kurz miteinander reden.“ Und mit einem flüchtigen Blick auf Darek fügte sie noch hinzu: „Allein.“ Darek lächelte. „Ich bezweifle, dass es hier irgendwelche Missverständnisse gibt. Wir alle wissen doch, wieso die kleine Cassie einen von uns liebt, oder nicht?“ Dann zog er mich einfach an seine Seite und grinste Nathan provozierend an. Ich wollte gerade protestieren und irgendetwas sagen, als Nathan mir ins Wort fiel. „Wieso sagst du es nicht einfach? Dass sie dich liebt? Dass ihr nun zusammen seid, euch verbündet und es dir wieder einmal gelungen ist, mir etwas wegzunehmen? Bist du denn jetzt glücklich?“ Dann sah er zu mir herab, voller Wut und Enttäuschung. „Und ich hoffe, er wird dir wehtun. Und du wirst sehen, was für eine Art Kerl er ist. Ich hoffe, ihr schafft es nicht, Luzifer zu besiegen.“ Er drehte sich abrupt um, die Hände zu Fäusten geballt. Ich starrte seinen Rücken an, unfähig, etwas zu sagen. Darek aber ließ mich los, wirbelte Nathan an der Schulter zu sich herum und schlug ihm mit aller Kraft mit seiner Faust ins Gesicht.

Es war ein so heftiger Schlag, dass Nathan augenblicklich ein Stück zurücktaumelte und darum bemüht war, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Ehe er sich erholen konnte, machte Darek einen Schritt auf Shamara zu, berührte leicht ihren Arm und war dann mit ihr verschwunden. Ich stand einfach da, erstarrt, ungläubig. Was geschah denn hier gerade? Und was machte Darek denn bloß? Hatte er zuvor etwa gemeint, dass alle wüssten, dass ich Nathan liebte?

Ein leiser, kehliger Fluch aus Nathans Mund brachte mich zurück in die Realität und ich starrte ihn an. Was sollte ich tun? Zu ihm zu gehen traute ich mich nach seinen Worten von gerade eben nicht mehr, aber ohne Darek konnte ich hier auch nicht verschwinden. Nathan richtete sich gerade wieder einigermaßen auf, und überraschenderweise war sein Gesicht nicht mehr durchzogen von Wut, sondern er wirkte eher ruhig und traurig. „Cas. Wieso.. wieso machst du das hier? Wieso kannst du nicht einfach sehen, wie wichtig du bist?“ Ja, wichtig für deine Zwecke, dachte ich. Er sah mich lange an, schien auf eine Antwort zu warten, doch ich gab ihm keine. Dieses Mal nicht. „Cassandra. Ich liebe dich.“

Mein Herz machte einen kleinen Aussetzer, es pochte erst gar nicht mehr und dann in schnellen, unregelmäßigen Abständen. Meine Augen weiteten sich und ich suchte in seinem Gesicht nach Sarkasmus, nach dem gewissen Funken der mir verriet, dass er seine Worte nicht ernst meinte, dass er sie nur sagte, um mich zu ärgern oder mir wehzutun. Doch da war nichts, nur diese ehrliche Trauer, diese Enttäuschung.

Wenn er mich liebte, wieso war er dann so gewesen in letzter Zeit? Und wieso war er mit Shamara verschwunden, hatte mich allein mit Darek zurückgelassen? Er konnte es einfach nicht ernst meinen, ganz gleich, wie ich es drehte und wendete.

Also schüttelte ich den Kopf.

„Du lügst. Das ist alles zuviel. Was ist mit Shamara? Was ist mit Darek? Was ist mit deinem abweisenden Verhalten? Wenn du versuchst mich zu verletzen, dann erklär mir wenigstens wieso, Nathan.“ Meine Stimme klang brüchig, beinahe schon so, als würde ich gleich anfangen zu weinen. Nathan legte den Kopf schief. „Du frägst, was mit Shamara ist? Ich hab versucht, dich mit ihrer Hilfe besser zu verstehen. Ich dachte, vielleicht versteht ein Mädchen besser wieso du nicht auf mich hörst, wieso du dich selbst immer wieder in Gefahr bringst und wieso du Darek so oft vergibst. Und naja, sie hat mir gesagt, ich soll dir einfach die Wahrheit sagen. Also sind wir zurückgekommen, und da stehst du, und küsst Darek. Und alles was ich machen kann ist hier zu stehen und zu versuchen, dich umzustimmen und davon zu überzeugen, dass ich die Wahrheit sage. Wieso ich dich bei Darek allein gelassen habe? Weil ich dachte, dies sei die einzige Möglichkeit, dich von den gefährlichen Orten fernzuhalten, an die ich gehen muss um meine Kräfte zu erlangen. Und damit du mich gehen lässt, war ich abweisend. Aber ich war auch stur. Ich hab nicht eingesehen, wie wichtig du mir wirklich bist. Wie sehr ich dich liebe. Selbst wenn wir das hier nicht schaffen sollten und ich nicht zurück nach hause kann, macht es mir nun nichts mehr aus. Nicht solange du da bist.“ Mittlerweile waren tatsächlich Tränen in meine Augen gestiegen, ich schluchzte und versuchte seine Worte zu begreifen und sie mir zu merken und für immer einzuprägen. Anscheinend fasste er mein Weinen falsch auf, er wirkte noch enttäuschter und suchte nach neuen Worten, doch anstatt ihn noch mal sprechen zu lassen machte ich einen Schritt nach vorne und umarmte ihn so fest ich konnte. Mein Gesicht vergrub ich in seinem staubigen Oberteil, die Tränen, die noch immer an meiner Wange herab liefen schmeckten nun noch salziger als zuvor. Doch ich konnte endlich wieder seine Nähe spüren, die Wärme, die mein Herz zum rasen brachte. Auch wenn Dareks bittersüße Kälte mich faszinierte, fühlte ich mich bei Nathan geborgen, sicher, beschützt. Ich liebte ihn, und das wusste ich, und dass er mich auch liebte erschien mir wie ein Traum.

Er legte seine Arme um meinen Rücken und stützte seinen Kopf auf meinem ab, und so verharrten wir dann. Noch immer kämpfte ich gegen den Unglauben in mir an, gegen die Angst, enttäuscht und belogen zu werden. Doch auf der anderen Seite wollte ich dieses Glück nicht wieder loslassen.

„Nathan. Versprich mir dass du das ernst meinst. Versprich mir, dass du nicht lügst.“ Ich löste mich ein Stück aus der Umarmung und sah zu ihm hoch, in seine wunderschönen, blau strahlenden Augen. Sein Blick ruhte auf mir, es schien als würde er all seine Kraft in seine nächsten Worte legen.

