Cover

Prolog

„Hast du das Schild da gesehen?“, fragte mich mein Freund während wir gemütlich durch die Stadt bummelten und ich folgte seinem Blick. „Welches denn?“, hakte ich nach, als ich von allein nicht fündig wurde. „Na, das dort drüben, am Schaufenster der Buchhandlung!“, präzisierte er seinen Fingerzeig und blieb stehen. Ich tat es ihm gleich. „Aushilfe gesucht“, las ich laut vor. „Wäre das nicht was für dich?“, riss er mich aus meinen Gedanken. „Ein Aushilfsjob?!“, wiederholte ich stirnrunzelnd. Es war noch nicht lange her, dass ich meinen gutbezahlten Bürojob an den Nagel gehängt hatte, weil mir das alles zu viel geworden war, aber als Aushilfe wollte ich auch nicht wirklich enden. Dementsprechend verzog ich das Gesicht. „Schau's dir doch einfach mal an“, schlug Jonas vor, während ich noch immer die Stirn runzelte. „Hast ja nichts zu verlieren!“, fügte er hinzu und ich gab mich geschlagen. Hätte ich da schon gewusst, dass die nächsten Monate eine wahre Achterbahnfahrt der Gefühle werden würde, wäre ich vermutlich einfach weitergelaufen. Aber glücklicherweise kann kein Mensch in die Zukunft schauen ...

Eins

Nervös mache ich mich vor dem großen Spiegel zurecht. Mir ist nicht klar warum, aber ich will hübsch aussehen an meinem ersten offiziellen Arbeitstag. Hübsch, aber auf keinen Fall overdressed! Und das, obwohl ich ausschließlich Kolleginnen um mich haben werde. Es ist nur ein Aushilfsjob. Zwanzig Stunden die Woche, nicht der Rede wert, bremse ich meine Euphorie, habe aber ein verdammt gutes Gefühl bei der Sache. Meine neue Chefin ist mit ihren achtundzwanzig Jahren nur ein paar Jährchen älter als ich und mir auf Anhieb sympathisch. Das Probearbeiten hat super funktioniert und noch heute werde ich meinen Vertrag unterschreiben. Ein gutes Gefühl! Auch das, was ich bislang vom restlichen Team gesehen habe, gefällt mir. Genau wie die familiäre Stimmung, die unter den gerade mal drei anderen Angestellten offensichtlich herrscht. Alles in allem freue ich mich auf das, was mich erwartet.

Jonas ist schon aufgebrochen. Er hat die Frühschicht und wird nicht vor achtzehn Uhr zu Hause sein. Aber das ist okay für mich. Wir leben sowieso eher nebeneinander her in der letzten Zeit. Ach, was sag ich? War es jemals anders gewesen? Manchmal kommt mein Freund mir wie ein verlässlicher WG-Partner vor, nur dass ich die Drecksarbeit ganz allein machen muss, in unserer kleinen Gemeinschaft. Aber was tut man nicht alles ...

Um kurz nach halb acht verlasse ich die Wohnung. Gut gelaunt und voller Tatendrang. Um zur Buchhandlung zu gelangen muss ich einen Fußmarsch von gerade mal fünfzehn Minuten zurücklegen. Ich kenne die Strecke gut, schließlich wohne ich schon mein halbes Leben in dem kleinen Nest, dass sich Stadt schimpft. Mit dem Fahrrad wäre ich sicherlich schneller, aber heute ist mir nach Laufen zu Mute. Außerdem werde ich erst um acht erwartet.

Mit einer schwarzen, schicken Stoffhose und einem gestreiften, engen Pullover bin ich einigermaßen adrett gekleidet. Dazu die schlichten Ballerinas und ich fühle mich wohl in meiner Haut. Beste Voraussetzungen also. Das blonde, lange Haar habe ich mir zu einem wippenden Pferdeschwanz gebunden. Ganz unverbindlich. Und so mache ich mich auf den Weg.

Vor dem Laden angekommen überprüfe ich mein Handy. Ich trage grundsätzlich weder Schmuck noch sonstige Accessoires, weshalb ich auch nicht über eine Armbanduhr verfüge. Es ist bereits fünf Minuten vor acht, aber im Laden ist noch alles dunkel. Logisch – er öffnet erst um neun, aber da ich um acht herbeizitiert wurde … Nun ja, sinnlos sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Abwarten und Tee trinken heißt die Devise, oder in meinem Fall Kaffee, denn genau gegenüber gibt es eine Bäckerei.