„Ich verspreche es.“

Chapter 12

Nachdem ich die Pistole wieder aufgehoben hatte, nahm Nathan meine Hand und schloss die Augen, um uns zurück zu Shamara und Darek zu bringen. Das Gefühl seiner warmen Finger, die sich mit meinen verschränkten, fühlte sich ungewohnt und angenehm an. Normalerweise war es immer nur eine Geste zum Zweck gewesen, nun hatte es eine Bedeutung.

Es wunderte mich kaum, als sich vor uns langsam das Bild der Hütte aufbaute. Wie ich bereits zuvor bemerkt hatte, war sie nun unser Zuhause. Ich war erleichtert, endlich die stickige, trockene Luft der Wüste loszuwerden und den Geruch des feuchten Waldes einatmen zu können.

Als wir eintraten, saßen Darek und Shamara am Tisch und spielten… Poker? Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. Tatsächlich, sie hatten eine kleine grüne Stoffmatte vor sich ausgebreitet, auf der ein Stapel und ein paar offen daliegende Karten waren. Neben Darek türmten sich Pokerchips, während Shamara offensichtlich dabei war zu verlieren. Mal abgesehen von den Chips und ihrem verzweifelten Gesichtsausdruck konnte man das daran erkennen, dass sie nur noch ihre Hose und einen BH trug.

Nathan starrte verwirrt zu dem Tisch, ich befürchtete, er würde das ganze falsch auffassen und stellte mich deswegen ein Stückchen vor ihn. Als Darek uns sah hellte sich sein Gesicht erst auf, beim Anblick unserer verschränkten Hände aber schien sein Blick kurz zu gefrieren und er wandte den Blick wieder ab, um sich mit einem gewinnenden Lächeln seinen Karten und der halbnackten Shamara zu widmen. „Da seid ihr ja!“, rief diese und machte Anstalten aufzuspringen, überlegte sich dies jedoch in Anbetracht auf ihre aktuelle Bekleidung noch mal. Nathan zog die Augenbrauen hoch und wechselte einen skeptischen Blick zwischen mir und Darek, da er sich offensichtlich fragte ob er der Einzige war, der diese Situation nicht ganz verstand. Woher auch hätte ein gefallener Engel wissen können, wie Strip-Poker funktionierte? Dieser Gedanke trug noch mehr zu meiner Belustigung bei, und offensichtlich hatte auch Darek nun sein ratloses Gesicht bemerkt. „Willst du nicht auch mitspielen, Cassie? Ich denke, das würde sicher nicht nur mir gefallen.“, grinste er. Ich sah ihn mit einem gespielt vorwurfsvollen Blick an. „Ganz sicher nicht. Es ist schlimm genug, dass ihr sowas überhaupt spielt. Ist ja nicht so, als würde die Welt gerade untergehen.“ Eigentlich sollte es irgendwie witzig klingen, doch bereits einige Sekunden bevor ich meinen Satz beendet hatte sah ich etwas in den Augen der beiden, das mir Angst machte: Schuld. War irgendetwas geschehen? Normalerweise würde Darek sich doch nicht von ein paar Worten aus dem Konzept bringen lassen oder überhaupt so etwas wie Gefühle zeigen, oder nicht? Ich machte einen Schritt vor. „Was ist passiert?“

Shamara sah wieder zu mir und Nathan hoch. Doch anstatt etwas zu sagen, drehte sie sich auf dem Stuhl um und drückte auf den kleinen roten Knopf eines alt und verstaubt aussehenden Radios, das hinter ihr auf der Küchenablage stand.

„…Panik. Es gibt keine Hoffnung mehr. Wir berichten hier von den letzten Stunden, die diese Welt noch zu haben scheint. Großstädte sind zerfallen, die Naturkatastrophen scheinen ihren Höhepunkt erreicht zu haben. Wenn sie da draußen uns hören können: Beten sie. Denn alles andere wird nichts mehr bringen. Also… ANDY! OH SHIT VERDA…….“ Ein lauter Knall unterbrach die Flüche des Radiosprechers, dann war es still im Raum.

Ich starrte schockiert auf das kleine Gerät, dann in die auf den Boden gesenkten, leeren Blicke von Darek und Shamara und dann zu Nathan, der mit verkrampften Muskeln, zusammengepressten Händen und einem gefühlslosen Gesichtsausdruck dastand.

Konnte das wirklich sein? War es schon soweit? Hatten wir viel weniger Zeit, als ich anfangs dachte? Dann plötzlich sprang Darek auf, als habe ihm jemand ein Messer in den Hintern gestochen. Er krampfte sich zusammen und sah dann zu mir auf. „Cassie. Das ist eine Falle er ruft mich. Er ruft mich in dein Dorf.“ Seine Stimme war nun mehr ein heiseres Keuchen, und er krallte sich in sein Oberteil als würde er keine Luft mehr bekommen. Unfähig etwas zu tun stand ich da, schockiert, überrumpelt. Nathan machte einen Schritt neben Darek, sah ihn kurz mit einem nachdenklichen Blick an und schloss dann angestrengt die Augen. Seine engelsgleiche Aura wurde wieder stärker und mir wurde langsam bewusst, dass nicht mehr viel fehlte um ihn mit Engeln wie Armefia oder Dokiel vergleichen zu können. Nathan war kurz davor, seine ganze Kraft wiedererlangt zu haben, und offensichtlich half was-auch-immer-er-da-tat auch gegen Luzifer. Darek nämlich keuchte auf, holte tief Luft und war langsam fähig wieder ruhiger zu atmen, dann sah er ungläubig zu Nathan.

Shamara wirkte unterdessen hin- und hergerissen, ob sie sich ihr Oberteil wieder anziehen sollte. Sie schaute kurz zu Darek, zuckte dann mit den Schultern und streifte sich den staubigen Stoff über. Nathan hatte während dessen seine Augen wieder geöffnet und schaute nun zu mir. „Cas. Ich glaube, er will dass wir dorthin kommen. Vielleicht ist das unsere Chance, ganz gleich ob es eine Falle ist oder nicht.“ Ich sah in seine Augen, dann zu Shamara, der mutigen jungen Frau die sich uns so bedingungslos angeschlossen hatte, und vor der meine Achtung mittlerweile gestiegen war, und dann zu Darek, dem Antichristen, der für mich unglaublich wichtig geworden war in den letzten Wochen. Wir hatten keine Chance, ganz gleich wie Nathan es formulieren wollte. Aber wir hatten einen Willen und wir würden es versuchen. Ich nickte. „Dann lasst uns gehen.“ Doch Darek räusperte sich und schüttelte denn hektisch den Kopf. „Ganz so leicht werden wir es ihm nicht machen, das kannst du vergessen Cassie.“ Ich sah ihn verwirrt an. „Aber wenn wir nicht gleich losgehen, könnte es zu spät sein!“ „Es bringt aber auch nichts dort aufzutauchen, wenn wir nichts ausrichten können. Aber ich muss dich kurz alleine sprechen.“ Dareks Blick rutschte zu Nathan und ich verstand zwar nicht wieso er nicht wollte, dass Nathan zuhörte aber ich nickte. Dann packte ich seinen Arm und schleppte ihn in das Schlafzimmer.