Abgehetzt und eine Entschuldigung murmelnd kommt meine neue Chefin zehn Minuten später auf mich und den Laden zu gestürmt. Ihre dunklen Haare sind wild zerzaust, was mich annehmen lässt, dass sie verschlafen hat. Knapp nur, aber immerhin. Das macht sie gleich noch sympathischer in meinen Augen. Ich verkneife mir ein Grinsen und grüße sie freundlich.

Sie schließt den Laden auf und wir laufen quer durch, wo sie eine weitere Tür öffnet, die ins Lager und angrenzende Büro führt. Ich folge ihr und versuche mir all das zu merken, was sie mir zwischen Tür und Angel erklärt. „Am besten, du schreibst dir alles auf, was ich sage“, meint sie. „Ich weiß – das klingt blöd, aber... so hab ich das auch gemacht, damals!“ Ich nicke gehorsam und krame einen Block aus meiner Handtasche hervor. Mein Gott, bin ich gut vorbereitet!

Wir lassen uns an dem großen Schreibtisch nieder und sie schaltet hastig den PC an. „Nimmst du bitte den Schlüssel aus der Schublade heraus und holst das Wechselgeld aus dem Tresor?“, fragt sie, während sie ein Passwort in das aufpoppende Feld tippt. „Er ist in der kleinen, grauen Schachtel und genau da gehört er auch anschließend wieder hin!“, erklärt sie, während ich ihrer Aufforderung Folge leiste. „Tut mir leid, dass das heute morgen so hektisch abläuft“, entschuldigt sie sich und ich bin angenehm überrascht von ihrer Freundlichkeit. „Aber ich muss die Kasse machen. Danach können wir uns unterhalten, okay?“ „Gerne!“, erwidere ich, hole das Wechselgeld ordnungsgemäß heraus und beobachte dann neugierig, was Aisha da gerade macht. „Passwörter und dergleichen werde ich dir später geben“, informiert sie mich, während sie die Scheine zählt und das Ergebnis auf dem Computer verewigt. „Es müssen immer genau 750 Euro Wechselgeld in der Kasse sein. Scheine und Münzrollen. Und das jeden Morgen“, fährt sie fort. Ich schreibe es mir auf, obgleich ich es mir auch hätte merken können.

Als Aisha fertig ist, atmet sie erleichtert durch und es ist das erste Mal an diesem Morgen, dass ich sie lächeln sehe. Sie hat ein außerordentlich hübsches Lächeln. Generell ist sie eine sehr attraktive, sympathische Frau. Ich bin mir jetzt schon sicher, dass wir Freunde werden könnten.

„So, geschafft!“, ruft sie aus und fügt hinzu: „Jetzt muss ich nur noch die Kassenunterlagen drucken und dann wär's das fürs erste! Wollen wir einen Kaffee trinken?“ „Klar!“, erwidere ich. Ich hatte zwar erst einen gehabt, aber aus irgendeinem Grund wäre ich mir bei Ablehnung wie eine Spielverderberin vorgekommen. Und jetzt mal ganz ehrlich... Kann man jemals genug Kaffee haben?!

Wir gehen in die kleine Ladenküche. Aisha bedient die Kaffeemaschine und ich stelle mit Wehmut fest, dass es sich um eine dieser Pad-Maschinen handelt, die eigentlich eher Wasser produzieren, als richtigen Kaffee. Natürlich halte ich mich mit einem entsprechenden Kommentar zurück, denn ich will einen guten Eindruck machen und nicht den Anschein erwecken, als wäre ich eine verwöhnte Ziege. 