„Beeil dich und sag was du sagen willst…. Darek da sind Leben auf dem Spiel wir haben jetzt keine Zeit mehr…“ Er unterbrach mich mit einer Bewegung seiner Hand, beugte sich nah zu mir vor und flüsterte dann heiser in mein Ohr. Ich schauderte und war mir nicht sicher, ob er das nur tat weil er nicht wollte, dass Nathan uns verstand oder aber um mich zu ärgern. „Ich habe einen Plan. Vielleicht ist er ein bisschen verrückt, aber er ist besser als alles, was wir bisher hatten.“ Verwirrt wartete ich darauf, dass er fortfuhr. Dann kam er meinem Ohr noch näher, und hauchte die Worte hinein, die über die nächsten Stunden meines Lebens entscheiden sollten.

Mit einem leicht verdutzten Blick und großen Augen sah ich ihn an, als er fertig war, dann schluckte ich, und nickte.

Er sah mich noch für einen kurzen Moment ernst mit seinen roten Augen an und gab mir dann einen seltsamerweise sachten Kuss auf die Stirn. Dieses Mal wich ich nicht zurück, ich spürte dass er keine negativen Gedanken hegte und es fühlte sich eher beschützend an als verlangend. Wir öffneten die Tür wieder, draußen hatten Shamara und Nathan die Waffe, die Darek hergebracht hatte gerade fertiggeladen und Nathan erklärte ihr, dass er keine Pistole brauchen würde.

Ich schwieg, sah noch einmal jeden an, und nahm dann wieder die Hand meines Engels. Shamara zog die Augenbrauen hoch, lächelte schwach und nahm dann Dareks Hand, und langsam veränderte sich die Umgebung. Es war vielleicht das letzte Mal, dass ich diese Hütte gesehen hatte. Dieser Tag war vielleicht der letzte, den ich erlebte. Und vielleicht auch der letzte, an dem die Erde wie ich sie kannte noch existierte.

 Langsam erkannte ich die Umrisse der Häuser vor uns, ich roch den vertrauten Geruch von Wald und Wiese. Kindheitserinnerungen flackerten kurz vor mir auf, Erinnerungen an das erste Mal, als ich mit dem Fahrrad hingefallen war und an den Tag, als ich im Dorfbrunnen ausgerutscht war. Ich fragte mich, ob sich auch irgendjemand an mich erinnern würde. Wahrscheinlich eher nicht. Die Menschen, die ich innerhalb des letzten Monats getroffen hatte, waren größtenteils tot. Und die Menschen die mich früher gekannt hatten, für sie war ich niemand Besonderes. Noch bevor wir wirklich richtig angekommen waren, wusste ich schon wo wir Luzifer finden würden. Da das Dorf auf einem Berg lag, gab es einige Meter weiter oben eine kleine Plattform mit einer wunderschönen Aussicht auf die nächstgelegenen Städte und Berge. Von dort aus konnte man alles im Blick behalten, und Luzifer wäre dumm, wenn er nicht dort auf uns wartete. Und tatsächlich, als ich mich zur Plattform umdrehte, konnte ich zwar nichts sehen… aber ich spürte es. Auch Nathan, Shamara und Darek drehten sich instinktiv um, sahen hinauf und wir tauschten einen kurzen Blick und ein Nicken aus, wobei Dareks Blick eine Weile länger auf mir blieb und ich noch mal kaum merklich und mit ernstem Gesichtsausdruck nickte. Ich durfte den Plan nicht vergessen. Er war unsere einzige Möglichkeit, diesen Tag zu beenden. Während wir uns langsam und alarmiert auf den Weg nach oben machten, bemerkte ich plötzlich das leichte Beben. Ehe ich etwas sagen konnte, standen sie vor uns: Eine Gruppe wunderschöner, sicher dreinblickender Engel. Ich erkannte einige der Gesichter wieder, sie waren damals in Armefia’s Gerichtssaal gewesen und hatten für mich gegen ihre Brüdern und Schwestern gekämpft. Der Engel, der uns aus dem Haus teleportiert hatte, trat nun einen Schritt nach vorne.

„Wir wissen, was ihr vorhabt. Aber ihr könnt nicht alleine gegen Luzifers Streitmächte ankommen. Seine Armee ist schon zu groß.“ Die Stimme des Engels klang erbost, aber dennoch irgendwie ruhig. Sein Blick aber galt vorwurfsvoll Darek. Natürlich wussten sie davon, dass er Menschen für Luzifer getötet hatte. Und plötzlich begann ich mich zu fragen, wie viele Menschen das denn wirklich gewesen waren? Nathan seufzte tief. „Ich hoffe, ihr seid nicht hier um uns aufzuhalten?“, fragte er. „Nein. Wir haben abgestimmt und beschlossen, das zu tun, was wir für richtig halten. Wir werden euch helfen.“ Nun war es Darek, der verwirrt wirkte. „Die Engel auf der Erde kommen zu uns, um uns zu helfen? Nach allem, was passiert ist?“ „Wir sind bestimmt nicht wegen dir hier, Antichrist. Aber das Mädchen, Cassandra, hat uns überzeugt. Ihre Stimme lügt nicht, wenn sie spricht. Ihre Ausstrahlung ist ehrlich und rein. Und ich nehme an, du hast bereits selbst in ihre Seele gesehen und denkst dasselbe. Deswegen solltest du nun auch gut auf sie aufpassen.“ Er wandte sich an Nathan. „Und für dich gilt das Gleiche, Nathaniel. Du willst Vergebung, du willst wieder nach Hause. Heute ist deine Chance, ganz gleich wie das hier ausgeht. Du wirst zurück können. Also beschütze dieses Mädchen mit deinem Leben.“ Nathan sah ihn lange an und nickte. Ich fühlte mich irgendwie seltsam, sie sprachen, als sei ich nicht anwesend oder einfach nur ein kleines Mädchen, das man nicht weiter zu beachten brauchte. Irgendwo hatten sie damit zwar recht, aber etwas in mir ließ mich dennoch schlucken. Nathans sanfter Atem neben meinem Kopf ließ mich plötzlich erschaudern. „Hör auf, dieses besorgte Gesicht zu machen, dummes Mädchen.“, hauchte er. Ich sah zu ihm auf, sah in die lila Sprenkel seiner Augen, die wie Sterne glitzerten.

Der Engel, der gesprochen hatte, räusperte sich leicht. „Ich denke, wir sollten hier keine Zeit mehr verschwenden. In jeder Sekunde sammelt Luzifer mehr Kräfte.“ Die Plattform war nur noch wenige Meter entfernt, man konnte die Dunkelheit die von dort ausging bereits fühlen. Es würde nicht mehr als ein paar Schritte brauchen, ehe wir Angesicht zu Angesicht vor Luzifer standen. Ich nickte und wollte weiterlaufen, als plötzlich Darek neben mich trat. „Jetzt, Cassie.“ Und bevor Nathan begreifen konnte, um was es ging, wirbelte ich zu Darek herum, packte seine Hand und wir verschwanden. Das letzte was ich erkannte war Shamara, die gekünstelt gegen Nathan stolperte und ihn so noch ein bisschen länger aufhielt.

Jetzt musste es schnell gehen, wir hatten nur wenige Minuten. Ich wusste nicht genau wo wir waren, es war irgendeine Umkleide, und es war auch nicht weiter wichtig. Darek warf mir einen silbergrauen Haufen aus Tüll und Seide zu, und während ich meine Klamotten abstreifte und dort hineinkroch starrte er mich einfach nur an. Sobald ich fertig war widmete er sich kurz meinen Haaren, doch schon nach wenigen Sekunden nickte er zufrieden.

„Es wird funktionieren. Alles was du nun tun musst, ist selbstbewusst zu wirken. Den Rest erledige ich. Es wird klappen, solange Nathan nicht dazwischenfunkt.“ Ich nickte, sah an mir herab und berührte dann wieder seinen Arm. „Danke, Darek. Für alles. Es hätte auch anders laufen können. Du bist unglaublich wichtig für mich.“, flüsterte ich, als sich um uns herum langsam das Bild einer beginnenden Schlacht zusammensetzte. Der Himmel war noch immer dunkel, fast schwarz. Es war wie eine Sonnenfinsternis, und die Erde bebte in leichten Abständen. Wind rauschte stumm durch die angrenzenden Bäume, dicke Regentropfen fielen langsam herab und die Luft fühlte sich angespannt an. Wir erschienen gerade in der Sekunde, als die Engel auf das pure Böse trafen. Wenn ich früher einmal eine solche Szene in einem Film gesehen hätte, hätte ich über die Schwachsinnigkeit darin gedacht. Über das Zusammentreffen von Gut und Böse, über die finale Schlacht. Über den letzten Schachzug. Und nun war ich mittendrin. Die wunderschönen Engel mit ihren leuchtenden Flügeln, den klaren Gesichtern und dünnen, silbernen Plattenrüstungen, die mit Verzierungen versehen waren, stürzten sich auf Luzifers Untertanen. Ich erkannte ein paar Gesichter wieder, eine Frau, die damals in der großen Halle, in der ich mit Darek gewesen war, mit ihrem Handy an uns vorbeigelaufen war, einen alten Mann den ich mal im Fernsehen gesehen hatte. Es waren Menschen gewesen, ganz normale Menschen wie ich auch. Doch sie hatten alles an sich verloren. Ihre Körper wirkten kräftiger, als sie es vielleicht einmal gewesen waren. Ihre Hände waren irgendwie sehniger, fast wie die Krallen von Raubkatzen. Und ihre Gesichter… spiegelten Hass wieder. Weiße, leere Augen, und ein bösartiges Grinsen zierten die Gesichtszüge eines jeden einzelnen von ihnen. Während sie nun auf die Streitmächte des Himmels zurannten, schienen sie von dunkler Macht und Boshaftigkeit besessen zu sein. Ihr Lächeln verschwand nicht, selbst als einer der Engel den ersten von ihnen mit einer langen, silbernen Klinge und in einem hellen Aufleuchten erstach. Doch ich musste meinen Blick abwenden, musste diesen Teil den Engeln überlassen. Mittlerweile hatte sich die Welt um uns herum gefestigt, und ich erkannte einige Meter vor mir Nathans Flügel. Dicht neben ihm stand Shamara in einer geduckten Kauerhaltung und wich einem der Dämonenmenschen aus. Ein lauter Knall ließ mich zusammenzucken, und als ich mich nach seiner Ursache umsah erblickte ich den noch glühenden kleinen orangefarbenen Ball neben mir am Boden. War das… ein Meteorit? Tatsächlich, innerhalb von den nächsten Sekunden erklangen noch mehr dieser Aufschläge, und die Luft füllte sich mit kleinen, schwachen Funkenschwärmen. Es war beinahe wie der Regen, die meisten der Kugeln waren nicht größer als ein Staubkorn. Doch sie brannten, und gaben dem grauen Himmel einen rötlichen, feurigen Schimmer. Zu jeder anderen Zeit hätte ich diesen Feuerregen wunderschön gefunden, doch mir blieb keine Zeit. Ich hatte ihn gefunden.

Und er schien auf mich zu warten. Luzifer war nicht einfach irgendjemand, er war der alte Mann, den ich vor langer Zeit im Wald vor der Hütte getroffen hatte. Ich erinnerte mich an den Namen, den er mir genannt hatte. LeFuet. teuFeL. Teufel. Es war so offensichtlich, dass es schon wieder komisch war. Das einzige, was ihn von diesem Mittag unterschied, waren die riesigen, schwarzen Schwingen auf seinem Rücken. Sie waren nicht wie Nathans glänzende Federflügel, oder Dareks Feueradern. Irgendwie erinnerten sie mich an Fledermausflügel, nur viel riesiger. Sie waren auch nicht wirklich schön, sondern eher zerissen, verbrannt. Und ein dunkler, schwarzer Rauch umgab sie, der in seltsamen Bewegungen um sie herumzuckte als wäre er ein Teil von ihnen. Ich hatte noch nie etwas derartig Beeindruckendes und Erschreckendes zugleich gesehen. Es schien als würden sie seine bloße Existenz unterstreichen, als würden sie die Bosartigkeit, die Wut, den Hass und die Selbstsicherheit, die ihn umgab verkörpern. Luzifer selbst trug eine schwarze Rüstung, die aus Leder bestand und mit blutroten Flecken übersät war. Auch sie brannte an manchen Stellen. Sein Gesicht war kalt, aber zufrieden. Er schien das Chaos zu genießen, schien es willkommen zu heißen.