„Was hast du eigentlich vorher gemacht?“, fragt mich Aisha, während sie Tassen aus einem Schrank holt.  „Ach, ich war Empfangsdame im Büro!“, spiele ich meine Tätigkeit herunter, weil ich generell kein Mensch bin, der gerne prahlt. „Das ist ja ein Zufall! Ich komm auch aus dem Büro!“, eröffnet sie strahlend. „Dass ich im Einzelhandel gelandet bin, war eher Zufall. Aber es macht Spaß. Der Laden ist schön und das Team ist toll. Es wird dir hier gefallen!“ Daran zweifele ich keine Sekunde. Dennoch weiß ich, was jetzt kommt. „Und wieso hast du aufgehört, im Büro?“„Ach... mein Chef... Er konnte mich nicht leiden und hat mir das Leben zur Hölle gemacht und das nur, weil sein geschwätziger Lebensgefährte mir jedes intime Detail ihrer sexuellen Beziehung offenbar hat – als ob mich das interessiert hätte!“ Ich seufze schwer. Das war wirklich keine angenehme Zeit gewesen. „Dein Chef war schwul?“, hakt Aisha verblüfft nach. „Ja, wieso?“ So außergewöhnlich ist das doch gar nicht. Oder? „Schon wieder ein Zufall! Unser Bezirksleiter ist dies ebenfalls.“ „Bezirksleiter?“, hake ich nach. „Ja, er ist für alle Filialen in der Umgebung zuständig. Aber ich warne dich schon mal vorher... Er ist wirklich ungenießbar manchmal!“ „Oh“, ist alles, was mir dazu einfällt. Schon wieder ein Zufall oder besser gesagt eine Parallele. Aber keine wirklich schöne.

 

Zwei

 

„Was hast du eigentlich für einen Abschluss?“, fragt Aisha und reißt mich somit aus meinen Gedanken. „Fachabitur“, erwidere ich und sie grinst so schelmisch, dass ich sie nur stirnrunzelnd mustern kann. „Ich glaube, wir haben eine ganze Menge gemeinsam!“, meint sie. „Ich hab auch Fachabi. Genau wie mein Freund!“ „Oh, wie lange seid ihr denn schon zusammen?“, erkundige ich mich neugierig. „Acht Jahre.“ „Das gibt’s ja nicht! Genauso lange wie ich mit meinem Freund!“ Wir grinsen uns beide an und kurz darauf durchschneidet ein Klingeln die Stille. Panisch wirft Aisha einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Scheiße!“, zischt sie und ich starre sie mit weit aufgerissenen Augen an. Was ist das denn? Der Laden verfügt über eine Klingel? „Komm, schnell!“ Hektisch läuft sie voraus und ich folge ihr zögerlich.

In Windeseile schließt sie die Ladentür auf und ein junger, großgewachsener Kerl kommt zum Vorschein, bei dem es mir die sprichwörtliche Spucke raubt. So etwas habe ich noch nie erlebt! Nicht mal bei Jonas.

Ach, du meine Güte, schießt es durch meinen Kopf und mein Herz setzt tatsächlich einen Schlag lang aus. Dies änderte sich jedoch, als er seinen Mund aufmacht. Er hat mich noch nicht gesehen und ich halte mich wohlweislich zurück, denn er faucht wutentbrannt: „Haben Sie mal auf die Uhr geschaut, Frau Oglu?! Es ist fünf vor neun und hier vorne ist noch nicht mal die Beleuchtung an!“ Sein Tonfall hat etwas dermaßen respekteinflößendes, dass ich schlucken muss und auch Aisha scheint ganz offensichtlich eingeschüchtert zu sein, denn sie liefert untertänig eine Erklärung ab: „Ich habe heute die Neue eingearbeitet, weil ich doch nächste Woche im Urlaub bin. Wir wollten gerade aufmachen“, nuschelt sie.

Seine dunklen Augen lodern und dann fällt sein Blick auf mich. Einen Augenblick, der mir wie eine kleine Ewigkeit vorkommt, sieht er mich nur stumm an. Offensichtlich ist er nicht darüber informiert, dass heute der erste Tag der neuen Aushilfe ist. Entweder das, oder es interessiert ihn schlichtweg nicht, denn er wendet ohne Gruß den Blick ab.

Ich komme auf ihn zu, lächele verschämt und stelle mich mit meinem Vornamen vor. Fast so, als würde ich mit ihm flirten wollen.  Was bin ich nur für eine dämliche Kuh? Denn er sagt nur: „Dressler!“ Unverbindlich und mit versteinerter Miene.

Ich muss schlucken und komme mir sofort total idiotisch vor. Da sind wohl die Hormone mit mir durchgegangen. Durch die familiäre Atmosphäre, die hier vorherrscht und durch sein offensichtlich extrem junges Alter, bin ich naiver Weise davon ausgegangen, dass wir uns alle duzen würden, aber davon kann bei diesem Herren offenbar keine Rede sein.

Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, wendet sich „Dressler“ wieder Aisha zu. Die beiden besprechen etwas, das ich nicht verstehen kann, denn ich habe mich wieder ein Stück entfernt, aber der Tonfall scheint immer noch ziemlich rau zu sein.

Sofort komme ich mir klein und unbedeutend vor. Meine Knie werden weich wie Butter und ich weiß einfach nicht, was ich mit meinen Händen machen soll. Am liebsten würde ich nach hinten ins Büro laufen, um einmal tief Luft holen zu können, denn die Hitze ist mir in den Kopf gestiegen.

Was ist denn bloß los mit mir?! Was hat dieser Kerl nur für eine Wirkung auf mich? So bin ich doch sonst nicht!

Schnell setze ich meinen ersten Impuls in die Tat um und verzieh mich nach hinten, um auf die Toilette zu gehen. Das ist ein menschliches Bedürfnis. Dagegen kann schließlich keiner was sagen! Aber ich nutze das WC nicht so, wie es gedacht ist, sondern werfe nur einen raschen Blick in den Spiegel und richte meine Haare. Ich sehe scheiße aus. Na ja... eigentlich nicht, aber im Vergleich zu ihm ... Er trägt ein kartiertes, ordentliches Hemd und eine schwarze Anzughose. Dazu schwarze, schicke Schuhe. Das Herz pocht mir bis zum Halse. Verdammt... Ich habe einen Freund! Wieso pocht denn mein Herz so schnell?!

Am liebsten wäre ich gar nicht mehr herausgekommen, aber das wäre ja noch komischer gewesen. Ich muss so schon einen unmöglichen Eindruck gemacht haben. Sich ganz unprofessionell mit dem Vornamen vorzustellen... Welcher Trampel macht denn so was?! Tief durchatmend und einen letzten Blick in den Spiegel werfend, öffne ich die Tür und trete mit festem Schritt heraus.

Vorsichtig schaue ich um die Ecke, doch von Dressler ist nichts mehr zu sehen. Etwas verwundert und ein kleines bisschen enttäuscht blicke ich mich um.

Nanu? Wo ist er denn?

„Hey Sarah, tut mir leid! Ich wusste nicht, dass er kommt!“, beteuert Aisha, als sie mich erspäht und fügt seufzend hinzu: „Das war einer von Dresslers Spontanbesuchen!“ „Dressler?“, wiederhole ich, nur um mehr von ihm zu erfahren. Wer ist dieser attraktive, furchteinflößende Kerl? Und noch wichtiger: Was kümmert es mich?! „Ja, unseren Bezirksleiter! Der, von dem ich dir vorhin erzählt habe!“, erklärt Aisha und mir fällt die Kinnlade herunter. Der Homosexuelle, schießt es mir sieden-heiß durch den Kopf und die Enttäuschung, die ich in diesem Augenblick verspüre ist niederschmetternder als alles, an das ich mich erinnern kann.

Drei

Ich versuche mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich die Begegnung mit Dressler aus der Bahn geworfen hat. Schon mal aus dem Grund, weil es einfach albern ist. Dennoch muss ich ständig darüber nachdenken, wie er mich angesehen hat. Es war ein bisschen so wie in einer dieser klischeehaften Filmszenen, die wir alle kennen und bei denen man nur die Augen verdrehen kann, weil sie so kitschig sind. Wenn ich es mir genauer überlege... Daraus könnte man in der Tat einen Film machen. Potential genug hätte die Situation. Nur leider sind die aberwitzigen Grundbedingungen, die kaum bitterer sein könnten, ungeschminkte Realität.

Rückblickend betrachtet kommt es mir albern vor, nahezu idiotisch, aber für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich wirklich das Gefühl gehabt, mein Anblick hätte ihn ein wenig aus dem Konzept gebracht. Aber das mag vermutlich nur daran liegen, dass er eben nicht mit einer weiteren Person im Laden gerechnet hat. Oder es ist schlicht und ergreifend meine Wunschvorstellung, die mir hier das Hirn vernebelt. Trotzdem wäre es schön gewesen … Ach, dämlicher Gedanke!