Dann sah er mich, und all diese Zufriedenheit verschwand innerhalb von einer Sekunde.

Es klappte.

Mit langsamen, schwingenden Schritten lief ich geradewegs auf ihn zu. Ich sah in seine Augen, so dunkel wie die Nacht und glänzend durch den hellen Schein der Feuerfunken um uns herum. Ich wusste, wenn ich den Blick nun abwandte, wäre alles vorbei. Also zwang ich mich, weiterzugehen. Es kam mir vor, als würden diese wenigen Meter in Zeitlupe vergehen. Die Schlacht, die immer brutaler und erbitterter um mich herum tobte, wirkte plötzlich unglaublich weit weg. Vor mir war nur dieses eine Ziel, nur dieser eine Mann. Er bewegte sich nicht, wirkte erstarrt. Gefühle huschten über sein Gesicht, die man niemals von Luzifer erwartet hätte. Aber er war auch einmal ein Engel. Und Engel können lieben.

Als ich neben mir Nathans Stimme hörte, hätte ich beinahe versagt. Beinahe wäre meine aufgesetzte Überzeugung verschwunden, meine zitternden Beine hätten versagt, mein Herz wäre stehen geblieben. Ich hörte ihn Flüstern, hörte den ungläubigen Ton in der Stimme des Engels. Er sagte einen Namen, doch es war nicht meiner. Als Darek mir seinen Plan, seine völlig verrückte Idee erzählt hatte, hatte ich ihm beinahe nicht geglaubt. Doch nun war mir klar, er hatte Recht. Es gab nur einen einzigen Grund, weshalb ich diejenige war, die das alles beenden sollte. Es gab nur einen Grund, warum Luzifer nun so dastand, verharrend, unfähig sich zu bewegen. Und Darek hatte ihn herausgefunden. Das silberne Tüllkleid hing an mir herab, als sei es für mich gemacht. Es hatte feine, weiße Ärmel aus Spitze, eine silberne Schleife, die um meine Hüfte hing. Von da an fiel es in mehreren Lagen von silbernem Stoff an meinen Beinen herab, umfasste sie dort und öffnete sich an der Seite mit einem hohen Schlitz, der dem ganzen eine weibliche Betonung gab. In den Stoff eingelassen waren hunderte kleiner Diamanten, und in jedem einzelnen von ihnen spiegelten sich nun die Funken des leuchtenden Feuerregens wieder. Das Kleid war nicht neu, es war am Saum verstaubt, und ein einziger, großer, roter Fleck war dort, wo mein Herz lag. Ich wusste nicht, woher Darek es hatte. Es gehörte ihr, der Frau, für die Nathan den Himmel verlassen hatte. Die Frau, die einen Pakt mit einem Dämonen gemacht hatte. Die ihn so enttäuscht hatte. Was ich jedoch nicht gewusst hatte, war die Tatsache, dass es nicht irgendein Dämon gewesen war.

Es war Luzifer höchstpersönlich.

Und da er auch nur ein Engel war, wenn auch ein gefallener, dunkler Racheengel des Bösen, hatte er sie geliebt. Vielleicht gab es in Luzifers gesamten Plan keine Schwächen, er wusste alles, er war mächtig und er war klug. Aber gegen die Liebe konnte noch nicht einmal er ankommen.

Zuerst war ich skeptisch gewesen, für ein paar Sekunden. Doch was ich jetzt in seinen Augen ablas, gab mir meine ganze Sicherheit zurück. Heute würde ich es beenden. Ich würde auf ihn zuschreiten, würde ihn berühren und er wäre völlig machtlos. Das fühlte ich. Ein plötzlicher Aufschrei neben mir riss mich aus diesen langsamen Sekunden heraus, ich erkannte erneut Nathans Stimme, dieses Mal nicht verwirrt oder überrascht, sondern einfach nur voller Angst. Was hatte er gesagt? „Cas, tu es nicht. Du wirst sterben!“

Du wirst sterben. Sterben. Was bedeutete das schon? Wenn ich mit dieser kleinen Geste die ganze Welt retten konnte, wenn ich das Leiden stoppen konnte, ich Menschen helfen würde… was bedeutete schon der Tod? Anstatt mich von seinen Worten durcheinanderbringen zu lassen, ging ich einfach weiter. Meine braunen Haare lockten sich auf meinen Schultern, kleine Glutfünkchen verhakten sich darin und der noch immer leicht fallende Regen löschte sie wieder. Die Kette meiner Mutter fühlte sich schwer auf meiner Brust an, sie schlug gegen den Blutfleck des Kleides, wo das Herz der Frau von den Engeln herausgerissen worden war. Sie hatten ihn verletzen wollen, hatten ihn von Anfang an zurückhalten wollen. Also schickten sie Darek los, um die Frau zu töten, die ihnen einen ihrer treuen Engel gekostet hatte und die Luzifers einzige Schwäche war. Darek hatte schon damals nicht vorgehabt, Luzifers Schoßhund zu werden, er war bereit gewesen, alles zu tun. Und als er es tat, verschwand der Engel der Hölle spurlos, für Jahre. Nur um nun viel zu früh auf der Erde zu erscheinen und sie in riesiges Chaos zu versetzen. Das alles war mir so abstrakt und unwirklich vorgekommen, doch nun bereute ich es nicht, Darek vertraut zu haben. Nur noch wenige Meter trennten mich noch von dem Mann, der Schuld für all das Leid der letzten Wochen trug. Ich wusste, wenn ich meine Hand ausstrecken du ihn berühren würde… Doch in dieser Sekunde wurde ich abrupt nach hinten gerissen, direkt vor Nathans aufgelöstes Gesicht. Er schrie, schrie mich an, doch ich versuchte ihn wegzuschubsen. Dann verschwand er plötzlich von meiner Bildfläche, Dareks feuerfarbene Flügel rissen ihn zu Boden. Ich taumelte kurz, konnte mich aber dann wieder fassen. Nathan und Darek rollten über den Boden, schreiend, und Darek schlug ein paar Mal heftig auf den Engel ein. Ich wollte ihm helfen, aber es war keine Zeit. Nicht jetzt, nicht wo wir so nah an unserem Ziel waren! Aber als ich mich zu Luzifer umdrehen wollte, war er verschwunden. Ich konnte seine Präsenz noch immer spüren, seine Macht war näher als zuvor.