Gerne würde ich Aisha fragen, ob sie nicht auch findet, dass Dressler einfach unverschämt attraktiv aussieht, aber wie sähe das denn bitteschön aus?! Gerade noch habe ich ihr erzählt, dass ich seit acht Jahren eine Beziehung führe und in der nächsten Sekunde, läuft mir der Sabber herunter, wegen unseres schwulen Chefs? Nein, das würde definitiv keinen guten Eindruck machen. Zumal sie ja nicht wissen kann, dass solch eine Schwärmerei bei mir nicht gang und gäbe ist. Genaugenommen ist es das erste Mal, dass mir so etwas in dieser Form passiert. Was mich gleichzeitig innerlich Schnauben lässt. Da habe ich mir aber auch ein perfektes Timing herausgefischt, was?! Das kann echt nur mir passieren! Der vermutlich einzige Mann, den ich wirklich unter keinen Umständen werde haben können und bei mir brennen die Sicherungen durch! Ich glaube, ich habe mir noch nie so sehr gewünscht ein Kerl zu sein, wie in diesem Augenblick. 

Und trotzdem würde ich mich ihr so gerne mitteilen. Aber Aisha kann das vermutlich nicht nachvollziehen. Offensichtlich ist sie glücklich mit ihrem Freund und ich wünschte mir, ich wäre es auch mit meinem. Aber nun ja... Dazu ist einfach schon viel zu viel vorgefallen zwischen mir und Jonas. Doch das ist eine andere Geschichte.

Durch die Blume versuche ich mehr über Dressler zu erfahren. „Ist der wirklich immer so drauf?“, frage ich, als wir zusammen an der Kasse stehen.
„Er ist halt streng“, entgegnet Aisha schulterzuckend und was sie betrifft, so ist die Freude über seinen Abgang wirklich echt.  „Immerhin kriegt er den Ärger von ganz oben, wenn hier etwas schiefläuft. Aber keine Sorge... Dressler schaut höchsten alle zwei Monate mal bei uns vorbei.“
Na super! Freuen kann ich mich darüber nicht, dennoch lächele ich erwartungsgemäß.

Der Rest des Tages verläuft relativ ereignislos. Die Arbeit fällt mir leicht und der rege Austausch mit den überwiegend freundlichen Kunden ist eine willkommene Abwechslung zu dem tristen Büroalltag, den ich noch immer gewöhnt bin.

Jonas hatte recht, dieser Job ist genau das Richtige für mich. Ich liebe Bücher und allein deswegen weiß ich schon, dass ich mich hier wohl fühlen werde.

„Dies hier ist übrigens unser Postfach“, erklärt Aisha in einem Moment, in dem weniger zu tun ist, und zeigt mir am Bestellcomputer unsere Firmen-E-Mail-Adresse. „Dort bekommen wir jeden Vormittag eine Tagesinfo, mit Dingen, die wir umsetzen müssen. Und auch Dressler schreibt uns hin und wieder eine Mail mit den Umsatzzahlen des gesamten Bezirkes, oder anderen essentiellen Informationen. Es ist also wichtig, dass du jeden Tag nachschaust, ob es etwas Neues gibt. Passwörter stehen in der Kladde, falls du sie vergisst.“
Ich nicke, kann aber nur an Dressler denken und an die E-Mails, die er uns scheinbar schreibt.

Schon beim öffnen des Postfachs fällt mir sein Name ins Auge und irgendwie bekomme ich Herzflattern. Gott - wie albern! Drei E-Mails befinden sich im Eingang und anhand des Absenders finde ich heraus, dass sein Vorname Domenick ist. Domenick Dressler - wie schön das klingt!
„Hast du das aufgeschrieben?“, reißt mich Aisha aus meinen Gedanken und ich erröte.
„Hm?“
Ein Kunde unterbricht die peinliche Situation und ich atme erleichtert aus.

Gegen Ende meiner Schicht teilt mir Aisha noch mit, dass sie morgen noch einmal mit mir den Laden öffnen wird, und dass ich es dann ab Mittwoch selbstständig machen muss. Bei dieser Aussage fällt mir zum zweiten Mal an diesem Tag die Kinnlade herunter. Selbstständig aufmachen?! Ich? An meinem dritten Tag? Oha! Aber wie ich heute gemerkt habe, gibt es weitaus schlimmeres.

 

 

Vier

 

Auf dem Weg nach Hause habe ich mich wieder einigermaßen im Griff. Dressler ist – so gut es eben geht – aus meinen Gedanken verbannt und ich versuche mich auf das zu konzentrieren, was wirklich zählt. Jonas! Unsere eingestaubte Beziehung könnte etwas traute Zweisamkeit sehr gut gebrauchen. Das zeigt mir die obskure Begegnung mit Dressler überdeutlich. Denn so etwas darf nicht sein. Eine solche Schwärmerei ist in vielerlei Hinsicht absolut unangebracht und so aussichtslos, dass ich nur den Kopf schütteln kann. Und zwar über mich selbst. Dementsprechend kann ich es gar nicht erwarten endlich nach Hause zu kommen, um Jonas zu sehen. Wir werden uns einen schönen, romantischen Abend machen. Mit allem, was dazu gehört. Es ist ohnehin schon viel zu lange her, dass wir uns das letzte Mal Zeit füreinander genommen haben.

Mit neuem Elan und voller Vorfreude schaue ich in der Videothek vorbei. Sie liegt direkt auf meinem Heimweg. Ein neuer Steve Buscemi Film ist herausgekommen. Und weil er nun mal Jonas Lieblingsschauspieler ist, werde ich ihn ausleihen, auch wenn der Inhalt alles andere als romantisch sein wird. Aber ich stehe sowieso nicht auf Liebesschnulzen. Von daher passt das schon.

Im Anschluss mache ich noch einen Abstecher in den Supermarkt, wo ich die Zutaten für ein schönes Abendessen einkaufe. Zufrieden mit meinen Vorbereitungen gehe ich im Geiste all das durch, was ich mir für den Abend vorgenommen habe und um halb sieben bin ich dann zu Hause.

Schon beim Aufschließen höre ich, dass der Fernseher läuft. „Hey!“, rufe ich, erhalte aber keine Antwort. Also gehe ich ins Wohnzimmer, wo ich Jonas auf der Couch lümmeln sehe. Ich versuche zu ignorieren, dass der Deckel des V-Plus-Bieres, welches er gerade trinkt, auf dem Boden liegt und lächle ihm freundlich zu, was er nicht sieht, weil er beschäftigt ist.

Er tut das, was er meistens tut. Videotext lesen. Ich werde es nie kapieren, denn das, was er da veranstaltet ist nicht wirklich lesen – er beobachtet die Fußballergebnisse. In Echtzeit! Gibt es etwas geistloseres? Ich schüttle leicht mit dem Kopf und erst da bemerkt er mich. „Oh, hey!“, kommt es zurück, bevor er sich wieder dem Bildschirm zuwendet.

Im Flur ziehe ich mir die Schuhe aus und bringe die Einkäufe in die Küche. Als ich fertig mit Auspacken bin, sitzt Jonas noch immer vor der Mattscheibe. „Das gibt’s doch nicht!“, beschwert er sich und deutet auf ein paar Zahlen. „Wann schmeißen die den Trainer endlich raus?!“, fragt er, was wohl eher rhetorisch gemeint ist, denn dass ich das nicht beantworten kann, ist klar. „Immer in der letzten Minute ein Gegentor zu kassieren – wie dämlich kann man eigentlich sein?!“

Ich kommentiere diese Aussagen nicht, zumal ich überhaupt nicht im Bilde bin, was da gerade abgeht. Und es interessiert mich – gelinde gesagt – einen Dreck. Das höchste, was ich tun kann, ist ein Augenrollen zu unterdrücken. Es gibt wirklich wichtigere Probleme im Leben – sollte man meinen.