Und da wusste ich es. Langsam, mit aufgerichtetem Blick drehte ich mich um meine eigene Achse, und starrte in seine schwarzen Augen. Das war das Ende. Hier standen wir nun, Auge in Auge. Ich war ihm so Nahe, dass ich die Wärme der Flammen bereits spüren konnte, die über seine Flügel tänzelten. Luzifer, der gefallene, falsche Engel, in seiner ganzen Macht am Tag der alles entscheiden sollte, und ich, ein einfaches Mädchen im Kleid der einzigen Frau, die er jemals geliebt hatte. Im Kleid der Frau, deren Herz von Engeln herausgerissen worden war. Meine Hand zitterte, als ich sie zu seiner Wange erhob. Noch immer lag Unglauben in seinen Augen, Verwirrtheit und eine verzweifelte Sehnsucht durchspielten sie in stetigem Wechsel. Er setzte an um etwas zu sagen, doch das würde alles kaputt machen. Jetzt, oder niemals. Meine zitternden Finger berührten sein Gesicht. Es wirkte wie eine liebkosende Geste, und er zuckte nicht zurück. Viel eher schmiegte er sich an sie, schloss die Augen und atmete ein. Das war der Moment, in dem ich mich fragte, ob es alles soweit hätte kommen müssen. Vielleicht hätte die Liebe zu einer Frau aus ihm jemand anderen gemacht. Vielleicht hätte er nicht das grausame Monster werden müssen, dass er nun war. Zum ersten Mal sah ich den Engel hinter dem Dämon. Doch es hielt nur für wenige Augenblicke an. Dann spürte ich es, ein sachtes Kribbeln, ein seltsames Gefühl dass sich von meiner Hand über meinen Arm bis hin zu meinem Herzen schlich. In derselben Sekunde, in der Luzifer die Augen aufriss, mich anstarrte und einen Schritt von mir wegstolperte, krampfte es sich zusammen. Unfassbare Schmerzen durchzuckten mich, ich fiel auf die Knie. Helles Licht und ein dumpfer, tiefer Aufschlag umhüllten mich. Erneut wurde alles still, doch dieses Mal war es eine schmerzhafte Stille. Ich konnte nicht mehr atmen, es war als wäre in der Mitte meiner Lunge ein Feuer ausgebrochen, welches sich nun durch mich hindurchfraß. Langsam kroch es über meine Lunge auf mein verkrampftes Herz über, zehrte daran und ließ mich laut aufschreien. Dann, ganz abrupt, von einem Moment auf den nächsten war es vorbei.

Ich lag auf dem Boden, dem weichen, kühlen Grasboden. Meine Sicht erschien mir neblig, so als würde ich inmitten von weißem, hellen Licht stehen und versuchen, etwas darin zu erkennen. Luzifer war nicht mehr da, ich spürte es. Es war vorbei. Vor mir fiel ein kleiner Funke ins Gras, und ich erkannte in den leise zischenden, erlischenden Flammen das Lächeln meiner Mutter. Vielleicht würde ich sie ja nun wiedersehen. Mit einem kaum merklichen Lächeln dachte ich an Darek, den Antichristen, der die ganze Zeit für mich da gewesen war. Ich dachte an Joêl, den alten Mann, der so bedingungslos an mich geglaubt hatte. Ich dachte an meinen Vater, der verschwunden war und den ich nie wieder sehen würde.

Und ich dachte an Nathan, den Engel, den ich liebte. Eine leise, stille Träne kullerte an meiner Wange herab und ein heiseres Schluchzen entsprang meinem Mund, welches sich mit meinem traurigen Lächeln und einigen Regentropfen vermischte. Ich würde sterben. Niemals hatte ich wirklich darüber nachgedacht, was diese Worte bedeuteten, und das obwohl ich so oft mein Leben aufs Spiel gesetzt hatte. Als ich meine Augen nun endlich schloss und mich dem weißen Licht hingab, wusste ich, dass ich es geschafft hatte. Darek würde ein normales Leben bekommen können. Die Welt würde sich wieder aufbauen müssen, aber es würde Geschehen. Und Nathan könnte endlich an den Ort zurückgehen, nach dem er sich schon so lange sehnte. Er könnte endlich nach hause gehen.  Ein tröstlicher Gedanke erklomm meinen Kopf, und gab mir die Hoffnung:

Vielleicht würden wir uns ja wiedersehen, da oben.

 

Chapter 13

Und so kommen wir am Anfang meiner Geschichte an. Zitternd und keuchend starrte ich nach oben, direkt in Nathans Gesicht. Immer wieder wiederholte sich die Frage aufs Neue. Was hatte er getan? Das Feuer in meiner Lunge war abgeschwächt, doch noch immer war jeder Atemzug eine Qual. Nathan hielt mich in seinen Armen, die Hände an das Kleid gelegt. Auf seiner Stirn lagen Schweißperlen, er keuchte leicht und angestrengt und ich sah, dass er eine aufgeplatzte Lippe und mehrere Schrammen hatte. Kurz überkamen mich Zweifel, vielleicht hatte ich mich getäuscht, vielleicht war es ja doch noch nicht vorbei? Doch als er meinen Blick sah, sank er ein Stück in sich zusammen und atmete aus. „Cas. Du hast es geschafft. Du hast allem ein Ende gesetzt. Ich war mir so sicher, dass ich dich nun auch verloren hätte!“ Endlich bekam ich auch ein paar Worte heraus, meine Zunge fühlte sich Taub an und ich spürte noch die feuchte Träne auf meiner Wange, als der Wind darüber strich. „Nathan… wieso bin ich nicht tot?“ „Weil ich dich zurückgeholt habe. Ich hab gesehen wie du zu Boden gingst. Aber es ist noch zu früh, Cassie. Du hast zuviel für diese Welt getan, zuviel für mich getan. Du hast noch ein Leben vor dir, und ich konnte nicht zulassen, dass du es für all das hier opferst.“ Ich sah ihn an, fassungslos und merkte, wie erneut Tränen meine Augen füllten. Die Erde bebte noch mal leicht, wie ein schwaches Nachbeben, welches das Ende einer schrecklichen Zerstörung verkündet und bei dem man sich erst bewusst wird, wie groß das Ausmaß überhaupt ist.

Er hatte mich also gerettet. Nathan hatte mich tatsächlich zurückgeholt. Doch wie sollte es nun weitergehen. Ich blinzelte ein paar Mal und versuchte zu erkennen, was in unserer Umgebung gerade geschah. Ich sah, wie Menschen, die zuvor noch grauenvolle Dämonengesichter gehabt hatten, nun mit leerem Blick dastanden und versuchten, sich auf all das einen Reim zu machen. Erleichtert stellte ich fest, dass sie womöglich wieder normal werden konnten. Dann sah ich mich nach den Engeln um, die gerade dabei waren sich zu sammeln. Es waren deutlich weniger von ihnen als zuvor, und sie waren übel zugerichtet, doch sie schienen sich bereits zu erholen. Endlich entdeckte ich Shamara, die an einem Baum lehnte und einen Dolch in ihren Fingern drehte. Ich sah, dass sie eine tiefe Wunde an der Schulter hatte, die womöglich von einer der Dämonenkrallen kam, doch ansonsten wirkte sie ruhig und selbstbewusst. Als ich mich aber nach Darek umsah, blieb meine Sucher erfolglos. Er musste doch auch irgendwo sein. Hatte er nicht zuletzt mit Nathan gekämpft? „Wo ist Darek?“, brachte ich hervor. Nathan schien sich selbst erst umsehen zu müssen, und wurde nicht fündig. „Gerade eben war er noch hier. Er hat mit angesehen, wie Luzifer langsam verbrannt ist und sich seine Macht aufgelöst hat. Dann ist er mit seinem Leichnam verschwunden, aber er versprach, in ein paar Minuten wieder hier zu sein.“ Froh darüber, dass es anscheinend all den Personen, die mir wichtig waren, gut ging, umarmte ich Nathan. Ich liebte ihn in diesem Moment mehr als jemals zuvor. Natürlich würde sich jetzt einiges verändern. Die Welt musste sich regenerieren, zuviel war passiert. Aber die Zeit würde zumindest dieses Mal alle Wunden heilen. Nathan erwiderte meine Umarmung, drückte mich fest an sich. Seine Locken kitzelten meine Wange, und ich strich sie sanft hinter sein Ohr. Alles würde gut werden. Dann beugte er sich ein Stück nach vorne, und zum ersten Mal war ich seinem Gesicht so nahe. Er sah kurz zu meinen Lippen herab und dann wieder zurück in meine Augen, und er wirkte einfach unglaublich erleichtert und glücklich. Ich hatte ihn noch nie zuvor so gesehen, denn es waren immer entweder Sorge oder Wut auf ihm gelegen. Ich legte eine Hand in seinen Nacken, er zog mich an sich und unsere Lippen berührten sich. Es war ein sanfter Kuss, ein warmer Kuss. Mein Bauch kribbelte, und mir wurde warm und kalt zugleich. Ich hatte nicht gewusst, dass ich jemals jemanden so lieben könnte. Doch dann plötzlich bemerkte ich durch meine geschlossenen Augen etwas helles, ein kurzes Leuchten. Ich öffnete die Augen und sah, spürte, wie mehr Kraft in Nathan schloss. Das war die Kraft, die er dafür erhielt, mich gerettet zu haben. Die Kraft, die ihm dazu gefehlt hatte, ein Engel zu werden.

Es war bereits zu spät, als ich meine Lippen von seinen löste, und das Begriff er in der selben Sekunde wie ich. Es war zu spät. Langsam setzte das Leuchten ein, dass ich bereits bei Lariel und bei Armefia gesehen hatte. Ich sah es in Nathans Augen, ich sah die Schmerzen wie sie langsam aufkeimten. In mir zerbrach etwas, es war wie ein Spiegel der auf einen harten Steinboden klirrt und in Milliarden von Teilen zerspringt. Ehe ich meinen Mund öffnen und schreien konnte, riss Nathan mich noch ein letztes Mal an sich, presste seine Lippen ein letztes Mal auf meine. Doch dieses Mal war es kein sanfter Kuss. Es war ein Abschiedskuss.

Dann löste er sich von mir, stieß sich ein Stück zurück, und schrie unter höllischen Schmerzen auf. Es ging schnell, so schnell, dass ich es kaum begreifen konnte, ehe er zu Boden sank, leise keuchend, mit weit geöffneten, traurigen Augen, seine Hand nach mir ausstreckte und leise meinen Namen flüsterte. Ich wollte zu ihm springen, ich wollte ihn berühren und schreien und weinen und ich wollte ihm sagen, dass alles gut würde.

Doch ich konnte nicht, unfähig mich zu bewegen lag ich zitternd da, starrte in seine Augen und auf seine Hand und darauf, wie sein Mund sich ein letztes Mal bewegte, doch es kamen keine Töne mehr heraus. Ich liebe dich.

Und dann lächelte er. Es war ein unglaubliches Lächeln, ein tröstendes, ruhiges, liebendes, schmerzvolles Lächeln. Ich wollte das alles nicht, ich wollte ihn nicht verlieren, nicht so. Wieso hatte er mich zurückgeholt? Ich wünschte mich in den Tod zurück, wünschte, die letzten Minuten wären nicht passiert.

Das konnte doch alles nicht wahr sein. Alles, was er gewollt hatte, war zurückzukehren. Und nun hatte ich ihn getötet. Ich hatte Nathan umgebracht. Diesen Gedanken hielt ich nicht aus, laut aufschreiend kroch ich neben ihn, mein Gesicht nass von all den Tränen, die nun unkontrollierbar hervorquollen. Ich zog seinen Kopf auf meinen Schoß, strich ihm seine wunderschönen, weichen Locken aus dem Gesicht. Für einen Moment redete ich mir ein, er würde nur schlafen. Er war müde, immerhin war das kein Wunder nach der heutigen Anstrengung. Eine neue Träne machte sich auf ihren Weg meine Wange entlang, dann sprang sie ab und tropfte auf sein Gesicht. In ihr spiegelte sich das Licht der untergehenden Sonne, die in genau dieser Sekunde durch die dunklen Wolken brach, und sie leuchtete für ein paar Sekunden in schönen Blau- und Lilatönen auf. Ich starrte darauf, dann wieder in Nathans Gesicht und aauf meine zitternden Hände. Noch immer lag das Lächeln auf seinem Gesicht, es verlieh ihm etwas zufriedenes, ruhiges. Und das, obwohl er mich hätte hassen sollen. Dafür, dass ich nicht die Hilfe gewesen war, die er sich erhofft hatte. Dafür, dass ich ein stures, zickiges kleines Mädchen gewesen war. Für meine Versuche, ihn zu ignorieren. Für all die kleinen, unnötigen Diskussionen und dafür, dass ich nicht auf ihn gehört hatte. Er sollte mich hassen dafür, dass ich ihm nichts von Dareks Plan erzählt hatte, dafür, dass ich im Kleid der Frau die für sein ganzes Schicksal verantwortlich war hier aufgetaucht war. Aber am allermeisten sollte er mich dafür hassen, dass ich ihn umgebracht hatte. Mein ganzer Körper zitterte, und ich war leicht vor und zurückgewippt, als mich plötzlich jemand an der Schulter berührte. Ich zuckte zusammen, unterdrückte das nächste Schluchzen und ließ dann zu, dass sich Darek hinter mich setzte und seine Hand auf meinem Arm verweilen ließ. „Cassie.“, flüsterte er, doch wir beide wussten, dass er nichts sagen konnte um mich zu beruhigen. So saßen wir da, stundenlang, schweigend, nebeneinander. Nathans lebloser Körper lag auf meinem Schoß, und während die Engel sich um die Menschen um uns herum kümmerten, starrte ich einfach nur ins Leere. Ich versuchte das alles zu verbannen, es alles zu vergessen, ihn zu vergessen. Aber ich konnte nicht. Erst als die letzten Sterne der Nacht verblassten und schon der nächste Morgen graute, regte sich Darek neben mir. „Du musst ihn jetzt gehen lassen. Die Engel nehmen ihn mit sich.“ Ich sah auf, starrte ihn an als habe er etwas unglaublich Dummes gesagt, obwohl ich wusste, dass er recht hatte. Wir konnten nicht ewig hier sitzen bleiben. Doch als ich Nathan loslassen wollte, konnte ich es nicht. Meine Hände verkrampften sich, ein tränenersticktes Geräusch kam aus meiner Kehle und ich schüttelte den Kopf. „Wieso, Darek? Wieso hat er mich gerettet. Wenn er das nicht getan hätte…“ Doch Darek unterbrach mich. „Hör auf, dir die Schuld zu geben! Es war seine Entscheidung, und er hat sie aus Liebe getroffen! Cassie… glaub mir. Es ist gut, so wie es ist. Du solltest Leben. Du musst Leben! Was geschehen ist, ist schon viel zu viel für ein Mädchen wie dich, und du wirst lernen müssen, damit umzugehen. Aber vergiss niemals, dass dieser Idiot dich geliebt hat. Er wäre stinksauer, wenn du noch länger hier herumsitzen würdest. Erinnerst du dich daran, als ich euch im Wald unterbrochen habe? Damals sagte er, wenn es um dein Leben ginge würde er lieber weitere hundert Jahre als Unsichtbarer auf der Erde wandeln, als es zu gefährden. Denkst du wirklich, er hätte glücklich werden können mit dem Wissen, dass du tot bist? Und genau deswegen musst du jetzt versuchen, glücklich zu sein.“ Dareks Worte klangen scharf und ernst. Ich sah ein letztes Mal auf den toten, gefallenen Engel vor mir herab. Auf den kalten, abweisenden Nathan, der sich mir endlich geöffnet hatte. Und dann ließ ich ihn los, stand auf und ging fort. Wenn ich mich nun umgedreht hätte, wäre ich zusammengebrochen, wäre das kleine, armselige Mädchen geblieben. Aber tief in mir schob mich etwas weiter, Bilder von Nathan schossen durch meinen Kopf. Ich würde mich an ihn erinnern, ich würde mich an alles erinnern, was wir durchgestanden hatten. Noch während ich lief, fühlte ich Darek neben mir. Seine Flügel waren fort, wie auch das kalte Schaudern, was ich in seiner Nähe gefühlt hatte. Einzig seine roten Augen erinnerten noch an den Darek, der er einmal gewesen war. Gemeinsam liefen wir den Weg wieder herab, den wir gekommen warum, zurück in das Dorf, zurück zum Haus meines Vaters. Darek vergewisserte sich bei einem der Engel, dass Shamara sicher zurück zu ihrem Lager und ihrer kleinen Schwester gelangte, und ehe wir vor der Haustüre ankamen hielt er mich auf. „Da ist noch etwas, was ich dir sagen muss. Vielleicht habe ich dich angelogen, was eine winzige Sache betrifft.“ Nun ja, vielleicht hatte er mich mehr als einmal angelogen, doch ich nickte fragend. Anstatt mir eine Antwort zu geben drehte er sich um und klingelte. Kurz starrte ich ihn verwirrt an, doch als dann plötzlich in der oberen Etage eine Türe aufging und mein Vater langsam die Treppen herunterkam, konnte ich nicht anders als freudig aufzuschluchzen. In seinen Armen hielt er meinen Kater, der maunzend und schnurrend da hing. Fassungslos sah ich wieder zurück zu Darek. „Sie waren die ganze Zeit in Sicherheit. Nachdem Luzifer dich gesehen hatte, habe ich die Kontrolle wiedererlangt und deinen Vater an einen sicheren Ort gebracht.“ Er wich meinem Blick aus, als würde er sich schämen etwas Gutes getan zu haben, aber dennoch grinste er zufrieden. Ich warf ihm einen unglaublich dankbaren Blick zu, ehe ich zu meinem Vater rannte und ihn lange umarmte. Nathan würde mir für immer fehlen, aber ich hatte noch meine Erinnerungen und meine Träume. Vielleicht war die Welt kurz vor ihrem Ende gewesen, aber es gab wieder Hoffnung. Es gab noch immer Menschen, die ich liebte. Darek stellte sich zu uns und lächelte mich kurz an. „Du wirst mich übrigens in nächster Zeit noch ertragen müssen. Ich habe beschlossen, vielleicht ganz in der Nähe eine Wohnung zu mieten. Noch dazu kann ich dich ja nicht aus den Augen lassen, wer weiß, wie du dich sonst wieder in Gefahr bringst.“ Seine Worte erinnerten mich kurz an die ersten Tage, die ich mit Nathan verbracht hatte. An die Zeit, in der er mir ständig vorgeworfen hatte, dass ich nicht auf mich selbst aufpassen konnte. Nun konnte ich es. Mit einem lauten Maunzen sprang mein Kater auf den Boden und gab zu verstehen, dass es Zeit fürs Abendessen war.

 

- The End.   

Impressum

Texte: Alle Rechte für dieses Buch liegen bei mir. Es darf nicht weiterverbreitet werden, ohne meine schriftliche Genehmigung.
Bildmaterialien: Das Coverbild ist ein Stock von Random-Acts-Stock auf deviantart.com
Tag der Veröffentlichung: 20.07.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Diabolo, meinen kleinen grauen bösen Kater.

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