„Mein erster Tag in der Buchhandlung  war übrigens toll!“, informiere ich ihn stattdessen und füge hinzu: „Es hat wirklich Spaß gemacht!“
„Oh... ja, war's gut?“, fragt er, aber das Desinteresse steht ihm ins Gesicht geschrieben und er wendet sich schnell wieder dem Bildschirm zu.
„Ja, wie gesagt – es war toll! Und wie war dein Tag?“
Ein Brummen soll Antwort genug sein, also frage ich: „Was hältst du davon, wenn wir uns heute einen schönen, gemütlichen Abend machen? Ich habe den neuen Buscemi-Film ausgeliehen, von dem wir den Trailer gesehen haben!“ Ich strahle erwartungsvoll, doch schon sein Blick verrät mir, dass er andere Pläne hat.
„Oh, das ist jetzt blöd ... Die Jungs kommen doch heute vorbei!“
„Die Jungs?“, wiederhole ich entgeistert und kann ein frustriertes Schnauben einfach nicht zurückhalten.
„Ja, ich hab vergessen es dir zu sagen, aber Barca spielt doch heute und ich hab gewettet!“
„Aha.“ Na, das kann ja heiter werden. Ein Fußballabend ist schon ätzend genug, aber dann auch noch einer mit 'den Jungs'... Der Umgangston wird an diesem Abend mehr als nur rau sein, das weiß ich jetzt schon und normalerweise stört mich das auch nicht wirklich, aber an diesem Abend hätte ich wirklich, wirklich gerne Zeit mit Jonas allein verbracht. Tja, man kann halt nicht alles haben. Das musste ich an diesem Tag schon zweimal feststellen.

Fünf

Am nächsten Tag schneidet sich meine Schicht mit der, der anderen Aushilfe. Nadine ist schon seit acht Monaten dabei und ist so motiviert wie ein Trauerkloß. Generell vertritt sie eine 'Das Leben ist scheiße – alles ist ungerecht-Einstellung'. Letzteres möchte ich gar nicht anzweifeln, aber es so heraushängen zu lassen, wäre einfach nicht mein Stil.

Ansonsten ist Nadine sehr nett. Ich komme gut mit ihr zurecht. Das Emo-Mädchen mit den dunklen Klamotten ist ein Jahr jünger als ich und wir reden eigentlich die ganze Zeit über Musik. Sie ist ein regelrechter Freak, was das betrifft und ich höre an diesem Nachmittag von Bands, die ich bis dahin noch überhaupt nicht kannte. Ich mag sie irgendwie und freue mich heute mit ihr Dienst zu haben. Irgendwann kommt das Thema – Überraschung! – unwillkürlich auf Dressler.

Nadine ist alles andere als begeistert von ihm. „Ich kann den nicht ab!“, lässt sie mich wissen. „Ich hab ihn zwar erst zweimal gesehen, weil er's ja nicht für nötig hält, mal vorbeizukommen, aber beide Male war er mehr als nur unhöflich zu mir! Generell war er total dagegen, dass ich hier eingestellt wurde. Der werte Herr bevorzugt Studenten für den Laden.“ Der letzte Satz trieft vor Verachtung und ich muss schlucken. Oh – Mist! Ich bin auch keine Studentin. Ob sich das irgendwie negativ auswirkt?

Auf jeden Fall scheint es so, als wäre ich nicht die einzige, die Dressler für einen rabiaten Kerl hält. Dennoch komme ich nicht umhin zu hoffen, dass ich ihn irgendwann mal wiedersehen werde. Und mit irgendwann meine ich so rasch wie möglich! Aber da er sowieso kaum vorbeischaut – und ich höchstens drei mal die Woche Dienst habe – ist es mehr als nur unwahrscheinlich, dass ich ihm allzu bald wieder begegne. Aber vielleicht ist das auch besser so …

Am Ende meiner Schicht bin ich ein wenig aufgeregt, weil ich den Laden am nächsten Morgen alleine aufmachen muss. „Solltest du nicht klarkommen, oder sollte sonst irgendetwas sein“, sagt Aisha, die mich ablöst, zum Abschied. „dann ruf mich einfach an! Und wenn ich noch schlafe, kannst du Dressler erreichen. Die Nummer seines Firmenhandys steht in der Kladde. Er kann dir eigentlich auf jede Frage eine Antwort geben.“
Ich schlucke und weiß schon jetzt, dass ich das unter keinen Umständen tun werde. Dressler anrufen? Nee! Never! Ich krieg das Kind auch so schon irgendwie geschaukelt. Das hoffe ich zumindest!

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 02.07.2015

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /