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01. Fremde Welt

Also gut, dann eben zum Automaten. Filterzigaretten waren eigentlich zu teuer, aber wo sollte ich in diesem Nest am Samstagabend Tabak herbekommen?

Ich ging runter ins Erdgeschoss, nahm die Jacke vom Garderobenhaken, öffnete vorsichtig die Haustür. Klamme Luft schlug mir entgegen, im Schein der Straßenlaternen zeichnete sich Nebel ab. Plötzlich bekam ich wieder Muffe: Gab es wirklich keine andere Lösung? Konnte ich mir nicht einfach ein paar Zigaretten schnorren, von Klaus oder Hartmann? Musste ich wirklich da raus?

„Stell dich nicht so an!“, schimpfte ich leise mit mir selbst und atmete tief ein, als wollte ich tauchen. Dann stapfte ich ins Freie, zog mit einem entschlossenen Ruck die Haustür hinter mir zu.

Stille.

Wo war der Straßenlärm, das Rauschen der Züge? Irgendwas musste doch zu hören sein. Ein Flugzeug am Himmel vielleicht? Stimmen? Schritte? Ich bewegte mich nicht, hörte auf zu atmen, konzentrierte mich völlig auf die Geräusche der Umgebung.

Aber da war tatsächlich gar nichts. Nur eine einzige, tiefe Ruhe, wie ich sie bisher noch nie erlebt hatte.

Ich stand in einer fremden Welt. Hinter mir der Reihenhausblock, gerade mal zwei Stockwerke hoch. Er zog sich bis zur Straßenecke, ungefähr fünfzig Meter von hier entfernt. Zwischen ihm und der Straße lag ein Streifen mit Vorgärten. Die Blumenbeete waren fein säuberlich abgezirkelt und wirkten durch die umgegrabene Erde trotzdem schmutzig, irgendwie ländlich. Gegenüber eine Wiese, in etwa so groß wie ein Fußballfeld, links davon eine Handvoll Einfamilienhäuser. Kein Lebenszeichen kam aus ihnen, sämtliche Fenster waren dunkel. Es wirkte, als würden die Gebäude leerstehen.

Der Automat wäre gleich an der Ecke, hatte Henri gesagt. Ich spähte in die Dämmerung, konnte aber nichts erkennen. Das Gartentürchen quietschte leise beim Öffnen, das Holz des Jägerzauns war glitschig und feucht. Mit einem sehr mulmigen Gefühl ging ich raus auf die Straße. Noch immer war es ungewohnt, saubere Gehwegplatten unter sich zu spüren anstatt Streusand. Bis vor kurzem hatte er überall gelegen, aber jetzt wurde er nach und nach weggefegt. Ging der Winter tatsächlich zu Ende, nach einer gefühlten Ewigkeit? Aber von Frühling war auch noch nichts zu sehen, Sonne und Wärme ließen auf sich warten. Es war eine seltsame, unwirkliche Zwischenzeit.

Ich schlich vorwärts, ließ den Block langsam an mir vorüberziehen. Die Häuser waren grün, gelb oder braun gestrichen, eins orange. Bis auf ihre Farbe sahen alle gleich aus: Links neben der Haustür das große Küchenfenster, rechts die kleine Luke, die zur Toilette im Erdgeschoss gehörte, und im ersten Stock immer zwei gleich große Fenster nebeneinander. Auf einigen Treppensimsen standen Blumentöpfe, in denen aber nie etwas wuchs.

Eine aufgeräumte, saubere Welt. Ich hatte hier nichts verloren, war ein totaler Fremdkörper, ein Eindringling. Hinter den dunklen Fenstern schienen plötzlich überall Augenpaare aufzutauchen, die mich feindselig musterten. Panik kroch in mir hoch, der Weg wurde immer länger. Mensch, wo blieb nur dieser verdammte Automat?

Ich wollte schon kapitulieren und auf dem Absatz kehrt machen, als ich ihn doch noch entdeckte: an der Außenwand des letzten Hauses. Man musste durch den Vorgarten gehen, um hinzukommen. Durfte man das überhaupt? Wer hatte bloß die bescheuerte Idee gehabt, den Zigarettenautomaten mitten auf ein Privatgrundstück zu setzen?

Wenigstens stand die Gartenpforte offen. Als ich zwischen den Blumenrabatten hindurchging, rechnete ich jeden Augenblick damit, dass ein Hund anschlug oder mich plötzlich jemand aus dem Dunkel anbrüllte. Hastig zog ich eine Schachtel und sah zu, dass ich wieder auf die Straße kam.

„Keine Panik!", sagte ich mir beim Zurückgehen. Ich versuchte ruhig zu bleiben, setzte langsam und konzentriert einen Fuß vor den anderen. Aber schon wurde ich wieder schneller, ohne etwas dagegen tun zu können. Schließlich rannte ich fast.

Große Erleichterung, als ich endlich das Haus wieder erreichte!

***



Ich hockte in meinem Sessel und starrte Löcher in die Luft. Der Wecker tickte, die Zeit verrann, versickerte, verschwand im Nichts. Waren es Minuten? Stunden?

Der Arbeitslärm draußen auf dem Flur wollte nicht enden. Unermüdlich schleppten Henri, Klaus und Hartmann Möbel nach oben. Bugsierten sperrige Teile durch den engen Treppenaufgang, riefen sich Kommandos zu. Nicht immer klappten ihre Manöver: Einmal rammten sie mit voller Wucht das hölzerne Treppengeländer – das Quietschen klang wie ein protestierendes, schmerzvolles Aufschreien.

Eine Zeitlang hatte ich vorhin mitgeholfen, aber seit meine eigenen Sachen oben waren, saß ich lieber hier und hörte mir an, wie sie da draußen keuchten und schnauften. Hatte ich ein schlechtes Gewissen? Okay, vielleicht ein bisschen.

Nachher sollte es gemeinsames Abendbrot geben, dann würden sie über mich herfallen, garantiert. Ich glaubte jetzt schon ihr Gemotze zu hören: „Hauke, der faule Sack!“, „Hat uns total hängen lassen!“ und so weiter. Egal! War es meine Idee gewesen, aus der Nordstadt wegzuziehen in ein beschissenes Kaff am Ende der Welt? Na also!

Zum x-ten Mal wanderte mein Blick durch diesen fremden Raum, der jetzt mein Zimmer sein sollte: Ein langgezogenes Rechteck, fast ein Schlauch. Ich saß an einer der Längsseiten, nahe der Tür. Neben mir ein Tischchen für Aschenbecher und Kippen, dann ein zweiter Sessel. Unter dem Fenster der einklappbare Schreibtisch. Gegenüber das Bettsofa, links in der Ecke der Kleiderschrank.

Außer der Sitzecke, die Klaus mir vermacht hatte, waren alle Möbel frisch aus dem Einrichtungshaus. Mein altes Zimmer war eine Ansammlung von Sperrmüll gewesen: ein speckiger Sessel, ein durchgelegenes Bett, ein Schrank, der jeden Augenblick zusammenbrechen konnte, und so weiter. Früher hatte ich nie darüber nachgedacht, aber jetzt wunderte ich mich, wie ich es in dem ollen Plunder so lange ausgehalten hatte.

Es war ein Bestechungsversuch, ganz klar. Die neuen Möbel sollten mich dazu bringen, dass ich die Situation endlich akzeptierte. Aber das konnten sie vergessen, nie im Leben würde ich die Nordstadt einfach hinter mir abhaken. Hieß ich etwa Henri? Dieser Volldepp von Bruder war zuerst auch gegen den Umzug gewesen. Aber kaum hatten sie ihm neue Sachen versprochen, war er zum Gegner übergelaufen. Typisch!

Auch auf Hartmann war ich insgeheim sauer. So was nannte sich also Kumpel. Muttern und Klaus hatten ihn als Helfer geholt, gegen Bares. Schön und gut, aber musste man sich deshalb gleich so reinhängen? Er knüppelte wie verrückt, gab alles, wollte den Job tipptopp erledigen. Das schien für ihn geradezu eine Frage der Ehre zu sein.

Wieder mal schlau eingefädelt von Klaus. Der Typ wusste einfach, wie man die Leute einspannte. Mit Knete, sicher, aber da war noch mehr: Sie bewunderten ihn, wollten immer alles für ihn geben, sich total aufopfern. So wie jetzt Hartmann.

Also war er auch bloß ein Umfaller. Machte erst gemeinsame Sache mit den Pappnasen und verdünnisierte sich morgen wieder in die Nordstadt, ließ mich hier hängen.

Elender Verräter!



***



Die „Rockpalast“-Nacht fing an. Ich hatte den Fernsehton weggedreht, ließ die Musik über meine Anlage kommen. Die Sendung wurde parallel im Radio übertragen, in Stereo. Wenn ich bloß ein besseres Bild gehabt hätte! Ständig wurde es zu Schnee, alles Hin- und Herrücken der Zimmerantenne half nichts. Wahrscheinlich war man hier draußen zu weit ab vom Schuss für normalen Empfang.

Hartmann hing wie ein Toter in seinem Sessel – der Umzug hatte ihm den Rest gegeben. „Ohne ihn wären wir heute nicht fertig geworden“, hatte Klaus vorhin gesagt. „Geschuftet wie ein Tier hat der.“ Toll, dafür war er jetzt nicht mehr zu gebrauchen! Ich hatte eigentlich gehofft, dass wir noch ein bisschen quatschen könnten, immerhin war es unser letzter gemeinsamer Abend. Das konnte ich wohl vergessen.

Endlich der große Moment: The Who betraten die Bühne! Würden sie es noch bringen? Immerhin gingen sie stramm auf die 40 zu. Zuerst klangen sie tatsächlich etwas lahm, aber je länger das Konzert dauerte, desto mehr kamen sie in Fahrt. Und schließlich war klar: Sie hatten es noch drauf, die alten Recken! Bloß schade, dass Keith Moon nicht mehr dabei war. Kenney Jones war okay, aber er hatte einfach nicht dieselbe Power.

Hartmann war schon wieder am Einnicken, tiefer und tiefer sank ihm der Kopf auf die Brust. Vorhin hatte er noch getönt, er würde sich total auf das Konzert freuen, und jetzt pennte er ständig weg. Zwischen seinen Fingern steckte eine qualmende Kippe. Gespannt beobachtete ich, wie sie immer weiter runterbrannte. Jeden Augenblick würde sie ihm die Pfoten versengen – geschah ihm recht!

Schließlich hatte ich Erbarmen und nahm ihm das Ding weg – man war ja kein Unmensch. Ich zog selbst noch ein paarmal dran und drückte den Stummel im Aschenbecher aus. Es war schon ein komisches Gefühl, endlich im eigenen Zimmer rauchen zu dürfen. Aber das riss es auch nicht mehr raus. Gern wäre ich zum Schmöken weiterhin auf die Straße gegangen, wenn wir dafür in der Nordstadt geblieben wären.

Zu allem Unglück wurde heute Nacht auch noch auf Sommerzeit umgestellt. Sie klauten uns einfach eine Stunde, diese Schweine. Das Alleinsein hier draußen, in der Fremde, würde noch früher losgehen. Bei diesem Gedanken spürte ich ein Würgen im Hals – mir blieb regelrecht die Luft weg.



***



Den dritten Tag war ich jetzt schon hier, und außer dem kurzen Gang zum Automaten am Samstag hatte ich noch keinen Fuß vor die Tür gesetzt. Am liebsten wäre ich gar nicht mehr rausgegangen, hätte mich ganz in mein Zimmer verkrümelt. Aber das hätte auch nichts genützt. Selbst wenn ich in den Hungerstreik getreten wäre – Muttern hätte den Umzug niemals rückgängig gemacht. Eher wäre ich hier oben jämmerlich verreckt.

der Glückliche! Er war gestern mit Klaus in die Nordstadt zurückgefahren. Auf einmal lagen 60 Kilometer zwischen uns. Kurz mal bei ihm vorbeischauen, auf eine Zigarette, ein Bierchen – das ging nicht mehr. Wir kannten uns seit einer halben Ewigkeit, hatten so viel zusammen erlebt, und nun war er einfach weg. Da war nur noch Leere, unbegreifliche Leere. Und endlose Langeweile. Robinson Crusoe konnte sich nicht mieser gefühlt haben als ich. Hauke Jansen auf seiner einsamen Insel.

Ich spürte eine Mordswut in mir aufsteigen. Alles hatten sie mir weggenommen, regelrecht von mir abgeschnitten, diese Mistsäcke. Mein komplettes Leben war auf dem Müllhaufen gelandet. Am liebsten hätte ich geschrien, den Frust aus mir rausgebrüllt.

Aber keiner hätte es gehört, sie waren alle unterwegs. Muttern machte Einkäufe. Henri strolchte durch die Gegend. Und Klaus war arbeiten.

Klaus – erst hatte ich ihn im Verdacht gehabt, hinter der Idee mit dem Umzug zu stecken. Er wohnte ja selbst irgendwo in dieser Gegend, mit Frau und zwei Kindern. Wenn er demnächst wie geplant geschieden war, wollte er ganz bei uns einziehen. Er hatte also zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Bei uns konnte er sich einnisten, gleichzeitig würde er es nicht weit zu seinen beiden Gören haben.

Aber Muttern schwor immer hoch und heilig, dass der Hauskauf allein ihre Idee gewesen wäre. Die Nordstadt hätte uns „kaputtgemacht“, behauptete sie. Nur Hochhäuser und Beton, überall besprühte Wände, eingeschlagene Scheiben, zerkloppte Sitzbänke, demolierte Spielplätze. Dazu der ganze Müll, den die Leute einfach aus den Fenstern warfen. Das hätte sie nicht mehr nötig, meinte sie. Na super, und ich durfte jetzt hier sitzen und in der Nase bohren.

Die Schule mussten Henri und ich natürlich auch wechseln. Er war hier auf der Realschule angemeldet, ich kam auf irgendein „Kreisgymnasium“ in Eckhorst, 30 Kilometer entfernt. Auf die tägliche Fahrerei freute ich mich schon.

Wenigstens hatten wir jetzt erst mal Osterferien. Zwei Wochen Gnadenfrist, bevor es hier richtig losging.

02. Nordstadt

Schulwechsel – das klang für mich wie der totale Horror. In der Nordstadt gab’s bloß das KBZ, sonst nichts. Genauer: das „Kurt-Schumacher-Bildungszentrum“. Egal ob Gymmis, Real- oder Hauptschüler – alle waren dort gewesen. Irgendwo im Keller existierte auch eine Sonderschule. Das Gebäude war ein Labyrinth, ein regelrechtes Monster aus Beton, Stahl, Plastik und Glas. Mehr als 3.000 Leute wuselten in ihm herum. Einige nannten unsere Schule bloß „KZ“.

Das war hart, aber es passte. Wer sich bei uns nicht knallhart durchsetzte, wurde früher oder später selbst plattgemacht. Die Lehrer hackten auf den Schülern rum, die Schüler revanchierten sich, indem sie die schwachen, gutmütigen Lehrer terrorisierten. Auch unter den Schülern selbst herrschte Kriegszustand, permanentes Hauen und Stechen. Man musste unbedingt Verbündete finden, sich einer Gruppe anschließen, notfalls selbst eine gründen. Wer allein blieb, sah keine Sonne mehr.

Hartmann war das beste Beispiel. Keiner hatte ihn damals dabeihaben wollen, höchstens als nützlichen Idioten, als Ventil, um Dampf abzulassen. Regelrecht gequält hatten sie ihn. Wenn ich nicht angefangen hätte, ihn zu beschützen, wäre es ihm schlecht ergangen. Irgendwann hätten sie ihn endgültig fertiggemacht.

Wir hatten uns gleich in der Ersten kennengelernt. Mit unseren sieben Jahren waren wir die beiden Klassenältesten gewesen. Dass wir damals nebeneinander saßen, war aber reiner Zufall: Ich war erst ein paar Tage nach der offiziellen Einschulung ans KBZ und in die Klasse gekommen. Alle Sitzplätze waren da schon vergeben – außer der neben ihm.

Ich merkte schnell, dass er eine ganz schräge Nummer war. Andauernd machte er Stress, störte den Unterricht, flippte aus. Er hatte immer Panik, übersehen zu werden, zu kurz zu kommen. Wenn er nicht ganz vorn dabei war, nicht die erste Geige spielen durfte, drehte er durch. Warf Sachen durch die Gegend, trat gegen Stühle, kippte den Tisch um. Er musste festgehalten werden, bis es vorbei war. Manchmal bekam er Schreikrämpfe, dann stopfte ihm Frau Blank, unsere Lehrerin, einfach einen Lappen in den Mund.

Seinen Eltern schien es piepegal zu sein, was er trieb. Mehr als einmal lieferten ihn die Bullen im Klassenzimmer ab. Später erfuhr ich, dass Hartmanns Mutter schon frühmorgens zu ihrem Putzjob musste. Und sein Vater, der arbeitslos war, stand meistens erst mittags auf, weil er sich am Abend vorher die Hucke zugesoffen hatte. Niemand interessierte sich also groß für Hartmann und dessen jüngere Schwester Bettina. Kein Wunder, dass er ab und zu „vergaß“, in die Schule zu kommen, lieber durch die Gegend stromerte.

Prügeln konnte er sich überhaupt nicht. Jede, buchstäblich jede Klopperei verlor er, sogar gegen Mädchen. Ein einziger, gut gesetzter Schlag, und es war vorbei. Er fing an zu heulen, rannte weg, alles mögliche – er war wirklich eine total Null. Trotzdem legte er sich ständig mit irgendwelchen Leuten an. Meistens wollten sie ihn bloß verarschten und zur Weißglut bringen, aber das kapierte er nicht. Immer wieder ging er ihnen auf den Leim, wollte die Sache schließlich mit Fäusten regeln, und dann gab's Saures. Irgendwie stand ihm „Schlag mich!“ auf die Stirn geschrieben, und natürlich erfüllten ihm alle diesen Wunsch.

Er war also selbst schuld an seinem Schicksal, trotzdem tat mir der Kerl leid. Alle Welt benutzte ihn als Fußabtreter, sie schlugen und vermöbelten ihn, wo sie konnten – es war heftig. Aber auch typisch KBZ. Irgendwann hatte ich genug. Ich fing an, ihn zu verteidigen, lenkte den Ärger auf mich, den er sich gerade mal wieder eingehandelt hatte. Weil ich eher schmächtig war, wurde ich meistens unterschätzt. Aber ich war schnell, außerdem hatte ich Stehvermögen, konnte viel einstecken, geduldig auf meine Chance warten. Und die kam fast immer.

Als Gegenleistung für meine Schutzdienste nahm Hartmann mich nachmittags mit auf Tour. Außerhalb der Schule hatte er jede Menge Kumpels. Viele waren älter als wir, sie rauchten, hatten Waffen. Einige klauten wie die Raben in den Supermärkten und verhökerten ihre Ware untereinander – Klamotten, Werkzeug, technische Geräte. Manchmal ging es zu wie auf dem Basar. Bei einer Gruppe waren wir ziemlich oft. Ich hatte jedes Mal Muffe, wenn wir hingingen, trotzdem kam ich immer wieder mit. Sie waren die Größten, jeder in der Nordstadt kannte ihre Namen. Da war Holgi, so was wie der Kopf der Gang. Er hatte schon häufiger mit den Bullen zu tun gehabt, war sogar mal im Jugendknast gewesen. Wolkan konnte Karate und Kung-Fu. Manchmal machte er sich einen Spaß daraus, Leute auf die Matte zu legen, wenn sie ihm blöd kamen. Salami, der eigentlich Selim hieß, klaute ständig Mofas und kurvte damit rum, dabei war er erst zwölf. Der Härteste war Ramos. Er hatte eine echte Knarre, die er wie einen Schatz hütete. Einmal ließ er uns näher ran. Das sei eine Polizeiwaffe, erklärte er, eine P6 von SIG Sauer. Und zum Beweis, dass er sich mit dem Ding auskannte, ließ er das Magazin rausspringen. Wir waren natürlich mächtig beeindruckt.

Bei mir zu Hause lief es ähnlich wie bei Hartmann: Niemanden kümmerte es, was ich tagsüber trieb. Muttern arbeitete in der Nordstadt-Klinik. Sie kam erst spätabends oder nachts zurück, wenn Henri und ich schon in der Falle lagen. Ursprünglich hatte sie in der Klinik-Kantine angefangen, als ungelernte Kraft. Später war sie ins Büro gewechselt, hatte nebenbei einen Abschluss als Sekretärin gemacht. Auch danach hatte sie sich laufend weitergebildet und war immer höher aufgestiegen. Mittlerweile lief ohne sie nichts wohl mehr in dem Laden. Dafür musste sie aber endlos Überstunden schieben.

Vaddern machte einen Deppenjob auf der Werft, überwachte dort irgendwelche Maschinen. Abends genehmigte er sich gern noch ein Schlückchen in der „Schwarzen Hand“, einer berüchtigten Spelunke am Einkaufszentrum, in der angeblich schon so manches Monatsgehalt komplett versoffen und verdaddelt worden war. Wenn er nach Hause kam, natürlich jedes Mal völlig blau, kriegte er meistens seinen Moralischen. Die halbe Nacht saß er in der Küche und jammerte rum. Wie mies der Job wäre, dass er die Schnauze voll hätte, ohne uns längst abgehauen wäre und solche Sachen. Zwischendurch hörte man ihn in die Spüle reihern.

Am Anfang hatte Muttern immer versucht, ihn zu beruhigen und zu trösten, aber irgendwann war ihr wohl der Geduldsfaden gerissen. Mittlerweile gab sie Contra, wenn Vaddern in der Küche seine nächtliche Show abzog, manchmal klatschte es auch laut. War ihr da die Hand ausgerutscht? Ich wollte es gar nicht so genau wissen, wollte am liebsten überhaupt nichts sehen und hören von dem ganzen Elend. Keine Ahnung, wie ich es immer schaffte, wieder einzupennen.

Mitleid war es garantiert nicht, was ich Vaddern gegenüber empfand. Eher Horror, dass man so runterkommen konnte. Aber schlussendlich war mir der Typ egal. Er war eh bloß unser Stiefvater. Der richtige hatte vor Ewigkeiten die Biege gemacht, ich konnte mich kaum noch an ihn erinnern. Muttern hatte dann schnell wieder geheiratet, seitdem gab es halt Vaddern und sonst nichts.

Genau genommen hatten wir sogar Glück mit ihm gehabt. Wenigstens prügelte und randalierte er nicht, wie so viele andere in der Nordstadt. Höppner im zehnten Stock zum Beispiel flippte fast jeden Abend aus. Pausenlos hörte man es da oben scheppern und klirren, dazwischen kreischte die Frau unverständliches Zeugs. Eric, der Sohn, hatte ständig geschwollene Lippen und Veilchen. Es hieß sogar, dass Höppner es mit seiner Tochter trieb. Dann lieber eine Flasche wie Vaddern.

Henri und ich wuchsen sozusagen wie Waisenkinder auf. Wir mussten selbst sehen, wie wir klarkamen, hatten dafür aber alle Freiheiten: Abends blieben wir endlos lange draußen, wir glotzten fern bis zum Abwinken, gingen pennen, wann wir Bock hatten. Unsere Hausaufgaben wurden nie kontrolliert, die Zeugnisse ungeprüft unterschrieben. Bloß sitzenbleiben war tabu.

Und ich konnte jeden Nachmittag mit Hartmann losziehen, ohne dämliche Fragen befürchten zu müssen. Die Treffen mit ihm, die Besuche bei Holgis Clique – das alles war mir bald wichtiger als jede Scheiß-Familie. Holgi und seine Leute waren schlicht die Größten. So wie sie wollten Hartmann und ich später auch sein. Am besten noch gefährlicher. Unsere Gang sollte die heftigste werden, die es in der Nordstadt je gegeben hatte. Die Leute würden sich unsere Namen nur zuflüstern, aus Angst, weil wir so berüchtigt waren, aber auch aus Ehrfurcht, weil sie uns bewunderten.

Es machte Spaß, sich mit Hartmann solche Geschichten auszudenken. Obwohl ich insgeheim natürlich wusste, dass sie ein Traum bleiben würden. Hartmann und gefährlich – wie sollte das wohl funktionieren? „Hartmann“ – allein dieser Name stand für einen schlechten Scherz. Aber darüber dachte ich nicht nach.

Nach der Vierten kam er auf die Hauptschule. Erst sollte ich dort auch hin, aber dann meinte unser Lehrer für Schreiben und Lesen, ich wäre am Gymnasium besser aufgehoben. Ergebnis: Als die Schule wieder losging, waren Hartmann und die anderen plötzlich weit weg. Zehn Minuten musste man durchs riesige Gebäude laufen, um sie zu sehen. Klar, ich besuchte sie so oft wie möglich, trotzdem war es jetzt anders als früher: Viele Leute, über sie quatschten, kannte ich nicht. Auch die Namen ihrer neuen Lehrer hatte ich noch nie gehört.

Bald verbrachte ich nicht mehr jede Pause drüben im Hauptschultrakt. Das Gerenne nervte auf Dauer, außerdem gab's auch in meiner neuen Klasse ein paar Leute, die ganz nett waren. Aber nicht bloß am KBZ sah ich Hartmann jetzt seltener, auch nachmittags unternahmen wir immer weniger zusammen. Allmählich verloren wir uns aus den Augen.

Schließlich riss die Verbindung komplett ab. Ich hörte rein gar nichts mehr von ihm, wusste nicht mal, ob er überhaupt noch in der Nordstadt wohnte.



***



Tag Numero fünf. Muttern, Henri und ich saßen beim Essen: Koteletts mit Stampfkartoffeln und Gemüse. Schmeckte eigentlich ganz lecker – ich hatte gar nicht gewusst, dass Muttern so gut kochen konnte.

Von jetzt ab sollte es täglich eine gemeinsame Mahlzeit geben – mittags, so lange Muttern Urlaub hatte, und abends, wenn sie wieder zur Arbeit musste. Bisher waren Henri und ich zum Essen immer in die Schulkantine gegangen. In den Ferien hatte Muttern uns Geld dagelassen, damit wir uns selbst was zum Beißen kauften. Meine Kohle war natürlich meistens für Süßigkeiten und Comics draufgegangen, später für Tabak.

„Willst du heute nicht mal rausgehen?“, fragte sie, als ich mir gerade einen zweiten Berg Püree auf den Teller schaufelte.

Ich warf ihr einen extra genervten Blick zu. Fing sie schon wieder damit an? Was kümmerte es sie, dass ich bloß drinnen hockte? Wieso interessierte sie sich mit einem Mal dafür, was ich trieb? Ich wollte nicht, dass sie anfing, in meinem Leben herumzuschnüffeln. Bisher war ich immer gut alleine klargekommen.

Drei Wochen hatte sie freigenommen, um sich „gemeinsam mit uns einzuleben“, wie sie es nannte. Drei volle Wochen – so lange war sie vorher nie zu Hause gewesen. Es fühlte sich sehr komisch an, sie auf einmal ständig zu sehen.

Neulich hatte sie mir geraten, hier neue Freunde zu finden. „Freunde finden“ – wie das klang! So was erledigte man doch nicht wie Hausaufgaben! Entweder es ergab sich oder eben nicht. Diese plötzliche Fürsorglichkeit wirkte total aufgesetzt. Nach ihrem Urlaub würde sowieso alles wieder werden wie vorher, in der Nordstadt.

„Geh doch mal mit Henri los“, schlug sie jetzt vor. „Der kennt hier schon Leute. Vielleicht kannst du dich da ja anschließen.“

Vor Schreck blieb mir glatt das Essen im Hals stecken. Mit Henri losgehen? Diesem Riesenbaby, das aussah, als wäre es gerade zehn geworden? Hatte sie noch alle Tassen im Schrank?

In Wirklichkeit war Henri 15, also bloß ein Jahr jünger als ich. Wir waren sogar zusammen eingeschult worden – zum Glück in unterschiedliche Klassen. Inzwischen ging er einen Jahrgang tiefer, weil er in der Siebten sitzengeblieben war. In der Nordstadt hatte er sich nachmittags immer mit Jüngeren herumgetrieben. Bei denen war er natürlich der Big Boss gewesen, der alle nach Lust und Laune herumkommandieren konnte. Wer nicht parierte, bekam Kloppe oder flog ganz raus. „Henri und seine Minirocker“ hatte man sie überall genannt. Oder auch „die Müllmänner“, weil sie gern in die Müllcontainer der Wohnblöcke stiegen und sich dort einnisteten. Es hieß immer, sie hätten da drinnen regelrechte Höhlensysteme angelegt, in denen sie hausten, ähnlich wie die Penner und Obdachlosen der Gegend.

Und mit so einem Idioten sollte ich jetzt losgehen? Hielt Muttern mich noch immer für den kleinen Jungen aus der Grundschule? Diese Zeiten waren doch lange vorbei!



***



In der Achten waren die ganzen Sitzenbleiber in meine Klasse gekommen, Dominik, Thorsten, Gerhard, Zucki und so weiter. Mit einem Schlag wurde alles anders, keine Spur mehr von der drögen Langeweile in der Schule, wie bisher. Die Neuen waren älter, selbstbewusster und irgendwie cooler, schnell entstand eine Clique um sie herum. Unser verbindendes Element war das Rauchen. Es unterschied uns von den anderen, den Strebern und Schnarchnasen. In den Pausen verdrückten wir uns immer zusammen vom Schulgelände, um eine zu qualmen. Ab und zu zogen wir auch eine Tüte durch.

Nach den letzten Sommerferien kamen noch mehr Leute zu uns, die eine Ehrenrunde drehen mussten. Jetzt war endgültig Party angesagt. Wir machten uns einen Spaß daraus, den Unterricht regelrecht zu sabotieren, alles im Chaos versinken zu lassen. Von den Scheiß-Lehrern ließen wir uns gar nichts mehr sagen, die kriegten nur Druck. Manchmal schafften wir es, dass sie heulend rausliefen, das feierten wir immer wie einen Sieg.

Auch in der Nordstadt herrschte seit einiger Zeit Aufbruchstimmung. Überall bildeten sich Cliquen, formierten sich um, lösten sich wieder auf, alles war ständig in Bewegung. Der Treffpunkt ergab sich meist zufällig: eine Sitzbank, ein Spielplatz in der näheren Umgebung – was sich gerade anbot. Man hockte zusammen, laberte, machte Quatsch. Wenn man Bock hatte, drehte man eine Runde, zeigte sich unter den Leuten.

Ich gehörte nirgends fest dazu, war bald hier dabei, bald dort. Aber genauso wollte ich es. Wenn man unabhängig blieb, kriegte man viel besser mit, was im Viertel lief.

Eines Nachmittags hing ich mit ein paar Kumpels bei mir vor der Haustür ab. Piet war dabei, ein Typ aus dem Nachbarblock, der schon als Knirps die Keller der Gegend aufgebrochen hatte. Und Marcel, der in meine Parallelklasse ging. Wie die meisten vom KBZ-Gymnasium wohnte er nicht direkt in der Nordstadt, sondern in der Jahn-Siedlung, einem Nachbarstadtteil. Die Leute von dort galten eigentlich als Schnösel, mit denen sich keiner abgab, aber Marcel war eine Ausnahme. Er schimpfte am lautesten von allen über sein Viertel, nannte es immer „Bonzennest“, wollte es am liebsten abfackeln und so weiter. Auch sonst gab er sich extra hart. Zum Beispiel kannte ich keinen, der so viel klaute wie er.

Wir saßen also bei mir vor der Haustür und laberten. Zum x-ten Mal musste Marcel eine Schachtel Camels herumreichen und uns versorgen. Sie war Teil seines letzten Raubzuges: Zehn Stangen hatte er angeblich aus dem Edeka-Markt im Einkaufszentrum rausgetragen. Wie, das blieb sein Geheimnis.

„Nachher kommt noch ein alter Bekannter dazu“, meinte Piet beiläufig. Ich dachte mir nichts dabei und fragte nicht weiter nach. Irgendwann sah ich aus den Augenwinkeln einen Typen auf uns zusteuern. Ich hatte das Gefühl, ihn zu kennen, aber der Groschen wollte und wollte nicht fallen. Erst als der Kerl sich direkt vor uns aufbaute, kam mir die Erleuchtung: Es war Hartmann. Und war es doch nicht. Meine Fresse, wie der sich verändert hatte! Das Haar hing ihm lang und verfilzt auf die Schultern herab, über der Lippe und am Kinn spross dichter, rötlicher Bartflaum. Sein Gesicht war kantig und knochig geworden, es zeigte keine Spur mehr von der alten Gutmütigkeit, die den ständigen Schlägen getrotzt hatte. Dazu dieser Blick – etwas Berechnendes, fast Heimtückisches lag in ihm, das mir unwillkürlich Respekt einflößte.

Wir quatschten über harmlose Sachen. Was gerade abging in der Nordstadt, wie cool es früher gewesen war und ähnliches. Es war wie ein vorsichtiges gegenseitiges Abtasten. An diesen neuen, fremden Hartmann musste ich mich erst gewöhnen. Er und Piet gingen seit kurzem in eine Klasse. Piet hatte ihm erzählt, dass wir uns heute hier treffen würden, und Hartmann hatte sofort zugesagt, vorbeizukommen.

Diese erste Begegnung dauerte nicht lange, aber von nun an sah ich Hartmann wieder öfter. Mit dem Looser und Prügelknaben aus der Grundschule hatte er keine Ähnlichkeit mehr. Er wirkte abgehärtet, gestählt. Man hatte das Gefühl, ihm besser nicht blöd zu kommen. Die alten Sticheleien und Witzchen, mit denen wir ihn früher immer aufgezogen hatten, ließen wir jetzt lieber bleiben – auf einmal hatten alle ein bisschen Muffe vor ihm.

Zu recht, wie sich bald zeigte. Eines Nachmittags gingen Hartmann, Piet und ich runter zum Einkaufszentrum, um Bier zu holen. Auf der Betonmauer neben dem Eingang saßen oft Alkis und soffen. Auch heute lungerte dort ein Typ rum, etwas älter, stämmig gebaut, Bierdose in der Hand, schon ordentlich einen im Kahn. Als wir vorbeigingen, laberte er uns blöd an. Früher wäre Hartmann bei dieser Sorte sofort abgehauen. Jetzt machte er halt und guckte neugierig, fast provozierend.

„Was willsu, Milchgesicht?“, brüllte der Säufer, „ist das hier'n Zoo, oder was?“ Er stand auf, warf die halbvolle Dose in die Ecke, Bierschaum spritzte durch die Gegend. Der Platz vorm Supermarkt war mit einem Mal wie leergefegt. Piet nickte mir beschwörend zu. Ich verstand, wollte Hartmann am Ärmel greifen und in den Laden ziehen. Notfalls dem Besoffenen irgendwas Lustiges zurufen, zur Besänftigung. Aber der Typ holte bereits aus. Scheiße, dachte ich, das geht nicht gut.

Hartmann, der den Schlag längst erwartet hatte, sprang zur Seite. Die Faust rauschte weit an ihm vorbei, fast meinte ich den Luftzug zu spüren. Der nächste Schlag kam, und wieder wich Hartmann problemlos aus. Das wiederholte sich ein paarmal. Hartmann hatte zu tänzeln angefangen, wie ein Boxer. Der Säufer war inzwischen stark am Keuchen.

Urplötzlich knipste Hartmann sein Grinsen aus wie eine Lampe und schlug selbst zu. Fast ohne Ansatz, genau auf die Nase. Es klatschte laut. Der Typ ging nach unten, hielt sich mit beiden Händen den Zinken. Hartmann packte seine Ohren und rammte ihm mit voller Wucht das Knie in die Fresse. Der Alki taumelte, fiel, knallte mit dem Hinterkopf gegen die Betonbrüstung. Gerade wollte er sich berappeln, als Hartmann zutrat, mit der Stiefelspitze mitten ins Gesicht. Und noch mal, immer und immer wieder. Ich sah das Blut, den Körper, wie er sich zusammenkrümmte, beim nächsten Tritt wieder zurückflog, hörte das Stöhnen und Jammern. Schließlich fasste ich Hartmann an der Schulter, um ihn wegzuziehen.

Er fuhr herum wie von einem Stromschlag getroffen. Sein Gesicht war völlig bleich, um die Augenhöhlen hatten sich Schatten gebildet, zwischen den Brauen lag eine tiefe Falte. Erkannte er mich nicht? Unwillkürlich bekam ich Schiss…

Aber schon hellte sein Blick sich wieder auf. Das unheimliche Glimmen in den Augen verschwand, auch das Gesicht bekam wieder Farbe. Piet und ich nahmen ihn zwischen uns. Wir mussten schleunigst die Biege machten, bevor es Ärger gab. Um den Alki würde sich schon jemand kümmern – war nicht das erste Mal, dass da einer vorm Eingang lag.

Noch tagelang waren wir wie geplättet von Hartmanns Aktion. Hatte er in der Zwischenzeit Karate gelernt? Alles war wie programmiert abgelaufen. Jede Bewegung einstudiert und tausendmal geübt, nichts dem Zufall überlassen. Wie eine Maschine. Nur am Schluss, da war ihm ein bisschen die Sicherung durchgebrannt.

Von Piet erfuhr ich, dass er eine ganze Weile völlig von der Bildfläche verschwunden war. Aber was er in dieser Zeit getrieben hatte – keiner wusste es. Hartmann selbst schwieg sich darüber aus. Sobald man ihn auf das Thema ansprach, wurde er wortkarg und abweisend. Offenbar wollte er darüber nicht quatschen.

Die Story mit dem Alki verbreitete sich in der Nordstadt wie ein Lauffeuer. Mit einem Schlag war Hartmann anerkannt. Mehr noch: Er war jetzt eine Persönlichkeit, von der alle mit Ehrfurcht sprachen. „Hartmann“ – auf einmal passte dieser Name wie die Faust aufs Auge.

In einem Punkt hatte er sich allerdings überhaupt nicht verändert: Er war noch immer der totale Vorweggeher und Klarmacher. Wusste diverse günstige Quellen für Kippen, Bier, Dope. Kannte sämtliche wichtigen Leute – Dealer, Waffenhändler, Schläger, die Bosse der großen Cliquen. Und das, obwohl er so lange weg vom Fenster gewesen war. Ich hatte eigentlich geglaubt, zu wissen, was bei uns abgeht. Hartmann belehrte mich eines Besseren. Wieder mal war er es, durch den ich unser Viertel erst richtig kennenlernte.



***



Das Essen war vorbei, ich hatte mich wieder nach oben verzogen. Träge saß ich in meinem Sessel, rauchte Kette und starrte aus dem Fenster.

Draußen goss es gerade wie aus Eimern. Das ruhige, neblige Wetter vom Wochenende hatte sich leider nicht gehalten, ein Schauer nach dem anderen kam runter. Krasse Windböen zerrten und rüttelten am Hausdach, dass es nur so knackte und quietschte. Wenn es irgendwann weggeflogen wäre, hätte ich mich nicht gewundert. Manchmal wurden die Tropfen plötzlich zu weißen Flocken, ein regelrechtes Schneegestöber entstand.

Hatte ich doch geahnt, dass der Winter noch nicht ausgestanden war! Er kam immer wieder zurück, war einfach nicht totzukriegen. Mittlerweile konnte ich mich kaum noch daran erinnern, dass es auch etwas anderes gab außer Kälte, Sturm und Schnee.

Am Freitag würde ich mit Muttern nach Eckhorst fahren, irgendwelche Formalitäten für meine Einschulung regeln. Die Fahrt lag mir wie ein Wackerstein im Magen. War diese neue Schule komplett anders als das KBZ oder konnte man den Wechsel dorthin locker meistern? Wie würde es überhaupt nach den Osterferien werden?

Eigentlich war für Schönhagen eine ganz andere Schule zuständig, in einem Ort namens Schmölln. Aber der Schulbus dorthin brauchte wohl ewig, weil er unterwegs sämtliche Dörfer abklapperte. Das wollte Muttern mir ersparen. Eckhorst lag auf ihrem Weg zur Arbeit, eine halbe Autostunde von hier weg. Sie würde mich morgens mitnehmen und unterwegs absetzen. Zurück sollte ich den Linienbus nehmen. Das war sicher alles gut überlegt, trotzdem klang es nervig und kompliziert. In der Nordstadt war ich zu Fuß zur Schule gegangen, gerade mal zehn Minuten hatte das gedauert.

Einen dämlicheren Zeitpunkt zum Umziehen hätte Muttern sich gar nicht aussuchen können! Im letzten Halbjahr war ich schulmäßig derbe abgestürzt, hatte ein katastrophales Zeugnis eingefahren. Ein Riesengeschrei war losgebrochen, die Pauker hatten sogar damit gedroht, mich auf die Realschule zu entsorgen. Eigentlich ließ ich mir von denen gar nichts sagen, aber mit dieser Ankündigung hatten sie mich auf dem falschen Fuß erwischt. Bei uns mochte es beschissen gewesen sein, aber lange nicht so schlimm wie auf der Haupt- und Realschule. Plötzlich war mir mulmig geworden. Ich hatte mich zusammengerissen und versucht, den Karren aus dem Dreck zu ziehen, zu retten, was noch zu retten war. Mit Erfolg: Inzwischen sah es längst nicht mehr so übel aus wie im Winter. Vielleicht hätte es sogar mit der Versetzung noch geklappt.

Und ausgerechnet jetzt sollte ich auf eine neue Schule wechseln, wo ich niemanden kannte, völlig neue Lehrer bekam. Wie sollte das wohl funktionieren? Es war, als hätte mir jemand in vollem Lauf ein Bein gestellt.

Wie bisher jeden Tag würde ich bis zum Abendbrot hier sitzen bleiben. Und nach dem Essen wieder so lange fernsehen, bis ich vor der Glotze einschlief. Morgen ging dann alles von Neuem los.

Vielleicht würde ich nachher mal bei Hartmann anrufen. Über Ostern wollte ich ihn in der Nordstadt besuchen. Ostern – das waren noch zweieinhalb Wochen! Wie sollte ich die bloß rumkriegen?



***



Hartmann und ich – die erste Begegnung vor der Haustür lag noch nicht lange zurück, da trafen wir uns wieder jeden Nachmittag. Manchmal kam auch Piet mit. Es war ein bisschen wie früher, zu Grundschulzeiten: Wir streiften durchs Viertel, besuchten die verschiedenen Cliquen, hingen mit den Leuten ab.

Aber am liebsten gingen wir runter zur „Bahnschiene“. So hieß in der Nordstadt die Strecke der Hafenbahn, die hinter dem Viertel verlief. Vormittags kam hier ein Zug nach dem anderen und brachte Kohlen runter zum Kraftwerk am Kanal. Nachmittags hörte das auf, dann war die Schiene unser Reich. Hier konnten wir machen, worauf wir Bock hatten, egal ob rauchen, saufen oder kiffen. Keiner stresste deswegen rum, rief die Bullen oder sonst was. Auf die Schiene verirrte sich niemals ein Erwachsener.

Zuerst latschten wir immer ein Stückchen. Der Trippelschritt über die Holzschwellen war uns längst in Fleisch und Blut übergegangen. Schließlich setzten wir uns irgendwo hin, zogen eine Tüte durch, machten uns ein Bier auf. Es war total entspannt. Oft trafen wir Leute, die ebenfalls hier draußen herumstreunten.

Wenn wir Lust hatten, erkundeten wir das alte Militärgelände hinter der Schiene. Es war nach dem Krieg aufgegeben worden, und längst hatte sich die Natur das Gebiet zurückerobert. Neben diversen gesprengten Bunkern gab es überall wilde Müllkippen. Die Leute schleppten ihr altes Zeugs anscheinend lieber hierher, als es ordnungsgemäß zu entsorgen. Uns sollte das nur recht sein: Wir schichteten regelrechte Gebirge aus Sperrmüll, Plastik, Kartons auf und zündeten sie an. Wenn die Flammen am höchsten loderten, warfen wir alte Spraydosen hinein, gingen in Deckung und warteten gespannt, dass sie explodierten.

Manchmal schlugen wir uns bis zum Kanalufer durch. An einem ehemaligen Hafen standen noch immer ein paar rostige Wracks herum, irgendwelche alten Tank- und Versorgungsschiffe. Wir kletterten in die stählernen Schiffsrümpfe und Steuerhäuser und suchten nach verwertbaren Gegenständen. Natürlich immer erfolglos, weil längst alles ausgeschlachtet war.

Das Gelände hinter der Bahnschiene war auch der ideale Platz für unsere Schießübungen. Wir hatten mittlerweile eine eigene Knarre, eine Walther TPH. Hartmann hatte sie besorgt, über irgendwelche Kanäle, die nur ihm bekannt waren. Für die Munition hatten wir zusammengelegt. Wir zielten auf Dosen und Flaschen, Hartmann und Piet manchmal auch auf Ratten und Kaninchen. Aber die verfehlten sie meistens. Überhaupt blieben wir alle ziemlich miserable Schützen.

Eines Tages fanden wir inmitten des Schienengeländes einen Platz, der uns gefiel. Wir schleppten zwei Sofas und einen Couchtisch von der nächsten Müllkippe heran, stellten die Sachen zusammen und hatten ein Wohnzimmer unter freiem Himmel. Sogar einen alten Kanonenofen trieben wir auf, für die Abende, die immer noch ziemlich frisch waren. Aus Mangel an Kohlen heizten wir ihn mit Pappe und Müll. Leider war alles immer fix heruntergebrannt und die heimelige Wärme, die sich einen Moment lang ausgebreitet hatte, verflog schnell.

Aber bald brauchten wir keinen Ofen mehr. Der Sommer kam, und er wurde bombastisch: wochenlang nur blauer Himmel und Affenhitze. Wer konnte, flüchtete aus der Nordstadt und kam hierher, ins Gelände hinter der Bahnschiene. Unsere Sitzecke entwickelte sich mehr und mehr zu einer zentralen Anlaufstelle. Bald versammelte sich die halbe Nordstadt bei uns. Selbst diejenigen, die man sonst nur selten traf, die total ihr eigenes Ding machten, kamen plötzlich angelatscht.

Zum Beispiel die Leute aus der Bunker-Clique. Der Name spielte auf ihren Treffpunkt an: Sie hatten sich einen der alten Bunker hergerichtet, von denen es hinter der Bahnschiene so endlos viele gab. Ihrer sollte angeblich besonders gut erhalten sein. Aber Genaueres ließ sich nur schwer in Erfahrung bringen, denn bisher war kaum jemand dort gewesen. Die Bunker-Leute achteten peinlich genau darauf, wer bei ihnen ein- und ausging.

Aus gutem Grund: Alles Dauerhafte wurde früher oder später plattgemacht, von Chaoten und anderen Leuten, die Dampf ablassen wollten. Das AWO-Jugendheim war das beste Beispiel, immer wieder schlugen irgendwelche Psychos dort alles kurz und klein. In der Nordstadt gab es eigentlich gar keine festen Gruppen und Versammlungsorte. Cliquen bildeten sich zufällig und verschwanden ebenso schnell wieder, alles war ständig in Bewegung. Treffen tat man sich, wo es gerade passte. Etwas Festes aufzubauen machte bei uns absolut keinen Sinn.

Die Leute aus der Bunker-Clique waren die Einzigen, die diese Regel ignorierten. Sie hatten einen festen Treff, und man musste Mitglied bei ihnen werden. „Der Bunker“ – jeder im Viertel sprach diese Worte mit Respekt aus. Etwas Legendenumwobenes, geradezu Mystisches haftete dieser Gruppe an. Als wäre damit ein geheimer Zirkel gemeint, dessen Angehörige nur ihren eigenen Gesetzen gehorchten. Und irgendwie stimmte es ja auch.

Wir waren natürlich stolz wie Oskar, dass ausgerechnet diese Stars sich jetzt bei uns trafen. Klar, es lag es vor allem am Wetter. Aber sie hätten sich ja auch eine eigene Sitzecke einrichten können. Stattdessen kamen sie zu uns – es war einfach der Hammer!

Im Herbst, als das gute Wetter zu Ende ging, dann die Überraschung: Sie boten uns Asyl in ihrem Bunker an, als Gegenleistung. Wir waren erst mal unentschlossen: Sollten wir das Angebot wirklich annehmen? Hartmann wollte nicht, er meinte, da drinnen würde unsere Dreierfreundschaft den Bach runtergehen. Mich dagegen lockte die Aussicht auf Wärme und ein Dach über dem Kopf. Die Regentage häuften sich, abends wurde es mittlerweile wieder arschkalt. Außerdem war es eine Ehre, von der Bunker-Clique aufgenommen zu werden. Alle in der Nordstadt wollten das, aber kaum jemand schaffte es – so eine Chance musste man einfach nutzen, fand ich. Piet hatte keine Meinung, aber am Ende konnte ich ihn auf meine Seite ziehen.

Und so kam der Tag, da wir zum ersten Mal den berühmten Bunker betraten. Der Eingang lag hinter einem Labyrinth aus Trümmern und war selbst aus unmittelbarer Nähe kaum auszumachen. Drinnen sah es ein bisschen wie in einer Höhle aus. Durch die Sprengung war eine Art Tunnel entstanden, ungefähr zwei Meter breit und acht Meter tief. Die Bunkerleute hatten den Boden mit Holzpaletten ausgelegt und diese wiederum mit alten Teppichen abgedeckt. Am Rand lagen überall Matratzen. Und in jeder Ecke stand ein Ofen. Der Rauch wurde durch ein abenteuerliches Geflecht aus Rohren abgeleitet. Fenster gab es natürlich keine. Petroleumfunzeln sorgten für Licht, die auch tagsüber angezündet werden mussten. Im Sommer konnte man sich Schöneres vorstellen, als hier drinnen zu hocken. Aber jetzt, im Herbst, wirkte alles heimelig und urgemütlich.

Eine gute Zeit begann: Kein Rumgerenne bei Kälte und Dauerregen mehr, stattdessen jeden Nachmittag herkommen, auf die Matratzen fläzen, mit den Leuten quatschen. Es war total lustig. Und immer mollig warm – die Kanonenöfen taten gute Arbeit. Einige in der Clique waren regelrechte Experten in Sachen Heizen. Das Kohlenschleppen ging eigentlich reihum, aber ich schaffte es immer, mich zu drücken.

So ließ es sich aushalten. Dass wir früher die Winter immer draußen verbracht hatten, konnten wir uns bald nur noch schwer vorstellen.



***



Muttern wollte zum Einkaufen fahren, in einen Nachbarort namens Hoheneck. Ich musste mit, tragen helfen, sämtliche Proteste verhallten wirkungslos. Es ging also raus, in Feindesland, zum ersten Mal nach sechs Tagen Stubenhocken.

Zum Glück dauerte die Autofahrt nicht lange. Der weitläufige Parkplatz vorm Supermarkt war so gut wie leer. Ich wunderte mich, wozu es in dieser gottverlassenen Gegend einen so großen Laden gab. „Das ist hier eine Ferienregion“, erklärte Muttern. „Bald kommen die Urlauber. Die Geschäfte sind dann sogar sonntags offen. Und nach der Saison fällt alles wieder in den Winterschlaf. Viele Läden haben dann zwischen eins und drei zu.“

Drinnen teilten wir uns auf. Muttern wieselte mit dem Einkaufswagen durch den Markt, ich stand am Fleischtresen an. Der Fleischer war ein uriger Typ mit roter Nase, Händen wie Klosettdeckeln und einem gutmütigen Grinsen. Er kannte alle Kundinnen vor mir mit Namen, redete Platt mit ihnen. Als ich drankam, schaltete er auf Hochdeutsch um, nannte mich „Junger Mann“. Seine plötzliche Förmlichkeit störte mich, warum auch immer.

Danach gingen wir noch zum Bäcker neben dem Markt. Eine Kundin vor uns hatte zu wenig Geld dabei. Sie wühlte in ihrem Portemonnaie, kramte in ihrer Handtasche, durchsuchte ihren Mantel – nichts. Blöde Schnarchtante!, dachte ich genervt. Dann sah ich, wie die Verkäuferin ein kleines Heft hervorkramte, ein Oktavheft, wie man es für Vokabeln benutzte. Sie blätterte, kritzelte irgendwas rein und ließ die Frau gehen – mit ihren Sachen!

Ich war völlig verdattert: Anscheinend konnte man hier anschreiben lassen! Wie gutgläubig waren diese Dorftrottel eigentlich? Glaubten die ernsthaft, dass sie jemals ihr Geld sehen würden? Das war ja besser als Klauen!

Wieder zu Hause luden wir gerade die Sachen aus dem Auto, als zwei Häuser weiter die Tür aufging. Ein Mädchen kam raus, ungefähr in meinem Alter, ziemlich brav, aber hübsch. Halblanges Haar, dunkle Augen, ein bisschen südländisch. Sie latschte in unsere Richtung, ihre stattlichen Möpse waren ordentlich am Wippen. Und die ganze Zeit glotzte sie uns an. Als sie mit uns auf einer Höhe war, kam der Hammer: „Hallo“, sagte sie und strahlte übers ganze Gesicht.

„Guten Tag“, grüßte meine Mutter zurück, ebenfalls sehr freundlich.

Dann war das Mädel vorbeigezogen. Ich stierte ihr hinterher, völlig konfus. Was war das denn gewesen? Einfach „Hallo“ zu sagen, als wären wir bereits alte Bekannte. Dazu dieses Grinsen! Und Muttern hatte auch noch zurück gegrüßt.

„Kanntest du die?“, fragte ich.

„Nein, aber bei den Nachbarn kann man doch mal höflich sein.“

Ich guckte sie wohl ziemlich begriffsstutzig an.

„So ist das hier eben“, sagte sie und lud weiter Sachen aus.

Als wir fertig waren, ging ich wieder nach oben, drehte mir eine Zigarette. Die Abendsonne spiegelte sich in den Fenstern des Nachbarblocks. Die Reflexion schien in mein Zimmer, zeichnete über dem Rauchtischchen ein goldgelbes Rechteck an die Wand. Im Lichtstrahl sah man Qualm und Staubteilchen tanzen.

Immer wieder musste ich an die Begegnung vor dem Haus zurückdenken, mit der Nachbarstochter. Die Kleine wollte mir gar nicht mehr aus dem Kopf. Wie sie Muttern und mich angeschaut hatte, so… offen. Ohne jede Scheu oder gar Angst. Und dann dieses Lächeln…

Ich merkte, dass ich richtig durcheinander war.



***



In Sachen Mädchen war ich ein echter Spätzünder. Alle hatten sich nach und nach eine Freundin zugelegt, nur ich war bis zuletzt allein rumgelaufen. Immer wenn sich mir ein weibliches Wesen näherte, hatte ich mir vor Angst fast in die Hose gemacht.

Diese verfluchte Schüchternheit! Dazu kam, dass ich leider beschissen aussah: Spargel-Tarzan, käsiges Gesicht, Pickeln. Und zu allem Unglück musste ich seit der Siebten eine Brille tragen. Ich setzte sie zwar nur in der Schule auf, während des Unterrichts, aber das blöde Teil gab meinem Selbstvertrauen endgültig den Rest. Welches Mädel wollte schon eine Brillenschlange als Freund?

Der Wind drehte sich erst in der Bunker-Clique. Ich kapierte, dass es vor allem eine Frage der Lautstärke war. Man musste die Klappe aufmachen, voll auf Angriff gehen, dann funktionierte es. Sachen wie Aussehen spielten dann überhaupt keine Rolle. Allerdings waren die Mädchen im Bunker anders als zum Beispiel in der Schule, nicht so kompliziert und eingebildet. Bloß Schwäche durfte man nicht zeigen, das nutzten sie sofort aus. Man musste unbedingt die Oberhand behalten, der Boss bleiben. Aber das war leicht.

Als ich erst mal Blut geleckt hatte, legte ich voll los. Baggerte, knutschte, fummelte, was das Zeug hielt. Ich wollte möglichst schnell alles nachholen, was ich vorher verpasst hatte. Am Ende hatte ich außer Pimpern so ziemlich alles ausprobiert. Und fast sämtliche der zahlreichen Mädchen im Bunker abgearbeitet. Jedenfalls kam es mir so vor. Und ich erzählte es auch überall so.

Das schöne, sorgenfreie Cliquenleben – es hätte von mir aus immer so weitergehen können. Leider blieb das reines Wunschdenken. Eines Nachmittags betrat ich den Bunker, und mir blieb vor Schreck fast das Herz stehen: Dort saßen die Solterbeck-Brüder, neben ihnen Salami und Wladdi, also Wladimir, weiter hinten erkannte ich Krause, Ramos und noch ein paar andere. Das übelste Gesocks, das die Nordstadt zu bieten hatte – es war komplett bei uns versammelt! Bei diesen Typen musste man mit allem rechnen; wer denen in die Finger geriet, konnte sein Testament machen. Selbst Hartmann, der sonst alle Welt kannte, hielt sich von ihnen fern. Salami und Ramos hatten ja früher zur alten Clique um Holgi gehört, aber mittlerweile waren die beiden völlig runtergekommen. Weshalb wir solche wie die als Knirpse so bewundert hatten, kapierte ich jetzt rein gar nicht mehr.

Irgendjemand aus unserer Truppe hatte anscheinend den Schnabel nicht gehalten und ihnen erzählt, wo der Bunker war. Ich tippte auf einen der Neuzugänge. Die Zahl der Cliquenmitglieder hatte zuletzt stark zugenommen, Hartmann, Piet und ich waren bloß drei von vielen gewesen. Und das Anwachsen war leider auf Kosten der Sicherheit gegangen, wie sich nun herausstellte.

Die Solterbeck-Leute fühlten sich schon ganz wie zu Hause: Lümmelten auf den Matratzen rum, bedienten sich an unserem Alk-Vorrat, ohne lange zu fragen. Unsere eigenen Leute saßen wie ein Häuflein Elend dazwischen. Obwohl wir eigentlich in der Überzahl waren, wagte es niemand, einen Muckser zu tun. Alle machten gute Miene zum bösen Spiel.

Nach zwei Stunden zogen sie geschlossen wieder ab. Allgemeines Aufatmen. Aber insgeheim wussten wir, dass die Sache nicht ausgestanden war. Und tatsächlich kamen sie paar Tage später wieder. Diesmal hatten sie ihren eigenen Stoff mitgebracht. Sie ließen sich volllaufen und fingen bald untereinander Streit an. Als Ramos und Wladdi aufeinander losgingen, machten wir die Biege. Von draußen hörten wir die Fetzen fliegen. Am nächsten Tag sah es im Bunker aus wie nach einer Explosion. Überall leere Flaschen und Scherben. Der Boden voller Matsch und Schmodder. Neben einem der Öfen lag eine Machete mit blutverschmierter Klinge, auf einigen Matratzen prangten Blutflecken. Anscheinend waren sie mit Messern aufeinander losgegangen – typisch! Es dauerte ewig, bis wir einigermaßen klar Schiff gemacht hatten.

Von nun an kamen sie fast täglich. Von uns dagegen traute sich kaum noch jemand in den Bunker. Wer hatte schon Bock, dort zwischen lauter Psychos zu sitzen und um sein Leben zu fürchten? Stattdessen trafen wir uns bei Bodo vor der Haustür. Beratschlagten, was man tun könnte, palaverten endlos rum. Die Leute aus der Kiffer-Fraktion waren partout gegen Gewalt. Sie meinten, die Sache müsse sich irgendwie friedlich lösen lassen. Hartmann, Bodo und ich dagegen waren uns sicher, dass es nur ein Mittel gab, um Typen wie die Solterbecks wieder loszuwerden: Schläge, so übel und schmerzhaft wie irgend möglich. Alles andere brachte nichts. Wenn wir jetzt nicht knallhart durchgriffen, konnten wir den Bunker abschreiben.

Schließlich gelang es Bodo, alle vom Mitmachen zu überzeugen, inklusive der Kiffer. Wir rotteten uns in voller Truppenstärke vor der Haustür zusammen. Ralf, dessen Alter bei einem privaten Sicherheitsdienst arbeitete, verteilte Schlagstöcke, auch ich ergatterte einen. Wir warteten, bis es dunkel war, dann stürmten wir den Bunker. Die Solterbeck-Leute hielten gerade mal wieder ein Besäufnis ab und checkten null, was abging. Ich hämmerte mit meinem Schlagstock wie ein Berserker auf alles ein, was sich bewegte, zermatschte einigen Leuten ordentlich die Fresse. Die Schlacht war schnell gewonnen, sie rannten wie die Hasen. Wobei wir auch dreimal so viele Leute waren wie sie, dazu kam der Überraschungseffekt.

Natürlich waren wir mächtig stolz. Zwar hatten sich einige vor der Aktion regelrecht eingeschissen, aber wen interessierte das jetzt noch? Wir waren die Sieger, hatten ihnen gezeigt, wo der Hammer hängt, das allein zählte.

Ab sofort postierten wir Wachen am Bunkereingang und in der näheren Umgebung, die Alarm schlagen sollten, wenn sich irgendwo eine Solterbeck-Nase zeigte. Und viele von uns waren jetzt bewaffnet, mit Messern, Schlagringen, Gaspistolen und Tschakus, für den Fall der Fälle. Aber Solterbecks und Co. hatten ihre Lektion offenbar gelernt: Sie tauchten nicht mehr auf. Hatten wir sie tatsächlich von ihrem Drang geheilt, sich bei uns einzunisten? So recht mochte ich dem Frieden nicht trauen.

An einem Sonntag Anfang November stand Hartmann bei mir vor der Tür: „Der Bunker ist abgefackelt“, meinte er bloß. Ich griff mir meine Jacke, und wir gingen los. Schon von weitem konnte man die Bescherung sehen: rußgeschwärzter Beton über dem Eingang, überall die verkohlten Reste des Mobiliars. Dann der Blick nach drinnen: Nur ein schwarzes, nach Qualm stinkendes Loch war übriggeblieben.

Kemal und Piet schleppten leere Benzinkanister an, die sie in der Nähe gefunden hatten. Man konnte sich leicht ausmalen, was passiert war: Sie hatten sich bei Nacht und Nebel angeschlichen, alles mit Benzin übergossen und angezündet. Die Sachen mussten wie Zunder gebrannt haben. Ich war bloß erstaunt, dass sie diese Aktion überhaupt hinbekommen hatten – anscheinend hatte ihnen der Alk das Hirn noch nicht völlig weggefressen.

Alle standen ratlos da. Bodo und Jönck erzählten, die Feuerwehrleute wären mit ihren Fahrzeugen im Gelände stecken geblieben. Sie hatten letztendlich die Brandstelle nur einkreisen und sichern können. Becky, einer aus der Kiffer-Fraktion, schoss eifrig Fotos – er wollte sich an die lokalen Medien wenden. Naiver Trottel!, dachte ich. Die interessierte das doch einen Dreck.

Die ganze Zeit versuchte ich, ebenfalls wütend und enttäuscht zu sein, wie die anderen. Aber ich bekam es nicht hin, hatte im Gegenteil das Gefühl, als ginge mich das alles hier nichts mehr an. Ehrlich gesagt hatte ich nie wirklich geglaubt, dass es mit dem Bunker auf Dauer funktionieren würde. Und jetzt war halt passiert, was in der Nordstadt am Ende immer passierte: Die Alkis kamen und machten alles kaputt. Das war der normale Gang der Dinge, daran konnte man nichts ändern. Schließlich hatte ich keine Lust mehr, mit den anderen vor einem Haufen verkohlter Trümmer rumzustehen und zu jammern. Ich drehte mich um, sagte „Tschüss“ und ging nach Hause.

Jetzt waren wir bloß noch eine Clique wie alle anderen, ohne Dach über dem Kopf, ohne irgendetwas, das uns zusammenhielt. Wir hingen bei Bodo vor der Haustür rum, zofften, stritten, machten uns an. Die Stimmung war einfach beschissen. Manchmal überlegten wir, was Neues aufzuziehen. Uns zum Beispiel hinter der Bahnschiene eine Bude aus Holz zu bauen. Aber den Reden folgten nie Taten, unser Glaube an ein solches Projekt war dahin. Die Polizei ermittelte wegen Brandstiftung, einige von uns wurden als Zeugen vernommen. Natürlich blieb alles ohne Ergebnis.

Eines Nachmittags kam Grundmann mit einem dunkelroten Veilchen an. Zwei aus der Solterbeck-Truppe hätten ihn nach der Schule in die Mangel genommen, berichtete er. Kurz darauf präsentierte uns Köpke einen derben Bluterguss in der Rippengegend und erzählte eine ähnliche Story.

Sie hatten uns also noch immer auf dem Kieker. Das mit dem Bunker genügte ihnen anscheinend nicht, sie wollten Rache bis zuletzt. Aber anstatt die Sache offen auszutragen, verlegten sie sich auf Guerilla-Taktik. Schlugen aus dem Dunklen zu und verschwanden wieder. Wie sollten wir uns dagegen wehren? Nur noch in Gruppen unterwegs sein? Völlig unmöglich! Wir wohnten in unterschiedlichen Gegenden der Nordstadt, gingen im KBZ auf verschiedene Schulzweige, hatten andere Stundenpläne.

Immer mehr unserer Leute bekamen nun ihr Fett weg, es ging Schlag auf Schlag. Sogar Bodo erwischte es, sie richteten ihn übel zu: Rippenbruch, Gehirnerschütterung, diverse Platzwunden im Gesicht. Ausgerechnet Bodo, einen unserer stärksten Leute!

Erst jetzt dämmerte uns, mit wem wir uns eigentlich angelegt hatten. Jeder hatte plötzlich nur noch Schiss um den eigenen Arsch, immer mehr Leute blieben weg, die Clique schrumpfte von Tag zu Tag. Das Wetter tat das seinige, um die Auflösung zu beschleunigen: Erst regnete es pausenlos, dann kam der Schnee. Bei Bodo vor der Haustür fror ich jetzt immer wie ein Schneider, meine Füße waren nur noch Eisblöcke.

Die Solterbeck-Leute veranstalteten bald regelrechte Treibjagden auf uns. Am Anfang mochte es ihnen ja tatsächlich um so was wie Ehre gegangen sein, immerhin hatten wir ihnen ziemlich auf die Zwölf gegeben. Aber jetzt wollten sie sich nur noch an unserer Angst weiden, daran zogen sie sich hoch, diese Psychos! Einen nach dem anderen griffen sie sich, nahmen ihn in die Mangel. Eigentlich war es bloß eine Frage der Zeit, bis ich an die Reihe kommen würde. Und schließlich passierte es.

An diesem Abend herrschte dichtes Schneetreiben, die Straßen waren wie ausgestorben. Ich hatte bei Piet einen Film geguckt und wollte nur nach Hause. Mir war übel, mein Schädel dröhnte. Ich hätte besser nicht so viel trinken sollen.

Erst registrierte ich gar nicht richtig, dass da ein paar Gestalten von der Seite herankamen. Erst als sie sich vor mir aufbauten, erkannte ich sie: Wladdi stand da, Salami, Kongo und diverse andere. Es war, als hätte mir jemand einen kalten Lappen ins Gesicht geklatscht.

Hektisch suchte ich nach einer Fluchtmöglichkeit. Aber nun kamen sie von überall: aus Hauseingängen, Büschen, vom Spielplatz am Ende des Blocks. Selbst die verschneite Wiese hinter dem Edeka-Markt war plötzlich voller schwarzer Schatten – Abhauen konnte ich vergessen.

Ich hatte nur noch Angst, nackte Angst. Gleich würden sie mich zum Krüppel schlagen. Wahrscheinlich waren dies die letzten Momente, die ich gesund erlebte. Ich hätte am liebsten um Gnade gefleht.

Einen Augenblick lang passierte nichts, sie genossen anscheinend den Überraschungseffekt. Dann trat jemand aus ihrem Kreis vor – Kongo. Ich roch seine Alkoholfahne, den Rauch in seinen Klamotten. Aber er zögerte. Spürte er meine Angst? Wurde sie über meinen Blick, meine Haltung sichtbar, ohne dass ich es wollte? Seine Schläge kamen merkwürdig langsam, fast schwerfällig. Als hätte er Mitleid, würde nur seine Pflicht tun. Ich überlegte, wegzuspringen und ihm selbst ein paar reinzusemmeln. Aber das hätte alles nur noch schlimmer gemacht, deshalb hielt ich still, ließ es über mich ergehen.Ich spürte, wie meine Lippe aufplatzte, die Nase zu bluten anfing. Und hoffte mit jedem Schlag, dass es jetzt gut sein würde.

Meine Rechnung ging nicht auf. Als ich schon ziemlich benommen war, packten mich welche von hinten. Ich wurde zum Anlieferhof des Einkaufszentrums geschleppt, wo um diese Zeit niemand mehr war. Sie stellten mich vor das geschlossene Eisentor, und es ging in die nächste Runde. Mit jedem Schlag in die Fresse knallte mein Kopf gegen die Gitterstäbe, und ich sah Sterne, ganze Feuerwerke, die am Nachthimmel explodierten. Irgendwann ließen sie mich einfach in den Schnee kippen. Wahrscheinlich bearbeiteten sie mich noch weiter, als ich lag, aber das bekam ich nicht mehr richtig mit.

Als ich die Augen aufmachte, rieselten Schneeflocken auf mich herab. Mühsam rappelte ich mich hoch. Sofort fing alles an, sich zu drehen; das Blut lief mir wieder aus Nase und Mund, der verschneite Boden vor mir sprenkelte sich rot. Instinktiv griff ich in den sauberen Schnee an der Seite, nahm eine Handvoll und schmierte mir die kalte, weiße Masse ins Gesicht – es half, das Bluten hörte auf.

Zu Hause dann der Blick in den Badezimmerspiegel: Ein blaues Auge prangte in meinem Gesicht, meine Ober- und Unterlippe waren aufgeplatzt. Ich sah völlig zermatscht aus. Immerhin fehlte kein Zahn. Dafür hatte ich am ganzen Körper Blutergüsse. Und alles tat mir weh.

Muttern erzählte ich am nächsten Tag, dass ich in eine ehrliche Prügelei Mann gegen Mann verwickelt worden war. Zwar hätte ich dem Typen eine Abreibung verpasst, aber beim Hobeln fielen eben auch Späne. Damit gab sie sich zufrieden. Ich durfte an diesem Tag sogar zu Hause bleiben, musste nicht in die Schule.

Die Schmerzen ließen bald nach. Ich hatte anscheinend keine ernsthaften Schäden davongetragen, jedenfalls keine körperlichen. Aber etwas war doch anders seit jener Nacht: Ich bekam nun immer regelrechte Panikattacken, wenn ich draußen unterwegs war. Glaubte Schatten zu sehen, die mich verfolgten, Gestalten, die mir ans Leder wollten. Ständig war ich auf der Hut, versuchte unübersichtliche Stellen zu meiden, hatte eine starke Abneigung gegen weite Flächen, wollte nicht wieder leichte Beute werden. Sämtliche Wege, die ich draußen zurücklegen musste, gerieten zur Qual. Irgendwie war bei mir der Faden gerissen, ich fühlte mich nur noch erschöpft und müde.

Hartmann riet mir, das alles nicht so schwer zu nehmen, sonst würde ich bald durchdrehen und anfangen, weiße Mäuse zu sehen, wie die Alkis. Er selbst steckte das Ganze viel besser weg als ich, obwohl er natürlich auch Kloppe bekommen hatte, und das nicht zu knapp. Außerdem war er in der Hauptschule deutlich näher dran am Geschehen. Stimmte es, was er sagte? War ich womöglich ein Schlappschwanz, zu weich für die Nordstadt?

Auch in Sachen Mädchen merkte ich, dass bei mir die Luft raus war. Der permanente Bagger-Ton, immer auf Anmache, auf Angriff – ich brachte das nicht mehr. Meine Schwäche wurde natürlich sofort ausgenutzt. Die Mädchen zogen alles, was ich sagte, gnadenlos durch den Kakao. Jeder Satz von mir erntete schallendes, geradezu hysterisches Gelächter. Sie fanden immer einen Anlass, mich zu verarschen und hochzunehmen. Irgendwie konnte ich sie sogar verstehen. Früher hatte ich sie ziemlich mies behandelt, hatte mir eine nach der anderen gegriffen und wieder fallengelassen, wenn sie mir über wurde. Und jetzt kam halt die Antwort, wurden alte Rechnungen beglichen.

Manchmal hätte ich am liebsten gerufen: „Kapitulation! Ihr habt gewonnen!“ Aber wie hätte das vor den anderen ausgesehen? Wohl oder übel musste ich mich zusammenreißen und Contra geben. Oder lieber ganz die Klappe halten. Bald stand ich nur noch in der Gegend rum, sagte nichts mehr. Ich wollte nicht wieder ein gefundenes Fressen für die Weiber werden.



***



Unter der Zimmerdecke hing dichter, blauer Qualm. Das war ein verdammt guter Spliff gewesen! Hartmann hatte mir das Dope dagelassen, als er Sonntag in die Nordstadt abgehauen war. Ich konnte bloß hoffen, dass der Dunst nicht durchs ganze Haus zog. Klaus wusste mit Sicherheit, wie ein Joint roch.

Aber anscheinend schliefen alle längst. Es war zwei Uhr durch. Von draußen kam nicht mehr das kleinste Fünkchen Licht herein, seit Stunden herrschte völlige Stille. Sogar das Heulen in den Heizungsrohren hatte inzwischen aufgehört. Alles wirkte wie tot.

Es war komisch, so dazusitzen und zurückzublicken, die Vergangenheit abzuspulen wie einen Film. Früher wäre mir so etwas nie eingefallen, da hatte nur das gezählt, was von vorn kam. Aber auf einmal schien ich einem Geheimnis auf der Spur zu sein, meinem Geheimnis. Ich durfte den Faden nicht verlieren, musste unbedingt dran bleiben…



***



Der Bunker war also abgefackelt. In der Nordstadt jagten uns die Solterbeck-Leute durch die Straßen, und wen sie erwischten, schlugen sie halbtot. Als wäre das alles nicht genug gewesen, kam es jetzt auch in der Schule zum großen Knall.

Jahrelang hatte ich mich am KBZ immer durchgemogelt. Wozu sich den Arsch aufreißen für die Penne, die mit mir und meinem Leben nicht das Geringste zu tun hatte? Und Muttern waren meine Zensuren eh wurscht gewesen, von Vaddern ganz zu schweigen. Also hatte ich zugesehen, dass es für die Versetzung langte, und mir ansonsten ein ruhiges Leben gemacht.

Dann waren die ganzen Sitzenbleiber in meine Klasse gekommen, der erste Schwung in der Achten, der Rest im letzten Sommer in der Neunten. Seitdem funktionierte mein System nicht mehr, irgendeine innere Alarmglocke hatte sich verabschiedet. Ich tat jetzt rein gar nichts mehr für die Schule, machte bloß noch Quatsch, gab den Klassenkasper. Oder ich pennte. Legte den Kopf auf die Tischplatte und träumte was Schönes. Irgendwie musste ich ja den Schlaf nachholen, den ich in der Nacht zuvor versäumt hatte. Weil ich im Bunker oder an der Haustür versackt war. Oder weil ich zu Hause ewig lange vor der Glotze gehockt hatte. Irgendeinen Grund gab es immer. Nicht gerade die besten Voraussetzungen, um ein Musterschüler zu werden. Aber die anderen in meiner Chaos-Klasse waren auch nicht besser, weshalb meine miesen Zensuren nicht groß auffielen.

Die Schule ging mir dermaßen am Arsch vorbei, dass ich nach und nach sogar meine Ausstattung verbummelte. Hefte, Schreibzeug, Instrumente wie Zirkel, Geodreieck und Taschenrechner, sogar die Bücher, die ja Schuleigentum waren – alles weg. Am Schluss hatte ich nicht mal mehr eine Tasche. Ich latschte einfach so in die Schule, schaute beim Nachbarn mit ins Buch, lieh mir zur Not von jemandem Zettel und Stift.

Kurz vor den Weihnachtsferien eröffnete mir Herzog, der Klassenlehrer, dass mein Zeugnis katastrophal ausfallen würde. Vier Fünfen und zwei Sechsen – Versetzung im Sommer akut gefährdet. Ich dachte: Reg dich nicht auf, Mann, ist doch nur'n Halbjahreszeugnis, das wird schon wieder. Aber so leicht sollte ich leider nicht davonkommen. Herzog wollte, dass ich nach den Ferien in die Parallelklasse wechselte. Weigerung hätte keinen Zweck, erklärte er, ansonsten würde er persönlich dafür sorgen, dass ich einen Abflug auf die Realschule machte, er wüsste da Mittel und Wege…

Langsam kapierte ich, was abging: Er wollte ein Exempel statuieren. Machte mich allein verantwortlich für das Tohuwabohu in seiner Klasse, obwohl alle ihren Anteil daran hatten. Er ließ mich über die Klinge springen. Trennte mich von den Kumpels, entsorgte mich in die Parallelklasse, von der alle wussten, dass dort bloß Streber und Spießer waren. Verdammter Dreckskerl!

Muttern wurde zum Gespräch einbestellt. Morgens schimpfte sie noch, weil sie deshalb einen wichtigen Termin auf der Arbeit verpasste. Konnte sich gar nicht erklären, was meine Lehrer von ihr wollten. Abends war sie sichtlich geschockt. Sie hatte von meinem Absturz nicht die leiseste Ahnung gehabt. Zum ersten Mal erlebte ich, dass sie ausrastete. Sie brüllte rum, fühlte sich von mir beschissen und betrogen, machte richtig Theater. Und das bloß wegen eines dämlichen Zeugnisses!

Ab sofort würden andere Saiten aufgezogen, verkündete sie unheilvoll. Sie wollte jetzt täglich meine Hausaufgaben kontrollieren. Die verbummelten Schulbücher musste ich vom Taschengeld bezahlen. Und jeden Abend sollte um Punkt zehn Uhr Zapfenstreich sein, damit ich genug Schlaf bekam. Zehn Uhr! War ich ein kleiner Junge, oder was?

Überhaupt – wieso mischte sich die Kuh plötzlich in mein Leben ein? Bisher war ihr doch immer alles egal gewesen. Stinksauer rannte ich in mein Zimmer und schloss die Tür ab. Muttern baute sich draußen auf und wollte, dass ich aufmachte, sonst würde sie die Bullen rufen. Ich brüllte zurück: „Lass mich in Ruhe!“. Es wurde eine Art Belagerungszustand. Wir gifteten uns dermaßen an, dass Henri zu flennen anfing – das hatte er zuletzt als Kind gemacht.

Erst nach und nach dämmerte mir, dass ich eine ziemliche Dummheit begangen hatte. All die Jahre war ich nicht sitzengeblieben, hatte auch sonst in der Schule keine Probleme gemacht. Als Gegenleistung hatte Muttern mich in Ruhe gelassen. Dieser Deal war nun gebrochen, und prompt hatte ich sie am Hals. Schöner Mist!

Schließlich passierte auch noch die Sache mit Vaddern…

Der Idiot hatte sich wieder mal die Birne zugesoffen und dazu noch irgendwelche Pillen eingeworfen. Mitten in der Nacht klirrte und schepperte es plötzlich aus Richtung Wohnzimmer, dann folgte ein dumpfer Schlag, als wäre etwas Schweres zu Boden gefallen. Kurz darauf fing Muttern an zu schreien, „Arzt“, „Polizei“ und so weiter. So hatte ich sie noch nie gehört. Henri und ich stürmten ins Wohnzimmer: Vaddern lag am Boden, mit verdrehten Gliedern, brabbelnd, sabbernd. Sein Hemd war zerrissen, auf seiner Brust prangten blutige Schnitte. Hatte der Typ etwa versucht, sich umzubringen?

Henri glotzte interessiert auf Vaddern runter. Als er die Wunden und das Blut entdeckte, huschte ein Grinsen über sein Gesicht – auf so was fuhr er ab, der Sadist. Muttern stand nur schlotternd da und war zu keiner Handlung mehr fähig. Also blieb es an mir hängen, zum Telefon zu greifen. Aber wen rief man in so einem Fall eigentlich an, die Polizei oder eher die Feuerwehr? Schließlich wählte ich einfach „110“. Die Bullen blieben ganz cool und meinten, sie würden einen Krankenwagen schicken.

In dieser Nacht herrschte draußen mal wieder totales Schneechaos. Die Männer in den weißen Kitteln wären beinahe nicht durchgekommen. Als sie Vaddern auf der Trage an mir vorbeischleppten, sah ich, dass die Schnitte auf seiner Brust nur oberflächliche Kratzer waren. Nicht mal einen anständigen Selbstmord hatte er hingekriegt, dieser Loser!

Mir war nicht klar gewesen, dass es schon so schlimm um ihn stand. Im Laufe der Jahre hatte ich gelernt, Vaddern möglichst nicht zu sehen und zu hören. Verständigung mit ihm war schlicht unmöglich, bei seinem Alk-Konsum. Und immer lief er rum wie ein Stück Dreck: stinkende Klamotten, fettige Haare, unrasiert. Dass sie ihn auf der Arbeit nicht längst rausgeschmissen hatten, grenzte an ein Wunder. Auf seinen Job warteten doch tausend andere.

Bald wurde er aus der Notaufnahme in eine Entzugsklinik verlegt. Muttern meinte, dort könne er von ihr aus bleiben, bis er Schimmel angesetzt hatte. Ich verstand ihre Wut. Jahrelang hatte sie sein nächtliches Geheul ertragen. Hatte ihn aus der „Schwarzen Hand“ abgeholt, wenn er nicht mehr laufen konnte, hatte seine vollgepissten Klamotten gewechselt. Zum Dank hatte er regelmäßig einen Gutteil Teil Lohns versoffen. Der Typ war für sie die reine Hölle gewesen.

Hartmann meinte, in der Entzugsklinik würde Vaddern so manchen Bekannten treffen. Wahrscheinlich war das gar nicht so falsch. Viele aus der Nordstadt landeten dort, Männer, Frauen, Kinder. Ich nahm mir immer wieder vor, ihn zu besuchen. Man kann den Kerl doch nicht einfach auf den Müllhaufen werfen, dachte ich. Vielleicht ließ sich ja, wenn er endlich trocken war, mal vernünftig mit ihm quatschen. Aber dann fuhr ich doch nie hin. Seit dem Zusammenbruch hatte ich Vaddern nicht mehr wiedergesehen. Und wahrscheinlich würde es auch dabei bleiben.

In den Weihnachtsferien bekam ich Grippe, total heftig. Ich schob es auf das Herumlaufen in Regen, Schnee und Kälte, auf den Winter, der härter war als alle, die ich bisher erlebt hatte. Aber ich ahnte, dass mehr dahintersteckte als bloß das Wetter…

Meine Welt war erschüttert. Erst das mit der Solterbeck-Gang und dem Bunker, dann der Knall in der Schule, schließlich Vadderns Absturz. Nichts funktionierte mehr, alles zerbröckelte mir unter den Händen. Das schlimmste aber war: Ich hatte das Gefühl, völlig allein zu sein, von Gott und der Welt abgeschnitten.

Tatsächlich war in dieser Zeit tagsüber nie jemand zu Hause. Muttern arbeitete wie eh und je. Sie musste vor den Feiertagen wohl ordentlich was wegschaffen und interessierte sich nicht dafür, ob jemand krank oder gesund war. Henri war ebenfalls von morgens bis abends unterwegs. Und so dämmerte ich einsam vor mich hin, bei 40 Fieber. Im Fall der Fälle hätte mir keiner geholfen, ich wäre einfach jämmerlich verreckt.

Ich begann zu phantasieren, Dinge zu sehen, die gar nicht da waren, Bilder von tückischen Sümpfen, giftigen Nebeln, die über den Boden waberten, mich verfolgten. Weglaufen war fast nicht möglich, mit jedem Schritt versank ich tief im Morast. Die Nebel fanden mich, hüllten mich ein, nahmen mir den Atem. Langsam wurde ich abwärts gezogen, unerbittlich, unaufhaltsam…



***



Dann kam dieser besondere Morgen, kurz vor Weihnachten. Ich hatte geschlafen wie ein Toter und spürte gleich nach dem Aufwachen, dass es mir besser ging. Das Fieber war gesunken, die Gliederschmerzen hatten nachgelassen, auch das Husten tat nicht mehr so weh.

Aber da war noch etwas anderes. Eine Art Kraft, die mir von irgendwoher zufloss. Hoffnung, fast Freude. Die Angst, die bis zuletzt immer stärker, immer mächtiger geworden war, schien plötzlich zurückgedrängt. Woher das neue Gefühl kam, konnte ich nicht sagen, doch ich hatte eine seltsame Ahnung, dass sich in meinem Leben bald etwas ändern würde.

Geschirrklappern war zu hören. Komisch, ich wusste sofort, dass dieses Geräusch mich geweckt hatte. Wahrscheinlich weil es nicht hierher gehörte. Es klang, als würde jemand den Tisch decken. Aber das konnte nicht sein. Tisch decken, zusammen essen – wo gab es das? Bei uns jedenfalls nicht. Und auch bei niemandem sonst, den ich kannte. Sicher träumte ich noch.

Henri steckte seinen Kopf zur Tür herein: „Frühstück!“, sagte er knapp und verschwand wieder. Frühstück? War der Wahnsinn komplett? Drehte ich endgültig durch? Sogar Kaffeegeruch meinte ich jetzt wahrzunehmen. Dabei hatte ich derben Schnupfen und konnte gar nichts riechen.

Trotzdem – nun war ich neugierig geworden. Ich stand auf, zog mir einen Pulli über und ging in den Flur. Aus Richtung der Küche sah ich einen hellen, warmen Lichtschein, Radiomusik war zu hören. Und mein Schnupfen musste vorbei sein, denn es roch definitiv nach Kaffee.

Als ich in die Küche kam, glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen: Da war der gedeckte Tisch, die Kaffeemaschine lief. In einem Topf auf dem Herd sprudelte Wasser mit Frühstückseiern vor sich hin, im Toaster steckten zwei Scheiben. Auf der Fensterbank brannte sogar eine einsame Kerze – wo hatte Henri die ausgebuddelt?

Er und Muttern saßen bereits am Tisch. Kaffee wurde mir eingeschenkt, auf meinem Teller landete ein goldbraunes, noch dampfendes Toast. Dann frühstückten wir gemeinsam. Redeten, tratschten, erzählten uns sogar Witze. Ich hustete vor Lachen, hustete mich regelrecht frei, keuchte den letzten Rest Erkältung aus mir heraus. Mehrmals überlegte ich ernsthaft, mich zu kneifen, um ganz sicher zu gehen, dass ich nicht mehr schlief. Es war wie Weihnachten. Oder noch besser.

Und die gute Stimmung blieb. Vadderns Abgang ließ uns regelrecht aufatmen, nach und nach wurde uns klar, wie sehr wir alle unter diesem Typen gelitten hatten. Die Atmosphäre schien sich komplett zu wandeln, auf einmal spürte man etwas wie Zusammenhalt, Gemeinsamkeit.

Als meine Grippe endgültig ausgestanden war, ging ich los und kaufte mir Material für die Schule: Stifte, Hefte, Geodreieck, Zirkel und Lineal, eine Federtasche, einen Ranzen. Ich hatte beschlossen, es auf dem KBZ noch einmal zu versuchen. Zum ersten Mal in meinem Leben nahm ich mir etwas vor, setzte mir ein Ziel. Bisher hatte ich immer alles einfach laufen lassen.

Am ersten Schultag wunderten sich alle, dass ich überhaupt noch auftauchte. Mein katastrophales Zeugnis hatte sich rumgesprochen, und es hieß, ich wäre von der Schule geflogen. Na, das fing ja gut an! Aber ich durfte mich jetzt nicht verunsichern lassen. 'Bleib bei der Sache, zieh das Ding jetzt durch!', sagte ich mir und musste es in der nächsten Zeit verdammt oft wiederholen.

In meiner neuen Klasse war es wie in der Fünften und Sechsten: Alle konzentrierten sich im Unterricht und machten brav ihre Hausaufgaben. Es gab kaum Zwischenrufe, niemand kasperte rum. Erst dachte ich: Was für ein Haufen Weicheier! Aber bald kapierte ich, dass es das Beste war, was mir passieren konnte. Es gab nichts mehr, das mich ablenkte, von meinem Plan abbrachte, zu retten, was noch zu retten war.

Auch die Nachmittage verliefen nun anders. Statt wie früher mit den Kumpels in der Nordstadt oder auf der Bahnschiene abzuhängen saß ich am Schreibtisch und machte Hausaufgaben, paukte Vokabeln, bereitete mich auf Klassenarbeiten vor. Es war hart, ich musste mich ganz schön zusammenreißen. Immer wieder war ich drauf und dran, alles hinzuschmeißen und die Biege zu machen.

Muttern kam jetzt immer sehr früh von der Arbeit. Jeden Abend ließ sie sich von mir die Hefte zeigen und prüfte genauestens, ob ich meinen Schulkrams erledigt hatte. Auch Vokabeln fragte sie mich ab, obwohl sie bloß ein bisschen Englisch und kein Französisch konnte. Sie gab mir immer das deutsche Wort vor, ich musste die Übersetzung nennen. Ihre Taktik ging auf – der bloße Gedanke an die bevorstehende Abfrage-Prozedur genügte, um mich zum Pauken zu bringen. Und jeden Abend um zehn hieß es: ab in die Koje. Kein Zetern und Schimpfen konnte sie erweichen.

Die Schulbücher musste ich tatsächlich von meinem Taschengeld ersetzen. Sie waren so teuer, dass bloß ein paar lausige Kröten übrigblieben. Sie reichten kaum für Tabak, und ich schraubte das Rauchen notgedrungen fast auf Null runter. Qualmte bloß abends ein, zwei Stück vor der Haustür, blieb tagsüber clean.

Bald fuhr ich die ersten guten Zensuren ein. Erst dachte ich noch, es wäre Zufall. Aber dann kam die nächste gute Note. Und wieder eine. War ich vielleicht doch nicht so dumm wie angenommen? Etwas geleistet haben, etwas vorweisen können – das kannte ich überhaupt nicht. Sofort fühlte man sich sicherer, unangreifbarer. Man war den Lehrern nicht mehr hilflos ausgeliefert, hatte ihnen etwas entgegenzusetzen, konnte sie beeindrucken – eine ganz neue Erfahrung.

Je weiter das Jahr voranschritt, desto mehr verbesserte sich mein Zensurenspiegel. Schließlich zeichnete sich sogar ganz schwach die Aussicht am Horizont ab, die Versetzung zu schaffen. Aber ich wollte es zu dieser Zeit noch nicht laut aussprechen, aus Angst, die guten Geister wieder zu vertreiben.

So viel war klar: Ohne Mutterns Druck hätte ich diese Tretmühle niemals durchgehalten. Sie war unerbittlich, trieb mich gnadenlos an. Zuerst hasste ich sie dafür, aber nach und nach wurde meine Wut abgelöst durch ein anderes Gefühl: Dankbarkeit. Ich rechnete es ihr hoch an, dass sie sich so um mich kümmerte.

Sie hatte sich in der letzten Zeit ziemlich verändert. Zu Hause trug sie jetzt immer Joggingklamotten statt ihres alten, braungrünen Kittels. Die langen Haare mit dem biederen Pony waren vor einiger Zeit einem flotten Kurzhaarschnitt gewichen. Selbst ihre Sprache war anders als früher: Sie drückte sich gewählter aus, nicht mehr so rau und flapsig. Wahrscheinlich kam das von ihrer Arbeit in der Nordstadt-Klinik. Man merkte, dass sie es dort mittlerweile nur noch mit Büroleuten, Bossen und so zu tun hatte.

Die ganze Zeit hatte ich Mutterns allmähliche Verwandlung nicht bemerkt. Vielleicht hatte ich sie auch nicht sehen wollen, hatte sie ignoriert, wie alles, was mit zu Hause zu tun hatte. Aber nun war ich aufgewacht. Der Groschen war gefallen.



***



Freitag, der letzte Schultag vor den Osterferien. Muttern und ich fuhren wie geplant nach Eckhorst, an meine neue Penne.

„Wilhelm-Gymnasium“ hieß die, und so altbacken wie der Name wirkte auch das Gebäude: Mauern aus dunklem, verwittertem Backstein, Fenster mit Spitzbögen, der Pausenhof mit Stacheldraht eingezäunt. Im Innern lange Flure mit geweißten Wänden und blitzblanken Linoleumböden. Das alles erinnerte weniger an eine Penne als eher an die Schilderungen von Knästen, die in der Nordstadt kursierten.

Als Erstes mussten wir zum Direx. Beim Reinkommen in sein Zimmer erhob sich der Typ und machte eine Verbeugung. „Doktor Busch“, stellte er sich vor. „Doktor“ – so einem hätten wir am KBZ glatt die Reifen zerstochen.

Nachdem er und Muttern irgendwelches Zeugs besprochen hatten, gingen wir zum Lehrerzimmer. Unterwegs klingelte es zur Pause. Kein Gong aus Lautsprechern, wie ich es kannte, sondern ein mechanisches, nervtötendes Schrillen. Überall öffneten sich die Türen der Klassenzimmer, und Schüler strömten raus. „Hofgang!“, dachte ich. Im Knast lief es wahrscheinlich nicht viel anders als hier.

Zum Glück trug ich saubere Klamotten. Muttern hatte mich vorm Losfahren gezwungen, etwas „Ordentliches“ anzuziehen. Eine intakte Hose statt meiner zerrissenen, fleckigen Jeans, einen sauberen Blouson statt der ausgefransten Wrangler-Jacke, auf der hinten ein fettes „Anarchie“-Logo prangte. Erst hatte ich innerlich tausend Verwünschungen ausgestoßen, aber jetzt war ich doch froh:In diesen Plünnen fiel man zwischen den ganzen proper gekleideten Jungs und Mädels ringsherum nicht groß auf.

Vorm Lehrerzimmer ließ uns der Direx warten. „Zutritt nur für Personal“ stand groß auf einem Blechschild neben dem Eingang. Am KBZ wäre so ein Ding spätestens nach drei Tagen weg gewesen, heimlich abgeschraubt von irgendwelchen Trophäenjägern. Überhaupt: Dass Schüler nicht ins Lehrerzimmer durften, wäre dort undenkbar gewesen. Ein alter Mann mit Brille und Ziegenbart trat vor die Tür. „Doktor Wahlstedt.“, schnarrte es unangenehm aus ihm heraus, als er Muttern die Hand reichte. „Ich bin Haukes Klassenlehrer und unterrichte Englisch und Sport.“

„Noch ein Doktor“, dachte ich, mittlerweile ziemlich genervt.

Dann musste ich mitgehen, in meine neue Klasse. Muttern wollte derweil im Auto warten. Ich schlich hinter diesem Wahlstedt her wie ein Gefangener auf dem Weg in die Zelle. Die Pause war vorbei, niemand trieb sich mehr auf den Fluren herum.

Schließlich machten wir vor einem Klassenzimmer halt. Wahlstedt wollte, dass ich vorging – und drinnen traf mich fast der Schlag: Die sahen alle wie Babys aus, niemand älter als dreizehn! Einige Jungen spielten Fangen oder irgendwas in der Art. Mädchen und Jungs schienen sich voreinander zu fürchten: Alle Grüppchen im Raum waren säuberlich getrennt nach Männlein und Weiblein. Das Beste aber kam jetzt: Als Wahlstedt den Raum betrat, rannten alle an ihren Platz und standen stramm. Urplötzlich war es still, man hätte eine Stecknadel fallen hören. Ich musste in einen alten Film geraten sein: knisternder Ton, altmodische Sprache, komische Sitten…

„Ich darf euch einen neuen Klassenkameraden vorstellen“, verkündete Wahlstedt in seinem schnarrenden Tonfall, der mir schon jetzt seltsam vertraut vorkam. „Das ist Hauke.“

Alle glotzten, ich wäre am liebsten in Grund und Boden versunken. Dann packte mich die blanke Wut. Was führte der Kerl mich hier vor? Wollte er mich gleich zu Anfang kleinkriegen? Ich hätte ihm am liebsten einen saftigen Tritt in die Eier verpasst. Aber das ließ ich dann doch – bei Sportlehrern konnte man nie wissen. Auch wenn dieser schon einige Jahre auf dem Buckel hatte.

Endlich war es überstanden und ich saß wieder neben Muttern im Auto. Sie wollte natürlich wissen, wie es gewesen war. „Ganz gut“, brachte ich nur heraus. Ich war einfach noch zu geschockt von meinen Erlebnissen. Der Direx mit seiner Verbeugung, dieser Wahlstedt, die ganzen Babys in der Klasse, ihr Strammstehen zu Stundenbeginn – das konnte doch alles nicht wahr sein!

„Du packst das schon.“ Muttern wollte mich anscheinend aufmuntern. Fehlte nur noch, dass sie mir auf die Schulter klopfte! In beiläufigem Tonfall erzählte sie, dass der Direx vorhin, als ich mit Wahlstedt weggegangen war, noch irgendwas von „unsolider Familiensituation“ gefaselt hatte. Auch ein „zweifelhaft, ob der Junge das Jahr schafft“ wäre ihm wohl rausgerutscht. Na, wenn das keine Ermutigung war!

Ganz klar: Der Typ hatte auf mein letztes Zeugnis angespielt, auf die vielen Fünfen und Sechsen. Kein Wort davon, dass ich mich inzwischen verbessert hatte, dass meine Zensuren wieder stimmten. So was interessierte den Herrn Doktor natürlich nicht. Der hätte mich doch am liebsten gar nicht aufgenommen. Bestimmt suchte er schon nach einem Grund, mich so schnell wie möglich wieder loszuwerden. In seine tolle Penne gingen natürlich bloß Kinder aus „ordentlichen“ Familien.

Wir kamen nur schleppend voran: Immer wieder fuhren Traktoren im Schneckentempo vor uns her, eine Autoschlange bildete sich. Sobald die Strecke frei war, überholte ein Fahrzeug nach dem anderen. Bis beim nächsten Trecker das Spielchen von vorn anfing.

Ungeduldig zählte ich die Kilometer. Je weiter wir dieses Eckhorst hinter uns ließen, desto besser!



***



Abends beim Essen erzählte Muttern noch mal lang und breit von meiner neuen Schule, dem Direx mit seiner Verbeugung und Wahlstedt, meinem zukünftigen Klassenpauker. Henri und Klaus lachten sich natürlich halb schlapp.Zu guter Letzt kramte sie auch noch dieStory vom Vortag raus, nach dem Einkaufen. Sie meinte, die Nachbarstochter hätte mich die ganze Zeit angeglotzt. Und ich wäre hinterher völlig durcheinander gewesen. „Stimmt ja gar nicht!“, rief ich ärgerlich.

„Mach dich doch an sie ran“, schlug Klaus vor.

So langsam wurde ich wirklich sauer. Was quatschten die da eigentlich? Mal ein Weib anzugucken hieß doch nicht gleich, dass man was von ihr wollte.

Aber was, wenn sich die Süße tatsächlich für mich interessierte? Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht. Ich merkte, wie ich gegen meinen Willen rot wurde. „Und wie sollte das laufen?“, fragte ich, krampfhaft auf meinen Teller stierend. „Ich kenn die doch gar nicht.“

„Das ergibt sich schon“, meinte Klaus, „die Chance musst du nutzen, Hauke! Die Frauen warten nicht, da muss man zupacken.“

„Ach was!“, zischte ich, jetzt ernsthaft wütend. Immer glaubte Klaus, mir Mut machen zu müssen, wenn es um Mädchen ging. Sah ich etwa so aus, als hätte ich das nötig? Hatte ich in der Nordstadt nicht bewiesen, dass ich mithalten konnte, wenn es um Weiber ging, dass ich keine klugen Ratschläge brauchte?

Als ich in meinem Zimmer saß, dachte ich noch lange über die Unterhaltung nach. Womöglich war ich selbst schuld daran, wie es immer lief… Irgendwas passierte mit mir, sobald Klaus das Thema Mädchen anschnitt. Jedes Mal fühlte ich mich dann merkwürdig unsicher und ängstlich. Mädchen – das schienen fremdartige, fast unheimliche Wesen zu sein. Und Klaus kam mir vor wie die Rettung. Er hatte Erfahrung, von ihm konnte man bestimmt Antworten auf die vielen Fragen bekommen, vielleicht auch Tipps, Ratschläge, wie man vorgehen musste. Er merkte das natürlich, wollte mir unter die Arme greifen, mich unterstützen.

Oder mich vielleicht auch aufs Korn nehmen, keine Ahnung.

Aber wie peinlich war das denn, bitteschön? Auf reif und erfahren machen, sich in Wahrheit aber vor Angst in die Hose scheißen wie ein Knirps? Das konnte nicht sein, das stimmte einfach nicht!

Und doch war es so – irgendwie.



***



Klaus war im Januar zu uns gekommen, also kurz nach der Sache mit Vaddern. Er arbeitete ebenfalls in der Nordstadt-Klinik, als Krankenpfleger. Henri behauptete, dass Muttern schon seit längerem ein Verhältnis mit ihm hatte. Vaddern wäre überhaupt bloß deswegen so durchgedreht und hätte neben Alk auch noch Pillen eingeworfen und an sich rumgeritzt, meinte er. Keine Ahnung, ob's stimmte, aber Henri bekam so einiges mit, was an mir vorbeiging.

Eigentlich hätte ich gut auf einen neuen Kerl im Haus verzichten können. Ohne Vaddern war es auf einmal richtig nett geworden, gar nicht zu vergleichen mit vorher. Und nun hieß es plötzlich, dieser Klaus würde bei uns wohnen, jedenfalls an drei Tagen pro Woche. Das war mir nicht geheuer. Ich machte mich auf neuen Ärger gefasst.

Aber der kam nicht. Klaus war anders, nicht so beschränkt wie die anderen. Er hatte eine Weile als Entwicklungshelfer in Algerien gearbeitet. Abends trug er manchmal einen komischen Kaftan, den er sich dort zugelegt hatte. Er meinte, der wäre gemütlicher als jeder Bademantel. Mit mir wollte er immer quatschen. Fragte mich, was so lief, in der Schule, mit den Kumpels und so weiter. Nach und nach ließ ich mich auf seine Annäherungsversuche ein. Wir setzten uns ins Wohnzimmer oder in die Küche, machten uns ein Bierchen auf und laberten. Er verstand, wovon ich sprach, hatte früher selbst einiges erlebt. Schlägereien auf Jahrmärkten, bei Konzerten und Festivals, und er immer mittendrin. Die zahlreichen Tattoos und Narben auf seinen sehnigen Unterarmen zeugten noch davon. Bald merkte ich, dass ich mich ganz gut fühlte, wenn er da war. Er brachte etwas mit, das die ganze Zeit gefehlt hatte. Früher hätte ich dieses Etwas nicht genau beschreiben können, aber jetzt dachte ich manchmal wieder an unseren richtigen Vater. Ich wollte das eigentlich nicht, der Typ war für mich gestorben, ich hatte ihn längst aus dem Gedächtnis gestrichen. Und auf einmal geisterten wieder die alten Fragen in meinem Kopf herum: Wo er jetzt wohl stecken mochte, ob er überhaupt noch lebte und so weiter. Ich hatte nie richtig verstanden, was damals eigentlich passiert war. Eines Tages war er einfach weg gewesen, wie vom Erdboden verschluckt. Als hätte es ihn nie gegeben. Wir zogen in die Nordstadt, Muttern fing den Job in der Klinik an, Henri und ich wurden am KBZ eingeschult. Dann war auf einmal Vaddern da, wie selbstverständlich. Alles ging Knall auf Fall, als hätte jemand das Programm umgeschaltet. Zuerst hatte ich noch versucht, mit Muttern über das Thema zu quatschen. Aber sie wurde dann immer ganz komisch, so… fremd und abweisend. Ich bekam es jedes Mal mit der Angst und machte einen Rückzieher. Irgendwann gab ich es ganz auf. Ändern konnte man ja eh nichts mehr. Ich nahm einfach alles wie es war und Schluss. Damit war ich immer gut gefahren. Aber nun war Klaus da. Mit ihm hatte sich viel verändert. Ob Muttern die ganze Sache jetzt etwas entspannter sah? Vielleicht sollte ich noch mal einen Versuch machen, mit ihr über alles zu reden? Der Gedanke war ziemlich verlockend, aber dann wagte ich es doch nie, die alten Geschichten wieder aufzurollen.

03. Wegziehen

Die Schultage am KBZ verliefen nun immer nach dem gleichen Muster: morgens Unterricht, mittags in der Kantine essen, danach Hausaufgaben oder – an ganzen Tagen – wieder Unterricht, abends ein bisschen fernsehen und um 22 Uhr ins Bett. Die Wochenenden waren auch nicht viel abwechslungsreicher. Aber eigentlich fehlte mir nichts. Im Gegenteil: Ich hatte das Gefühl, endlich mal zur Ruhe zu kommen.

Währenddessen ging das Leben in der Nordstadt komplett an mir vorbei. Hätte nicht Hartmann ab und zu reingeschaut und mich mit Neuigkeiten versorgt, wäre ich völlig abgemeldet gewesen. Er berichtete, dass sich inzwischen alle Welt bei Tom traf. Auch viele aus unserer alten Clique gingen jetzt dort hin. Bei Tom war es warn und trocken, außerdem hatte man seine Ruhe vor den Solterbeck-Leuten. An der Haustür war rein gar nichts mehr los.

Tom – ich kannte ihn bloß vom Sehen. Ein komischer Kerl: Wohnte noch immer bei den Eltern, obwohl längst volljährig, angeblich schon über zwanzig. Seine Bude galt in der Nordstadt als Umschlagplatz für Diebesgut. Wenn man etwas brauchte oder anzubieten hatte, war er die erste Adresse. Irgendwann würden ihn sicher die Bullen hochnehmen. Schon schräg, dass jetzt alle dort rumhingen.

Im Laufe des Februar fing das Stubenhocken allmählich an zu nerven. Eine Zeitlang mochte es okay gewesen sein, aber jetzt hatte ich da keinen Bock mehr drauf. Man merkte, dass der Frühling in der Luft lag, trotz der hartnäckigen Kälte. Es wurde längst nicht mehr so früh dunkel, gleichzeitig schaffte ich meine Hausaufgaben nun viel schneller als früher. Was sprach dagegen, mal rauszugehen, wenn ich die Paukerei erledigt war? Ich konnte mich nicht ewig zu Hause verstecken, scheiß auf die Solterbeck-Leute!

Eines Nachmittags hielt ich es nicht mehr aus und rief Hartmann an. Es dauerte keine zehn Minuten, da klingelte er bei mir, um mich abzuholen. Er war völlig aufgekratzt, redete den ganzen Weg über wie ein Wasserfall. Schmiedete Pläne, was wir in der neuen Clique alles zusammen anstellen würden.

Bei Tom herrschte tatsächlich der Trubel, den Hartmann beschrieben hatte. Ich sicherte mir ein freies Plätzchen auf einem der speckigen Sofas und nahm die Sache in Augenschein. Der Raum war proppenvoll, viele Gesichter sah ich zum ersten Mal. Tom machte total auf wichtig, rannte ständig mit dem Telefonhörer am Ohr herum und bequatschte lautstark irgendwelche Deals. Es hieß, die Weiber würden ihm zu Füßen liegen, weil er so viel Kohle hatte. Als ich ihn vor mir sah mit seiner Plauze, den fettigen Haaren und der Kassenbrille, konnte ich mir das nur schwer vorstellen.

Die ganze Zeit über blieb ich merkwürdig teilnahmslos und still. Ganz ehrlich: Ich fühlte mich fremd. Die Kerle mit ihrem Gesaufe und Machogehabe, die Mädels, die mit großkotzigem Gezeter Kontra gaben – passte das ernsthaft noch zu mir?

„Alter, reiß dich zusammen!“, mahnte eine innere Stimme. „Wenn du es hier nicht packst, dann nirgends. Und wo willst Du dann hin?“ Bestimmt hatte ich zu lange in meinem Kabuff gehockt, nichts mehr von der Welt draußen mitbekommen. Ich war völlig verweichlicht, ganz klar. Und jetzt musste ich halt zusehen, dass ich mich wieder an die raue Wirklichkeit gewöhnte.

Von nun an raffte ich mich jeden Nachmittag auf und ging zu Toms Clique. Klopfte Sprüche und hoffte, dass sie echt rüberkamen. Schluckte meine Abneigung gegen die Mädchen runter, schäkerte wieder mit ihnen. Tatsächlich schien es zu funktionieren: Ich merkte, dass Toms kleine Schwester, Gabi, angebissen hatte. Sie war 15, also ein Jahr jünger als ich. Besonders dolle sah sie nicht aus, aber sie hatte Super-Möpse. Alles in allem wäre sie kein schlechter Deal gewesen.

Und doch tat ich nichts. Es war alles anders als früher. Irgendwas an mir stimmte nicht mehr, war Lüge, Täuschung, Fassade. Interessierte Gabi sich wirklich für mich? Also für den echten Hauke, so wie er wirklich war?

Aber halt: Wer oder was sollte das sein, der „echte“ Hauke? Wo fand ich den?



***



Anruf von Hartmann: Er hatte heute seinen Lehrvertrag per Post bekommen. Nun war es also amtlich, dass er im Sommer mit seiner Ausbildung zum KFZ-Elektriker starten würde.In der Nordstadt quatschten mittlerweile alle vom Arbeiten. Die Haupt- und Realschüler hatten Anfang des Jahres ihre Betriebspraktika absolviert. Hartmann war in derselben Firma gewesen, die ihn nun einstellte. Wenn er und Piet von ihren „Kollegen“ erzählten, vom „Meister“ und „Feierabend machen“, war ich immer hin- und hergerissen. Einerseits beneidete ich die beiden, weil sie bald Kohle verdienten und ihren Eltern nicht mehr auf der Tasche lagen. Andererseits fand ich die Vorstellung, den ganzen Tag in einem Betrieb zu sein, ziemlich gruselig. Schule konnte man zur Not schwänzen, aber den Job? Außerdem: den ganzen Tag nichts als eintönige Knüppelei – stumpfte man da nicht völlig ab? Ich konnte mir nicht helfen: Arbeiten hatte für mich was von moderner Sklaverei.Auch über meinen geplanten Besuch in der Nordstadt quatschten wir. Ich wollte Donnerstag vor Ostern kommen und bis Montag bleiben. Eine Mitfahrgelegenheit hatte ich schon: Klaus, der über die Feiertage Dienst in der Klinik schob, würde mich mitnehmen. Bloß zurück musste ich mit dem Bus fahren, aber da konnte man halt nichts machen.

Kaum hatten wir aufgelegt, fing ich fieberhaft an zu rechnen: Am Samstag vor genau einer Woche waren wir hierhergezogen, und bis Ostern waren es noch immer fast zwei Wochen – ich hatte also noch nicht mal die Hälfte der Zeit in dieser Einöde hinter mir. Aber selbst wenn die Fahrt schon morgen losgegangen wäre – früher oder später musste ich doch wieder hierher zurück. Es war einfach zum Verzweifeln.

Dieser beschissene Umzug – gab's wirklich keine Möglichkeit, ihn irgendwie rückgängig zu machen?



***



Als Erster hatte Henri von Mutterns Plänen Wind bekommen. Irgendwann im Februar erzählte er, dass er angeblich ein Gespräch zwischen ihr und Klaus belauscht hatte, über einen Hauskauf irgendwo auf dem Land. Ich hörte gar nicht richtig zu. Bestimmt hatte er wieder irgendwas falsch verstanden und in seinem Schädel durcheinandergequirlt.

An einem Samstag Anfang März gab es das nächste gemeinsame Frühstück. Aber diesmal war die Stimmung anders als an jenem besonderen Morgen vor Weihnachten. Muttern wirkte die ganze Zeit angespannt und nervös. Als ob sie uns was Schlimmes gestehen müsste.

Und dann kam es: Wir würden aus der Nordstadt wegziehen! Sie hätte ein Reihenhaus gekauft, erzählte sie, irgendwo an der Küste, in einem Kaff namens Schönhagen. Dieselbe Gegend, in der auch Klaus wohnte. Henri und ich mussten nach den Osterferien die Schule wechseln, die Wohnung war bereits gekündigt.

Im ersten Moment dachte ich an einen verfrühten Aprilscherz. Aus der Nordstadt wegziehen? Unsere Wohnung gekündigt? Schule wechseln? Und dann aufs Land, in ein Dorf – waren wir Bauern, oder was? Da wohnte doch kein normaler Mensch! Das war zu verrückt, das konnte einfach nicht stimmen!

Nur sehr langsam wurde mir klar, dass sie es ernst meinte. Es war, als würde eine Bombe platzen. Ein donnernder Knall, eine heftige Druckwelle… und mit einem Mal war ich wie taub. Benommen versuchte ich die Fakten zusammenzuklauben: Haus, Umzug, Schulwechsel… aber es ging nicht, alles zerrann mir sofort wieder zwischen den Fingern. Wie bei einem Schock.

Als ich mich wieder beruhigte und der bitteren Wahrheit ins Auge sehen konnte, packte mich eine Höllenwut. Wenigstens nach unserer Meinung hätte Muttern fragen können. Gerade sah ich in der Schule wieder ein bisschen Land. Auch die Panik, wenn ich draußen unterwegs war, hatte deutlich abgenommen. Okay, mit den Kumpels lief es gerade nicht besonders, aber das konnte alles noch werden. Und jetzt das. Aber es war typisch für Muttern. Was sie sich in den Kopf gesetzt hatte, zog sie durch, ohne Rücksicht auf Verluste, knallhart.

Von nun an fuhren sie, Klaus und Henri jeden Nachmittag in dieses ominöse „Haus“, um dort zu arbeiten. Sie tapezierten, strichen Wände, verlegten Teppichböden und so weiter. Immer wieder wollten sie, dass ich mithalf, aber das konnten sie vergessen. Ich schaltete einfach auf Durchzug, fuhr nicht ein einziges Mal mit raus. Die ganze Nummer lief komplett an mir vorbei, ich machte einfach weiter wie bisher.

Die schlechten Nachrichten rissen nicht ab: Eines Nachmittags erzählte mir Hartmann, dass er bei den Renovierungsarbeiten helfen würde. Klaus hatte ihn engagiert, er sollte die Elektrik im „Haus“ auf Vordermann bringen. Ich war platt. Klar konnte ich verstehen, wenn Hartmann sich ein paar Groschen dazuverdienen wollte, aber warum ausgerechnet beim Gegner? Warum half er diesen Verrätern, die sich aus der Nordstadt verpissen wollten? Trotzdem sagte ich nichts. Hartmann hätte es sowieso nicht kapiert. Geld war für ihn Geld, scheißegal wo es herkam.

Von nun an fiel mir der Gang zu Tom noch schwerer. Was konnte ich dort noch gewinnen? In ein paar Wochen waren wir eh weg. Außerdem verarschten sie mich jetzt bei jeder Gelegenheit: Aufs Dorf musste er, zu den Landeiern – gröl! Schließlich hatte ich genug und blieb nachmittags einfach wieder zu Hause.

Hartmann verhielt sich in dieser Zeit wie ein echter Kumpel. Vielleicht plagte ihn auch ein bisschen das schlechte Gewissen. Jedenfalls schaute er, wenn er abends mit den anderen aus dem „Haus“ zurückkam, oft noch auf ein Stündchen bei mir rein, ehe er zu Tom weiterzog. Wir tranken Bier und schwelgten in Erinnerungen. An die Clique, die Sitzecke hinter der Bahnschiene, den Bunker, die vielen Sachen, die wir zusammen erlebt hatten.

Illusionen machte er mir keine. Dieses Dorf, Schönhagen, war anscheinend ein totales Kaff am hintersten Arsch der Welt. Es würde hart werden. Man merkte, dass er Mitleid mit mir hatte.

Manchmal trafen wir uns abends auch bei ihm. Seine Familie hatte sich total verändert. Hartmanns Vater arbeitete wieder auf der Werft, wie früher. Allerdings lag er nicht mehr schwitzend und keuchend mit dem Schweißgerät unter dem Rumpf eines 300-Meter-Tankers, sondern saß gemütlich an seinem Schreibtisch im Konstruktionsbüro – er hatte in Abendseminaren seinen Ingenieur gemacht. Eine krassere Kehrtwende konnte man sich kaum vorstellen – wie mochte der Typ das wohl hingekriegt haben? Alki war absolut das Letzte, woran man dachte, wenn man ihn jetzt sah. Frau Hartmann hatte ihren Putzjob längst an den Nagel gehängt, kümmerte sich nur noch um die Familie. Und Bettina, die früher als schwachsinnig gegolten hatte, war von der Sonderschule erst auf die Haupt- und dann sogar auf die Realschule gewechselt. Dort gehörte sie wohl zu den Klassenbesten. Nach der Mittleren Reife plante sie noch Abi zu machen.

Es kam der letzte Samstag in der Nordstadt. Hartmann wollte, dass ich abends noch mal mit ihm und den anderen loszog. Die Leute um Tom gingen seit einiger Zeit am Wochenende immer auf Piste. Ihr Lieblingsladen war ein Schuppen in der Jahn-Siedlung, die „Teestube“. Eigentlich war Disse das letzte, worauf ich Bock hatte, aber nachdem Hartmann sich in der letzten Zeit so rührend um mich gekümmert hatte, mochte ich jetzt nicht nein sagen. Also raffte ich mich auf und kam mit.

Zu Fuß war der Weg zu weit, man musste mit dem Bus fahren. Die Teestube, unter der ich mir wunder was Tolles vorgestellt hatte, war einfach bloß ein leerer Kellerraum mit nacktem Betonboden. An den Seiten standen simple Schultische, die Wände waren über und über mit Edding vollgekritzelt. Der Lärm in dem Bau war ohrenbetäubend, Quatschen konnte man vergessen. Aber Hartmann und die anderen hotteten sowieso meistens auf der Tanzfläche ab. Ich saß also auf einem der Tische in der Ecke, trank Flens in Serie und wartete, dass die Zeit verging. Irgendwann sah ich Dominik und ein paar andere aus meiner ehemaligen Chaos-Klasse am KBZ hereinkommen – die Rettung! Großes Hallo, Schulterklopfen, Anstoßen. Jetzt wurde es doch noch lustig. Wir leerten erst drinnen einige Biere, dann meinte Köpke, wir sollten rausgehen, er hätte in den Büschen mehrere Paletten Karlsquell gebunkert. Wir becherten also im Freien weiter. Bald kamen Hartmann, Tom und Piet dazu. Alle verstanden sich prima, es herrschte Partystimmung.

An diesem Abend war die Luft total feucht. Obwohl es nicht regnete, fielen dicke Tropfen von den Bäumen. Gleichzeitig war es fast unwirklich warm. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten erstarrten meine Füße nicht zu Eisblöcken. Ich konnte die Jacke offenlassen, brauchte nicht mal mehr einen Schal – es war wie eine große Befreiung.

Schwaddi kam angetorkelt, unter der Jacke eine Ladung Außenspiegel. „Frisch gepflückt“, lallte er, ob wir Interesse hätten. Alle grölten los. Er stolperte die Treppe zur Disse runter. Bestimmt würde er drinnen aufs Maul kriegen, spätestens sobald jemand seine eigenen Außenspiegel von ihm kaufen sollte. Aber das war nicht unser Problem. Mittlerweile waren wir alle ziemlich blau. Die Stimmung wurde immer besser.

Ich merkte, dass ich keine Angst mehr hatte. Dieses permanente Gefühl von Bedrohung, dieser Zwang, immer die Umgebung im Auge zu behalten, jederzeit auf Ärger vorbereitet zu sein – das war plötzlich alles weg. Ich fühlte mich einfach nur frei, konnte völlig sorglos hier draußen stehen und mit den anderen feiern.

Die Rückfahrt in einem gestopft vollen Bus. Überall müde, aber zufriedene Gesichter. Mädels, die bei ihren Typen auf dem Schoß saßen. Leute, die in Grüppchen zusammenstanden und eine letzte Flasche kreisen ließen. Nirgends gab es Stress. Mir war kein Stück schlecht, obwohl ich so viel getrunken hatte.

Als ich aufwachte, lag ich in Hartmanns Zimmer auf dem Gästebett. Hinter dem Vorhang hellster Sonnenschein; man hatte den Eindruck, es wäre schon Mittag. Aber die Uhr zeigte gerade mal halb neun. Aus Hartmanns Ecke kam regelmäßiges Schnarchen, auch vom Flur war kein Geräusch zu hören. Außer mir schien hier alles noch friedlich zu schlummern.

Ich konnte mich nicht erinnern, nach einer durchzechten Nacht mal früher aufgewacht zu sein als Hartmann. Wir waren erst gegen vier zurückgekommen, aber ich fühlte mich so frisch, als hätte ich zehn Stunden geratzt. Und trotz der vielen Biere spürte ich keinen Kater. Ungläubig stand ich auf. Nein – tatsächlich kein Schwindel, keine Übelkeit.

Ich ging zum Fenster, zog den Vorhang ein Stück zurück. Die Sonne stand genau zwischen den beiden Hochhäusern gegenüber. Die Gebäude warfen langgezogene Schatten auf die große Edeka-Wiese, die um diese Zeit am Sonntag noch vollkommen leer war. Auch auf den Wegen ringsherum und dem Spielplatz sah man keine Menschenseele.

Und wieder stieg dieses Gefühl von Freude und Hoffnung in mir auf, wie an jenem besonderen Morgen vor Weihnachten. Es hatte mit der Helligkeit zu tun, dem sonnigen Tag, der sich gerade ankündigte, auch mit dem ungewohnt friedlichen Bild da draußen…

Normalerweise legte ich mich wieder hin, wenn ich so früh wach wurde. Gammelte rum, wartete, dass der Schlaf wiederkam, was er meistens tat. Aber heute hatte das keinen Zweck, so munter wie ich war. Ich beschloss, aufzustehen und zu duschen. Als ich ins Zimmer zurückkam, saß Hartmann auf dem Bett und starrte auf den geschlossenen Vorhang.

„Geiles Wetter heute.“ Er kratzte sich am Hinterkopf.

Ich nickte und rubbelte weiter mein Haar trocken.

„Fahren Klaus und deine Mutter heute nach Schönhagen?“

„Glaub schon.“

„Was ist eigentlich mit euren Rädern?“

„Räder?“ Ich kapierte nicht, worauf er hinauswollte.

„Eure Fahrräder – sind die schon weg?“

„Keine Ahnung.“ Ich hatte mein Rad seit Jahren nicht angerührt. Aber dass es bereits ins „Haus“ abtransportiert worden war, davon hatte ich nichts mitbekommen. „Ich denke mal, die Mühlen stehen noch drüben im Keller und rosten vor sich hin“, meinte ich.

„Lust auf ne Radtour?“ Er grinste mich an.

Radtour? Was sollte das jetzt? Radtour – so was hatten wir noch nie gemacht. Nur sehr langsam kapierte ich, worauf er hinaus wollte. Aber ich konnte oder wollte es noch nicht recht glauben…

„Wir bringen eure Räder nach Schönhagen!“, platzte es aus ihm heraus. „Du deins, ich nehm Henris. Was meinst du?“ Er guckte mich mit diesem typischen Hartmann-Blick an, der nichts als Zustimmung erlaubte.

„Wie weit ist denn das?“ Ich versuchte, möglichst ruhig zu bleiben, er sollte mir den Schock nicht gleich anmerken.

„Na, so 60 Kilometer.“

60 Kilometer Rad fahren? Übers Land, durch die Wildnis? Und er sagte das so lässig, als sollte es mal in die Jahn-Siedlung und zurück gehen – hatte er noch alle Tassen im Schrank?

„Was ist los, Mann?“ Er wurde ungeduldig. „Lass uns das machen, okay?“

Ich fand die Idee eigentlich komplett idiotisch. Wir hatten beide keine Kondition. Was, wenn wir irgendwo in der Pampa schlappmachten? Aber Hartmanns Begeisterung war irgendwie auf mich übergesprungen. Warum eigentlich nicht?, dachte ich plötzlich.

Draußen konnte ich im ersten Moment fast nicht glauben, wie mild es war. Die Eiseskälte, die monatelang wie mit Rasierklingen durch die dicksten Winterklamotten geschnitten hatte, war nur noch ein böser Traum. Über uns leuchtete ein weiter, blass-blauer Himmel, man hörte Kindergeschrei, Vogelgezwitscher. Dazu dieser Geruch nach feuchter Erde, wachsenden Pflanzen, beginnendem Leben. Plötzlich war Frühling, als hätte jemand einen Schalter umgelegt – einen Moment lang fühlte ich mich wie betäubt.

Drüben war niemand. Wahrscheinlich hatten sie sich längst nach Schönhagen aufgemacht. „Auch egal“, meinte Hartmann. „Los, guck mal nach den Rädern. Die werden Augen machen, wenn wir da plötzlich aufkreuzen.“

Wie schon geahnt standen die Räder alle noch im Keller. Ich schleppte Henris und meins die Außentreppe hoch und schloss beide am nächsten Laternenpfahl fest. Als ich wieder nach oben in die Wohnung kam, duftete es nach Kaffee und Aufbackbrötchen – Hartmann hatte in der Zwischenzeit Frühstück gemacht. Wir setzten uns an den Küchentisch und fingen an zu futtern.

Irgendwann entstand auf seinem Gesicht ein sehr breites Grinsen. „Würdest du echt bis Schönhagen fahren?“, fragte er, und man hörte den leisen Anflug von Spott in seiner Stimme.

„Das war doch deine Idee“, meinte ich perplex.

Hartmanns Grinsen wurde noch breiter. Ich schüttelte den Kopf, verstand gar nix mehr. Nur sehr langsam dämmerte es mir, dass sein Vorschlag nie ernst gemeint war. Er hatte mich aufs Glatteis führen, austesten wollen, wann bei mir endlich der Groschen fiel.

„Mann, du bist vielleicht 'n Trottel!“ Er gab mir einen freundschaftlichen Klaps auf den Hinterkopf. „Hast du echt geglaubt, ich will da mit dem Rad hinfahren?“

„Ist auch völlig bekloppt, das Ganze“, murmelte ich bedröppelt. Gleichzeitig war ich erleichtert. 60 Kilometer – was für ein Wahnsinn! Das hätte ein schönes Debakel gegeben…

Nach dem Frühstück gingen wir wieder nach unten.

„Was jetzt?“, fragte ich.

„Lass uns 'n bisschen rumfahren“, schlug Hartmann vor.

Eigentlich keine schlechte Idee, wo die Räder eh schon draußen waren. Mein Stahlross schnurrte wie eine Eins, obwohl es so lange im Keller gestanden hatte. Gute Arbeit, Henri! Das Teil war sein Werk; er betrieb einen schwunghaften Handel mit Fahrrädern aus dem Sperrmüll, von Schrottplätzen oder sonst woher, die er aufmotzte und wieder verkaufte.

Kurze Zeit später standen wir auf der Fußgängerbrücke zwischen Nordstadt und Jahn-Siedlung. Unter uns verlief die Stadtautobahn; der Verkehr brauste und toste endlos.

„Da geht 's nach Schönhagen!“, brüllte Hartmann gegen den Krach an. „Auf der neuen Brücke über den Kanal und dann ab in die Walachei. Bis Eckhorst, dann kommt ne Bundesstraße.“

Wie oft ich schon hier gestanden und auf die lärmende Schneise runtergeuckt hatte… sie war immer dagewesen, gehörte zur Nordstadt wie das Einkaufszentrum, das KBZ und alles andere. Wenn man dort entlangfuhr, dann ins Zentrum zum Shoppen. Dass es auch die andere Richtung gab, aus der Stadt raus, in einen ganz anderen Ort, darüber hatte ich mir nie ernsthaft Gedanken gemacht. Eigentlich war das Autobahnstück zur Stadtgrenze immer eine Art Fremdkörper gewesen, sozusagen exterritoriales Gelände inmitten der vertrauten Gegend. Und das garantiert nicht bloß für mich.

Überhaupt – wie eng das Gebiet war, auf dem sich bei uns alles abspielte! Man kannte das eigene Viertel plus die benachbarten Stadtteile, zum Beispiel die Jahn-Siedlung. Und man wusste vielleicht noch, welche Bus- und Bahnlinien es gab und wohin sie fuhren. Aber das war 's auch schon. Jenseits dieser Grenzen fing schnell die weiße Landkarte an.

Und was außerhalb der Stadt kam, hätte ich erst recht nicht sagen können. Die Stadt verlassen, aufs Land fahren – der Gedanke fühlte sich fremd an, sinnlos. Wozu sollte das gut sein?

„Mann, und du hast vorhin echt nichts gemerkt!“ Hartmann boxte mich in die Seite. Ging das schon wieder los? Wahrscheinlich würde er mich noch in drei Jahren damit aufziehen. Aber es stimmte ja, ich hatte nichts gerafft, mich immer weiter mitziehen lassen…

Wie es da draußen wohl sein mochte? Was hätte einen erwartet? Und wie musste man eigentlich fahren, um per Rad in dieses Schönhagen zu kommen? Ging das überhaupt? Gab es außer der Autobahn noch eine andere Strecke? „Über den Kanal, dann ab in die Walachei“ hatte Hartmann gesagt… die alte Brücke fiel mir ein: Sie lag ein Stück außerhalb der Nordstadt, ihr gewaltiger Stahlbogen spannte sich in 40 Metern Höhe übers Wasser. Als Pökse waren wir oft dort oben gewesen. Wir hatten immer die Treppe direkt am Ufer benutzt, aber es gab natürlich auch eine Auffahrt, für die Bundesstraße und die alte Bahnstrecke, die längst außer Betrieb war. Und ich meinte mich zu erinnern, dass dort ein Radweg war.

„Lass uns mal zur alten Brücke fahren“, schlug ich vor.

„Okay“, meinte Hartmann bloß. Er schien sich nicht zu wundern über meine Idee.

Wir mussten ein gutes Stück radeln, bis endlich die Auffahrt zwischen den Hochhäusern auftauchte: ein langsam ansteigender Wall, mit Gras und Sträuchern bewachsen. Je näher wir herankamen, desto mächtiger türmte er sich vor uns auf. Ob ich so eine Steigung schaffen würde, bei meiner miesen Kondition?

Ich hatte mich richtig erinnert: Die Straße hatte tatsächlich einen Radweg, und er war sogar noch einigermaßen in Schuss. Was jetzt? Wirklich da hochfahren? Oder lieber irgendwas anderes vorschlagen, mich rausreden? Nee, jetzt konnte ich nicht mehr zurück, sonst hätte ich vor Hartmann richtig dämlich dagestanden. Es ging also los. Ich machte mich innerlich auf die Hölle gefasst – aber komisch: Es war ganz leicht, ich spürte so gut wie keinen Widerstand. Irgendwann kapierte ich, dass wir starken Rückenwind hatten, der uns regelrecht hinaufschob. In kürzester Zeit kamen wir oben an, und ich war kein Stück aus der Puste – kaum zu fassen!

Am Übergang von der Rampe zur eigentlichen Brücke gab es eine Art Balkon zum Runtergucken. Er war aus Backsteinen gemauert und erinnerte ein bisschen an die Zinnen eines alten Burgturms. Wir setzten uns auf die Brüstung, ließen wie früher die Beine in die Tiefe baumeln, steckten uns eine Kippe an. Es war ziemlich still hier oben; nur selten kamen Fahrzeuge vorbei, die alten Bahngleise rosteten friedlich vor sich hin. Der Verkehr strömte fast komplett über die besagte Autobahnbrücke. Man konnte sie in einigen Kilometern Entfernung sehen: vier turmhohe Betonpfeiler, je zwei auf jeder Kanalseite, auf denen die beiden Fahrbahnen lagen. Hinter dem Konstrukt ragte das Kraftwerk auf, ein wuchtiger Block mit hohem Kamin, aus dem weißer Rauch quoll. Eine surrende Hochspannungsleitung kam von dort heran, überquerte die Autobahn und unsere Stahlbrücke, dann machte sie einen abrupten Schwenk zum Stadtgebiet.

Gerade tauchte ein gigantischer Pott unter der Autobahnbrücke durch und schwamm auf uns zu. Er schien viel zu hoch für die alte Brücke, jeden Augenblick erwarteten wir, dass es krachte. Aber nichts passierte. Lautlos verschwand der Kahn unter uns, kam auf der anderen Seite wieder zum Vorschein und zog gemächlich weiter Richtung Schleuse. Am Heck hing eine Flagge schlaff herab, es musste die finnische sein.

Die Nordstadt mit ihrer Front aus Hochhäusern wirkte von hier aus wie ein einziges, zusammenhängendes Gebäude: endlose Fensterreihen, die das Sonnenlicht fast brutal reflektierten, Balkone wie Bienenwaben, dazwischen überall grauer Beton – es erinnerte es an eine gewaltige Festung. Wie Wachtürme ragten die Weißen Riesen daraus hervor – sie waren mit ihrem mehr als 30 Etagen die höchsten Gebäude des Viertels. Am Fuß dieser Trutzburg verlief die Bahnlinie zum Kraftwerk, dahinter begann das Schienengelände, unser altes Revier. Es zog sich bis runter zum Kanal und ließ an ein Niemandsland denken, einen vorgelagerten Todesstreifen. Schwärme von Krähen und Möwen kreisten dort an verschiedenen Stellen herum, manchmal erkannte man inmitten des Dickichts die Felsen der gesprengten Bunker.

Jenseits des Kanals ein völlig anderes Bild: Felder, Wiesen und Knicks, so weit das Auge reichte. Ab und zu ein Teich oder ein kleines Wäldchen. Und ganz hinten verschmolz alles miteinander zu einem einzigen, schmalen Band am Horizont, blassgrün und unerreichbar fern…

Die andere Seite. Sie war mir bisher immer egal gewesen. Klar, wie alle in der Nordstadt kannte ich die Abzweigung gleich hinter der Brücke, die zum anderen Ufer runterführte. Einige von uns trieben sich manchmal dort herum, zum Angeln oder Zelten. Aber wussten sie, wie es dahinter weiterging? Hatten sie jemals die Umgebung erkundet? Bestimmt nicht!

Hartmann zeigte auf einen gelben Wegweiser an der Straße: „Eckhorst 38 km“ war dort zu lesen.

Sicher hatte das Schild schon immer dort gestanden, aber mir fiel es heute zum ersten Mal auf. In meinem Hirn begannen die Rädchen zu klicken. Nach Eckhorst, hatte Hartmann vorhin gesagt, dann weiter auf der Bundesstraße. Eine Bundesstraße hatte meistens einen Radweg, oder? Dasselbe galt für die Strecke hier oben auf der Brücke. Hieß: Es gab wahrscheinlich eine durchgehende, fahrradtaugliche Verbindung zwischen der Nordstadt und dem Kaff, in das ich bald zog. Ich hätte also lostreten können und wäre irgendwann dort angekommen.

Schönhagen – bisher war das bloß ein Name für mich gewesen, sonst nichts. Aber auf einmal wurde dieser Ort sehr real, er schob sich für einen kurzen Moment ganz nah heran. Unangenehm nah. Die Nordstadt dagegen wirkte plötzlich wie ein Bild, das allmählich davonzog. Sie strahlte Traurigkeit aus, Wehmut, als würde sie spüren, dass bald der Abschied kam und nichts mehr den Gang der Dinge aufhalten konnte.

Auf der Rückfahrt steuerten wir den Imbiss am Einkaufszentrum an, um Bier zu kaufen. Dann machten wir es uns auf einer Bank in der Nähe der Bahnschiene bequem. Manchmal kamen Bekannte vorbei, setzten sich dazu. Einmal sahen wir Ramos, aber er war allein, vom Rest der Solterbeck-Clique keine Spur. Die hockten wahrscheinlich sogar bei diesem Wetter irgendwo drinnen und gossen sich die Schädel zu. Abgesehen davon wären wir mit unseren Rädern eh im Nullkommanichts weg gewesen.

Immer wieder musste ich an das Bild denken, das sich von der Kanalbrücke aus geboten hatte. Den grünen Flickenteppich, das schmale, ferne Band am Horizont. Wie mochte es wohl dort drüben sein, auf der anderen Seite? Ein bisschen schade war's ja schon, dass wir nicht doch ein Stückchen gefahren waren, um uns die Sache mal anzuschauen. Überhaupt fragte ich mich jetzt, weshalb wir in den ganzen Jahren die Räder nicht angerührt hatten.

Ewigkeiten hockten wir auf unserer Bank und laberten. Genossen die Wärme, das Licht, die gute Stimmung, die Leichtigkeit. Erst als es dunkel wurde und langsam die Kälte herauskroch, machten wir uns auf den Rückweg. Aber wir schoben die Räder neben uns her und latschten gemütlich, wollten diesen großartigen Tag bis zuletzt auskosten, keine einzige Minute verschwenden. Der Himmel hatte sich rot gefärbt, die Straßen waren inzwischen verwaist und still. Aber in der Luft lag noch immer dieser besondere Geruch nach aufgewärmten Asphalt, der wie eine Verheißung schien, ein Versprechen: Der Winter war endlich vorbei, jetzt kam der Frühling.

Am nächsten Tag war es wieder regnerisch und so arschkalt wie die ganzen letzten Monate – so viel zum Thema Frühling. Der hatte anscheinend bloß mal reingegrinst, falsche Hoffnungen geweckt und zeigte jetzt allen die Lange Nase.

In den folgenden Wochen wurde unsere Wohnung leerer und leerer. Klaus, Hartmann und Henri schleppten alles Mögliche weg und fuhren es ins neue „Haus“. Ich versuchte, das nahende Ende zu verdrängen. Klammerte mich an die wenigen Tage, die mir noch blieben. Saß abends mit Hartmann zusammen, schwärmte von den alten Zeiten. Wie toll früher alles gewesen war, wie perfekt.

Schließlich fuhr der große Möbelwagen vor. Jimmy steuerte ihn, Hausmeister in der Nordstadt-Klinik und bester Kumpel von Klaus. Vor der Abfahrt warf ich einen letzten Blick in die kahlen, auf einmal sehr fremd wirkenden Räume. Dann zog Muttern die Haustür hinter sich zu – es gab keine Wohnung in der Nordstadt mehr.

Hartmann und Henri fuhren bei Jimmy mit, für mich blieb nur ein Plätzchen im Kombi von Klaus, auf der Ladefläche. Als ich dort kauerte, eingeklemmt zwischen Kartons, Stühlen, Wäschebündel und sonstigen Sachen, die nicht mehr in den Möbelwagen passten, fühlte ich mich wie ein Sträfling, der ins Lager abtransportiert wird. Im Magen hatte ich einen schweren Klumpen – Angst.

Die Fahrt auf der Autobahn, im Windschatten des Möbelwagens. Durch die Heckscheibe sah ich, wie die Nordstadt langsam hinter uns zurückblieb. Wir überquerten den Kanal, dann ging es über Land. Das Wetter war grau und diesig, man erkannte kaum etwas. Irgendwann fuhren wir von der Autobahn ab auf eine normale Straße. Kurven, Holpern, einmal überholten wir einen Trecker.

Nach etwas über einer Stunde erreichten wir einen Ort. Nervige Kurverei durch die Straßen, dann wieder freies Feld. Einfahrt in eine weitere Siedlung, diesmal mit Reihenhäusern, so viel erkannte ich. Auch die Straßenschilder konnte man jetzt lesen: „Bahnhofstraße“, „Kleiststraße“ und schließlich, hinter einer letzten Kurve, „Eichendorffstraße“. Wir hielten.

Die Heckklappe wurde geöffnet, Klaus ließ mich frei. Mit steifen Knochen kletterte ich von der Ladefläche, reckte und streckte mich, um wieder Blut in die Glieder zu bekommen. Vor uns stand der Möbelwagen mit geöffneter Rücktür; Jimmy, Hartmann und Henri waren längst am Ausladen. Sie schleppten die Sachen durch einen ziemlich verwahrlosten Vorgarten. Das zugehörige Haus, Endstück eines langgezogenen Reihenhausblocks, war völlig mit Efeu zugewachsen, nur um die Fenster und die Tür hatte irgendwer Löcher freigeschnitten. Das blaue Schildchen mit der Hausnummer war ebenfalls sichtbar: „16“. Der Blätterdschungel reichte exakt bis zum Nachbarhaus, wo er schnurgerade abrasiert war. Statt Efeu leuchtete hier die ockergelb gestrichene Mauer. So ging es weiter bis zur anderen Straßenecke, jede Hausnummer in einer anderen Farbe. Nur unser Haus hatte diesen wild wuchernden Efeu. Es passte kein Stück in die sterile Spießigkeit ringsherum, war ein kompletter Außenseiter, eine Art Rebell – fast sympathisch.

Im Vorflur roch es nach Putzmitteln und flüchtig nach Essen. Wahrscheinlich hatte sich der Geruch längst festgesetzt, hing wie eine Patina in den Wänden. Aus irgendeinem Grund ahnte ich schon jetzt, dass ich ihn nicht mehr vergessen würde…

Eine Treppe führte nach oben. Der erste Blick in mein Zimmer: Die neuen Möbel waren schon aufgebaut – der Schreibtisch, das Bett, die Schränke, die Sessel und das Rauchtischchen. Ein rascher Blick aus dem Fenster, aber ich erkannte nicht viel.

Dann musste ich mit anpacken. Aber ich half nur so lange, bis meine eigenen Sachen oben waren. Klamotten, Bücher, Anlage und so weiter. Schließlich klappte ich die Zimmertür hinter mir zu – meine Einzelhaft begann…



***



Eine Woche war inzwischen seit dem Umzug ins Land gegangen. Und noch immer saß ich, umwölkt von blauen Schwaden, in meinem Zimmer auf dem Sessel neben dem Rauchtischchen, dessen Aschenbecher überquoll.

Dass ich nicht ewig hier hocken und in Untätigkeit verharren konnte, war klar. Aber was sonst? Wie sollte es jetzt weitergehen?

Ich hatte nicht den Hauch einer Idee.

04. Das Dorf

Das Frühstück war für mich heute kurz ausgefallen: Henri und Muttern hatten sich total in die Haare gekriegt, wegen irgendeiner Kleinigkeit. Schließlich war ich nach oben geflüchtet.

Jetzt saß ich hier, rauchte den ersten Glimmstängel des Tages und glotzte aus dem Fenster. Das Sturmwetter der letzten Tage hatte sich gelegt: keine zerfetzten Wolkengebirge mehr, die über den Himmel jagten, keine peitschenden Böen, keine abrupten Schnee- oder Hagelschauer. Da oben war es nur gleichmäßig grau und still – so konnte es von mir aus bleiben.

Ob sich das Fenster auch richtig öffnen ließ, nicht bloß auf Klappe? Ich versuchte es, aber der Hebel an der Seite des Rahmens klemmte – anscheinend war er lange nicht benutzt worden. Endlich gab er seinen Widerstand auf, und der große Fensterflügel schwenkte zitternd nach innen. Dahinter strömte frische Luft in den Raum.

Erst jetzt hörte man das Vogelgezwitscher: laut, vielstimmig, alles andere übertönend – und zugleich merkwürdig sanft, fast harmonisch. Neugierig beugte ich mich nach draußen, zum allerersten Mal. Der Anblick war – fremd. Wenn man in der Nordstadt irgendwo aus dem Fenster guckte, waren da weite, leere Flächen und Häuserwände; Grau hieß die beherrschende Farbe. Dagegen sah man hier vor allem Grün. Büsche, Hecken, Sträucher, Zierrasen, Bäume der unterschiedlichsten Arten und Formen, teils frisch gepflanzt und noch klein, teils hoch aufgeschossen, mit mächtigen Stämmen. Einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, in ein kleines Paradies zu schauen.

Ein noch fast kahles Paradies, um genau zu sein, aber man konnte deutlich das Leben in den Pflanzen spüren. Sie wollten endlich wachsen, nachdem sie so lange im Winterschlaf gelegen hatten, wollten ausschlagen, sprießen und gedeihen, grünen und blühen. Dazu die Geräusche der Tierwelt: das aufgeregte Zwitschern der Vögel, das Gurren einer Taube, die gegenüber auf dem Dachfirst hockte, ein Krähenpulk, der durch den Himmel zog, bellende Hunde in der Nachbarschaft – ein Durcheinander von Lauten, das aber seltsam anrührte.

Die Regsamkeit der Natur schien auch auf die Menschen auszustrahlen. In vielen Gärten waren Leute am Arbeiten; sie gruben Beete um, jäteten Unkraut, rechten altes Laub zusammen. Eine Frau schrubbte Gartenmöbel sauber, während ihr Nachbar in Arbeitskleidung auf der Leiter stand und den Mechanismus seiner Markise ölte. Es wurden Fenster geputzt, Terrassen gefegt, Räder geflickt und auf Vordermann gebracht. Ein großes Werkeln hatte eingesetzt, das wie Aufbruch wirkte.

Irgendwo quietschte jetzt eine Fahrradbremse. Kurz darauf sah man zwischen den hiesigen Gärten und dem Nachbarblock den Postboten auf dem Plattenweg herankommen. Er verteilte seine Briefe und grüßte die Leute mit lautem „Moin“, hielt Klönschnack mit ihnen. Alle duzten sich.

Und da oben hing dieser beruhigte Himmel. Wurde die Wolkendecke nicht allmählich dünner? Wenn das so weiterging, würde bald die Sonne scheinen…

Mir grauste bei dem Gedanken. Sonne, Frühling – normalerweise hieß das rausgehen, Wärme tanken, den Winter austreiben. All das tun, was mir versperrt war. Ich konnte nur hier in meiner Einzelzelle sitzen, aus dem Fenster starren und mich wegträumen. Sonst nichts. Ich war von der Außenwelt abgeschnitten.



***



Zum Mittagessen hatten sich die Gemüter von Henri und Muttern wieder beruhigt, alles war ohne nennenswerten Stress abgegangen.

Pappsatt und hundemüde lag ich auf dem Bett. Das Fenster stand wieder auf Klappe; draußen zwitscherten die Vogel lauter denn je. Ein nerviges Rumoren gesellte sich bald dazu – wahrscheinlich von Muttern. Sie hatte vorhin beim Essen angekündigt, die Gartenmöbel schrubben zu wollen. Ob ich ihr helfen sollte? Die Sachen mussten über den Winter im Keller ziemlichen Dreck angesetzt haben. Aber ich war einfach zu schlapp, konnte mich nicht aufraffen.

Irgendwann fielen mir die Augen endgültig zu.

Als ich wieder aufwachte, lag alles im Halbdunkel. Der Raum war so ausgekühlt, dass ich zitterte – es mussten Stunden vergangen sein. Von der Terrasse war kein Geräusch mehr zu hören. Schlaftrunken richtete ich mich auf. Wie spät mochte es sein? Der Wecker war neulich stehengeblieben, und meine Armbanduhr hatte ich verbummelt.

Durchs Fenster sah man den Nachbarblock in der Abendsonne leuchten, darüber spannte sich ein makellos blauer Himmel. Nur sehr langsam begriff ich: Es war passiert. Der Vorhang aus Wolken und Dunst war tatsächlich verschwunden, wir hatten schönes Wetter. Der Frühling war endgültig da.

Verzweifelt malte ich mir aus, was jetzt in der Nordstadt los war. Die Straßen mussten rappelvoll sein, keinen hielt es bei diesem Wetter noch in den vier Wänden. Auch Hartmann und ich wären in diesem Moment garantiert auf Achse gewesen. Wir hätten Bekannte im Viertel getroffen, mit ihnen gelabert, wären vielleicht mal zur Bahnschiene runtergegangen, um zu gucken, wer sich dort so rumtrieb. An Tagen wie diesen konnte in der Nordstadt alles passieren, alles war möglich…

Aber ich war nicht in der Nordstadt. Ich war hier.

Eine Welle aus Frust und Bitterkeit durchlief mich. Wütend zog ich mir Schuhe an und wankte zur Tür. Im Flur traf die Sonne mich mit voller Wucht: Gleißend hell schien sie durchs Dachfenster herein, ich war regelrecht geblendet. Zum Glück wurde es auf der Treppe ins Erdgeschoss wieder angenehm dämmrig. Vorsichtig tastete ich mich die Stufen hinab, wie in Zeitlupe. Meine Benommenheit wollte einfach nicht verschwinden. Auf halber Treppe blieb ich wieder stehen, als wüsste ich nicht weiter.

In diesem Augenblick kam Henri von draußen hereingestürmt, einen Stapel Kartons vor sich hertragend. Ich zog mich so weit wie möglich in die Ecke zurück, wollte nicht, dass er mich in meinem zerknautschten Zustand sah. Zu spät, er hatte mich bereits entdeckt: „Da bist du ja“, rief er ungeduldig. „Los, komm mal raus. Da sind ein paar Mädchen, die wollen dich kennenlernen.“

Mein Gehirn hatte Ladehemmung. Was für Mädchen? Und was wollten die von mir? Mich „kennen lernen“? Was bedeutete das denn? Dass sie mit mir quatschen wollten? Eigentlich hätte ich Henri gern noch ein bisschen ausgefragt, aber der war schon wieder nach draußen verschwunden.

Meine Müdigkeit hatte sich mit einem Schlag verflüchtigt. Ich nahm die letzten Stufen im Laufschritt, stapfte durch die offenstehende Haustür hinaus ins pralle Sonnenlicht. Hier vorn war es so heiß, dass die Luft flimmerte – kaum zu glauben, dass ich eben noch vor Kälte geschlottert hatte! Überall tobten Kinder herum, Erwachsene standen in Grüppchen zusammen und plauschten.

Klaus und Henri luden gerade Sachen aus dem Auto. Sie hatten Gartengeräte eingekauft: Harken, Schaufeln, Spaten und so weiter. Sogar ein Reisigbesen war dabei, wie ihn Hexen in Kinderfilmen hatten. „Wo sind die denn?“, fragte ich Henri, der gerade zur Hälfte in der Heckklappe verschwunden war. Er kam hoch und zeigte zur Straßenecke, wo ein Grüppchen Leute versammelt war. Alle glotzten zu uns herüber. „Die da“, meinte er.

Verdammt, weshalb winkte er ihnen nicht gleich zu? Das war mal wieder typisch! Mit so einem Idioten von Bruder konnte man sich nur blamieren!

Und jetzt? Wieder auf die Bude verdünnisieren? Ich wollte mit den Dorftrotteln hier ja eh nichts zu tun haben. Andererseits: Wenn ich jetzt einen Rückzieher machte, hätte das feige ausgesehen. Es half nichts, ich musste da hin, wenigstens auf ein paar Minuten. Mal „hallo“ zu denen sagen. So ein Mist!

Ich holte meine Jacke aus dem Flur. Eigentlich war es warm genug, aber ohne meine Jacke ging ich niemals los. Ich fühlte mich einfach wohler, wenn sie über meiner Schulter hing. „Na, jetzt aber ran, Casanova“, meinte Klaus grinsend und ließ eine große Gartenschere vor mir auf- und zuschnappen. In seinem Mundwinkel steckte eine qualmende Filterlose. „Maul halten“, raunte ich leise. Es kam eine Spur zu hart rüber, aber Klaus nahm es mir nicht übel, im Gegenteil: Sein Grinsen wurde noch breiter. Wahrscheinlich konnte er sich denken, wie ich mich gerade fühlte.

So lässig wie möglich ging ich auf die kleine Gruppe zu. Ich durfte nicht zu schnell werden, nicht zu zielstrebig. Es musste so aussehen, als wäre ich bloß zufällig hier unterwegs. Sie waren zu viert: Zwei Mädchen saßen auf dem Kantstein, eine blond, die andere dunkelhaarig; an der Gartenhecke, ein Stück hinter ihnen, stand noch ein Typ mit seiner Freundin im Arm.

Erst jetzt erkannte ich die Dunkelhaarige: Es war die Süße von neulich. Prompt wurde ich noch nervöser. 'Mach dir nicht wegen ein paar Landeiern ins Hemd!', sagte ich mir. Leider nützte es nicht viel.

Die beiden Mädchen ließen mich keinen Moment aus den Augen. In der Nordstadt wäre das ein schlechtes Zeichen gewesen. Wenn die Weiber einen dort auf diese Weise anglotzten, war das pure Verachtung, sie wollten zeigen, dass sie dich komplett scheiße fanden. Aber Verachtung konnte ich in den Blicken der beiden hier nicht entdecken. Nur Neugier, unverhohlene Neugier.

Das Herz schlug mir bis zum Hals. Was sollte ich gleich sagen? Wie waren die Leute hier gestrickt? Was kam gut an, was war tabu? Ich hatte absolut keinen Plan, fühlte mich plötzlich, als sei ich auf einem fremden Planeten gelandet und sollte mit Aliens Kontakt aufnehmen.

Dann war ich bei ihnen angekommen. „Hi.“, brachte ich krächzend hervor. Sonst nichts. Wahrscheinlich klang es unglaublich dämlich.

„Hallo“, kam es von den beiden zurück, ziemlich freundlich, fast herzlich. Wenn meine Begrüßung danebengegangen war, hatten sie es jedenfalls nicht gemerkt. Ohne es zu wollen spürte ich Erleichterung.

Stille kehrte ein, und sofort wurde die Fremdheit stärker denn je. Irgendetwas musste jetzt gesagt werden, unbedingt, egal was…

Die Süße rettete die Situation: „Und ihr seid gerade hierher gezogen?“, fragte sie. „Ihr Ärmsten!“

Ich atmete auf, war geradezu dankbar für ihren Einsatz. Dann dachte ich: Wieso wir Ärmsten? Das klang ja fast, als wollte sie sich einschmeicheln. „Wie meinst du das?“, fragte ich und schaffte es nicht, mein Misstrauen zu verbergen.

„Na ja, kannst nicht viel machen hier“, kam prompt ihre Antwort. Es klang null nach Verstellung oder Einschleimerei.

„Hier ist voll tote Hose“, meinte die Blonde.

Jetzt war ich etwas überrumpelt. Eigentlich hatte ich erwartet, dass die beiden alles schönredeten, was mit diesem Nest zusammenhing. Ich wollte es genauer wissen. „Seid ihr auch aus der Stadt hergezogen?“ Das hätte erklärt, warum sie es hier so langweilig fanden.

„Nee, wir sind von hier“, sagte die Blonde und lächelte vorsichtig. „Vom Dörfli.“

Ich wurde immer konfuser. Sie versuchten anscheinend gar nicht erst, sich zu verteidigen, sondern nannten die Dinge beim Namen und Schluss. Wo gab's denn so was?

Erneut herrschte ratloses Schweigen. Und wieder war es die Süße, der etwas einfiel: „Auf welche Schule kommst du denn? Auch nach Schmölln?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nach Eckhorst. Auf eine Penne, die sich ‚Wilhelm-Gymnasium’ schimpft.“

Für mich klang der Name noch immer schräg, aber von den anderen lachte niemand. Wahrscheinlich kannte hier jeder diese Schule.

„Und ihr seid in Schmölln?“, fragte ich, heilfroh, dass wir nun ein Thema hatten.

Beide Mädchen nickten.

„Wieso kommst du denn nach Eckhorst?“ Die Blonde ließ nicht locker. Sie sprach leise, aber ihre Stimme hatte einen tiefen, durchdringenden Klang. Ich erläuterte den beiden Mutterns Idee, mich morgens mitzunehmen, um mir die Schulbusfahrt nach Schmölln zu ersparen. „Der soll ja ewig brauchen“, meinte ich.

Jetzt nickten beide sehr lebhaft. „Hör bloß auf!“, rief die Süße und winkte ab.

„Der nimmt echt jede Milchkanne mit“, meinte die Blonde.

Noch immer brachte mich die freundliche Art der beiden ziemlich durcheinander, dieses Offene, Ehrliche. Ob das gespielt war? Versuchten sie mich mit dieser Taktik einzulullen? Ließen sie demnächst die Masken fallen und legten mit ihrer Verarsche los? Zu den Mädchen in der Nordstadt hätte das gepasst. Ich musste wachsam bleiben, durfte nicht zu sehr auf diese Tour einsteigen…

Beide waren 15 und gingen in die Neunte am Gymnasium, wie ich. Nur nannten sie es „Obertertia“. Die Blonde hätte glatt aus meiner neuen Klasse in Eckhorst sein können, wo alle wie Kinder aussahen. Sie war ziemlich mager und hatte noch kaum Oberweite. Die Süße machte da schon einen reiferen Eindruck. Aber das lag vor allem an ihren großen Möpsen.

Trotz meiner Bedenken laberte ich bald einfach, wie mir der Schnabel gewachsen war, ohne auf Show zu machen, ohne groß zu überlegen, ob ich cool genug rüberkam. Aber es schien zu funktionieren: Nie erntete ich Gelächter, Hohn oder Spott. Sie hörten mir tatsächlich zu und wollten immer noch mehr wissen. Trotzdem blieb ein letztes inneres Misstrauen zurück: Meinten sie es wirklich ernst? Oder lief ich gerade in die Falle? Kam demnächst das böse Erwachen?

Mittlerweile stand die Sonne schon ziemlich tief. Wenn die beiden von ihrem Kantstein zu mir hochschauten, mussten sie immer mit der Hand die Augen abschirmen. Das sah anstrengend aus, und eigentlich wäre es besser gewesen, wenn ich mich zu ihnen gesetzt hätte. Aber dazu konnte ich mich nicht überwinden. Noch vor einer Stunde hatte ich mit den Deppen hier im Ort nichts zu tun haben wollen, und jetzt sollte ich Seite an Seite mit ihnen hocken und auf netter Junge machen?

Ich überlegte: Eigentlich war meine Pflicht längst erfüllt. Ich hatte mit ihnen gequatscht, und sie wussten nun, wer ich war. Alle konnten zufrieden sein. Am besten, ich zog jetzt Leine. Was hatte ich hier noch verloren?

Aber irgendetwas hielt mich. Etwas Neues, Ungewohntes. Es fühlte sich gut an, leicht. Noch ein bisschen sollte es weitergehen, bloß ein kleines bisschen. Danach würde ich abhauen und ganz bestimmt nie wiederkommen…

Endlich gab ich mir einen Ruck und setzte mich, natürlich neben die Süße. Aber ich ließ eine Lücke zwischen uns frei, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. Sofort tat mir das wieder leid.

Nach einer Weile sagte sie: „Ich heiß übrigens Kristina.“

Die Blonde beugte sich vor: „Ich bin Maren.“

Ich atmete innerlich auf – anscheinend hatten sie mir meine Aktion nicht übelgenommen. Trotzdem fand ich es komisch, dass sie sich einzeln und mit Namen vorstellten, als wären wir in der Schule. In der Nordstadt hätte das keine Sau gemacht. Dort musste man schon selbst rauskriegen, wie die anderen hießen.

Niemand sprach weiter. Bis ich kapierte, dass ich jetzt am Zug war. Fast hätte meine Stimme versagt, aber endlich bekam ich ein heiseres „Hauke“ rausgewürgt. Ich fand es total peinlich.

„Und womit verbringt man hier so seinen Tag, auf dem Dörfli?“ fragte ich schnell, um das blöde Gefühl loszuwerden, wieder locker zu werden.

„Och, Leute besuchen. Alte Mühle“, meinte die Blonde.

„Im Sommer zum Strand. Oder auf Gut Neudorf arbeiten“, fügte die Süße hinzu.

„Die Jungs sind alle bei der Feuerwehr.“ Wieder die Blonde.

Ich verstand bloß Bahnhof und musste nachfragen. Strand? Mühle? Und wieso waren die Jungs alle bei der Feuerwehr? Konnte man da Geld verdienen? Und was war dieses „Neudorf“, von dem sie redeten?

Die beiden lachten los. „Gut Neudorf!“, rief die Blonde. „Das ist ein Öko-Bauernhof. Man kann da mithelfen. Oder einfach hingehen, die Leute besuchen, Tiere angucken.“

Wieder kapierte ich rein gar nichts. Wozu hätte ich auf einem Bauernhof Leute besuchen oder mir dort Tiere angucken sollen? Und sogar mithelfen? Freiwillig? Das klang alles reichlich schräg.

„Was ist das für eine Mühle?“, fragte ich, in der Hoffnung, damit auf etwas Harmloseres auszuweichen.

„Die ‚Alte Mühle’ “, erklärte die Süße, „unser Jugendtreff. Der Name kommt vom Gebäude. Da war wirklich mal ne Mühle drin, ne Wassermühle. Hast du bestimmt schon gesehen, im Dorf.“

Ich wusste zwar nicht, was sie meinten, nickte aber trotzdem. Sie brauchten nicht zu wissen, dass ich hier noch rein gar nichts kannte. Aha! Die Alte Mühle war also ein Treff, wie das AWO-Jugendheim in der Nordstadt, wo es immer wieder Kloppereien und Randale gab. Aber die beiden Mädchen schienen mir für solche Sachen zu brav. Irgendwas passte da nicht zusammen.

„Wo du herkommst, war bestimmt mehr los als hier, oder?“, fragte die Blonde, oder besser: Maren.

Jetzt sahen sie mich mit großen Augen an, als erwarteten sie eine spannende Story aus der aufregenden Stadt. Also gut, dachte ich, dann wollen wir diese Landeier mal ein bisschen beeindrucken. Aber plötzlich sträubte sich etwas in mir: Sollte ich ihnen wirklich einen vom Pferd erzählen, nachdem sie die ganze Zeit so ehrlich zu mir gewesen waren?

Schließlich konnte ich der Versuchung nicht widerstehen. Klar war in der Nordstadt alles anders als hier, da herrschte das pralle Leben, irgendwo ging immer was ab, eine Party folgte auf die nächste. Nur eins gab's dort nie: Langeweile. Ich kam immer mehr in Schwung, fabulierte von wilden Bandenkriegen, Kameradschaft und Zusammenhalt, Freiheit und Abenteuer.

Zwischendurch schossen mir immer wieder Bilder der echten Nordstadt durchs Hirn. Wie uns die Solterbeck-Leute gejagt hatten. Wie ich vermöbelt wurde und mich danach nicht mehr auf die Straße traute, langsam zum Stubenhocker wurde. Aber davon brauchten die Leute hier nix zu wissen. Lieber alles in den schönsten, grellsten Farben ausmalen, Seemannsgarn spinnen, Nordstadtgarn. Das kam einfach besser.

Die ganze Zeit prüfte ich genauestens die Reaktionen meiner beiden Zuhörerinnen, suchte nach ungläubigen Blicken, spöttisch zuckenden Mundwinkeln. Aber ich entdeckte nichts. Anscheinend nahmen sie mir alles ab, was ich ihnen da erzählte. Mehr noch: Sie waren sichtlich beeindruckt, hingen mir geradezu an den Lippen.

Während meine Märchenstunde langsam ihrem Höhepunkt entgegenging, gesellte sich auch das Pärchen zu uns. Obwohl ich wie wild am Schwafeln und Gestikulieren war, konnte ich die beiden aus den Augenwinkeln beobachten. Der Typ schien schon etwas älter zu sein. Er erinnerte ein bisschen an den Versicherungsvertreter aus der Fernsehwerbung: sorgfältig frisierte Locken, adrette Plünnen, dazu ein pausbäckiges, leicht schleimiges Lächeln. Seine Freundin war das perfekte Gegenstück: ein rotwangiges Puppengesicht, in dem etwas Verträumtes und zugleich Hochmütiges, Spöttisches lag. Die Prinzessin und ihr Märchenprinz, dachte ich verächtlich.

Gleichzeitig schrillten sämtliche Alarmglocken in mir. Ich hatte das sichere Gefühl, dass vor allem die Prinzessin misstrauisch war. Sie schien mir meine Story nicht abzukaufen, bloß auf die nächstbeste Gelegenheit zu warten, mich zu blamieren, als Aufschneider zu entlarven.

Spätestens jetzt hätte ich eine Pause einlegen und die Lage peilen sollen. Aber es ging nicht. Ich lief mittlerweile auf Hochtouren und konnte nicht mehr aufhören. Und so erzählte ich meinen ahnungslosen Gegenübern, wie wir in der Nordstadt Mofas frisierten. Einige Leute hätten es regelrecht darauf angelegt, neue Rekorde aufzustellen. Schwaddis Karre machte angeblich über 100 Sachen. Es hieß, er hätte den Bullen eine wilde Verfolgungsjagd geliefert und sie am Ende mit seiner Möhre abgehängt. In der Nordstadt glaubte keine Sau diese Geschichte wirklich. Trotzdem wurde sie ständig herumerzählt und war immer wieder ein Kracher. So lief das halt bei uns: Man haute auf den Putz, je doller, desto besser.

Nun schaltete sich der Versicherungsvertreter ein: „Hast du eigentlich selbst ein Mofa oder irgendein anderes Zweirad?“ Er sprach ganz ruhig und besonnen – und doch war es mit meinem Höhenflug schlagartig vorbei. Ich dachte noch: „Irgendein anderes 'Zweirad', wie klingt das denn?“, dann spürte ich, wie ich abschmierte, jämmerlich zu Boden ging.

Der Kerl hatte mich kalt erwischt. Denn außer meiner Krücke von Fahrrad hatte ich nie ein anderes ‚Zweirad’ besessen, schon gar kein motorisiertes. Noch schlimmer: Wenn in der Nordstadt die Schrauber unter uns angefangen hatten, über Ritzel, Krümmer, Kolben, Kupplungen und Pleuel zu palavern, war ich immer abgehauen. Schöner Mist! Der Versicherungsvertreter hatte austesten wollen, ob ich wirklich Bescheid wusste oder bloß auf Dicke Hose machte. Und jetzt hatten wir den Salat, jetzt saß ich richtig in der Scheiße. Verdammt, welcher Teufel hatte mich geritten, mit diesem Thema anzufangen?

Meine beiden Sitzgenossinnen hatten anscheinend nichts mitbekommen, sie warteten gebannt, dass ich weitererzählte. Ob ich versuchen sollte, die Sache zu retten? Ich konnte mir irgendwas aus der Nase ziehen, von wegen, ich hätte meine Karre gerade verkauft, oder so ähnlich. Aber wahrscheinlich machte ich damit alles nur noch schlimmer. Der Versicherungsvertreter würde nachhaken, Details wissen wollen, und dann war ich endgültig geliefert. Es half nichts, ich musste jetzt mit der Wahrheit rausrücken, wohl oder übel. Ende der Veranstaltung.

„Ich hab' keine Karre“, murmelte ich. Zerknirscht glotzte ich den Boden an. Es war völlig still, niemand sprach ein Wort. Nur die Vögel sangen ungerührt ihre Lieder weiter. Ich hätte wetten mögen, dass die Prinzessin jetzt überglücklich war. Sie hatte bekommen, was sie wollte: Ich lag im Dreck, war bis auf die Knochen blamiert.

„Ich frag nur, weil“, hörte ich jetzt wieder die Stimme des Versicherungsvertreters, „ich nämlich 'nen Roller hab'. Dachte, man könnte zusammen ein bisschen rumfahren.“

Wieder dieser ruhige Tonfall. Tat es ihm jetzt Leid, mich bloßgestellt zu haben? Sollte das ein Versuch werden, die Wogen wieder zu glätten?

„Äh, mein Name ist übrigens Jürgen.“ Vorsichtig schaute ich nach oben. Er lächelte noch immer sein Vertreterlächeln.

„Und das ist Silke.“ Er wies auf seine Prinzessin. Sie lächelte ebenfalls, in ihrem Gesicht keine Spur von Häme. Auch die Mädels auf dem Kantstein sahen mich nach wie vor freundlich und aufmunternd an, als gäbe es nichts, dessen ich mich schämen musste. Hatte ich mich getäuscht, mir alles bloß eingeredet?

Ein Stein fiel mir plötzlich vom Herzen, ein wahrer Koloss. Donnernd und polternd stürzte er in die Tiefe, ich konnte förmlich spüren, wie die Erde unter mir zitterte und bebte…

Nach und nach kam die Unterhaltung wieder in Gang. Ich erfuhr, dass Kristina und Silke Geschwister waren. Silke war ein Jahr jünger. Und tatsächlich – die beiden sahen sich ein bisschen ähnlich.

In der Zwischenzeit hatte die Wiese gegenüber sich fast komplett geleert. Nur zwei einsame Gestalten waren übriggeblieben, die jetzt aufstanden und in unsere Richtung latschten. Seltsame Vögel waren das: Der eine sah völlig abgerissen aus, wie ein Penner aus der Nordstadt, nur dass er dafür eigentlich zu jung war. Der andere machte auf Rocker, trug Motorradkleidung mit Nieten und Ketten, war aber ein totaler Hänfling. Beim Näherkommen sah ich außerdem, dass seine Jacke aus Plastik war anstatt aus Leder. Total peinlich! Als ob ein Revolverheld im Wilden Westen mit Spielzeugpistole rumlaufen würde.

„Ey Micha“, rief Kristina und schaute zu dem Dreckigen hoch. „Habt ihr zu Hause eigentlich keine Badewanne?“

„Was soll ich mit ner Badewanne? Fische drin schwimmen lassen oder was?“ Dieser Micha war sichtlich genervt, wirkte aber trotzdem nicht aggressiv. Ein bisschen erinnerte er mich an die Kifferfraktion im Bunker.

„Kristina, du bist ganz schön vorlaut mit deinen fünfzehn Jahren“, schaltete sich der Möchtegern-Rocker ein.

Maren konterte: „Und wie alt bist du, Alex, wenn ich fragen darf?“

Der Babyrocker in der Plastikjacke stemmte die Hände in seine schmalen Hüften, als hoffte er, uns damit Respekt einzuflößen. „Siebzehn!“, verkündete er laut.

Uns blieb die Spucke weg. Mit seinem Kindergesicht wirkte er höchstens wie zwölf. Kurzes, überraschtes Schweigen, dann schrien alle gleichzeitig: „Siebzehn?“

„Zeig mal deinen Perso, Alex!“ Kristina streckte die Hand aus und schnippte mit dem Finger. Dieser Alex zeigte ihr einen Vogel.

Eine hitzige Diskussion über Alter und Aussehen entbrannte. Kristina meinte, sie und Silke würden oft für Zwillinge gehalten, manche dachten auch, Silke wäre die Ältere der beiden. Ich erzählte von einem Typen aus der Nordstadt, Thomas Zeter, den viele auf 18 schätzten, obwohl er erst 14 war. Auf einmal war ich mittendrin in ihrem Gespräch, als hätte ich immer dazugehört.

Die Abendsonne stand inzwischen mit uns auf einer Höhe; ihr rötliches Licht ließ Kristinas Pupillen aufleuchten wie Bernstein. Ich merkte, dass ich ständig hinguckte, aber ich konnte nichts dagegen machen, immer wieder wurde mein Blick in ihre Richtung gezogen…

Als die Sonnen endgültig hinter den Büschen am Ende des Rasens verschwand, wurde es schnell kalt. Alex und der dreckige Michael verabschiedeten sich. Auch wir machten uns auf den kurzen Rückweg, bei den Mädchen gab es gleich Abendbrot.

„Na, dann bis morgen!“, rief Silke in die Runde, als wir zum Haus der Rönnfelds kamen.

„Wieso bis morgen?“, fragte ich. „Kommt ihr nach dem Essen nicht mehr raus?“

Alle drei Mädchen schüttelten den Kopf.

„So ist das hier auf dem Dörfli“, lachte Kristina, als sie mein belämmertes Gesicht sah. „Wenn's dunkel wird, müssen die Mädels rein.“

Noch immer dachte ich, die drei wollten mich verschaukeln. Von wegen: Kristina sagte „Tschüss“ und ging ins Haus Nummer 12. Maren war bereits auf der Brentanostraße, sie winkte ein letztes Mal, bevor sie hinter einer Hecke verschwand. Das konnte ja wohl nicht wahr sein! Wir hatten es gerade mal halb acht Uhr! Was waren das denn für altmodische Sitten?

Silke und Jürgen betraten ebenfalls den Vorgarten von Nummer 12, blieben dann aber stehen. Was kam jetzt? Anscheinend zelebrieren sie eine Art Abschiedsritual oder so: Sie sahen sich tief in die Augen, dann legte er den Arm um ihre Hüfte, zog sie leicht an sich…

Auf einmal merkte ich, dass ich störte. Ich schlich mich von dannen, linste aber auf dem Sims unserer Haustür noch einmal nach drüben. Leider verdeckte ein hoher Busch die Sicht. Ich spitzte die Ohren, aber absolut nichts war zu hören. Schließlich gab ich es auf und ging hinein.

In meinem Zimmer stank es heute nicht nach Rauch und kalter Asche, wie sonst immer: Ich hatte beim Weggehen vergessen, das Fenster zuzumachen, und jetzt lag ein intensiver Geruch nach frischem Grün und Natur in der Luft. Er schien das Gefühl des heutigen Tages widerzuspiegeln.

Wann und wo würde ich die Leute von eben wiedersehen? „Bis morgen“, hatte Silke gesagt – das konnte viel bedeuten. Und ob sie sich wieder an der Straßenecke trafen?

Aber verdammt – war das nicht vollkommen schnuppe?



***



Am nächsten Tag hockte ich wieder untätig auf meiner Bude. Der Himmel war genauso blau wie gestern – dieses verdammte Frühlingswetter wollte sich anscheinend festsetzen. Mist, ich hatte ewig darauf gehofft, dass es wärmer wird, und jetzt, wo es endlich soweit war, konnte ich nichts damit anfangen. Hoffentlich gab es bald wieder Regen!

Stunde um Stunde verging. Ich saß einfach bloß da, rauchte eine nach der anderen. Zwischendurch glotzte ich immer wieder auf meine Armbanduhr, die ich mittlerweile wiedergefunden hatte. Die Zeit schien mir wie Sand zwischen den Fingern zu zerrinnen.

Einmal kam Muttern ins Zimmer. „Falls du es noch nicht gemerkt hast: Wir haben Frühling! Lass mal frische Luft rein.“ Sie ging zum Fenster und stellte es auf Klappe. „Wie kannst du bloß in dieser verqualmten Bude sitzen?“ Kaum war sie draußen, machte ich das Fenster wieder zu. Unten sah ich den Garten im hellsten Sonnenschein leuchten. Insekten schwirrten umher, der große Busch neben der Terrasse hatte rosafarbene Blüten bekommen.

Der Aschenbecher wurde immer voller, der Nebel im Raum immer dichter. Die Sonne wanderte langsam ums Haus herum und verschwand schließlich ganz. Es wurde wieder dämmrig und kalt, ähnlich wie gestern, als ich aufgewacht war.

Irgendwas musste jetzt passieren, unbedingt! Fieberhaft suchte ich nach einer Idee, einem Ausweg. Vielleicht Radfahren? Eigentlich hatte ich dazu überhaupt keine Lust. Außerdem musste ich das Rad erst aus der Garage holen. Trotzdem – besser als hier drinnen zu hocken war es allemal. Und eine leise Stimme sagte mir, dass ich an Straßenecke vorbeikommen würde, wenn ich zur Garage ging…

In der Küche war Muttern gerade am Putzen, das Radio dudelte irgendwelche Schlager. „Den Garagenschlüssel hat Henri“, rief sie mir über den Lärm zu, während sie mit Topfschwamm und Scheuermilch den Herd bearbeitete, „er wollte irgendwas reparieren. Vielleicht ist er ja noch zugange.“

Ja, vielleicht. Und falls nicht – auch egal. Wenigstens hatte ich jetzt etwas vor, hatte einen Plan. Beim Gang durch den Vorgarten zwang ich mich, nur nach vorn zu schauen, nicht zur Straßenecke. Aber als ich zum Gehweg kam, konnte ich mir einen schnellen Blick doch nicht verkneifen.

Da hinten stand niemand.

Ich war enttäuscht. Und zugleich erleichtert. Bestimmt war es besser so. Ich ging auf die Straße hinaus, schlug den Weg zu den Garagen ein. Ringsum das gleiche Bild wie gestern: spielende Kinder, schlendernde Leute, Wärme, Helligkeit. Als ich mich der Straßenecke näherte, hörte ich lautes Reden und Lachen von Stimmen, die mir bekannt vorkamen. In meinen Schläfen setzte starkes Pochen ein. Noch konnte ich umkehren, noch war es nicht zu spät… aber meine Füße bewegten sich wie von allein weiter. Ich erreichte die Ecke, ging herum…

… da waren sie. Maren saß auf dem Telefonkasten vor der Gartenhecke des letzten Hauses, bei ihr standen Kristina und Jürgen. Nur Silke, die Prinzessin, fehlte heute.

Irgendwie schaffte ich es, cool zu bleiben. „Hi“, sagte ich, ohne eine Miene zu verziehen. Sie begrüßten mich verhalten, fast schüchtern. Dabei blieb es.

Ich war wohl am Zug. „Tja, wollte eigentlich gerade 'n bisschen Rad fahren.“, sagte ich, eher aus Ratlosigkeit. „Aber jetzt kann ich ebenso gut mit euch hier in der Gegend rumstehen“, lief der Satz bei mir in Gedanken weiter. Mist, das war schon mal ein verdammt schlechter Anfang gewesen!

Vor der Eckgarage sah ich Henri und den dreckigen Michael an einem Mofa herumschrauben. Es war eine Peugeot, eine absolut peinliche Marke. In der Nordstadt hätte sich keiner freiwillig auf so ein Teil gesetzt.

Jürgen und die Mädchen fingen wieder an zu quatschen. Es ging um die Schule und den Jugendtreff, die „Alte Mühle“, dann um irgendeine Eisdiele, die bald wieder öffnen sollte. Ich konnte nichts beisteuern, war völlig ausgeschlossen.

Ob sie das extra machten? Hatte ich gestern zu doll auf den Putz gehauen? Hielten sie mich jetzt für einen Aufschneider und wollten mich loswerden?

Mann, dann war es eben so! Ich nahm das hier alles viel zu wichtig!

„Ist das Bernd da hinten?“, fragte die Blonde, Maren, die noch immer auf ihrem Telefonkasten saß. Eine langbeinige Gestalt kam die Kleiststraße entlanggelatscht. Von weitem sah der Typ aus wie ein Nordstädter: lange Haare, dunkle Bartstoppeln, hautenge Lederhose. Die Motorradjacke stand offen, man sah den Nierengurt. Unter dem Arm trug er einen Helm. Ein Biker. Aber wo war seine Karre?

Als er näherkam, grinste er plötzlich los wie ein Honigkuchenpferd. Von wegen Nordstädter, dachte ich und konnte ein verächtliches Schnauben nicht unterdrücken.

Es gab eine lebhafte Begrüßung mit Umarmungen und Schulterklopfen. Aus der Unterhaltung bekam ich mit, dass der Typ anscheinend zwei Wochen im Urlaub gewesen und erst vorhin zurückgekommen war. Und deshalb machten die alle so einen Aufstand? In der Nordstadt hätte es ein knappes Hallo gegeben, wenn überhaupt.

„Wollte Werkzeug aus der Garage holen“, erklärte der Biker. „Mir ist die Maschine verreckt, musste sie hinten an der Tanke stehen lassen.“

Jetzt kam die Unterhaltung der anderen erst richtig in Fahrt. Ich kapierte rein gar nichts mehr von ihrem Gequatsche, war regelrecht abgemeldet. Irgendwann wurde es mir zu bunt. Noch fünf Minuten, sagte ich mir, dann ist finito. Ich warf einen Blick zur Garage, sah mein Rad hinten an der Rückwand stehen, tastete nach dem Fahrradschlüssel in den Hosentasche.

Bald hörte ich kaum noch zu, schweifte mit den Gedanken immer weiter ab. Als Jürgen mich plötzlich direkt ansprach, zuckte ich vor Schreck regelrecht zusammen. Er musste seine Frage wiederholen: „Kennt ihr beiden euch eigentlich schon?“ Er blickte erst den Biker an, dann mich. Wir schüttelten beide den Kopf.

Jürgen wies auf den Typen in Leder. „Darf ich vorstellen: Bernd Stützer, unser Schrauber vom Dienst“, sagte er in feierlichem Ton. „Bernd, das ist Hauke, dein neuer Nachbar.“

„Hi“, meinte Bernd und grinste mich an. „Dein Bruder ist schon mein bester Kumpel.“ Er zeigte mit dem Daumen hinter sich, zu den Garagen. Ich konnte mir ein kurzes Auflachen nicht verkneifen. Natürlich hatte Henri sich längst eingeschleimt! Wer ein Fahrzeug mit Motor besaß, egal ob Auto oder Karre, war für ihn ein Gott.

Und schon war ich wieder in die Unterhaltung einbezogen. Ich quatschte mit Bernd, fragte ihn dies und das. Insgeheim aber wunderte ich mich noch lange über Jürgens seltsame Vorstellungszeremonie. Das war nun endgültig Fernsehen gewesen, in echt hatte ich so was noch nie erlebt.

Aber es hatte geholfen. Ich war wieder dabei. In der Nordstadt hätte mir niemand unter die Arme gegriffen. Wer dort raus war, blieb auch draußen.

„Ich komm übrigens auch aus der Nordstadt“, meinte Bernd irgendwann.

Ich glotzte ihn an. Glotzte noch mal, um sicher zu gehen, dass er nicht flunkerte. Dann hakte ich nach. Wo in der Nordstadt hatte er gewohnt? War er auch aufs KBZ gegangen? Welche Lehrer hatte er gehabt? Und wie lange war er schon in diesem Kuhdorf?

Bernd hatte im Anklam-Ring gewohnt. Und ja, er war aufs KBZ gegangen. An seine Lehrer konnte er sich nicht mehr erinnern, das war alles schon zu lange her, sechs Jahre oder mehr, genau wusste er es nicht. Er klang ziemlich gelangweilt, als würde ihn die Nordstadt nichts mehr angehen. In meinen Augen war das wie Verrat, Verrat durch Vergessen. Mir würde das niemals passieren, das schwor ich mir insgeheim.

Trotzdem schien noch ein Rest Nordstadt in Bernd zu stecken: Mit ihm ließ sich viel besser quatschen als mit den anderen. Seine Art war mir vertrauter, es gab deutlich weniger peinliche Situationen. Und wir hatten einen ähnlichen Musikgeschmack. Nach allem, was er erzählte, besaß er einen Riesenberg Platten. Ich müsse unbedingt mal vorbeikommen, meinte er. Dazu fuhr er Krad, also Kleinkraftrad, das war in der Nordstadt das Größte. Vielleicht weil die meisten bloß davon träumen konnten: Allein der Lappen kostete Unsummen, von der Karre ganz zu schweigen. Bernd erzählte, dass er nächstes Jahr sogar den Motorradführerschein machen wolle, um sich dann „was Richtiges“ zu kaufen.

Irgendwann merkte ich, dass wir beide die einzigen waren, die quatschten. Jürgen, Kristina und Maren standen bloß da und hörten mit großen Augen zu – es war fast wie gestern, als ich meine Storys erzählt hatte. Aber komisch: Heute störte es mich, die ganze Zeit über die Nordstadt zu reden und dabei so im Mittelpunkt zu stehen.

Bernd schaute auf seine Armbanduhr. „Die Tanke macht demnächst dicht. Ich muss meine Karre da wegholen. Bin gleich zurück“, rief er und stapfte über die Kleiststraße davon.

Mittlerweile war die Sonne weg, unangenehme Kälte kroch hervor, wie gestern. Außer uns war niemand mehr draußen. Auch Henri und Micha hatten längst die Biege gemacht, das Garagentor war verschlossen. Wir fingen an zu frösteln. Lange konnten wir nicht mehr hier stehenbleiben.

Endlich kam Bernd, seine Karre neben sich herschiebend. Ich sah sofort, dass es eine KS50 tt war. In der Nordstadt kannte man die verschiedenen Marken, musste sie einfach kennen, ob man nun Bock auf „Zweiräder“ hatte oder nicht. Er stellte die Maschine in der Nachbargarage unter, ließ das Tor herab und kam zufrieden angeschlendert. „Wie sieht's aus?“, fragte er in die Runde. „Gehen wir noch zu mir?“

Jürgen zuckte die Schultern und signalisierte gleichzeitig mit dem Gesicht ein 'warum nicht?'. „Dürft ihr denn?“ Er schaute die Mädchen an, die ja eigentlich rein mussten.

„Zu Bernd vielleicht“, meinte Kristina. „Ich frag beim Abendbrot mal.“

„Und du?“ Er wandte sich an Maren.

„Ich glaub‘ eher nicht.“ Sie schüttelte den Kopf. „Aber ich werd's versuchen.“

Wir gingen zurück. Jürgen, Bernd und ich betraten den Vorgarten des Hauses Nr. 14, während Kristina und Maren sich vorsorglich verabschiedeten. Wieder einmal schüttelte ich insgeheim den Kopf über den schnurgerade abrasierten Efeu an der Grenze zu unserem Haus. Unterm Küchenfenster der Stützers stand eine Gartenbank aus dunklem Holz. Im Flur sah es fast so aus wie bei uns, nur die Tapeten waren etwas dunkler, wodurch alles enger und niedriger wirkte, außerdem standen hier weniger Schuhe auf dem Boden. Neben der Treppe ragte eine mächtige Topfpflanze auf.

Bernds Zimmer war unterm Dach, wo bei uns Muttern ihr Schlafzimmer hatte. Er bewohnte die komplette Etage, hatte sogar ein eigenes kleines Bad hier oben, das es bei uns im Haus gar nicht gab. Wenn er auszog, wollten seine Eltern das Ganze als Ferienunterkunft vermieten. Im Zimmer selbst fiel mir als erstes die Matratzenecke ins Auge: Sie erinnerte verdammt an den guten, alten Bunker. Die Plattensammlung erstreckte sich meterlang über diverse Regale. Und seine Stereoanlage war einfach der Hammer. Derart teure Geräte hatte ich bisher nur in Hifi-Geschäften gesehen, aber nicht bei irgendwem zu Hause.

Wir setzten uns, Bernd machte Musik an. Ich fragte, ob Rauchen erlaubt sei. „Klar“, meinte er und stellte mir einen Aschenbecher hin – obwohl er selbst Nichtraucher war.

Es klingelte an der Haustür, jemand kam mit polternden Schritten die Treppe hoch. Gespannt wartete ich, aber dann war es bloß Maren, die ins Zimmer trat. „Was für ein Kampf“, stöhnte sie. „Ich musste hoch und heilig schwören, dass ich nur zu Bernd geh. Meine Güte!“

Kurze Zeit später klingelte es wieder. Ein regelrechter Hoffnungsblitz durchfuhr mich. Vielleicht diesmal? Die Tür ging auf – und Kristina stand im Raum.

„Alle wieder fröhlich vereint!“, rief sie und drehte sich zu mir: „Meine Mutter wollte wissen, ob du auch hier bist“, sagte sie und imitierte eine keifende Stimme: „Ich weiß nicht, ob das der richtige Umgang für dich ist, Kristina. Frau Jansen ist ja schon zweimal geschieden und lebt jetzt in wilder Ehe mit diesem tätowierten Kerl.“ Alle mussten lachen, ich auch.

Es war fast wie in der Nordstadt: Wir lümmelten auf Matratzen herum, quatschten, hörten Musik. Ich saß neben Jürgen. Eigentlich hätte ich den Typen bescheuert finden müssen – dieses immer freundliche Lächeln, der Lockenkopf, die sauberen Klamotten. Er war viel zu brav, zu angepasst, trotzdem unterhielt ich mich fast die ganze Zeit mit ihm.

Kristina und Maren hatten überall Teelichter angezündet, die den Raum in geheimnisvollen Glanz tauchten. Immer wieder schaute ich unauffällig in Kristinas Richtung, betrachtete fasziniert ihre braune Haut, die dunklen Augen, die den Kerzenschein reflektierten. Mittlerweile hatte ich aus den Gesprächen herausgehört, dass sie mit Bernd zusammen gewesen war. Aber er hatte vor kurzem Schluss gemacht…

Es kam mir fast so vor, als würde sie sich auch für mich interessieren. Schaute sie nicht immer wieder herüber?

Und was wäre, wenn? Wollte ich das überhaupt? Wie würden die Leute in der Nordstadt reagieren, wenn ich mit ihr ankäme? Was würde Hartmann sagen?



***



Es blieb sonnig und warm, also traf ich mich weiterhin mit den Dorfleuten. Besser als Stubenhocken war das allemal. Aber ich hielt mich in der zweiten Reihe – hier lief alles so komplett anders als in der Nordstadt, da war es einfach schlauer, denjenigen den Vortritt zu lassen, die sich auskannten.

Einiges fand ich richtig schräg. Zum Beispiel machten alle Jungs aus dem Dorf bei der Freiwilligen Feuerwehr mit, das war wie ein ungeschriebenes Gesetz. Einmal pro Woche war Schulung auf der Feuerwache. Erst gab es Theorie, danach praktische Übungen. Leitern wurden bestiegen, Wasserschläuche ausgerollt und in Betrieb genommen. Alle waren voll bei der Sache, als würde es im Ernstfall wirklich auf sie ankommen.

Einmal ließ ich mich von Jürgen breitschlagen, an einer dieser Schulungen teilzunehmen. Er hatte wohl die Hoffnung, mich für das Ganze begeistern zu können, aber das konnte er vergessen. Der Typ war wirklich eine ganz komische Marke. Seinen Feuerwehr-Job nahm er superwichtig, er sprach immer von „Dienst“ und meinte das tatsächlich so. Vor ein paar Wochen war er rangmäßig aufgestiegen, durfte jetzt Übungen leiten, andere herumkommandieren und ähnliches. Seine dunkelblaue Uniform mit den vielen Streifen und Abzeichen liebte er über alles. In der Nordstadt wäre man eher gestorben, als mit so was gesehen zu werden. Nicht so Jürgen: Er fühlte sich darin wie der Kaiser persönlich.

Seine größte Bewunderin hieß natürlich Silke. Ihre Augen klebten geradezu verzückt an ihm und seiner Uniform. Dass Jürgen sie und keine andere gewählt hatte, erfüllte sie sichtlich mit Stolz.

Überhaupt Jürgen und Silke – ein seltsameres Paar war mir noch nicht untergekommen. Seit sage und schreibe zwei Jahren waren sie schon zusammen, und angeblich hatten sie sofort von Heiraten gesprochen – dabei war Silke gerade mal 14! Nach außen versuchten die beiden zu wirken wie die Königspaare auf den Hochglanzzeitschriften, perfekt, makellos und vor allem eines: besonders. Jürgen wohnte im Nachbarblock, und wie der Zufall es wollte, lagen sein Zimmer und das von Silke genau gegenüber. Jeden Abend stellte er eine Lampe mit roter Glühbirne ins Fenster. Sie war von überall zu sehen, auch ich hatte mich schon gefragt, was es damit wohl auf sich hatte. Mittlerweile wusste ich, dass er Silke damit „Ich liebe Dich“ sagen wollte. Und das war wirklich ernst gemeint.

Dass Kristina und Silke manchmal für Zwillinge gehalten wurden, hatte ich anfangs nicht verstanden. Es gab so viele Unterschiede zwischen ihnen. Silke war ein eher heller Typ, im Gegensatz zu Kristina, deren braune Haut tatsächlich leicht südländisch anmutete. Und während Silkes Augen eine undefinierbare, langweilige Farbe irgendwo zwischen Grau und Blau hatten, glühten die von Kristina oft nahezu schwarz.

Auch von ihrer Art her hätten die beiden Schwestern kaum verschiedener sein können. Kristina war ziemlich selbstbewusst, wenn ihr etwas nicht passte, sagte sie es laut und deutlich. Manchmal wurde sie sogar ziemlich ruppig, fast wie die Mädchen in der Nordstadt. Silke dagegen hatte etwas Heimtückisches, Hinterhältiges an sich. Ihre spitzen Bemerkungen konnten immer so oder so ausgelegt werden. Sie verschoss ihre giftigen Pfeile und versteckte sich schnell wieder hinter Jürgens breitem Rücken.

Aber wenn man genau hinsah, entdeckte man doch viele Ähnlichkeiten zwischen den beiden: Sie waren einander fast wie aus dem Gesicht geschnitten, und trotz ihrer üppigen Staturen bewegten sie sich beide sehr weich, fast geziert.

Maren blieb mir so fremd wie am ersten Tag. Bei ihr lag es vor allem daran, dass sie kaum den Mund aufmachte, nur still vor sich hinlächelte. Vielleicht dachte sie sich ja ihren Teil, keine Ahnung. Ich jedenfalls konnte in ihr nichts anderes sehen als ein schüchternes, zurückgebliebenes Landei. In der Nordstadt wäre sie total abgemeldet gewesen.

Oft gingen wir ins „Dorf“. So wurde der Kern von Schönhagen genannt, der deutlich älter war als die umliegenden Wohnsiedlungen. Die Häuser strahlten dort etwas Ursprüngliches, fast Gemütliches aus, viele Dächer waren mit Reet gedeckt. Die Straßen hießen „Lütt Dörp“, „Papenwisch“ oder „Twiete“. Eine Gasse, der „Knüll“, war so eng, dass kaum zwei Leute aneinander vorbeikamen. Für Autos war das Dorf gesperrt. Und gerade wurde überall die Teerdecke durch altmodisches Kopfsteinpflaster ersetzt, damit endgültig alles wieder aussah wie früher.

In der Dorfmitte liefen mehrere Straßen und Gassen zur „Grünen Insel“ zusammen, einer mit Bäumen bewachsenen Wiese. Am Rand waren Bänke aufgestellt, von denen aus man über den Mühlenteich blickte. Er war bereits jetzt, im April, arg mit Seerosen zugewachsen. Ein Spazierweg führte einmal ganz um ihn herum. Auf der anderen Seite sah man eine Holzbrücke aus dem Schilf ragen, dahinter lag die historische Wassermühle. Das große Mühlrad drehte sich allerdings nicht mehr.

Die Eisdiele, von der ich die anderen schon so oft hatte reden hören, befand sich ebenfalls an der Grünen Insel. Sie war so etwas wie der Treffpunkt des Dorfes, vor allem abends gab es hier großes „Hallo“ und „Wie geht's“. Man holte sich Eis, setzte sich auf eine der Bänke oder an die niedrige Ufermauer und ließ es sich schmecken.

Jeder schien hier jeden zu kennen. Ich selbst hatte immer das Gefühl, von allen Seiten misstrauisch beäugt zu werden. An den Klamotten konnte es nicht liegen. Meine ausgefranste Wrangler-Jacke ließ ich jetzt lieber im Schrank, rannte stattdessen mit einer neuen, sauberen Jeansjacke und ebenso properen Hosen herum. Vielleicht waren es die langen Haare? Dann hätte Bernd erst recht auffallen müssen, vom dreckigen Michael ganz zu schweigen. Auf Dauer nervte das permanente Geglotze, aber was sollte ich machen?

Micha wohnte in einem der fetten Kästen am Ende unserer Straße, von denen ich anfangs gedacht hatte, sie würden leerstehen. Seine Alten hatten anscheinend richtig Kohle, gleichzeitig waren sie völlig durchgeknallt. Micha durfte sie anbrüllen, wie er Lust hatte, nannte sie „Arschlöcher“, „Schweine“, „Wichser“ und ähnliches. In der Nordstadt wäre er dafür grün und blau geprügelt worden.

Und er bekam alles, wirklich alles in den Arsch geschoben. „Ey Papa, ich will 'n Schlagzeug“, brauchte er bloß zu sagen, und schon stand da die fetteste Schießbude. „Ey Papa, ich brauch 'n Mischpult“ genügte, und ihm wurde prompt das absolute Profi-Mischpult herbeigezaubert.

Sein Zimmer war im Keller. Er benutzte es gleichzeitig als Übungsraum. Alex sägte auf der Gitarre herum, Micha schwang die Sticks. Es klang alles ziemlich stümperhaft, was die beiden da produzierten, und es war vor allem eines: laut. So laut, dass seine Eltern, die eine Etage höher in ihrer Halle von Wohnzimmer saßen, wahrscheinlich ihr eigenes Wort nicht verstanden. Trotzdem ließen sie den Lärm klaglos über sich ergehen, taten keinen Muckser. Ob sie sich nicht trauten, etwas zu sagen, oder ob ihnen alles egal war, hatte ich noch nicht herausgefunden. Jedenfalls wunderte es mich bei diesen komischen Eltern nicht mehr, dass Micha immer so dreckverkrustet rumlief.

Sein neuestes Steckenpferd war eine Super8-Projektionsanlage, mit der er seinen Keller zum Kino machen konnte. Den Ton ließ er in Dolby-Stereo über den Verstärker laufen. Jeder Streifen kostete mal eben einen Tausender, und er hatte bereits ein ganzes Regal voll davon – wirklich unglaublich!

Ich besuchte ihn manchmal in seinem Keller, wenn er und Alex am Üben waren. Lauschte ihrem Geplärre und Gelärme und baute uns derweil einen Joint. Micha hatte immer irgendwo Dope rumliegen. Wenn die beiden fertig waren, zogen wir das Teil gemeinsam durch.

Einmal kam noch jemand dazu, Schohl. So einen wie den hatte ich noch nie erlebt. Er war unheimlich, irgendwie psycho. Dem traute ich alles zu. Wenn jemand mir erzählt hätte, dass der Typ ab und zu Leuten die Kehle aufschlitzte, einfach weil's ihm Bock brachte, hätte ich das sofort geglaubt.

Dieser Schohl kramte einen Riegel Pillen aus der Jackentasche, schmiss sie in die Mitte und meinte, die seien total geil. Alex und Micha drückten sich sofort welche aus der Packung und warfen sie ein. Ich zögerte, hatte plötzlich Muffe. Alk und Joints kannte ich, aber diese Dinger? Was machten die mit einem? Schließlich lehnte ich ab, mit irgendeiner billigen Ausrede, und erntete prompt von allen Seiten verächtliche, fast bemitleidende Blicke. Mit einem Schlag waren die Rollen komplett vertauscht: Ich, der Großstädter, sah vor diesen Landeiern ganz klein aus. Und genauso fühlte mich auch.

Plötzlich hatte ich es sehr eilig, aus Michas Keller herauszukommen.



***



Hartmann war am Telefon. Über eine Woche war es inzwischen her, da wir zuletzt gequatscht hatten. Ich berichtete ihm von den neuesten Ereignissen.

„Mensch Hauke!“, rief er, als ich fertig war. „Sieh bloß zu, dass du da ganz schnell wegkommst! Such dir Arbeit, mach ‘ne Lehre, was auch immer. Verdien Geld und nimm dir hier ‘ne billige Bude. Da draußen wirst du bekloppt, Mann!“

Mit einem Schlag wurde mir klar, wie abgefahren meine Story für jemanden klingen musste, der warm und trocken in der Nordstadt saß. Dabei hatte ich schon eine entschärfte Fassung geliefert, in der zum Beispiel Jürgens rote Lampe fehlte oder sein Bock auf Uniformen.

Nach dem Gespräch wurde mir auf einmal ziemlich mulmig. Verdammt, was war los? So lange hatte ich mich darauf gefreut, wieder in die Nordstadt zu fahren. Und jetzt, da es endlich losgehen sollte, bekam ich plötzlich Schiss!

Ich versuchte mir Mut zu machen. Endlich wieder mit den Kumpels labern, wie ich es gewohnt war, sagte ich mir, ohne Missverständnisse und Peinlichkeiten. Wieder richtige Mädels treffen, nicht solche Dorftussen wie hier. Durch die altbekannten Straßen laufen. Aber es half nicht viel.

Zu allem Unglück hatte Klaus gestern im Suff seinen Wagen gegen die Leitplanke gesetzt – Totalschaden. Jetzt durfte ich mit dem Bus fahren. Drei Stunden Gezockel über die Dörfer – es war wirklich zum Verzweifeln!



***



Am Mittwoch vor Ostern wurde es mit einem Mal wieder bewölkt und saukalt. Das gute Wetter hatte sich genau eine Woche gehalten.

Als ich vormittags zum Treffpunkt an der Straßenecke kam, waren alle schon dort versammelt: Maren, Bernd, Kristina, Jürgen und Silke. Die Mädchen planten einen Besuch auf dem Öko-Bauernhof, von dem sie mal gequatscht hatten. Und sie wollten ernsthaft zu Fuß latschen, quer durch die Walachei! Mir blieb vor Schreck glatt die Spucke weg.

„Fünf Kilometer sind doch wohl nicht weit!“, stichelte Silke, als ich protestierte. Pikiert zog sie die Augenbraue hoch und bedachte mich mit einer Miene tiefster Verachtung. Natürlich mal wieder sie! Inzwischen war ich mir sicher, dass sie mich nicht leiden konnte. Aber so viel war klar: Das beruhte auf Gegenseitigkeit!

Die anderen gingen sich „umziehen“, wie sie meinten. Als sie zurückkamen, hatten sie Bundeswehrparkas, Arbeitshosen und ähnliches an. Das Beste aber war: Alle trugen Gummistiefel! Jürgen riet mir, ebenfalls welche anzuziehen. Er hätte zu Hause noch ein altes Paar rumliegen, die könne ich haben, meinte er allen Ernstes. Ich lehnte dankend ab. Gummistiefel – so was kam mir nicht an die Füße!

Draußen in den Feldern musste ich einsehen, dass das ein Fehler gewesen war. Der Weg war total aufgeweicht, an manchen Stellen versackte man regelrecht. Meine Turnschuhe standen bald vor Dreck und Schmodder. Und andauernd fuhren Trecker vorbei, die noch mehr Matsch von den Feldern mitbrachten.

Als wir in einen Wald kamen, wurde der Weg sauberer. Ich wischte mir den Matsch von den Schuhen, so gut es ging. Aber die Erleichterung währte bloß kurz: Der Wald war kleiner als erhofft, und dahinter fing das Elend natürlich von vorn an. Zum Glück hatten wir nicht mehr weit zu laufen, bis wir zum Gut kamen.

Schon nach fünf Minuten wusste ich, dass dies der letzte Ort war, an dem ich sein wollte. Überall wieselten Ökos mit ihren Felljacken und Stirnbändern rum. Typen wie die hatte ich schon immer inbrünstig gehasst. Schwebten mindestens zehn Zentimeter über dem Boden, taten ständig, als hätten sie den totalen Durchblick. Und wer anderer Meinung war als sie, kriegte natürlich sofort den Nazi-Stempel aufgedrückt.

Andauernd kamen riesige Hunde angerannt, die laut kläfften und uns beschnüffelten. Die anderen hatten keine Angst vor den Bestien, sie kannten ihre Namen und streichelten sie sogar. Ich war ziemlich baff, als ich hörte, wie einige der Körnerfresser mit Jürgen Termine der Freiwilligen Feuerwehr abstimmten. Offenbar waren sie dort ebenfalls Mitglieder. Bernd fachsimpelte derweil mit einem langmähnigen Jesustypen im beschmierten Blaumann über irgendwelche Traktoren, die sie fürs Gut anschaffen wollten. Die Mädchen erkundigten sich bei einem Oberguru mit Glatze und Rauschebart, ob die Lämmer schon geboren waren. 'Lämmer'?, dachte ich, haben sie wirklich gerade 'Lämmer' gesagt?

„Lasst uns mal einen Rundgang machen“, schlug Kristina vor. „Hauke kennt das hier ja alles noch gar nicht.“

Super, antwortete ich in Gedanken, einen Bauernhof wollte ich schon immer besichtigen!

Der Guru schaute an mir herab: „Am besten, du ziehst dir Gummistiefel an.“

Ich war drauf und dran, dem Arschloch eine zu semmeln. Das einzige, was mich zurückhielt, waren die Riesenköter. Die flößten mir einen Heidenrespekt ein.

Mitgefangen, mitgehangen, dachte ich und latschte resigniert hinter den anderen her. Im Haupthaus durfte ich mir ein Paar Gummistiefel für Gäste aussuchen. Dann begann eine endlose Wanderung durch Ställe, Gehege, Scheunen und Remisen. Immer wieder waren wir von Federvieh umgeben, das frei zwischen den Gebäuden herumlief. Einmal rollte eine Meute dreckverkrusteter Schweine auf uns zu. Ihr Hirte, kaum älter als wir, maß höchstens 1,60. Er trug eine seltsam gemusterte Wollmütze, in der Hand hielt er einen Holzstecken. Ungefähr so stellte ich mir einen Gnom vor.

Es ging in die Bäckerei, wo uns dunkles, warmes Brot in die Hand gedrückt wurde. Dann in die Molkerei, wo in gekachelten Verschlägen Kühe an den Schläuchen der Melkmaschine hingen. Schließlich in die Metzgerei, wo gerade Hartwürste hergestellt wurden. Bis dahin hatte ich immer geglaubt, alle Ökos wären Vegetarier.

Die ganze Zeit über vermied ich krampfhaft, an mir runterzugucken, um meine Füße nicht sehen zu müssen, die in olivgrünen Gummistiefeln steckten. Das dämliche Bild hätte sich mir für alle Zeiten ins Hirn eingebrannt, ganz sicher. Zum Glück hing nirgends ein Spiegel.

Wir kamen in den Schafstall, wo die Mädchen endlich ihre heißersehnten Lämmer bestaunen konnten. Tatsächlich sah es rührend aus, wie die kleinen Wesen auf ihren dünnen Beinchen durchs Stroh tapsten. Ihr Fell war noch nass und dampfte in der kühlen Luft. Immer wieder kam es vor, dass eines der Tiere sein Gleichgewicht verlor und einfach umkippte.

Schließlich fragte der Typ, der uns herumgeführt hatte, ob wir noch zum Mittagessen bleiben wollten. Von irgendwoher war lautes Tellerklappern zu hören, als ob gerade aufgedeckt würde. Die anderen sagten sofort zu. Sie mussten das Essen von vornherein eingeplant und sich von zu Hause das Okay geholt haben. Ich überlegte, ob ich allein zurückgehen sollte. Aber dann blieb ich doch – das Rumgerenne war verflucht anstrengend gewesen, außerdem hatte ich mittlerweile ziemlichen Kohldampf.

Wir latschten also zurück zum Haupthaus. Es wäre das ehemalige „Herrenhaus“, erklärte mir der Öko-Pax. Die Kommune hätte es in jahrelanger Arbeit komplett saniert. Okay, aber weshalb erzählte er mir den ganzen Kram? Sah ich etwa so aus, als würde mich das interessieren?

Der Flur war jetzt voller Leute. Gerade hatte ich die Gummistiefel zurückgestellt und wollte wieder in meine Turnschuhe steigen, als ich sah, wie die anderen sich jeder ein Paar Filzschlappen aus dem Nachbarregal griffen. Anscheinend trug man die hier drinnen: Sämtliche Füße, die ich entdecken konnte, steckten in solchen Latschen. Beim Gedanken, selbst in so was zu steigen, regte sich neuer Widerstand in mir – aber am Ende war der Hunger stärker.

Wir kamen in eine Art Gemeinschaftssaal mit langen Tischen und Holzbänken. Obwohl bereits reger Andrang herrschte, fanden wir noch zusammenhängende Plätze. Irgendwann öffnete sich die Flügeltür zur Küche, und Leute in weißen Arbeitsklamotten rollten Essenswagen herein. Die Töpfe wurden über die Tische verteilt, dann tat man sich auf. Es erinnerte mich an die Klassenfahrt in der Vierten. Wobei das Essen hier eindeutig besser schmeckte, um nicht zu sagen: verdammt lecker. Und es gab reichlich. Trotzdem wäre ich gestorben, wenn jemand aus der Nordstadt mich zwischen den ganzen Hippies gesehen hätte, noch dazu in diesen komischen Filztretern.

Nach ziemlich genau einer halben Stunde leerte sich der Saal ebenso rasch, wie er sich gefüllt hatte – diese Öko-Typen konnten es anscheinend kaum abwarten, wieder an ihre Arbeit zu kommen. Ich sah mich ebenfalls schon wieder in Gummistiefeln, dachte, wir würden noch stundenlang hier rumlaufen, aber die anderen quatschten von Zurückgehen. Anscheinend hatten sie genug gesehen – ein Glück!

Wir waren schon halb vom Hof runter, als einer der Ökos uns hinterherrief: „Helft ihr dieses Jahr wieder mit?“

„Klar!“, grölte Bernd zurück. Mir blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, wovon die Rede sein mochte, denn ich kämpfte bereits wieder mit dem Schmodder auf dem Feldweg.

Hinter der Hofeinfahrt nahmen wir diesmal die entgegengesetzte Richtung. Erst dachte ich, wir wollten noch irgendwo anders hin, aber dann führte der Pfad doch wieder auf den Wald zu. Wir liefen anscheinend einen Rundweg.

Auf einmal entdeckte ich am Horizont eine Gruppe Hochhäuser. Der Anblick dieser Nordstadt-artigen Kästen inmitten der Felder war so unwirklich und absurd, dass ich einen Moment lang nicht mehr wusste, wo ich mich befand.

„Das Ferienzentrum“, erklärte Jürgen, als er meinen Blick bemerkte. „Hotels, Schwimmbäder, Läden, Discos und so weiter. Ist total was los, jedenfalls in der Saison.“

„Und wann ist die Saison?“, wollte ich wissen, noch immer reichlich durcheinander.

„Fängt demnächst an“, meinte er.

Gerade hatte ich es noch bereut, überhaupt mitgegangen zu sein, aber nun schienen sich völlig neue Aussichten zu eröffnen. Ich überlegte ernsthaft, die Biege zu machen und diesem Ferienzentrum einen Besuch abzustatten. Bernd schien meine Gedanken zu erraten: „Hey, lasst uns noch zum Ferienzentrum gehen!“, schlug er vor. Erst gab es unwilliges Gemurre, aber dann waren doch alle einverstanden.

Allerdings hatte er sich wohl mit der Länge des Weges verschätzt: Wir latschten und latschten, aber die Betontürme wollten nicht näherkommen. „So dauert das ewig“, stöhnte er. „Lasst uns einfach über die Koppeln laufen.“ Erst dachte ich, er würde einen Witz machen: Das Gelände schien ziemlich aufgeweicht, an einigen Stellen sah man große Wasserflächen. Außerdem trieb sich in einiger Entfernung ein Pulk Kühe herum. Aber die anderen fingen tatsächlich an, über den Weidenzaun zu klettern. Klar, sie waren fein raus mit ihren ihren Gummistiefeln. So ein Mist!

Notgedrungen stieg ich hinterher. Die Nässe war sogar noch schlimmer als befürchtet, bei jedem Schritt schmatzte es laut unter meinen Sohlen. Irgendwann spürte ich kaltes Wasser in meinen Schuh laufen. Zu allem Unglück hatten sich in der Zwischenzeit auch noch die Kühe in Bewegung gesetzt. Zielstrebig kamen sie in unsere Richtung getrabt.

„Die gehören bestimmt zum Gut“, meinte Silke.

„Wahrscheinlich wollen sie was zu fressen haben“, überlegte Maren.

Die Herde kam näher und näher. Und jetzt? Auch den anderen wurde die Sache offenbar unheimlich, wir begannen zu laufen. Die Kühe taten es uns gleich und liefen ebenfalls. Währenddessen wurde der Grund immer weicher. Meine Schuhe saugten sich permanent fest und drohten im Morast stecken zu bleiben. Ich überlegte ernsthaft, sie mitsamt der Socken auszuziehen und barfuß weiterzulaufen, scheiß auf die Peinlichkeit!

Endlich wurde es wieder trockener, und ich begann zu wetzen, was das Zeug hielt. Die Viecher waren mittlerweile schon ziemlich nahe. Ich erreichte den Zaun, kletterte hektisch drauf los. Fast war ich schon drüber, als ich abrutschte und am Stacheldraht hängenblieb. Aber ich achtete nicht darauf, wollte nur auf die andere, sichere Seite…

Geschafft! Die Kühe standen hinter dem Zaun und muhten laut, aber sie kamen nicht mehr weiter. Erst jetzt sah ich, was bei meiner verunglückten Kletteraktion passiert war: Der Stacheldraht hatte meinen Handballen sozusagen geteilt. Zwei helle Hautlappen waren entstanden, die sich jetzt dunkelrot einfärbten. Dann schoss das Blut hervor und lief in Bächen die Hand hinab – mir kamen glatt die Tränen, eher vor Schreck als vor Schmerzen. Die anderen standen besorgt um mich herum, die Mädchen verarzteten mich mit Taschentüchern. Ich fühlte mich wie der totale Volltrottel. „Bist du gegen Tetanus geimpft?“, fragte Jürgen. Das war in diesem Moment wirklich das letzte, was mich interessierte.

Endlich hörte das Bluten auf, und wir liefen zwischen den Koppeln weiter. Vom Ferienzentrum sprach niemand mehr. Nach einer Weile passierten wir die Stelle, wo wir vorhin über den Zaun geklettert waren, kurz darauf kamen wir wieder in den Wald. In der Hand spürte ich mittlerweile nur noch ein dumpfes Pochen.

Auf einmal wurde mir die Gegenwart der anderen zu viel. Ich drosselte das Tempo, ließ sie vorausgehen, bis sie schließlich aus meinem Blickfeld verschwanden. Es wurde sehr still, auch der kalte, böige Wind legte sich. Die Bäume zu beiden Seiten, gerade noch von unserem Lärm zurückgedrängt, schienen wieder näher an den Weg heranzurücken.

Mein Blick tastete sich durch das Wirrwarr aus Stämmen, Geäst und Buschwerk. Alles war noch kahl, über einer mit Wasser gefüllten Senke lagen Nebelschwaden. Die wenigen Vogelstimmen, die man hörte, klangen verloren. Nein, hier war nichts zu spüren von Frühling und beginnendem Leben, hier herrschte noch immer Winter. Gerade war ich noch erleichtert gewesen, allein zu sein, aber in dieser trostlosen Atmosphäre fühlte ich mich auf einmal völlig verlassen, von aller Welt abgeschnitten. Ich dachte an die Kumpels in der Nordstadt, das baldige Wiedersehen, aber das half auch nicht.

Zu meiner Linken tauchte jetzt etwas zwischen den Bäumen auf, das gut und gern ein Dach sein konnte. Ein Haus? Gab es dort ein einzelnes Haus mitten im Wald? Aber auf einmal konnte ich es nicht mehr finden. Ich kniff die Augen zusammen, suchte alles ab. Nein, ich musste mich getäuscht haben – da hinten war nur ein dichtes Knäuel unbelaubter Bäume und Sträucher, sonst gar nichts.

Ich ging schneller, wollte die Clique einholen. Da sah ich es wieder auf: ein rotes Ziegeldach. Trotz der Entfernung stand es gestochen scharf vor mir, ich konnte Erker und Kamine ausmachen. Zugleich schien der Anblick unwirklich, wie eine Fata Morgana.

Hinter einer Wegbiegung verschwand das Haus endgültig in den Tiefen des Waldes. Mehrmals schaute ich noch zurück – vergebens. Ich riss mich los und fing an zu laufen. Als ich die anderen wieder einholte, drehten sie sich kaum nach mir um – als hätten sie gar nicht gemerkt, dass ich kurz weg gewesen war.

Wir passierten eine Abzweigung mit einem hölzernen Wegweiser: „Neuschönhagen“. Dort wohnte Klaus. Erst hatte ich gedacht, es sei ein Teil von Schönhagen, aber mittlerweile wusste ich, dass es ein eigenständiger Ort war, mehrere Kilometer entfernt. Hinter dem Wald ging es wieder mit dem Matsch los, der Weg bis zum Dorf zog sich noch ewig. Als wir endlich das gelbe Ortsschild von Schönhagen erreichten, stöhnte ich vor Erleichterung laut auf. Ich schwor mir innerlich, niemals mehr auch bloß in die Nähe dieses dämlichen Bauernhofs zu kommen.

Beim Abschied hörte ich, wie die anderen sich für den Ostersonntag verabredeten. Es klang fast, als würden sie sich bis dahin nicht mehr sehen. Maren und Kristina erklärten mir, dass über Ostern auf Familie gemacht wurde. Verwandte kamen zu Besuch, es gab großes Essen, sonntags ging es sogar zum Gottesdienst. Auch Geschenke gab es, wie zu Weihnachten, immerhin. Der ganze Trubel endete erst am Sonntagabend.

In der Nordstadt hieß Ostern vor allem Ferien und ein paar gute Filme im Fernsehen. Als Kinder hatten Henri und ich noch Nester gesucht, aber aus diesem Alter waren wir lange raus. Reichlich schräg, dass sie hier noch so ein Brimborium um dieses Fest machten.

Zu Hause reinigte ich die blöde Wunde und klebte ein Heftpflaster drauf. Meine arg lädierten Turnschuhe schmiss ich einfach in die Tonne. Hatten ihre besten Tage eh längst gesehen, die ollen Dinger, sie sauberzumachen lohnte nicht mehr.

Mittlerweile war ich heilfroh, endlich hier wegzukommen. Hartmann hatte ganz recht: Ich durfte nicht in diesem Nest versauern. Nur ärgerte ich mich jetzt ziemlich, auf Bernds Angebot eingestiegen zu sein: Er wollte am Donnerstag zum Shopping in die Innenstadt fahren und meinte, ein Abstecher in die Nordstadt wäre überhaupt kein Problem. Schließlich hatte ich mich breitschlagen lassen, bei ihm mitzufahren. Ein bisschen war wohl auch die Gegenwart der Mädchen an meiner Zusage schuld gewesen: So oft hatte ich vor ihnen mit den Nordstadt-Bikern geprahlt, dass ich jetzt ungut kneifen konnte. Mit Bernd also. Schönhagen traf auf Nordstadt. Am liebsten hätte ich diese beiden Welten auf ewig getrennt gehalten, aber der Deal ließ sich jetzt nicht mehr zurückdrehen.

Ach, Schluss mit dem Gejammer! Wenigstens blieb mir so die stundenlange Busfahrt erspart. Und ich würde endlich hier rauskommen, was wollte ich mehr? Würde endlich erfahren, wie es den Leuten in der Nordstadt inzwischen so ging. Ob es bei Tom neue Gesichter gab? Und was mochte wohl aus der Solterbeck-Gang geworden sein?

Stärker denn je spürte ich nun, dass ich in die Nordstadt und sonst nirgends hingehörte. Am besten kam ich gar nicht wieder hierher nach Schönhagen zurück.



***



Die Krad-Tour brachte richtig Spaß. Bernd fuhr einen heißen Reifen, trotzdem hatte er die Sache jederzeit im Griff. Wenn es bloß nicht so eiskalt durch meine Jeans gezogen hätte! Ich verfluchte mich innerlich, keine Lederhose zu besitzen. Außerdem hing mir bei Tempo 100 der Rucksack wie ein Stein auf dem Rücken.

Im Nu legten wir 60 Kilometer lange Strecke zurück. Als wir in die Nordstadt einfuhren, bekam ich Herzklopfen: endlich wieder zu Hause! Man merkte, dass Bernd sich auskannte: Sicher steuerte er durch die Straßen, nie zögerte er. Auch den Weg zum Einkaufszentrum fand er problemlos.

Es war noch ziemlich früh am Tag. Auf dem Parkplatz standen kaum Autos, die Betonfläche vorm Eingangsportal war so gut wie menschenleer. Beim Absteigen spürte ich erst richtig, wie durchgefroren ich war. Bernd verstaute meinen Nierengurt unter der Sitzbank, klemmte den Helm am Gepäckträger fest. Wie mochte es sich für ihn anfühlen, wieder hier zu sein? In seinem Gesicht war keinerlei Regung zu erkennen. Wortlos schwang er sich wieder auf seine Karre, trat den Kickstarter durch. Lautes Röhren, eine blaue Wolke stieg auf. Er fuhr an, schaltete hoch, wurde schneller. Ein letztes Winken, als er abbog, dann verschwand er hinter der Straßenecke.

Einen Moment lang stand ich bloß dort und glotzte, konnte es kaum fassen, dass ich tatsächlich zurück war. Schließlich nahm ich den Rucksack auf die Schultern und ging los. Meine Schritte waren unsicher, alles wirkte fremd auf mich, als wäre ich Ewigkeiten weggewesen. Als ich zur großen Wiese kam, stoppte ich wieder. Auf der anderen Seite der gewaltigen Rasenfläche konnte ich zwei winzige Gestalten ausmachen, die verdammt nach Britta und Gabi aussahen. Sicher waren sie gerade auf dem Weg zu Tom. Dort wollten Hartmann und ich nachher auch hin.

Endlich tauchte Hartmanns Block vor mir auf. Das Klingelbrett war riesig, aber ich hätte den richtigen Knopf im Schlaf gefunden. Als der Summer kam, stemmte ich mich mit aller Kraft gegen die Tür. Sie hakte beim Aufmachen – wenn man zu zimperlich war, musste man noch mal klingeln. Den Fahrstuhl ließ ich links liegen, weil er meistens vollgepisst war. Ich hatte mir angewöhnt, lieber die Treppe zu nehmen. Obwohl Hartmann im siebten Stock wohnte.

Mit jeder zurückgelegten Etage wurde ich aufgeregter. Als ich auf den Laubengang kam, stand Hartmann bereits vor der Tür und wartete. Fast hätte ich gelächelt, aber im letzten Moment riss ich mich zusammen: Das hier war die Nordstadt, nicht irgendein Nest auf den Lande. Hier grinste man sein Gegenüber nicht an wie ein Honigkuchenpferd. Wenn man sich freute, behielt man das schön für sich.

„Hi, Mann“, sagte ich, als wir einander gegenüber standen.

„Hi, alles klar?“, kam es von ihm zurück.



***



Bei Tom herrschte Partystimmung, alle freuten sich einen Wolf über die letzten Neuigkeiten. Zunächst mal hatte Mark Solterbeck den Löffel abgegeben. Der Vollidiot war stockbesoffenen vom Butterdampfer gesprungen, um nach Dänemark zu schwimmen. Prompt hatte ihn die Schiffsschraube erfasst und zu Hackfleisch verarbeitet. Wolfgang, sein Bruder, war wegen Sachbeschädigung und schwerer Körperverletzung eingefahren: Bei einer der diversen Schlägereien im AWO-Jugendheim hatte er dem Betreuer einen Schädelbasis-Bruch verpasst. Kongo saß ebenfalls im Knast. Er war mit einem geklauten Alfa Spider bei Tempo 80 in die Frontscheibe des Penny-Marktes gerauscht – großes Chaos, viele Verletzte. Und während ringsherum Leute in ihrem Blut lagen, hatten angeblich ein paar ganz Dreiste die Gelegenheit genutzt und tonnenweise Sachen aus dem Laden rausgeschleppt.

Die Solterbeck-Clique hatte also ihre gefährlichsten Leute verloren. Der jämmerliche Rest bedeutete keine ernstliche Gefahr mehr, mit denen wurde man locker fertig. Wenn das keine guten Nachrichten waren!

„Ey, Tappert!“, brüllte Köpke quer über die Menge. „Du siehst ja noch immer aus wie Frankenstein!“ Er spielte auf die dicke, nur halb verheilte Narbe an, die eine zerschlagene Flasche in Tapperts Gesicht hinterlassen hatte – ein Andenken der Solterbeck-Leute.

„Und du siehst noch immer aus wie Godzilla!“, rief Tappert zurück. Dabei hatte Köpke gar nichts. Er war einfach nur total hässlich, der Vergleich mit Godzilla traf die Sache verdammt gut. Man fragte sich, wie der Typ jemals eine Freundin finden sollte.

Ich fühlte mich prima, topfit.Bei den Mädels ging ich sofort auf Angriff. Alberte mit ihnen rum, nahm sie auf die Schippe. Und baggerte mit Gabi, was das Zeug hielt. Eigentlich wollte ich nichts von ihr, aber es machte Spaß, sie zu locken. Sobald sie anbiss, würde ich sie eiskalt ins Leere laufen lassen.

In Wirklichkeit war ich auf Britta scharf. Ihr herrlicher Knackarsch – am liebsten hätte ich sofort reingelangt. Aber Hartmann riet mir, besser die Finger von ihr zu lassen. Sie sei Beneckes Freundin, warnte er mich, und der konnte unangenehm werden, besonders wenn er schon einiges intus hatte. Leider war das gerade der Fall. Aber ich wollte mir meinen Spaß nicht verderben lassen, auch nicht von Benecke. Notfalls mussten wir die Sache eben auf der Straße klären.

Als Britta das nächste Mal hüftschwingend an mir vorbeiging, konnte ich mich nicht mehr zurückhalten. Ich fuhr die Hand aus, wollte ihr an die Arschbacke greifen. Leider war ich selbst schon etwas angeschickert und rutschte zu weit nach vorn, in ihren Schritt. Das hatte ich eindeutig nicht gewollt. Aber für Peinlichkeit blieb keine Zeit: Britta drehte sich blitzschnell um und verplättete mir eine, dass ich die Engel singen hörte. Ich rauschte ins Sofa zurück, schmeckte Blut auf der Lippe.

Wir schauten uns an, beide völlig verdattert. Dann mussten wir lachen, immer lauter. Wir bekamen einen regelrechten Lachkoller. Mehr und mehr Leute wurden angesteckt, und schließlich lachte die ganze Hütte. Selbst Benecke, der alles gesehen hatte, wollte sich ausschütten vor Lachen.

Jemand schmiss eine Kiste Holsten Export, und bald machten anstelle der Dosen dickbauchige Bierknollen die Runde. Später kamen auch harte Getränke dazu. Irgendwann waren alle völlig breit, und es wurden die dämlichsten Sauflieder gesungen.

Fast wie im Urlaub, dachte ich. Man kann total die Sau rauslassen, muss keine Hemmungen haben, weil man eh bald wieder abhaut.

Im nächsten Moment zuckte ich innerlich zusammen: Ich war doch nicht auf Urlaub! Das hier war mein Zuhause!



***



Am nächsten Tag hatte ich einen üblen Kater. Sämtliche Glieder taten mir weh, mein Schädel brummte wie ein Langstreckenbomber beim Angriff. Nachmittags saßen wir wieder bei Tom. In der verqualmten Luft wurden meine Kopfschmerzen noch schlimmer. Als ich an einem Bier nippte, das Hartmann mir hinhielt, kotzte ich beinahe los.

Der Trubel, das Gelaber, die allgemeine Wichtigtuerei – was ich gestern noch klasse gefunden hatte, nervte mich heute nur an. Tom war wieder fleißig am Telefonieren, Organisieren, Verticken. Was, wenn die Bullen hier aufkreuzten? Hingen wir dann mit drin? Wie dämlich war es eigentlich, so ein Risiko einzugehen, bloß um dazuzugehören?

Schließlich platzte mir der Kragen. Ich nahm meine Jacke, wollte nur hier raus. Hartmann hatte erst keinen Bock, aber dann konnte ich ihn doch überreden, Toms Bude einer Weile den Rücken zu kehren, mit mir einen Gang durchs Viertel machen.

Auf den Straßen war kaum ein Mensch zu sehen. Kalte Böen fegten zwischen den Häuserschluchten hindurch. Obwohl wir erst frühen Nachmittag hatten, schien es bereits dunkel zu werden. War neulich nicht schon fast Sommer gewesen? Jetzt hatte man das Gefühl, als würde jeden Moment ein Schneesturm losbrechen. Ich schlang mir die Arme um den Bauch, fror wie ein Straßenköter.

Und die seltsame Traurigkeit in der Magengegend war ebenfalls zurück. Ich versuchte mir klarzumachen, dass dies die Nordstadt war, mein angestammtes Revier. Aber es half nicht viel. Die steilen Hauswände mit ihren zahllosen Balkonen, die weiten, eintönigen Rasenflächen, das Netz aus betongrauen Gehwegen – all das erschien mir einfach nur trostlos. Hinzu kam die Erinnerung an den letzten Winter, die bedrohliche Stimmung, die permanente Angst, wenn man draußen unterwegs war… auf einmal merkte ich, dass mir die Zähne klapperten.

„Ist was?“, fragte Hartmann. Rasch nahm ich die Arme vom Körper weg, schwang sie hin und her, als machte ich Lockerungsübungen. „Nö, alles bestens“, versicherte ich. Er musterte mich, verwundert und auch ein bisschen misstrauisch.

Als wir wieder zu Tom kamen, war es noch voller geworden. Die Luft stand, es müffelte nach Zigaretten, Alk, Dope, Schweiß, auch nach Parfüm – sicher von Gabi oder Britta, die eng eingequetscht zwischen anderen Leuten auf den Sofas hockten. Hartmann, Benecke und ein paar weitere fingen an, über eine befreundete Gang zu quatschen, die „Hawks“. Sie würden morgen abend in die Nordstadt kommen, um ein paar alte Rechnungen zu begleichen. Danach sollten noch die letzten Reste der Solterbeck-Bande „aufgemischt“ werden. Alle laberten sich total in Rage. Ich fragte mich, was ihnen wohl wichtiger war: die Schlägerei oder das Besäufnis, das anschließend hier bei Tom abgehen sollte.

Für Hartmann war es ausgemachte Sache, dass ich mitkam. Er wollte mir eine Baseballkeule leihen, die er noch zu Hause rumliegen hatte. Diesmal würde es richtig zur Sache gehen, meinte er, kein Kindergeburtstag wie bei den Solterbeck-Leuten, ohne Waffe bräuchte man da gar nicht aufzulaufen. Seine Zunge war bereits schwer vom Alkohol, sein Blick vernebelt.

Vorsichtig erinnerte ich ihn daran, dass wir morgens seiner Mutter versprochen hatten, pünktlich zum Abendessen zurück zu sein. Sie wollte heute groß aufkochen. „Scheiß drauf!“, rief er, aber schließlich hatte er doch ein Einsehen. Obwohl ihm die Genervtheit deutlich ins Gesicht geschrieben stand.

Kurze Zeit später saßen wir mit dem Rest seiner Familie am Küchentisch. Ich staunte wieder einmal, wie sehr sich hier alles verändert hatte. Aufgeräumt und mit klarem Kopf erzählte Hartmanns Vater Witze, über die man sogar lachen konnte. Frau Hartmann freute sich königlich, dass uns ihr Essen so gut schmeckte. Und Bettina wirkte mittlerweile richtig erwachsen.

Ich fühlte mich einfach nur wohl. So wohl, dass ich nach dem Essen gar nicht mehr rausgehen mochte. Eigentlich hatten wir noch mal bei Tom vorbeischauen wollen, aber ich konnte Hartmann zu einem Fernsehabend überreden. Es gab einen alten Monumentalfilm, einen Jesus-Schinken, passend zum Karfreitag. Selbst als ich vorschlug, den Streifen bei seinen Eltern im Wohnzimmer auf dem großen Apparat zu gucken, willigte er ein.

Der Film ging los. Am oberen und unteren Rand tauchten schwarze Balken auf, der Rest des Bildschirms erstrahlte in Technicolor. Feierliche Orchestermusik setzte ein, klirrte und schepperte im Sound der Fünfziger…

Als ich uns so um die Glotze herumsitzen sah, musste ich an eine längst vergangene Zeit zurückdenken. Damals hatten wir bereits in der Nordstadt gewohnt, aber Henri und ich waren noch ziemlich klein gewesen. An den Samstagabenden hatten wir uns immer gemeinsam vorm Fernseher versammelt, Muttern, Vaddern und wir Kids. Erst gab es Nachrichten, anschließend die große Show oder den Spielfilm. Und während wir alle gebannt auf die flimmernde Mattscheibe starrten, breitete sich allmählich ein Gefühl von Heimeligkeit und Verbundenheit aus, das man bei uns sonst vergeblich suchte. Das Fernsehereignis ließ uns für kurze Zeit tatsächlich zu etwas wie einer Familie werden…

Der Jesus-Film hatte deutliche Überlänge, aber wir schauten ihn dennoch zusammen bis zum Schluss. Niemand ging vorher raus.



***



„Die Hawks sind schon in der Nordstadt!“, brüllte Tom. „Mussten gerade vor den Bullen flüchten. Haben einen Linienbus auseinandergenommen.“

„Geil!“, jubelte Hartmann und rieb sich die Hände, als gäbe es gleich Arbeit.

„Sie kommen erst mal hierher“, verkündete Tom, schob die Antenne ins Telefon und warf das Gerät hinter sich aufs ungemachte Bett., „Lagebesprechung.“

„Kann nicht schaden“, knurrte Benecke. Er riss den Verschluss von einer Halbliterdose Faxe, setzte an und ließ das Bier ohne zu schlucken in sich hineinlaufen. Als nichts mehr kam, drückte er die Dose mit einer knappen Handbewegung zusammen, warf sie weg und griff nach der nächsten Hülse. Zwischendurch gab er einen langen, befreienden Rülpser von sich, bei dem sein T-Shirt hochrutschte. Bauchspeck und ein behaarter Nabel quollen hervor – ekliger ging es eigentlich nicht. Aber Britta setzte sich wie selbstverständlich auf seinen Oberschenkel, ließ sich klaglos von ihm begrapschen.

Verwirrt schaute ich weg, nahm stattdessen die beiden Typen ins Visier, die vorhin reingekommen waren. Zwielichtige Gestalten, mindestens schon zwanzig oder noch älter. Trugen enge Lederjacken und darunter glänzende, weit aufgeknöpfte Hemden, rochen nach Rasierwasser. Sie wollten mit Tom etwas „klären“, wie sie sagten. Hatten es eilig, weil ihr Wagen angeblich im Halteverbot stand.

Verstohlen reichte Tom ihnen in der hinteren Zimmerecke ein in Packpapier gewickeltes Bündel. Er war jetzt nicht mehr der Big Boss, wie noch eine Minute vorher. Auf einmal katzbuckelte er, schleimte sich total ein. Die beiden ließen sich davon allerdings nicht beeindrucken, sie blieben kühl und distanziert. Leute wie Tom waren für sie wahrscheinlich bloß kleine Fische, armselige Amateure. Die Situation mutete ein bisschen unheimlich an, wie im Krimi.

Aber es wurde noch besser: Als nächstes wollten sie wissen, wie man – ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen – nach Schönhagen kam! Tom musste natürlich passen. Niemand in der Nordstadt kannte den Weg nach Schönhagen. Da schaltete ich mich ein: Sie müssten die Autobahn nach Eckhorst nehmen, und dahinter auf die Bundesstraße abfahren. Ich schaffte es, ganz cool zu bleiben, obwohl die beiden mir nicht geheuer waren. Sie fragten, ob ich das Ferienzentrum kennen würde. „Logisch“, antwortete ich prompt, als würde ich dort täglich ein- und ausgehen.

Ringsherum bekam keiner etwas mit von diesem kurzen Zwiegespräch. Alle laberten noch immer großspurig vom Treffen mit den Hawks, der „Lagebesprechung“, die gleich stattfinden sollte. Mir aber wurde in diesem Moment klar, dass ich daran nicht mehr teilnehmen würde.

05. Die Clique

Hastig stopfte ich meine Sachen in den Rucksack. Ich war allein in der Wohnung, Hartmann hatte mir seinen Schlüssel gegeben. Er war lieber bei Tom und den anderen geblieben, um die Ankunft der Hawks auf keinen Fall zu verpassen.

Seine Eltern würden Augen machen, wenn ich plötzlich weg war. Eigentlich hatte ich ja bis Ostermontag bleiben wollen, aber so eine günstige Mitfahrgelegenheit musste man unbedingt ausnutzen. Mit dem Bus dauerte die Fahrt dreimal so lange; ich wäre bekloppt gewesen, das Angebot auszuschlagen.

Sagte ich mir immer wieder, und glaubte es selbst nicht recht. Auf dem Rückweg wurden die Bedenken immer drängender. Weshalb plötzlich diese Eile? Wochenlang hatte ich dem Besuch in der Nordstadt entgegengefiebert, und nun fuhr ich volle zwei Tage früher wieder weg. Haute Knall auf Fall ab, ohne mich bei Hartmanns Eltern zu bedanken, ohne ihnen wenigstens Tschüss zu sagen. Aber vor allem: Was waren das eigentlich für halbseidene Kerle, denen ich mich da anvertrauen wollte? Hatte ich mir das wirklich gut überlegt?

Als ich wieder zu Tom kam, war es zu spät – jetzt mussten die Dinge halt ihren Lauf nehmen. Ich drückte Hartmann den Schlüssel in die Hand, bat ihn, seine Eltern zu grüßen. Er nickte, aber ich wusste schon jetzt, dass er es vergessen würde. Dann folgte ich meinen beiden Chauffeuren und wurde dieses ungute Gefühl einfach nicht los. Diese Vorahnung, etwas zu tun, das schwere Folgen haben würde…

Ihr Wagen, ein schwarzer Golf GTI, stand tatsächlich im Halteverbot. Genauer gesagt parkte er mitten auf dem Fußweg. Der Fahrer öffnete die Tür und ließ mich auf die Rückbank klettern. Dann stieg er selbst ein und zog die Ware von Tom aus der Jackentasche. Als er das Handschuhfach öffnete, um das Päckchen hineinzulegen, sah ich die Knarre. Ziemlich großes Kaliber, keine Spielzeugpistole, wie die von Hartmann und mir. Schnell schloss der Typ das Fach wieder, knallte die Wagentür zu und stellte den Rückspiegel ein. Für einen kurzen Moment musterten mich seine Augen kalt und misstrauisch – als versuchte er abzuschätzen, wie viel ich mitbekommen hatte.

Und auf einmal verstand ich: Das waren Drogenkuriere! Wahrscheinlich brachten sie eine Lieferung ins Ferienzentrum. Auch da draußen war eben keine heile Welt. Ich musste so schnell wie möglich wieder aussteigen!

Zu spät – der Motor jaulte, der Wagen fuhr mit quietschenden Reifen an. In einem Affenzahn jagten wir durch die Nordstadt, es presste mich regelrecht in den Sitz. Schon hatten wir die Autobahn erreicht, rasten die Auffahrt zur Kanalbrücke hoch – es war, als würden wir abheben. Das Wasser des Kanals huschte unter uns hinweg. Als ich zurückblickte, verschwand die Nordstadt gerade hinter der Brücke.

Meine Gedanken überschlugen sich: Was wartete am Ferienzentrum? Trafen die beiden dort irgendwelche anderen Kriminellen, die die Ware entgegennahmen? So viel schien sicher: Die würden mich nicht einfach davonziehen lassen. Ich hatte gesehen, was hier lief, wusste einfach zu viel. Sie würden mich zwingen, mitzumachen, selbst mit Stoff zu dealen oder etwas in der Art. Und falls ich mich weigerte – mit ihrer Wumme ballerten die sicher nicht bloß auf Flaschen und Dosen, wie Hartmann, Piet und ich… verdammt, ich war am Arsch, aber richtig!

Der Beifahrer zündete sich eine Kippe an. Dann drehte er sich nach hinten, hielt mir die Schachtel hin. Ich schüttelte den Kopf, zuckte zurück, als würde ich mich vor den Glimmstängeln ekeln.

Hinter Eckhorst fuhren wir von der Autobahn ab auf die Bundesstraße. Obwohl die Strecke jetzt zweispurig war, ging der Fahrer nicht vom Gas. Wir überholten ganze Kolonnen von Autos, Lastern, Treckern. Die Fahrzeuge schienen fast zu stehen, so schnell schossen wir an ihnen vorbei. Oft konnten wir nur im letzten Augenblick wieder einscheren, wenn uns jemand entgegenkam.

Ich hatte eine neue Idee: War vielleicht jemand hinter uns her? Versuchten wir gerade, einen Verfolger loszuwerden? Womöglich die Bullen? Der Gedanke erschien mir immer einleuchtender. Die beiden wurden sicher längst observiert, genauso Tom und sein verdammter Hehlerladen. Und jetzt saß uns die Zivilfahndung im Nacken! Wenn die uns hochnahmen, hing ich mit drin, ganz klar. Ich hatte bis vorhin bei Tom auf der Bude gehockt, war früher sogar regelmäßig dort ein- und ausgegangen. Alles passte zusammen. Die Bullen würden mir im Leben nicht abkaufen, dass ich bloß ein Mitfahrer war, der mit der ganzen Sache nichts zu tun hatte.

Pures Entsetzen stieg in mir hoch, immer deutlicher glaubte ich meine Situation zu erkennen: Ich saß im Auto von Kriminellen und konnte nicht weg. Und hinter uns waren die Bullen. Wenn sie uns erwischten, ging ich in den Bau. Wenn nicht, war das auch nicht besser: Dann musste ich machen, was die beiden Typen verlangten: Drogen verticken, Brüche machen, Sachen schmuggeln. All das Zeugs, über das man in der Nordstadt permanent reden hörte – und das doch immer weit weg gewesen war.

Wie bitter eigentlich, dass es mich ausgerechnet jetzt traf, da ich nicht mal mehr dort wohnte. Die verdammte Vergangenheit – sie holte einen immer wieder ein. Mensch, wieso hatte ich mich von Hartmann wieder zu Tom mitschleppen lassen? Wozu war ich überhaupt noch in die Nordstadt gefahren? Ich wollte eigentlich nur raus aus der ständigen Bedrohung und Enge, wollte endlich keine Angst mehr haben. Und die Chance war dagewesen. Aber ich hatte sie nicht genutzt, hatte sie im Gegenteil verächtlich von mir gewiesen. Warum nur, warum? Jetzt war mein Leben endgültig kaputt. Ich merkte, dass ich auf einmal einen Kloß im Hals hatte…

Wieder tauchte das Augenpaar im Rückspiegel auf. „Ist dir schlecht?“, fragte der Fahrer. „Wenn du kotzen musst, sag Bescheid. Ich will keine Sauerei im Wagen, kapiert?“Ein Hinweisschild zog an uns vorüber: „Rastplatz 2km“.In meinem Kopf formte sich schemenhaft eine Idee. „Können wir kurz mal halten?“, hörte ich mich fragen.Der Fahrer stöhnte genervt, aber er bremste ab, lenkte den Wagen nach rechts in die Ausfahrt. Abrupt wurde das Motorengeräusch sehr leise.

Der Rastplatz bestand aus zwei langgezogenen Parkstreifen. Wir passierten eine Gruppe Tische und Bänke, dann ein Toilettenhäuschen. Endlich fanden wir Platz zum Halten. Als der Beifahrer ausstieg und den Sitz nach vorn klappte, um mich durchzulassen, konnte ich es im ersten Moment nicht glauben. Dann griff ich hastig nach meinem Rucksack und sprang aus dem Wagen.

„Geh kurz auf Klo“, murmelte ich und hoffte, dass sie sich nicht wunderten, weshalb ich den Rucksack mitnahm.

„Aber zack zack“, rief der Fahrer hinter mir her. „Wir haben‘s eilig.“ Ich winkte, als ob ich verstanden hätte, und marschierte Richtung Toilettenhäuschen. Der Straßenlärm hier draußen klang wie bei einem Formel-1-Rennen. In meinem Kopf herrschte totale Konfusion, aber so viel kapierte ich doch: Das mit der Verfolgung durch die Bullen konnte nicht stimmen. Hätten die beiden dann angehalten, bloß weil ich mal musste? Trotzdem – da waren immer noch dieses Päckchen und die Knarre im Handschuhfach. Ich musste irgendwie aus dieser ganzen Sache rauskommen!

Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren. Möglichst zielstrebig gehen, um die Typen zufriedenzustellen, und trotzdem nicht laufen, sonst schöpften sie Verdacht. Als ich zurückschaute, hatte sich eine Reihe Sträucher zwischen mich und das Auto geschoben. Hieß: Ich war außer Sichtweite! Auf einmal bewegte ich mich wie ferngesteuert. Statt ins Herrenklo ging ich geradeaus weiter, am Toilettenhäuschen vorbei. Dahinter führte ein Trampelpfad ins Gelände. Ohne noch lange zu überlegen, schlug ich mich in die Büsche.

Weg, nur weg von diesem verdammten Rastplatz! Blöderweise war der Boden total aufgeweicht und matschig. Wenn ich zu schnell lief, drohte ich auszurutschen und im Dreck zu landen. Und immer wieder waren große Pfützen im Weg, an denen ich irgendwie vorbei musste. Es war wie in einem Albtraum: Ich wollte fliehen, schnellstmöglich abhauen, kam aber nur wie in Zeitlupe voran. Etwas lähmte meine Kräfte, hielt mich fest. Es gelang mir einfach nicht, das Böse hinter mir abzuschütteln. Und allmählich schwanden mir die Kräfte…

Irgendwann konnte ich keinen Schritt mehr weiterlaufen. Ich stolperte zu einem Baumstumpf, ließ mich vor Erschöpfung fallen. Dann kriegten sie mich eben! Mir war jetzt alles egal. Ich resignierte, ergab mich in mein Schicksal.

So viel war sicher: Wenn sie mich hier draußen aufstöberten, machten sie kurzen Prozess. Wozu sich noch lange mit mir herumärgern? Hier gab es keine Zeugen. Aufmerksam lauschte ich auf knackende Zweige, Stimmen… aber man hörte nur das leise Heulen der Bundesstraße.

Nach und nach legte sich die Panik, auch das Schwindelgefühl hörte langsam auf. Je klarer die Gedanken flossen, desto unwahrscheinlicher erschien mir, dass die beiden Gauner wirklich noch auftauchten. Dass sie ernsthaft durch den Schlamm liefen mit ihren teuren Lederschuhen, bloß wegen mir. Auf einmal kam mir das völlig absurd vor. Die würden sicher demnächst schulterzuckend weiterfahren.

Was sollte ich jetzt machen? Das Beste wäre wohl gewesen, noch ein paar Minuten hier auszuharren, um sicherzugehen, dass sie wirklich weg waren. Dann konnte ich zum Rastplatz zurückgehen und Muttern anrufen, damit sie mich abholte. Aber aus irgendeinem Grund wollte ich das nicht. Auf gar keinen Fall. Alles, bloß das nicht. Und komisch: Es lag nicht an den beiden Halbwelttypen in ihrem schwarzen Golf…

Ich wollte den Weg weiterlaufen, auf dem ich gekommen war. Vielleicht führte er in ein Dorf, und ich konnte von dort mit dem Bus weiterfahren. Oder per Anhalter, obwohl ich das noch nie gemacht hatte. Schlimmstenfalls musste ich am Ende doch zu Hause anrufen und Muttern bitten, mich einzusammeln, wo immer ich dann sein mochte. Aber was machte mich so sicher, dass dieser vergessene Pfad wirklich irgendwo hinführte? Dass er nicht einfach aufhörte, sich im Gestrüpp verlor, mitten in tiefster Wildnis? Ich konnte es nicht sagen, wusste einfach, dass es so war.

Endlich fühlte ich mich ganz wieder hergestellt. Ich stand auf, schulterte den Rucksack und marschierte los. Allmählich verschwand der Straßenlärm; an seine Stelle traten die Geräusche der Natur: das Rauschen des Windes, Vogelgezwitscher, das Klopfen eines Spechtes. Höher und höher wurden die Bäume ringsherum, bis ich durch ausgewachsenen Wald lief. Frieren tat ich überhaupt nicht mehr – die winterlichen Temperaturen der letzten Tage schienen vorbei zu sein. Und der Himmel, obwohl noch immer bedeckt, sah nicht mehr nach Regen aus.

Als mein Trampelpfad schließlich in einen Forstweg mündete, machte mein Herz einen Sprung vor Freude. Wie gut, dass ich auf meine innere Stimme gehört hatte! Sofort war mir klar, dass ich nach links gehen musste. Überhaupt wirkte die Umgebung seltsam vertraut auf mich, dabei war ich bestimmt noch nie hier gewesen. Der Eindruck verstärkte sich noch, als nach einer Weile etwas Blaues zwischen den Bäumen hindurchschimmerte – die See.

Bald führte der Weg aus dem Wald heraus auf freies Feld. Ich musste wieder an die Typen im schwarzen Golf denken. Weshalb hatte Tom ihnen wohl dieses Päckchen gegeben? Und wozu brauchten sie den Ballermann im Handschuhfach? Etwas gruselig war das ja schon gewesen. Ob die beiden sich jetzt ärgerten, dass sie mich einfach hatten gehen lassen? Vielleicht war ihnen in der Zwischenzeit klar geworden, was ich während der Fahrt selbst überlegt hatte: dass ich sie theoretisch jederzeit bei den Bullen verpfeifen konnte…

Das Pochen in den Schläfen kehrte zurück; ich sah wieder dieses Paar Augen im Rückspiegel, musternd, taxierend, hörte das verrückte Lachen des Beifahrers. Waren das nicht zwei Irre gewesen, zwei Besessene? Die schreckten garantiert vor nichts zurück. Das Geheize, dieser eiskalte Blick, das irre Gegröle – die würden keine Ruhe geben, ehe sie mich nicht aufgestöbert hatten! Was, wenn sie längst in der Nähe waren, gleich mit quietschenden Reifen um die Ecke kamen? Hier lief ich wie auf dem Präsentierteller, sie würden mich sofort sehen!

Mir brach endgültig der Schweiß aus, Panik kam hoch, wie vorhin im Wald. Auf einmal hatte ich wieder das Gefühl, gelähmt zu sein, völlig machtlos. Wenn sie tatsächlich gleich auftauchten, war ich sichere Beute, die nur noch eingesammelt werden musste – und am Ende hatten sie mich doch noch erwischt! Ich lauschte angestrengt in die Ferne, versuchte verdächtige Geräusche zu erkennen, wartete förmlich darauf, jeden Augenblick das Motorengeräusch des schwarzen Golfs zu hören, die Reifen auf dem Asphalt, das Knirschen der Steine am Wegrand…

Aber da war nur das Rauschen des Windes und das Knistern des alten, vertrockneten Laubes in den Büschen. Einmal wehte leises Glockengeläut heran, aber es verklang bald wieder.

Weshalb hätten sie auch hier draußen nach mir suchen sollen? Die kannten ja nicht mal die Bundesstraße von Eckhorst nach Schönhagen, auf Feldwegen wie diesen wären sie erst recht verloren gewesen. Und selbst wenn sie plötzlich aufkreuzten: Die Knicks an der Seite waren hochgewachsen und, obwohl noch kahl, so gut wie undurchsichtig. Da wurde man nicht so schnell entdeckt.

Allmählich dämmerte es mir, dass ich aus der Sache raus war; die würden mich im Leben nicht mehr finden. Ich war in Sicherheit – jedenfalls, solange ich nicht in die Nordstadt zurückkehrte. Und kein Mensch zwang mich, jemals dorthin zurückzukehren. Niemand zwang mich noch zu irgendwas. Von nun an konnte ich meinen eigenen Weg gehen.

Ich war endlich frei!

Das Waldgebiet hatte ich inzwischen weit hinter mir gelassen, bis zum Horizont umgaben mich jetzt Felder und Knicks. In den Senken entdeckte ich manchmal kleine Teiche, die das umliegende Grün widerspiegelten. Und zur Rechten tauchte immer wieder die See zwischen den Hügeln auf. Über mir schwirrte eine Handvoll Spatzen unermüdlich herum, am Wegrand hockten zahlreiche Kaninchen. Sobald ich mich näherte, hoppelten sie davon und formierten sich ein Stück weiter vorn neu. Ansonsten war ich allein. Die Natur schien endlos, und doch wies mir der Weg die Richtung, gab mir Halt inmitten der Weite.

Mechanisch setzte ich einen Fuß vor den anderen. Stieg die Hügel hoch und ließ mich, wenn es wieder bergab ging, nach vorn fallen, sodass die Füße automatisch nachzogen, um den Sturz zu verhindern. Es war, als würde ich auf unsichtbaren Schienen gleiten anstatt zu laufen. Längst hatte ich auch jegliches Zeitgefühl verloren. Wie lange mochte ich inzwischen hier draußen unterwegs sein? Zwei Stunden? Vier? Aber anhalten und auf die Uhr schauen wollte ich nicht, das hätte mich aus dem Tritt gebracht. Es war hell, das genügte mir. Und noch immer hatte ich diese innere Gewissheit, auf dem richtigen Weg zu sein.

Nach einer schieren Ewigkeit erreichte ich eine Gruppe alter, windschiefer Häuser an einer verlassenen Straße. Die Gebäude waren kaum höher als ich, so flach duckten sie sich ins Land. Nirgends waren Menschen zu sehen, kein einziges Auto wollte vorbeikommen. Alles wirkte wie vergessen.

Weiter hinten sah ich einen kleinen Teich mit Bäumen, ähnlich wie in Schönhagen an der Grünen Insel. Auch Bänke waren dort – und eine Bushaltestelle! Ich lief hin, überflog den Fahrplan. Die Linie führte tatsächlich nach Schönhagen! Dann die Ernüchterung: Samstags ging der letzte Bus um sechs, und jetzt war es halb acht.

Scheiße!, dachte ich und ließ mich auf eine der Bänke fallen. Alles war so gut gelaufen, und jetzt das. Mein Kopf war auf einmal völlig leer, die Füße taten mir höllisch weh, meine Kehle war wie ausgedörrt. Auch meldete sich jetzt der Magen mit lautem Knurren – meine letzte Mahlzeit lag Stunden zurück. Ich musste dringend etwas einwerfen, sonst klappte ich demnächst zusammen. Zu blöd, dass ich keine Verpflegung mitgenommen hatte. Bei meinem fluchtartigen Aufbruch hatte ich an so was natürlich nicht gedacht.

An einem der Häuser auf der anderen Straßenseite hing eine Langnese-Fahne. Konnte das vielleicht ein Kiosk sein? Mit letzter Kraft schleppte ich mich hin. Aber die Tür neben der Fahne war eine normale Haustür, von einem Kiosk keine Spur. Ich drückte trotzdem den Klingelknopf – wahrscheinlich aus purer Verzweiflung.

Einige Sekunden vergingen, dann hörte man schlurfende Schritte. Die Tür öffnete sich und eine ältere, stämmige Frau im Kittel stand vor mir. Sie zwinkerte kurz hinter ihren dicken Brillengläsern und stieß ein knappes „Moin!“ aus.

„Äh, ich hätte gerne eine Cola“, stotterte ich. „ Und eine Tafel Schogetten. Vollmilch.“ Bestimmt würde es nun eine Standpauke setzen, von wegen Ruhestörung, Betteln und so. Vielleicht ließ sie sogar ihren Köter auf mich los. Nein, nichts von alledem: Sie drehte sich wortlos um und wackelte ins Haus zurück. Ich sah, wie sie den Eisschrank öffnete und eine Literflasche Cola herausfischte. Dann nahm sie eine Tafel Schokolade aus einem Regal und kam mit den Sachen zurück. Mit ihren Wurstfingern machte sie eine Zwei. Ich drückte ihr das Geld in die Hand. „Man dankt“, sagte sie, dann fiel die Haustür wieder ins Schloss.

Verdattert kratzte ich mich am Kopf. Hatte sie mir gerade Zeugs aus ihren Privatvorräten verkauft? Oder war dieses Haustürgeschäft das, was man hier draußen unter „Kiosk“ verstand? Dann spürte ich die kalte Flasche in der Hand, und alles andere war vergessen. Ich stolperte zurück zu meiner Bank. Wie herrlich es zischte beim Öffnen des Drehverschlusses! Welch ein Genuss, die kalte, sprudelnde Flüssigkeit in sich hineinlaufen zu lassen! Dazu die Schokolade – es war das pure Schlaraffenland. Hinterher saß ich mit kugelrundem Bauch dort und war einfach nur glücklich. Ich fühlte mich wie ein König nach dem großen Festmahl.

Blieb nur noch ein Problem: Wie kam ich von hier weg? Das Thema Bus hatte sich ja leider erledigt. Vielleicht trampen? Aber das hatte ich noch nie gemacht, außerdem kam noch immer kein einziges Auto vorbei. Also doch bei Muttern anrufen? Aber das erschien mir wie eine Kapitulation. Ich spürte, dass ich diesen Marsch aus eigener Kraft zu Ende bringen wollte, selbst auf die Gefahr hin, dass es zwischenzeitlich dunkel wurde.

Ich verließ den Ort, blieb aber auf der Straße. Das Land jetzt wurde ziemlich flach, und fortwährend hörte man leises Rauschen, wie bei Wellengang. Näherte ich mich der Küste? Gedankenverloren ließ ich den Blick über die Felder schweifen. Weit voraus, fast am Horizont, leuchtete etwas Helles, das ich erst nicht beachtete. Dann machte es ‚klick’: Das Ferienzentrum! Schneeweiß ragten die Türme aus dem Grün der Felder auf; hinter ihnen sah man das schmale, graublaue Band der See.

Jetzt wurde ich sehr schnell. Wo das Ferienzentrum war, konnte das Dorf nicht mehr weit sein. Und wirklich tauchte es wenig später auf, jenseits einer weitläufigen Niederung, in der ein Bach floss. Die Perspektive war ungewohnt: Die roten Backsteinhäuser und der zwiebelförmige Kirchturm in ihrer Mitte wirkten von hier wie ein kompaktes Nest, das in der Landschaft lag. Und alles schien zum Greifen nahe.

Hinter einer langgezogenen Kurve wurde ein gelbes Ortsschild sichtbar: „Schönhagen“. Der schwarze Schriftzug war deutlich zu erkennen, trotzdem rieb ich mir beim Vorbeigehen immer wieder ungläubig die Augen: Ich war da, hatte es tatsächlich geschafft!



***



Der Ort begann, winzige Häuschen reihten sich eins an das andere. Ich kannte den Weg von einem Spaziergang, den ich mit der Clique gemacht hatte, und wusste deshalb, dass ich in der Nähe des alten Kerns war, dem „Dorf“. Weiter vorn würde der Asphalt in holpriges Kopfsteinpflaster übergehen. Die Dorfstraße machte dort einen Bogen nach links und überquerte den Mühlenbach. Gleich neben der Brücke lag die historische Wassermühle. Dann ging es bergauf, vorbei an der Kirche und dem reetgedeckten Pfarrhaus mit der alten Glaslaterne neben der Eingangstür. Hinter dem Bahnübergang zweigte eine Straße in unsere Siedlung ab, der Eichkamp.

Aber inzwischen wusste ich auch, dass es ein Umweg war, so zu laufen. Wer sich auskannte, nahm von hier die Abkürzung durch die so genannte „Schwedenhaus-Siedlung“.Bald war ich ausschließlich von roten Holzhäusern in schwedischem Baustil umgeben. Sie waren nach dem Krieg eilig hochgezogen worden, um Flüchtlinge aus den Ostgebieten unterzubringen. Aus dem Provisorium war über die Jahre ein Dauerzustand geworden. Inzwischen hatte man sogar die ersten Häuser renoviert.

Die Straße wurde zu einer Allee. Die Kastanien, die auf beiden Seiten wuchsen, blühten bereits. In den Kronen tummelten sich wahre Heerscharen von Vögeln, deren Gezwitscher die abendliche Luft erfüllte. Ohne Probleme fand ich den Trampelpfad, der hinter den Garagen entlanglief und direkt zur Straßenecke mit dem Telefonkasten führte. Man sparte sich dadurch den unnötigen Bogen über Achterkamp und Kleiststraße.

Wieder ein kurzer Moment des Unglaubens, als ich am blauen Schild mit dem Schriftzug „Eichendorffstraße“ vorbeiging. Ich kam zur Hausnummer 12, wo Kristina und Silke wohnten. Vor dem Eingang Nr. 14 war Bernds Karre aufgebockt. Also war er am Donnerstag wohlbehalten nach Schönhagen zurückgekommen. Dann öffnete ich das Gartentor unseres Grundstückes. Ich ging durch den Vorgarten, schloss die Haustür auf.

Im Flur empfing mich der vertraute Geruch nach Essen und Putzmitteln. Die Küche sah aus wie unberührt. Nirgends stand schmutziges Geschirr herum, die Arbeitsflächen waren gewienert, die Herdplatten erstrahlten in frischem Glanz. Und auf dem Küchentisch prunkte ein großer Strauß Blumen. Erstaunt und verwirrt blickte ich mich um. Ich hatte das Gefühl, als würde ich hier alles zum ersten Mal sehen.

Die Wohnzimmertür öffnete sich, Muttern kam heraus. „Schon wieder hier?“ Sie schien verwundert, bohrte aber nicht weiter nach. Ich hatte gesagt, dass ich wahrscheinlich am Montag zurückkommen würde, vielleicht aber auch früher.

„Hast du Hunger?“, fragte sie. „Soll ich irgendwas machen?“

Das hatte sie mir noch nie angeboten. Träumte ich vielleicht? Passierte das alles hier gar nicht wirklich? Es war ähnlich wie an jenem Morgen kurz vor Weihnachten.

Hunger hatte ich keinen, noch immer lag mir die Schokolade wie ein Wackerstein im Magen. Aber ich war durchgefroren und sehnte mich nach etwas heißem zu trinken. Ganz vorsichtig, eher fragend als bittend, brachte ich heraus: „Vielleicht einen Caro-Kaffee?“

„Ja, gut“, sagte sie und legte tatsächlich los. Ich stand bloß da, konnte es nicht glauben.

„Bring schon mal deine Sachen hoch“, meinte sie, während sie herumhantierte.

Mein Zimmer war ausgelüftet, der penetrante Geruch nach kaltem Zigarettenrauch vertrieben. Die Klamotten, die normalerweise überall rumlagen, waren weggeräumt. Ich schmiss den Rucksack aufs Bett und ging wieder nach unten.

In der Küche duftete es mittlerweile nach Kaffee. Auf der Arbeitsfläche unterm Fenster standen zwei Becher, aus denen es dampfte. „Hab' mir auch einen gemacht“, meinte Muttern. „Wie war's in der Nordstadt?“

„Ganz gut.“ Ich trank in kleinen Schlucken, blies zwischendurch immer wieder den Dampf weg, der mir in die Augen stieg. Angenehm warm breitete sich die Flüssigkeit in der Magengegend aus.

Draußen im Vorgarten sah man die ersten Blumen sprießen. Die Wiese auf der anderen Straßenseite war verwaist. An den warmen Tagen hatten dort Scharen von Kindern gespielt. Links an der Ecke waren die Einfamilienhäuser. In einem von ihnen wohnte der dreckige Michael.

Seit meiner Rückkehr hatte ich noch nicht eine Menschenseele auf den Straßen gesehen. Und dennoch wirkte nicht mehr alles tot auf mich, wie noch vor wenigen Tagen, sondern irgendwie… friedvoll. Wie schlafend.



***



Am nächsten Tag wollten Muttern und Henri nach dem Mittagessen eine Radfahrt machen. Es sollte zum Ferienzentrum gehen, dann durch die Salzwiesen weiter zum Strand, schließlich durch den Wald zurück. Sie boten mir an, mitzukommen.

Das Ferienzentrum… was, wenn mir dort die beiden Kerle vom Vortag über den Weg liefen? Aber der Gedanke ließ mich inzwischen kalt. Die konnten mir gar nichts. Warum ich nicht vom Klo zurückgekommen war? Das war ja wohl mein Problem! Hatten sie den Weg nicht auch ohne mich gefunden? Na also!

Dass sie Drogenkuriere gewesen waren, glaubte ich auch nicht mehr. Toms Paket konnte sonst was enthalten haben. Und die Knarre im Handschuhfach war garantiert bloß Aufschneiderei gewesen. Mittlerweile wurmte mich etwas ganz anderes: dass ich solche Panik bekommen hatte. Zum Glück war kein Bekannter in dem Auto gewesen, der mich hätte sehen können. So viel war klar: Niemand durfte jemals von dieser Sache erfahren!

Am Ende ließ ich mich überreden, auf die Radtour mitzukommen. Und stellte unterwegs fest, dass ich die Strecke bereits kannte: Es war dieselbe, die ich mit der Clique gelaufen war, beim Ausflug zum Gutshof. Allerdings war der Matsch auf den Feldwegen mittlerweile abgetrocknet und plattgewalzt, es ließ sich prima darauf fahren. Das Wetter war ähnlich wie gestern: kühl, aber nicht kalt, bedeckter Himmel, aber keine Regengefahr.

Hinter dem Wäldchen, in dem ich mir neulich die Schuhe notdürftig saubergemacht hatte, kam bald der Abzweig zum Gut, dann tauchte am Horizont das Ferienzentrum auf. Selbst per Fahrrad dauerte es noch eine ganze Weile, ehe wir uns den weißen Betontürmen näherten – kein Wunder, dass Bernd neulich die Geduld verloren hatte. Irgendwann erreichten wir eine Siedlung, wie man sie auch in der Nordstadt hätte finden können: Neubaublöcke, alle zwischen fünf und zehn Etagen hoch, gleichmäßig auf einer weiten Grasfläche verteilt. Über den Haustüren hingen große Plastikschilder mit Aufschriften wie „Kombüse“, „Brücke“ oder „Krähennest“. Erst wunderte ich mich, aber irgendwann fiel der Groschen: Man hatte den Häusern Namen verpasst, um sie auseinanderhalten zu können.

„Ist alles schon Ferienzentrum“, erklärte Muttern. Schutzdächer aus Beton verbanden benachbarte Blöcke miteinander. Darunter sah man Strandkörbe, ganze Batterien, die mit Planen abgedeckt waren. Offenbar wurden sie den Winter über hier gebunkert. „Kommen demnächst raus“, wusste Henri zu berichten. „Macht die Freiwillige Feuerwehr.“ Die Feuerwehr? Seit wann war die für Strandkörbe zuständig? Eine weitere Merkwürdigkeit neben den vielen anderen, die mir hier bereits untergekommen waren. Ich stellte mir Jürgen in seiner schnieken Uniform vor, wie er eine Horde Pökse herumkommandierte, die sich mit den Körben abschleppen mussten.

Schließlich kamen wir an einen zentralen Platz. Die vier Türme ragten jetzt unmittelbar vor uns auf. Sie wirkten gigantisch, hatten bestimmt so viele Stockwerke wie die Weißen Riesen. Laut Muttern beherbergten sie eine Kurklinik und ein Hotel. Der Platz war rappelvoll, Trauben von Ausflüglern schoben sich über das rote Klinkerpflaster. Ringsherum gab es Supermärkte, Ramschboutiquen, Fressbuden. Alle Läden hatten geöffnet, trotz des Feiertages.

Wir folgten einfach dem Menschenstrom, der sich auf das Hauptportal zubewegte. Drinnen empfing uns eine Galerie mit weiteren Läden und Cafés, in der Tiefe war eine tropische Gartenlandschaft angelegt. Palmen und andere, fremdartige Gewächse schossen in die Höhe, reichten mit ihren riesigen, knallgrünen Blättern manchmal bis zur Brüstung. Inmitten der Pflanzenpracht glänzten die Wasserspiegel zahlreicher Teiche. Sie waren an ihrem Grund beleuchtet, einige hatten kleine Fontänen.

„Ich spendier ein Stück Ostertorte“, verkündete Muttern großmütig. Henri fand ein freies Tischchen etwas abseits des Trubels für uns. Während er und Muttern die Kuchenkarte durchblätterten, fuhr ich fort,die Leute auf der Galerie zu beobachten. Viele beugten sich übers Geländer, blickten fasziniert auf den künstlichen Dschungel dort unten. Ob die Mädchen aus dem Dorf auch manchmal herkamen? Vielleicht waren sie just in diesem Augenblick auf der Galerie unterwegs, zusammen mit irgendwelchen Verwandten. Kaum hatte ich diesen Gedanken, stieg in mir wieder dieses eigenartige Gefühl hoch, die gespannte Erwartung…

„Suchst du was?“, hörte ich plötzlich Muttern fragen.

„Äh, wieso?“, stammelte ich, leicht verwirrt.

„Du hast gerade so angestrengt geguckt.“

„Quatsch“, murmelte ich ärgerlich und drehte mich rasch woanders hin.

Als der Kuchen verdrückt war, latschten wir zu den Rädern zurück. Auf dem Platz hatte sich mittlerweile eine Blaskapelle aufgebaut und sorgte für Stimmung. Die Leute klatschten begeistert mit, einige Opas bearbeiteten mit ihren Gehstöcken das Pflaster. Fluchtartig suchten wir das Weite.

Ein Wegweiser zeigte uns, wo es zu den Salzwiesen ging, und bald hatten wir den Menschenauflauf hinter uns gelassen. Das flache, von Gräben und Sielen durchzogene Land ließ sich weit überblicken. Außer dem Krächzen einiger Wasservögel war jetzt kein Geräusch mehr zu hören. Am Horizont verlief die grüne Linie des Seedeichs. Eine ganze Weile schien es, als würden wir uns kaum vom Fleck bewegen. Wir fuhren und fuhren, aber der Deich blieb wie eingefroren am Horizont, ließ uns einfach nicht herankommen.

Allerdings täuschte das; nach einiger Zeit standen wir doch vor dem steilen Graswall. Erst aus nächster Nähe konnte man sehen, wie zerzaust und mitgenommen er war; wahrscheinlich hatte er schon unzählige schwere Wetter überstehen müssen. Weiter hinten verlief die Bundesstraße. Die Wiesen zwischen ihr und dem Deich waren durchzogen von Fahrspuren, allerdings parkten nirgends Autos. Ein Café gegenüber der Deichtreppe war geschlossen, im dunklen Innenraum sah man die Stühle auf den Tischen stehen. Auch einen Kiosk gab es, dessen Rollläden aber herabgelassen waren. Alles lag noch im tiefsten Winterschlaf, trotzdem glaubte man bereits die Atmosphäre von Urlaub, Sommerfrische und Menschentrubel zu spüren, die demnächst hier Einzug halten würde.

Wir bräuchten die Räder nicht abzuschließen, meinte Henri, hier würde keiner klauen. Im ersten Moment kam mir diese Behauptung völlig naiv und dämlich vor. Dann fragte ich mich, ob es vielleicht doch stimmte. Jedenfalls ließen er und Muttern ihre Fahrräder einfach stehen und gingen die Treppe hoch. Ich gab mir einen Ruck und folgte ihnen.

Langsam tauchte hinter der Deichkrone die See auf. Der Wind war inzwischen abgeflaut, das Wasser lag fast unbewegt da. Als wir den schmalen Dünengürtel am Deichfuß durchquert hatten und den Strand erreichten, blieb Muttern stehen. Sie wolle einen Moment für sich sein und die Ruhe genießen, meinte sie. Henri und ich gingen runter ans Wasser und spielten unser altes Wettspiel: Steine springen lassen. Wessen Stein machte mehr Hüpfer? Natürlich gewann er, wie immer. Er war bei solchen Sachen einfach der Geschicktere. Bald hatte er keine Lust mehr und ging zurück zu den Dünen. Ich wollte die Schmach nicht auf mir sitzen lassen, suchte konzentriert den Sand nach geeigneten Steinen ab. Ganz flach mussten sie sein und möglichst glatt…

Unterdessen zog von der See her langsam die Dämmerung auf. Alles begann sich tiefblau einzufärben, bald war die Trennlinie zwischen Himmel und Wasserspiegel kaum noch auszumachen. Das Geräusch eines Bootsmotors ertönte, ein gleichförmiges Tuckern, das über die blanke, leere See geisterte. Sicher ein Fischkutter, der gerade hinausfuhr.

Und wieder spürte ich diese gespannte, prickelnde Vorfreude, so stark, dass ich es kaum noch aushielt. Etwas würde passieren, sehr bald. Etwas, das ich mir schon so lange wünschte, das ich geradezu herbeisehnte. Vor meinem inneren Auge begannen sich Bilder zu formen, Szenen, Ankündigungen dessen, was mich erwartete. Aber wenn ich sie fassen wollte, verschwammen sie wieder, zerliefen, und nur rätselhaftes Flimmern blieb zurück…

„Wir wollen los, Hauke!“, hörte ich Muttern rufen. Seufzend drehte ich mich vom Wasser weg und lief hinter den beiden her.

Unsere Räder standen tatsächlich noch wohlbehalten an der Treppe, wie Henri gesagt hatte. Und weiter ging die Fahrt. Landeinwärts war von Dämmerung noch nichts zu erahnen, im Gegenteil: Gerade lösten sich die letzten Wolkenschleier auf, die Sonne kam heraus. Man spürte deutlich die Wärme, die von ihr ausging. Hinter den Salzwiesen fuhren wir nicht wieder Richtung Ferienzentrum, von wo wir gekommen waren, sondern direkt in den Wald hinein. Bald merkte ich, dass es dieselbe Strecke war wie nach dem Besuch auf Gut Neudorf. Allerdings war es da noch winterlich kalt gewesen, während jetzt die Frühlingssonne ihre Strahlen durchs Geäst schickte. Ein zauberhaftes Lichtspiel entstand, ein Funkeln und Flirren wie von tausend Diamanten.

Irgendwo auf dieser Höhe hatte ich neulich das Haus zwischen den Bäumen gesehen. Als ich erneut danach suchte, fiel mir plötzlich der grüne Schleier auf, der sich über die Baumkronen ausgebreitet hatte. Überall sah man ihn, vom Wegrand bis tief hinein in die Waldwildnis. Auch am Boden zeigte sich an vielen Stellen erstes, zaghaftes Grün. War das beim Start heute Mittag auch schon so gewesen? Das Wäldchen vorm Abzweig zum Gut – ich hätte schwören können, dass dort alles noch kahl und tot gewesen war. Hatte die Natur plötzlich zu sprießen angefangen? War das möglich, in so kurzer Zeit? Konnte man den Pflanzen sozusagen beim Wachsen zuschauen?

Der Wegweiser nach Neuschönhagen zog an uns vorüber. Das war schon zu weit, von hier aus ließ sich das geheimnisvolle Haus ganz sicher nicht mehr entdecken. Aber ich nahm mir vor, irgendwann zurückzukommen und von neuem zu suchen.

Dann endete der Wald, wir fuhren in den abendlichen Sonnenschein hinaus. Zurück im Dorf hatten sich die Straßen sehr belebt, vermutlich wegen des guten Wetters. Mittlerweile schien die Luft sogar noch milder geworden zu sein. Wir kamen an der Kirche vorbei, durchquerten den kleinen Brook hinter dem Friedhof. Am Mühlenteich konnten wir nur noch Schritttempo fahren, weil so viele Spaziergänger unterwegs waren. Die schmale Holzbrücke über den Mühlenbach zwang uns endgültig zum Absteigen und Schieben. Ständig wurden wir nun gegrüßt. Muttern grüßte jedes Mal freundlich zurück, Henri und ich glotzten bloß und sagten nichts.

Erst an der Grünen Insel war wieder genug Platz zum Fahren. Vor der Eisdiele hatte sich eine Schlange gebildet. Ein paar der Wartenden kannte ich vom Sehen, aber aus der Clique war niemand dabei…

Je näher wir unserer Siedlung kamen, desto angespannter wurde ich. Etwas zog mich regelrecht vorwärts, das Rätsel schien kurz vor seiner Auflösung zu stehen. Muttern und Henri konnten mir bald kaum noch folgen. Ich erreichte den Achterkamp, bog in die Kleiststraße, schaute sofort zum Telefonkasten… und fand alles vor wie insgeheim erhofft: Silke, Jürgen, Kristina, Bernd und Maren – sie waren komplett versammelt. Wie sie es bei unserem letzten Treffen verabredet hatten.

Eine Art Blitz leuchtete plötzlich in mir auf; einen winzigen Augenblick meinte ich zu erkennen, wie alles zusammenhing: dieser besondere Morgen kurz vor Weihnachten, die erste Begegnung hier in Schönhagen, dann mein gestriger Marsch, schließlich die wirren Bilder eben am Strand, bei denen irgendwie der Schluss fehlte… und jetzt stand dort diese kleine Gruppe.

Ich bremste und machte bei ihnen halt, ließ Muttern und Henri allein zu den Garagen weiterfahren. Vorsichtig grüßte ich in die Runde, brachte sogar ein zaghaftes Lächeln zustande. Als mir klar wurde, dass ich von meinem Fahrradsattel quasi auf sie herunterschaute, stieg ich schnell ab. Sie waren überrascht, hatten erst morgen mit mir gerechnet, aber sie schienen sich doch zu freuen. Bernd patschte mir auf die Schulter, Jürgen drückte mir die Hand. Ich musste erklären, warum ich bereits wieder hier war, und gab meine Story von der günstigen Mitfahrgelegenheit zum Besten.

Bernd berichtete von der Shopping-Tour am letzten Donnerstag, als er mich unterwegs in der Nordstadt abgesetzt hatte. „Die üblichen Ostergeschenke halt“, meinte er. Aber er hatte wohl auch ein paar Scheiben zu richtig guten Preisen erstanden. Dann erzählte Jürgen von einem Umtrunk, den es am Karfreitag auf der Feuerwache gegeben hatte. Am Schluss sei die komplette Mannschaft besoffen gewesen, behauptete er, bei Feueralarm hätte niemand mehr löschen können. Alle lachten.

Wieder fragte ich mich, was ich eigentlich an Jürgen fand. In der Nordstadt wäre er die totale Hassfigur gewesen, man hätte sich dort mit ihm nicht blicken lassen dürfen. Stand auf Uniformen und Dienstgrade, lächelte die ganze Zeit wie ein Verkäufer. Aber ich konnte mir nicht helfen – irgendwas hatte er. Wie er mich beim zweiten Treffen wieder in die Runde geholt hatte – in der Nordstadt wäre das nie und nimmer so gelaufen, dort musste jeder selbst sehen, wie er klarkam. Aber Jürgen achtete darauf, dass keiner zurückblieb, er fühlte sich in gewisser Weise verantwortlich für die Gruppe. Verantwortungsgefühl – in der Nordstadt war das ein Schimpfwort, man dachte dabei an Streber und Schleimer. Wobei ich gerade nicht mehr recht wusste, weshalb eigentlich.

Ob ich während der Kradfahrt sehr gelitten hätte, fragte Kristina besorgt. Dann bedachte sie Bernd, der neben ihr stand, mit einem hämisches Grinsen. Natürlich kapierte ich, worauf sie hinauswollte – Bernds Fahrstil war berüchtigt. Aber aus irgendeinem Grund wollte ich das Spiel nicht mitspielen: „Ja, unter der Kälte“, meinte ich. Froh über diesen Einfall erzählte ich, wie derbe ich in meiner dünnen Jeans auf dem Sozius geschlottert hatte. Daraufhin schimpften wir einmütig über das miese Wetter der letzten Tage. Und freuten uns, dass nun endlich wieder die Sonne schien.

Erst jetzt sah ich, dass Bernd seinen Arm um Kristinas Hüfte gelegt hatte. Nanu, waren die beiden wieder zusammen? Als wollte sie alle Unklarheiten endgültig ausräumen, schmiegte sich Kristina nun an seine Schulter. Guck einer an, dachte ich. Aber es machte mir nichts aus, komischerweise.

Silke war ganz anders als bisher, keine Spur mehr von Hochnäsigkeit oder Heimtücke. Sie verwickelte mich andauernd in Gespräche, fragte Sachen, scherzte mit mir herum. Und merkwürdig: Statt zu Kristina, wie sonst, wurden meine Blicke nun permanent zu ihr gezogen. Die roten Wangen, ihre Sommersprossen, die langen Wimpern – all das hatte auf einmal so gar nichts Künstliches, Puppenhaftes mehr, ganz im Gegenteil: Ich mochte Silke leiden, fand sie richtig hübsch. Dazu kam ihre Figur, die üppigen Formen, der volle Busen, der sich, ob gewollt oder nicht, beim Reden immer wieder leicht an mich drückte. Sie machte mich gerade ziemlich kirre, diese Silke – ich merkte es und ließ es dennoch geschehen, genoss es sogar ein bisschen…

Derweil waren Jürgen und Maren in eine Diskussion vertieft. Es ging darum, ob Frauen bei der Feuerwehr und in der Armee die Chance haben sollten, rangmäßig aufzusteigen und möglicherweise sogar Männer zu kommandieren. Für Jürgen war so etwas völlig ausgeschlossen, Maren sah das anders. Das Thema schien ihr wichtig zu sein, sie wirkte ziemlich aufgewühlt. Trotzdem versuchte sie fair zu bleiben, ließ Jürgen immer ausreden, fragte sogar nach, als ihr einmal etwas unklar war. Sie wirkte neugierig auf seine Argumente und ging, obwohl komplett anderer Meinung, immer darauf ein.

Was für eine komische Art, sich zu streiten! Diskutieren – das war doch fast wie Prügeln, bloß mit Worten. Aufs Gewinnen kam es an, dafür waren alle Mittel recht. Umgekehrt musste man mit sämtlichen Gemeinheiten rechnen, durfte den Gegner nicht so naiv und gutherzig anglotzen, wie Maren es die ganze Zeit machte. In der Nordstadt hätte man sie einfach plattgelabert, gnadenlos niedergemacht.

Oder nicht? Irgendetwas Überlegenes, Souveränes war an ihr. Sie ließ sich partout nicht beirren, nicht von ihren Gedanken abbringen. Und obwohl sie nie laut wurde, schaffte sie es, ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Vielleicht lag es an diesem Blick: angstfrei, klar – jedes rechthaberische Gelaber musste daran abperlen. Am KBZ hatten einige Mädchen beim Streiten auch so geguckt. Manchmal war ein Hauch von Verachtung dabei gewesen, nach dem Motto: Dein großkotziges Getue kannst du dir sparen, das zieht bei mir nicht. Und tatsächlich hatten sie sich nie einschüchtern lassen, mochten sie auch körperlich unterlegen gewesen sein.

Für Hartmann und mich waren solche Mädchen immer eingebildete Schnallen gewesen. Tussis, die sich bloß wichtig machten, die glaubten, sie wären was Besseres. Aber so kam es mir auf einmal nicht mehr vor. Jetzt wirkte eher wie… eine Art innerer Gewissheit, die klügeren Argumente zu haben. Ja, das war es: Maren wusste, dass ihre Sichtweise schlauer war, zu Ende gedacht. Frauen mochten ja häufig nicht athletisch genug sein, um bestimmte Jobs bei der Freiwilligen Feuerwehr zu erledigen. Aber immer stimmte das halt nicht. Auch mir wären einige Mädels mit ausreichend Knööf eingefallen, um eine Feuerspritze zu halten. Man merkte, dass Jürgen vor allem nichts verändern wollte, die jetzige Ordnung mit Klauen und Zähnen verteidigte.

Wie cool Maren das alles durchblickte – es war imponierend, fast ein bisschen respekteinflößend. Und das ausgerechnet bei Maren! Maren, die ich nie für voll genommen, immer für das dämliche Provinzmädel schlechthin gehalten hatte. Auf einmal kam sie mir völlig verwandelt vor. Sie und überhaupt alles hier. Schon verrückt…

Abrupte Aufbruchstimmung riss mich aus meinen Gedanken. Die Mädchen mussten los. Ein großes Durcheinanderreden und Verabschieden begann – kurz darauf waren sie weg. Bernd, Jürgen und ich standen zunächst etwas ratlos herum. Unsere Stimmung war jetzt deutlich gedämpft. Ich rechnete damit, dass die zwei ebenfalls demnächst abhauen würden.

Aber irgendwie schaffte ich es, sie zum Bleiben zu Bewegen. Das Gespräch kam wieder in Gang, wir quatschten und laberten noch endlos, wurden es einfach nicht müde. Ich war den beiden regelrecht dankbar, dass sie nicht gingen, sondern mit mir zusammen hier ausharrten. So blieb ein Stück der guten Stimmung erhalten, die vorhin mit den Mädchen geherrscht hatte. Am liebsten hätte ich das Ende des Abends noch ewig hinausgezögert.

Schließlich mussten wir doch kapitulieren vor Dunkelheit und Kälte. Ich holte von drinnen den Garagenschlüssel. Als ich mein Rad untergestellt hatte und zurückging, war ich definitiv der Letzte auf der Straße. Im Haus Nr. 12 war das Küchenfenster erleuchtet, aber ich sah weder Silke noch Kristina. Da war nur die Mutter, Frau Rönnfeld, die Geschirr in den Schrank räumte. Nebenan, bei den Stützers, war bereits alles dunkel.

Noch sehr lange saß ich in meinem Zimmer und ließ die Bilder des Abends an mir vorüberziehen. Die Leute, wie sie am Telefonkasten zusammenstanden, ihre nette Begrüßung. Bernd und Kristina, Arm in Arm. Silkes unerwartete Herzlichkeit. Marens offener, selbstbewusster Blick während ihres kleinen Streits mit Jürgen.

Dann fiel mir ein, dass ich gar nicht bei Hartmann angerufen hatte, anders als versprochen. Mittlerweile hatte ich doch ein schlechtes Gewissen, so Hals über Kopf aus der Nordstadt getürmt zu sein. Hatte ich Tom und die anderen nicht sitzen gelassen, als es losgehen sollte mit der Schlägerei? Waren sie jetzt sauer auf mich? Ich musste das klären, und zwar so schnell wie möglich!

Und doch hatte ich nicht den geringsten Bock, mit Hartmann über die Hawks zu quatschen. Dieses ständige Gerede über Kloppereien und Saufgelage – ich wollte es einfach nicht mehr hören.



***



 

Ich schreckte hoch – ringsherum war es stockfinster. Nur sehr langsam begriff ich, dass ich nicht abgestürzt, nicht in bodenlose Tiefen gefallen war, sondern schlicht in meinem Bett lag. Ich hatte einen üblen Albtraum gehabt.

Dann fiel es mir siedend heiß ein: Der erste Schultag in Eckhorst stand bevor! Bis zum Weckerklingeln war es nicht mehr lang. Nervös drehte ich mich auf die andere Seite, um noch ein bisschen Schlaf zu kriegen, nachher nicht völlig erschlagen zu sein.

Von draußen hörte man gleichmäßiges Rauschen – anscheinend regnete es wieder. Schade, gestern hatte es noch nach gutem Wetter ausgesehen. So konnte man sich täuschen… langsam kehrte der Schlaf zurück, und mit ihm der Malstrom aus Phantasien, Gedanken, wirren Traumbildern, Erinnerungen. Eine wurde abgesondert und nach oben gespült, eine sehr alte…

Ausgerechnet! Schlagartig war ich wieder wach. Diese dämliche, uralte Geschichte – weshalb musste ich gerade jetzt daran denken?

Meine Treffen mit Hartmann, unser Herumziehen in der Nordstadt – das war immer bloß eine Seite von mir gewesen, die, die jeder kannte. Daneben hatte es eine zweite, unsichtbare gegeben. Ich nannte sie insgeheim immer meine „Traumwelt“. Begonnen hatte es in der Grundschule, als ich nachmittags manchmal, statt mit Hartmann loszuziehen, einfach zu Hause geblieben war. Muttern arbeitete, Henri machte das Viertel unsicher, die Wohnung war leer und still. Ich wusste nicht genau, was mit mir los war. Irgendwie fühlte ich mich – schwach, hilflos, wollte mich verstecken, verkriechen, am liebsten unsichtbar werden.

Der Fernseher war mein einziger Freund, das Fenster in eine andere Welt. Eine, die schöner war als die wirkliche. Bunter, geheimnisvoller, tiefer. Zeichentrickfiguren flitzten dort herum und stellten verrückte Sachen an. Marionetten, an schimmernden Fäden hängend, staksten durch Kulissen aus Papier. Ältliche Frauen priesen Waschpulver und Reinigungsmittel an. Ein Sprecher mit dicker Brille und Schnauzbart verlas ernsten Blickes Nachrichten, hinter sich Landkarten und Fotos von Politikern. Am liebsten mochte ich die Spielfilme: monumentale Kulissen, bombastische Musik, Dramatik…

Dann entdeckte ich das Lesen, erst Comics, später auch Heftromane. Hartmann versorgte mich zuverlässig mit neuem Material. Er klaute in den Supermärkten wahllos alles zusammen, was nicht niet- und nagelfest war, und lud es, wenn er damit durch war, bei mir ab.

Im Gegensatz zu ihm und allen anderen, die ich kannte, hakte ich das Gelesene und Gesehene hinterher nicht einfach ab. Die Filme und Geschichten entwickelten bei mir eine Art Eigenleben, ich fing an, sie im Geiste nachzuspielen und auszufeilen. Der Held und ich verschmolzen, wurden eins. Plötzlich war ich es, der den mysteriösen Fall aufzuklären hatte, dem Bösewicht das Handwerk legen musste. Nur auf mich kam es an, wenn ich versagte, war die Menschheit verloren. Natürlich passierte das nie, ich lieferte stets.

Als ich anfing, mich für Mädchen zu interessieren, veränderte sich der Charakter meiner Tagträume: Neben Gangsterbossen und Weltverschwörern gab es jetzt auch immer einen Konkurrenten, einen Rivalen. Wem würde die Angebetete ihr Herz schenken? Ihm, dem Blender und Aufschneider, der in Wahrheit ein feiger Egoist war? Oder mir, dem unauffälligen, bescheidenen Jungen, der mindestens einmal pro Woche die Welt rettete? Selbstredend, dass sie sich am Ende für den Richtigen entschied.

Meine Heldinnen hatten immer eine Entsprechung im wirklichen Leben – der Pausenhof des KBZ war hier eine unerschöpfliche Quelle. Ich pickte mir aus der Masse der Mädchen eine geeignete heraus und verpasste ihr eine zweite Biografie. Natürlich bekam die Auserwählte nie etwas davon mit. Sie hatte nicht die geringste Ahnung von den tollen und gefährlichen Abenteuern, die sie an meiner Seite bestehen musste. Meistens wusste sie nicht einmal, dass es mich gab.

Echte, lebendige Mädchen waren für mich Wesen von einem anderen Stern. Ich verstand sie nicht, sie sprachen eine Sprache, die mir vollkommen fremd war. Aber das war mir gleichgültig. Hauptsache ich konnte sie anschauen und bewundern. Und wenn ich eine besonders schön fand, formte ich mir aus ihr einfach eine Figur, die so war, wie ich es mir wünschte. Die keine Fragen stellte und vor allem: die nichts von mir verlangte, das ich sowieso nicht erfüllen konnte.

Wie vollkommen anders die Realität aussah, als es tatsächlich mit den Mädchen losging! Nun war endgültig Schluss mit meiner „Traumwelt“. Sehnsucht, Gefühle, Romantik – den Weibern im Bunker hätte man mit so was nicht kommen dürfen, die hätten einen lebendig gegrillt. Das Wichtigste bei denen war, sich nicht auf der Nase rumtanzen zu lassen, die Oberhand zu behalten. Wenn man das akzeptiert hatte, konnte man seinen Spaß haben. Der Kitzel, den das Knutschen und Fummeln auslöste, war überhaupt nur so zu genießen.

Aber stimmte das wirklich? Gab es nicht doch noch etwas anderes? Eine Verbindung zwischen dem Schönen und Romantischen, das ich mir in meinen Phantasien so oft ausgemalt hatte und diesen spielerischen Kämpfen im Bunker? Irgendwie ahnte ich, dass es so sein musste.

Oder wünschte ich mir das bloß?



***



Die Alte Mühle war zweigeteilt. Im Erdgeschoss des historischen Gebäudes hatte man das Schönhagener Heimatmuseum untergebracht. Das hölzerne Mühlrad, das ich nun schon so oft gesehen hatte, gehörte zur Freiluftausstellung. Unterm Dach, im ehemaligen Kornspeicher, befand sich der Jugendtreff. Sessel und Sofas standen herum, es gab einen Kicker, eine Dartecke und ein DJ-Pult. Über uns wölbte sich ein imposanter Dachstuhl, der von wuchtigen, frei im Raum stehenden Holzpfeilern getragen wurde. Es waren bereits eine Menge Leute hier, trotz der frühen Nachmittagsstunde. Viele Gesichter kannte ich bereits, von Spaziergängen mit der Clique in den Ferien, unseren Treffen an der Eisdiele. Schon komisch, wie schnell das gegangen war.

Hinterm Tresen wusch der Lange Udo Gläser ab. „Alt-Revoluzzer“ hatten wir Typen wie ihn am KBZ immer genannt. Langes, von grauen Strähnen durchsetztes Haar, verwarzte Jeans-Klamotten, in der Brusttasche immer ein zerknülltes Päckchen Gauloises oder Gitanes ohne Filter. Neulich auf Mutterns Einweihungsparty bei uns zu Hause hatte ich lange mit ihm gequatscht. Seine Sprücheklopferei nervte auf Dauer zwar etwas, aber es imponierte mir, wie er auf die Menschen zuging. Ob arm oder reich, klug oder dumm – er interessierte sich für sie, ließ sie von ihren Problemen erzählen, hörte zu. Dass er hier in der Alten Mühle als ehrenamtlicher Helfer arbeitete, passte ins Bild. Dabei kam er aus einer völlig anderen Welt: Er war Ingenieur, irgendwas mit Elektronik.

Mein erster Schultag lag hinter mir. Im strömenden Regen war ich heute morgen mit Muttern nach Eckhorst gefahren. Sie hatte mich am Wilhelm-Gymnasium abgesetzt und war Richtung Nordstadt weitergebraust, zur Arbeit. Problemlos hatte ich den Weg zu meinem Klassenzimmer wiedergefunden, trotz meiner Nervosität. Als ich hineinging, nahm kaum jemand Notiz von mir. Nur einige Mädchen kicherten leise und drehten sich schnell wieder weg. Die Jungen tauschten gerade eifrig Fußball-Sammelbilder oder so.Ich stand ratlos neben der Tür und überlegte einen Moment ernsthaft, wieder abzuhauen. Dann riss ich mich zusammen und steuerte den nächstbesten leeren Platz an. „Ist hier noch frei?“, fragte ich den Typen nebenan, einen Hänfling, der nicht älter als zehn aussah. Er nickte eilig, zog sogar den Stuhl unterm Tisch hervor.

„Ronald“, stellte er sich vor, kaum dass ich mich gesetzt hatte. Dann legte er los, erzählte mir alles haarklein: Welche Lehrer wir hatten, wie lang die Pausen waren, wie es mit dem Sportunterricht lief und so weiter. Er war kaum zu bremsen in seinem Redefluss, schien superglücklich, endlich mal jemandem was erklären zu dürfen. Normalerweise hätte ich einen wie den mit dem Arsch nicht angeguckt, aber jetzt blieb mir keine andere Wahl. Außerdem war ich froh, den ersten Schritt getan zu haben. Erst als ich wissen wollte, wo die Raucherecke war, verschlug es diesem Ronald die Sprache. Er starrte mich bloß mit entsetzter Miene an, bekam keinen Ton mehr raus. Ich wechselte lieber schnell das Thema.

Etwas Komisches passierte mir dann noch in der Erdkunde-Stunde: Frau Geuke, die Lehrerin, wollte uns auf der Wandkarte zeigen, wo Kiruna liegt. Leider war der Zeigestock unauffindbar.

„Na, ein Lineal tut's auch“, meinte sie. „Hat jemand eins dabei?“

Suchend blickte sie sich in der Klasse um, aber niemand meldete sich.

Mein Blick wanderte unauffällig runter zur fabrikneuen Schultasche, die eine perfekte Ausstattung enthielt: Geodreieck, Zirkel, Normalparabel und natürlich das übliche Lineal von 30 cm Länge – alles war dabei. Aber ich wollte nicht sofort als Streber und Schleimer dastehen, deshalb hielt ich schön den Mund.

Gleichzeitig tat mir diese Frau Geuke leid. Sie war eine ältere, etwas peinliche Tante mit einem verschnörkelten Monstrum von Brille, aber man musste zugeben, dass sie sich da vorn ziemliche Mühe gab. Schließlich hatte ich ein Einsehen und zog das Lineal aus der Tasche. Seit dem Kauf hatte ich es nicht mehr angerührt, deshalb sah ich erst jetzt, dass noch das Preisschild dran klebte – in Signalfarbe, irgendein Sonderangebot. Gelächter machte sich breit, aber Frau Geuke war begeistert: Wie gut der Neue sich einführte! Und dann diese Ausstattung – sogar noch mit Preisen! Das Bekloppteste aber war, dass ich mich über ihr Lob freute. Wie ein kleiner Junge, der am Kopf getätschelt wird.

Endlich hatte ich es geschafft und durfte zurückfahren. Der Bus war zuerst proppenvoll, aber nach und nach stiegen alle aus. Schließlich blieben außer mir nur noch ein paar Rentner übrig – ich war wohl tatsächlich der einzige Schönhagener, der nach Eckhorst zur Schule fuhr. Noch immer kübelte es wie aus Eimern.

Im Dorf traf ich Bernd, Jürgen und Micha. Sie waren auf dem Weg zur Alten Mühle und wollten, dass ich mitkam. Ich überlegte: Hausaufgaben hatten uns die Pauker noch nicht aufgebrummt – am ersten Tag wär das auch noch schöner gewesen. Essen wiederum würde es erst abends geben, wenn Muttern von der Arbeit kam. Massig Zeit also. Falls es in diesem Jugendtreff tatsächlich Randale gab, womit man rechnen musste, konnte ich mich ja verdünnisieren.

Zu Hause schleuderte ich meine Tasche aufs Bett, mampfte in der Küche eine Stulle und latschte wieder los. Und nun saß ich also hier, unter dem riesigen Dach des alten Kornspeichers, auf einem gammeligen Cord-Sofa, das genauso gut im Bunker oder in unserer ehemaligen Sitzecke hinter der Bahnschiene hätte stehen können.

Lautes Gepolter vom Kicker – dort ging es hoch her. Irgendwelche Könner waren am Werk, eine Traube von Zuschauern hatte sich gebildet. Immer wieder brach Applaus los, es gab Buhrufe, Diskussionen. Einmal musste ein Streit zwischen den Spielern geschlichtet werden.

Währenddessen waren Bernd und ein paar andere eifrig am Darten. Ich überlegte gerade, ob ich zu ihnen gehen und eine Runde mitspielen sollte, da kamen ein paar Typen in Lederjacken und Jeanskutten herein. Als sie an meinem Sofa vorbeigingen, sah ich hinten auf ihren Jacken die Embleme. Also doch! Ich hatte es ja geahnt: Wo ein Treffpunkt war, konnten solche Schläger nicht weit sein. Aufs Dart-Spielen verzichtete ich jetzt lieber, dort hinten war man viel zu weit vom Ausgang weg. Wenn es losging mit dem Halligalli, hatte man hier auf dem Sofa deutlich bessere Karten. Schnell prüfte ich, ob der Weg zum Ausgang mit Möbeln verstellt war. Nein, alles frei.

Die Schläger kamen jetzt am Tresen an, machten sich dort breit. Der Lange Udo begann auf sie einzureden. Schätzungsweise verklickerte er ihnen gerade, dass es hier keinen Alk gab, nur Softdrinks und Wasser. Er hätte besser irgendwo Bier und Korn auftreiben sollen, und zwar so schnell wie möglich. Kein Alk – so was war für die der ideale Grund, um Streit anzufangen.

Komischerweise schien außer mir kein Mensch die drohende Gefahr zu bemerken. Der Saal wurde voller und voller, aber niemand roch Lunte. Typisch Landeier, dachte ich. Mittlerweile hatte Udo Verstärkung am Tresen bekommen, von Doris. Auch sie arbeitete hier ehrenamtlich. Als ich sah, wie sie den Kuttenträgern zulächelte, bekam ich fast Mitleid: Wollte sie die Typen auf diese Weise milde stimmen? Das brachte doch eh nichts!

„Ich übernehm dann mal“, hörte ich sie sagen.

„Alles klar.“ Udo legte das Handtuch weg und kam hinterm Tresen hervor. Im ersten Moment dachte ich, das wäre Taktik: Doris blieb hier vorn, um die Randalierer in Sicherheit zu wiegen, während er hinten vom Büro aus die Bullen rief. Pustekuchen: Er schlug die Gegenrichtung ein, kam völlig entspannt zu uns gelatscht. Dieses gutmütige Schaf kapierte anscheinend noch immer nicht, was abging – völlig arglos überließ er Doris am Tresen ihrem Schicksal!

„Na Hauke, auch mal hier?“, grüßte er mich, bestens gelaunt. Er fragte nach Muttern, wollte wissen, wie der erste Schultag gewesen war. Dann fing er an, mir groß und breit zu erklären, wie es in der Alten Mühle lief. Dass es außer der „Kneipe“, wie sie den großen Saal hier nannten, noch diverse andere Räume für Aktivitäten gab, jeder mal Tresendienst schieben musste und so weiter. Richtig zuhören konnte ich nicht. Immer wieder musste ich nach vorn linsen, wo Doris mit den Schlägertypen allein dastand. Ich war anscheinend der Einzige, der hier den Durchblick hatte.

Jetzt erzählte Udo irgendwas von einer Tombola. Ob ich schon davon gehört hätte? Nervös schüttelte ich den Kopf, immer darauf bedacht, den Überblick zu behalten, bereit zu sein, wenn der Tumult losbrach.

„Jedes Jahr versuchen wir von den Unternehmen hier in der Region Sachen zu organisieren“, erklärte Udo. „Und Anfang Juli, beim Sommerfest am Ferienzentrum, steigt sie dann: unsere große Ramba-Zamba-Tombola! Die Kohle, die wir damit verdienen, stecken wir in die Alte Mühle. Neue Möbel, Platten und so weiter. Na, und soeben haben wir beschlossen, dass du mitmachst bei der Aktion 'Drohne sammelt Nektar'. Kein angenehmer Job, zugegeben, aber die Alte Mühle kann's brauchen. Wie sieht's aus? Bist du dabei?“

Viele Umstände machte der ja nicht gerade! Das fehlte mir noch, dass ich mithelfen sollte, Geschenke zusammenzubetteln. Aber der Laden hier würde sowieso gleich Kleinholz sein. Schade eigentlich, dass Udo die traurige Wahrheit nicht raffen wollte.

„Lass es dir durch den Kopf gehen“, meinte er und latschte wieder nach vorn zu Doris.

Werd' ich bestimmt nicht machen, dachte ich.

Noch mehr Kutten-Typen kamen herein. Am Tresen war jetzt alles voller Embleme. Also deshalb hatten sie nicht längst losgelegt: Sie waren noch nicht vollzählig gewesen. Viele der Schläger trugen Motorrad-Kluft, hielten Helme unterm Arm. Klar, sobald sie hier alles zerlegt hatten, würden sie sich auf ihre Feuerstühle schwingen und abdampfen. Die Bullen konnten dann bloß noch die Verletzten zählen. Das übliche Spiel. Wieder schielte ich zum Ausgang rüber, zog vorsichtshalber schon mal die Jacke an.

Bernd kam vom Darten zurück und steuerte den Tresen an, wollte sich ernsthaft was zu trinken kaufen. Kapierte dieser Trottel denn nicht, was uns demnächst blühte? Jeden Augenblick brach hier die Hölle los!

Ich hielt es endgültig nicht mehr aus, sprang hoch, checkte den Weg; gleichzeitig sah ich aus den Augenwinkeln, wie Bernd eine ausholende Bewegung machte, als wolle er einem der Kerle eine verplätten… aber statt in der Fresse landete die Hand auf der Schulter seines Gegenübers. Bernd knuffte ihn nur leicht, und der Typ patschte zu meinem allergrößten Erstaunen zurück! Am Ende fielen die beiden sich unter lautstarkem „Hallo“ in die Arme. Der Rest der Truppe stand tatenlos da. Niemand schlug zu.

Sehr, sehr langsam kapierte ich, dass Bernd und der Kerl sich einfach bloß begrüßt hatten. Die vermeintlichen Radau-Brüder waren Biker, nichts anderes! Sie wollten hier wahrscheinlich bloß das Ende des Regens abwarten. Plötzlich erschien mir ihr Verhalten in einem völlig anderen Licht: Statt gegenseitigem Hochschaukeln und Triezen sah ich jetzt übermütiges Herumalbern, was gerade noch wie der Beginn eines Streits gewirkt hatte, war auf einmal kumpelhaftes Geplänkel. Da drüben gab es nichts als Ausgelassenheit und gute Laune. Und niemand trank Alkohol. Ein Typ hielt eine Colaflasche in der Hand, ein anderer nuckelte an seiner Capri-Sonne.

Auf einmal fühlte ich mich völlig kraftlos. Was für ein Idiot war ich eigentlich? Welche Gespenster hatte ich da schon wieder gesehen? So langsam drehte ich wohl komplett durch. Ich war froh über die schummrige Beleuchtung, die mein belämmertes Gesicht verbarg.

Trotzdem – ein letztes Misstrauen blieb. Ich konnte mir definitiv nicht vorstellen, dass in einem öffentlichen Treff und bei so vielen Leuten alles friedlich ablief. Irgendwas musste da noch kommen, das ging gar nicht anders, das war einfach der normale Lauf der Dinge…

Mittlerweile waren auch Alex und Micha da. Die beiden hatten sich hinter dem DJ-Pult postiert und sorgten für Stimmung. Ihre Köpfe nickten im Takt, ab und zu hielten sie sich den Kopfhörer ans Ohr. Es sah richtig professionell aus, was sie da trieben, und es hörte sich auch so an. Das Auflegen von Musik beherrschten sie um Längen besser als das Selbstmachen.

„Wo habt ihr eure Mädels gelassen?“, rief Udo vom Tresen zu uns herüber. „Sind die noch beim Training?“ Die Mädchen spielten Volleyball im örtlichen Verein, dem TSV Schönhagen. Sie waren gerade Tabellenletzte und mussten ordentlich rackern.

„Jepp!“, brüllte Bernd über den Lärm zurück. „Kommen aber gleich!“

Ein Schauer zog bei diesen Worten über mich hinweg und hinterließ angenehmes Prickeln. Auf einmal war diese gespannte Erwartung wieder da, als würde demnächst etwas Besonderes passieren, etwas, das alles änderte…

Kurz darauf erkannte ich im Halbdunkel zwei Gestalten, die sich ihren Weg durch die Menge bahnten: Kristina und Maren. Sie stoppten am Tresen, um Doris und Udo zu begrüßen, dann schlängelten sie sich weiter zwischen sitzenden und stehenden Leibern hindurch in unsere Richtung. Komisch, weshalb war Silke nicht bei ihnen?

„Na, fertig?“, fragte Bernd, als die beiden bei uns angekommen waren.

„Kann man wohl sagen“, stöhnte Kristina mit Leidensmiene. „War voll anstrengend – Konditionstraining! Unser Trainer meinte, wir müssten endlich mal wieder gewinnen.“

Bernd zog sie zu sich aufs Sofa, nahm sie in den Arm. Mittlerweile wusste ich, dass er vor einem Monat Schluss mit ihr gemacht hatte, wegen ihrer ständigen Fremdgeherei. Kürzlich hatte er sich eines Besseren besonnen, seitdem waren die beiden wieder fest zusammen.

„Silke hatte Streit mit Mama“, meinte Kristina zu Jürgen, „sie darf nicht mehr raus.“ Jürgen verdrehte die Augen. Offenbar kannte er das schon.

Ich zwang mich, mal hierhin, mal dorthin zu schauen, desinteressiert zu wirken. Und doch wurde mein Blick immer wieder magisch von den Mädchen angezogen. Als ich mich dagegen wehrte, wanderten meine Augen nur umso hektischer hin und her. Bei einem Irren konnte es nicht viel anders aussehen.

„Der Regen hat aufgehört“, sagte Maren. „Wollen wir nicht rausgehen, zur Eisdiele zum Beispiel?“ Sie sprach sehr ruhig, fast leise, trotzdem schien ihre Stimme den Lärm im Saal mühelos zu übertönen.

Alle waren einverstanden. Bernd verabschiedete sich von seinen Kumpels am Tresen, dann gingen wir los. Draußen war es erstaunlich warm, fast schwül, wie im Sommer. Eine Brise war aufgekommen und hatte die Straßen trockengepustet, aber noch immer zogen dunkle, schwere Regenwolken über den Himmel. Ich bummelte, irgendetwas in mir hatte es auf einmal nicht eilig. Unter den Bäumen auf der Grünen Insel machte ich halt. Wie grün und voll die Baumkronen geworden waren – die Natur schien in den letzten Tagen regelrecht explodiert zu sein. Es roch nass und frisch. Nun ging ein Windstoß durch das Blätterwerk und schickte einen Schwung kalter Tropfen herab.

Als ich zur Eisdiele kam, teilten die anderen sich gerade auf. Jürgen, Kristina und Bernd würden drinnen Eis kaufen, derweil sollten Maren und ich am Mühlenteich einen Platz für uns besetzen. Eigentlich passte mir das nicht. Lieber wäre ich mit reingegangen.

Als wir zum Teich kamen, wurde tatsächlich gerade eine Bank frei. Wir setzten uns – maximal weit auseinander, so kam es mir vor. Zäh verronnen die Minuten. Ich sehnte die Rückkehr der anderen regelrecht herbei. Endlich kamen sie mit dem Eis. Bernd tat einen theatralischen Seufzer der Erschöpfung und ließ sich zwischen Maren und mich auf die Bank fallen, sehr nahe bei ihr, eigentlich fast auf ihren Schoß. Sie blickte ihn mit gespielter Verwunderung an, schmunzelte, begann zu lächeln.

Aus irgendeinem Grund fiel mir auf, dass ihre Mundwinkel sich dabei nach unten zogen, nicht nach oben. Auf den Wangen bildeten sich Grübchen. Die etwas zu große Nase trat noch deutlicher hervor, was irgendwie kindlich wirkte, niedlich. Es passte überhaupt nicht zum Rest des Gesichts mit seinen feingliedrigen Zügen: der schmalen Stirn, den kleinen Ohren und vor allem den tropfenförmig geschnittenen Augen.

Komisch, dass ich das alles so deutlich erkannte. Normalerweise hatte ich für solche Sachen überhaupt keinen Blick.

Sie trug wieder diesen roten Rock, wie am Ostersonntag. Nur sah man jetzt, dass es kein Rock war, sondern ein Kleid. Beim letzten Mal hatte sie ein Sweatshirt darübergezogen. Wie schmal ihr Nacken war und wie schlank der Hals. Ihr Mund hatte eine ganz seltsame Form: Zu den Winkeln hin machte er einen Knick nach unten. Die Unterlippe war dicker als die Oberlippe, was an ein schmollendes Kind erinnerte.

Ich ging davon aus, dass sie blaue Augen hatte, aber als das Licht einen kurzen Moment günstig auf ihr Gesicht fiel, sah ich, dass sie grün waren. Es gab keinen Zweifel: Sie waren leuchtend grün. Blondes Haar und grüne Augen – was für eine Kombination! Ich hatte das bisher noch nie gesehen.

Die Welt schien unmerklich in eine Art Zeitlupe übergetreten zu sein – wie ein Bild stand Marens Profil vor mir. Und obwohl ich sie nur betrachtete, schien ich sie doch zu betasten und zu befühlen. Jede dieser vermeintlichen Berührungen ging mir durch und durch. Und die ganze Zeit war mir, als würde eine heiße, süße Flüssigkeit meine Kehle hinabrinnen und sich langsam ausbreiten, wie ein berauschender Likör…

Leider blieben wir nicht mehr lange auf unserer Bank am See. Viel zu schnell rückte die Abendbrotzeit heran, und wir mussten in die Siedlung zurückgehen. Zu Hause saß ich noch lange in meinem Sessel. Marens Bild stand so intensiv und klar vor mir, als wäre sie nach wie vor anwesend. Das blonde, volle Haar. Der Schmollmund. Und vor allem diese grünen Augen…

War das gut, was da gerade mit mir passierte? Weshalb ausgerechnet Maren? Durfte ich das?

Aber kaum stellte ich mir diese Frage, durchlief mich jedes Mal ein Schauer. Etwas in mir lachte auf, verwirrt und zugleich befreit.



***



Ich saß beim dreckigen Michael im Keller, wie so oft in letzter Zeit. Gerade baute Schohl einen Joint zusammen. Alex und Micha glotzten ihn mit Telleraugen an, schienen es kaum abwarten zu können, bis das Ding endlich die Runde machte.

Ich war mit den Gedanken noch in der Schule. Heute war irgendwie der Wurm drin gewesen, nichts hatte geklappt…

Als erstes hatte ich morgens den Bus nach Eckhorst verpasst. Ich musste eine geschlagene Dreiviertelstunde auf den nächsten warten. Mit Muttern zu fahren war leider nicht mehr möglich – sie kloppte ihre Überstunden seit neustem in der Früh anstatt abends und brach immer schon um halb fünf auf. Als ich endlich in der Schule ankam, war die erste Stunde so gut wie vorbei. Englisch, bei Wahlstedt, ausgerechnet! Prompt gab es den ersten Anraunzer.

Aber es sollte noch dicker kommen: Nach Englisch hatten wir Sport, ebenfalls bei Wahlstedt. In der Umkleide stellte sich heraus, dass ich meine Sportklamotten vergessen hatte. Jetzt war die Wurst endgültig warm: Das berüchtigte rote Büchlein wurde gezückt und ein Vermerk eingetragen.

Warum lieferte ich dem Kerl andauernd neue Munition? Er hatte mich eh auf dem Kieker. Nahm mich ständig dran, prüfte meine Hausaufgaben jedes Mal haarklein, ließ mir keine Ruhe. Wahrscheinlich wollte er mir Zucht und Ordnung beibringen. Er war früher Zeitsoldat gewesen, bei der Marine. Das merkte man noch immer deutlich.

Im Sportunterricht ließ er so richtig den Nazi raus. Zum Beispiel mussten wir Völkerball immer mit einem Medizinball spielen. Auch für das heutige Kastenturnen hatte er sich was Nettes überlegt: Nur wer die jeweilige Übung schaffte, durfte drüben stehen bleiben, der Rest musste immer wieder anrennen. Es gab üble Stürze mit Prellungen, Nasenbluten und so weiter. Das Heftigste aber war, dass niemand aufmuckte. Alle spielten das miese Spiel mit, auch die, die es bis zum Schluss nicht schafften und total blamiert dastanden. Zum Glück zählte ich nicht zu dieser Gruppe, obwohl an mir wahrlich kein Sportass verloren gegangen war.

Am KBZ wäre das komplett anders gelaufen. Wir hätten uns extra dämlich angestellt, wären vor dem Kasten stehengeblieben oder daran vorbeigestolpert. Ein Pauker wie Wahlstedt hätte bei uns keine Sonne gesehen, den hätten wir mürbe gemacht. Das konnte man am Wilhelm-Gymnasium leider vergessen, so kindisch und zurückgeblieben, wie hier alle waren.

In meiner Klasse gab es eine einzige Person, die man ernst nehmen konnte: Juliane, eine Sitzenbleiberin. Sie und ich waren die auch einzigen Raucher bei uns. Obwohl wir beide schon 16 waren, durften wir nicht in den Raucherraum – der war ausnahmslos der Oberstufe vorbehalten. Wir mussten uns wie Minderjährige illegal vom Schulgelände verdrücken, um eine durchzuziehen.

Inzwischen hatte ich endlich bei Hartmann angerufen. Er würde Pfingsten nach Schönhagen kommen. Die Klopperei am Ostersamstag war ziemlich schnell wieder vorbei gewesen. Die verschiedenen Fraktionen hatten sich verbrüdert und bei Tom das große Besäufnis abgehalten, auf das Hartmann so scharf gewesen war.

Je länger ich in diesem finsteren Keller hockte, desto trübsinniger wurde ich. Ich spürte, dass ich nicht hier sein sollte. Aber wo hätte ich sonst hingehen können? Immer wieder versuchte ich mir einzureden, dass es in Michas Keller doch wie früher im Bunker war oder wie in der Sitzecke hinter der Bahnschiene. Wir saßen auf alten Matratzen, hatten die Musik aufgerissen und gleich würde ein Joint zwischen uns kreisen.

Aber eigentlich war es völlig anders. Überall blitzte der Reichtum hervor. Michas Stereoanlage war noch fetter, noch teurer als die von Bernd. Daneben stand seine neue PA mitsamt Mischpult. Weiter hinten nahm das Schlagzeug einen großen Teil des Raumes ein. Und so weiter und so fort. Allein dieser riesige Keller wäre in der Nordstadt, wo alle in Wohnungen lebten, undenkbar gewesen.

Alex, Micha und Schohl nahmen den ganzen Luxus wie selbstverständlich hin. Mittlerweile hatte ich kapiert, dass Dinge wie dieser siffige Keller, ihr Outfit oder das Dope rauchen für sie nur Oberfläche waren, Firnis. In ein paar Jahren würden sie in die Fußstapfen ihrer Alten treten: Abi machen, studieren, anschließend ein toller Job mit viel Kohle und so. Ich dagegen würde immer der abgerissene Loser bleiben, der ich jetzt schon war.

Abgerissen – das traf es. Der Monat war gerade mal zur Hälfte rum, und mir drohte bereits die Kohle auszugehen. Aber bei Micha gab's ja alles gratis: Kippen, Bier und Dope. Wahrscheinlich war das der Hauptgrund, weshalb ich jeden Tag wieder hier angetrottet kam wie ein Esel.

Wann raffte ich mich endlich auf und verdiente mir selbst was dazu? Die Leute aus der Alten Mühle zum Beispiel schufteten jetzt jeden Tag auf Gut Neudorf. Sie pflückten Unkraut auf den Gemüseäckern, halfen beim Spargelstechen und solches Zeugs. Das lief hier angeblich jedes Jahr so, war eine Art Tradition. Ursprünglich hatte alles mal mit einem von Doris und Udo initiierten Projekt begonnen: „Arbeiten auf einem Bauernhof in der Region“. Die beiden hatten früher selbst auf dem Gut gewohnt. Aber nach und nach war daraus etwas Regelmäßiges geworden. Inzwischen gehörte das alljährliche Helfen für viele einfach dazu, vergleichbar mit der Freiwilligen Feuerwehr.

Ich hatte tatsächlich überlegt, mir die Sache mal anzuschauen. Zum Aufbessern meines Taschengelds wäre es vielleicht okay gewesen. Aber dann hatte ich es lieber bleiben lassen. Die Aussicht, auf einem Acker unter sengender Sonne knüppeln zu müssen, war nicht gerade toll. Außerdem hatte ich unseren Ausflug zum Gut noch in lebhafter Erinnerung. Ich wollte mich von den Ökotypen dort nicht rumkommandieren lassen.

Endlich war es soweit: Der Joint wurde feierlich angezündet. Schwerer, süßlicher Qualm zog durch die Luft, breitete sich langsam aus. Und oben in der Küche arbeitete Michas Mutter. Merkte sie nicht, was ihr Sohn hier unten trieb? Oder hatte sie es längst gerafft, aber kapituliert?

Auch Jürgen, Bernd und die Mädchen ackerten jetzt jeden Nachmittag auf dem Gut. Abends waren sie wohl zu müde, um noch etwas zu unternehmen: Ich sah sie kaum noch, der Kontakt zu ihnen war fast abgerissen.

Und Maren? Das Treffen am Mühlenteich schien unendlich lange her, ich konnte mich kaum noch daran erinnern. Längst hatte sich das schöne Gefühl jenes Abends wieder verflüchtigt, ein schaler Nachgeschmack war alles, was davon übrig geblieben war – wie der Kater nach einer Druckbetankung. Inzwischen war mir Maren wieder so fremd wie ganz zu Anfang.

Ein Glück! Wie hätte das wohl funktionieren sollen? Maren und ich – da wären Welten aufeinandergeprallt. Ich stellte sie mir zwischen den Nordstadt-Leuten vor: das schüchterne Dummchen vom Lande neben Sandra, Gabi und Britta, die eine Pulle Wodka-O-Saft kreisen ließen… am besten dachte ich gar nicht weiter darüber nach. Hartmann und die anderen hätten mich für verrückt erklärt.Wahrscheinlich sollte es so sein, dass ich in diesem dunklen Keller hockte und mir mit Micha und den anderen die Birne zukiffte.



***

 

Wochenlang hatte Klaus angekündigt, den Efeu zu schneiden, der das Haus langsam aber sicher unter sich begrub. Heute ging es los, und ich musste mithelfen. Bisher hatte ich mich vor solchen Arbeiten immer erfolgreich gedrückt, aber damit war es leider vorbei.

Ich stand also mit Arbeitsklamotten im Garten und glotzte nach oben. Henri kletterte irgendwo auf dem Dach herum, der Dschungel hatte ihn völlig verschluckt. Ab und zu hörte man seine Gartenschere klacken, und das nächste Büschel Efeu rauschte herab. Dann trat ich in Aktion – ich musste die abgeschnittenen Zweige einsammeln und in möglichst kleine Stücke zerlegen. Klaus sammelte alles ein und stopfte es in den Häcksler. Das Konfetti, das unten rauskam, füllte er in große Müllsäcke. Die wollte er am nächsten Tag auf dem Komposthaufen der Nordstadt-Klinik entsorgen.

„Unsere Hausgärtner kriegen ne Flasche Doppelkorn“, meinte er, „dann nehmen sie mir das Zeug schon ab.“

Na hoffentlich. Ich fragte mich, wie wir den Urwald sonst loswerden wollten. Mittlerweile hatten wir schon drei Säcke davon, und wir waren noch nicht annähernd fertig.

Mittags gab es Eintopf, den Muttern aus der Klinikkantine mitgebracht hatte. Schweigend saßen wir am Gartentisch, über die Teller gebeugt, und löffelten die kräftige Suppe in uns hinein. Klaus und ich tranken Dosenbier dazu.

Und weiter ging es. Henri ließ wahre Efeu-Fluten vom Dach herabregnen. Ich zerkleinerte, was das Zeug hielt, und kam trotzdem kaum hinterher. Der Häcksler knatterte wie ein Maschinengewehr und drohte heiß zu laufen. Aber langsam trugen unsere Bemühungen Früchte: Das Haus sah nicht mehr so aufgeplustert aus, es wirkte zurechtgestutzt, ordentlicher. Als wäre der Friseur am Werke gewesen.

Insgeheim musste ich mir eingestehen, dass das Arbeiten gar nicht so schlecht war. Ich mochte es hier draußen, es brachte Spaß, zusammen mit den anderen etwas wegzuschaffen.

Schließlich rief Klaus: „Komm runter, Henri, das genügt erst mal!“

Henri tauchte hinter dem Dachfirst auf. Flink kletterte er durch den Efeu zur Leiter, sich nur mit einer Hand festhaltend, in der anderen trug er die große Gartenschere. Beim Hinabsteigen begann die Leiter tüchtig zu schwingen, aber er blieb völlig cool. Unten angekommen verriegelte er die Schere an den Griffen, als täte er das jeden Tag, legte sie zum anderen Werkzeug und ging auf dem Pfad an der Seite zur vorderen Haustür. Die Terrassentür war für uns Arbeiter tabu – zu viel Dreck, fand Muttern.

„Mach auch Feierabend, Hauke“, sagte Klaus, „den Rest schaffen wir morgen weg.“ Er stellte den Häcksler ab und verschwand ebenfalls nach vorn.

Nach dem stundenlangen Geknatter war die Ruhe wie befreiend. Ich stand einen Moment einfach da und lauschte. Auf den Wind, die Stimmen aus den geöffneten Fenstern der Nachbarhäuser, das Geschirrklappern von den Abendbrottischen. Nun mischten sich Klaviertöne unter die Geräusche. Zuerst war es bloß Geklimper, dann aber wurde das Spiel sicherer und flüssiger. Schließlich entstand eine Melodie, und man konnte erkennen, dass dort ein geübter Musiker am Werke war.

Es war ein wolkenverhangener, kühler Maiabend, in der Luft lag ein intensiver Geruch nach Pflanzen, Gras, feuchter Erde. Ich war kein Stück müde, trotz der ungewohnten körperlichen Arbeit. Und noch immer türmte sich vor mir ein großer Berg Efeu. Also blieb ich einfach draußen und fuhr mit dem Zerkleinern fort, zerschnitt und zerbrach, was das Zeug hielt.

Der schöne Abend, der Geruch nach Natur, das Klavierspiel – noch ewig hätte ich so weitermachen können. Leider verklangen irgendwann die letzten Töne, außerdem wurde es allmählich dunkel und verdammt kalt. Und nicht zuletzt taten mir jetzt doch die Knochen weh. Schweren Herzens legte ich die Schere weg, nicht ohne sie vorher an den Griffen zu verriegeln, wie bei Henri gesehen, dann schlurfte ich müde nach vorn zur Haustür – sicher anderthalb Stunden später als der Rest unserer Truppe.

Beim Reingehen stieg mir der Duft nach brennendem Holz in die Nase. Seit wir hier draußen wohnten, geschah das immer wieder. Ich hatte erst gedacht, die Leute würden Sachen in ihren Gärten verbrennen, Schnittholz, Gartenabfälle und so weiter. Inzwischen wusste ich es besser: Manche Häuser hier hatten Kamine, zum Beispiel der skurrile Kasten von Michas Eltern.

Kamine – in der Nordstadt war das etwas gewesen, das in amerikanischen Filmen existierte, aber ganz bestimmt nicht im wirklichen Leben.

06. Gut Neudorf

Stand ich ernsthaft auf diesem Acker und rupfte Unkraut aus dem Boden? Oder träumte ich das alles bloß?

Nein, es passierte wirklich. Ich war hier draußen, und der Südwest blies mir unablässig ins Gesicht. Auf dem benachbarten Feld leuchtete der Raps so knallgelb, dass man dachte, die Sonne würde scheinen. Aber das täuschte – der Himmel war grau und dunkel, ab und zu kamen Tropfen herab.

Meine Füße steckten in nagelneuen Gummistiefeln, was bei dem Dreck hier draußen leider unvermeidlich war. Ich hatte mir die Treter heimlich im Dorf gekauft, bei Flenker, dem örtlichen „Fachgeschäft für die Landwirtschaft“. Ansonsten trug ich dieselben Plünnen wie eine Woche zuvor, bei der Efeu-Aktion.

Mittlerweile hatte ich derbe Rückenschmerzen – kein Wunder bei dieser permanent gebückten Arbeitshaltung. Meine Hände waren übersät mit Kratzern und dicken Pusteln, weil man immer wieder in Brennnesseln, Disteln und anderes fieses Gewächs griff. Und die Dreckkruste auf den Fingern schien mit jedem Tag tiefer einzusickern, ich bekam sie abends kaum noch weg. Ganz zu schweigen von den schwarzen Rändern unter den Nägeln.

Ein Glück, dass die Sonne nicht schien. Neulich war sie kurz herausgekommen, und sofort hatte das Land regelrecht zu kochen angefangen. Ringsum hatten sich die Leute große Strohhüte aufgesetzt und plötzlich stark an Feldsklaven erinnert.Mir war dringend geraten worden, auch so ein Teil zu benutzen, aber ich hatte dankend abgelehnt. Mit dem Ergebnis, dass für den Rest des Tages mein Schädel dröhnte wie ein Presslufthammer.

Innerlich war ich nur am Fluchen. Warum saß ich jetzt nicht gemütlich in Michas Keller? Warum war ich hier draußen und tat mir diese Plackerei an?

Ja, warum?

Bei Micha war es zuletzt mit meiner Stimmung immer weiter bergab gegangen. Die Rumhängerei in dem finsteren, verqualmten Keller hatte mich fertiggemacht. Das, was ich suchte, war dort einfach nicht zu finden. Dann kam die Efeu-Aktion mit Klaus und Henri. Das Arbeiten fiel mir unerwartet leicht, so leicht, dass ich anschließend das Gefühl hatte, auch den Job auf dem Gut schaffen zu können. Eines Abends ging ich rüber zu Jürgen und bequatschte das Ganze mit ihm. Es sei alles halb so schlimm, versicherte er mir hoch und heilig. Warum ich es nicht einfach mal ausprobiere?

Die erste Fahrt hierher würde ich nie vergessen. Die Riesenmuffe, die ich gehabt hatte! Was, wenn ich es nicht brachte? Wenn ich zu wenig wegschaffte oder zu blöd war für den Job oder ihn schlicht nicht durchhielt? Wurde ich dann mit Schimpf und Schande weggejagt? Sollte ich so eine krasse Blamage wirklich riskieren? Und doch hatte ich mich insgeheim wie ein Kind darauf gefreut, die Leute aus der Clique wiederzusehen. Durch meinen Entschluss schien die abgerissene Verbindung plötzlich wieder intakt zu sein. Etwas war ins Gleichgewicht gekommen, an seinen Platz gerückt…

Und jetzt stand ich also hier.

Verflucht, wuchs auf diesem Feld eigentlich auch noch was anderes außer Unkraut? Ich pflückte und pflückte, und hinterher blieb kaum noch was übrig. Jede Reihe, mit der ich fertig war, wirkte völlig ausgedünnt, fast kahl. Dabei hielt ich mich bloß an das, was die Leute vom Gut gesagt hatten: Unkraut weg, Nutzpflanze in Ruhe lassen. Riss ich zu viel raus? Aber in den benachbarten Reihen sah es genauso aus wie bei mir.

Dabei war der Unkraut-Job noch nicht mal das Schlimmste. Spätnachmittags wurden wir immer zum Spargelstechen eingeteilt. Der Spargel wuchs momentan so schnell, dass zweimal täglich geerntet werden musste. Morgens erledigten die Gutsbewohner das selbst, nachmittags waren wir dran. Das Erdreich des Spargelfeldes war zu parallelen Wällen aufgehäuft, zwischen denen man entlanglief. Wo sich Risse zeigten, kam der Spargel gerade ans Tageslicht. Man musste die Stange freilegen und dann mit einem Spezialmesser abschneiden. Klang einfach, war aber in der Praxis verdammt knifflig. Die Stangen brachen beim Ausbuddeln oft ab. Und wenn nicht, kam man beim Abschneiden schnell an die Nachbartriebe und machte sie kaputt.

Ich stellte mich wohl etwas zu dämlich an. Jedenfalls wurde ich nach ein paar Tagen von der Arbeit abgezogen und einem anderen Trupp zugeteilt. Dort befreiten wir zunächst eine Weide von Unkraut, damit die Schafe wieder darauf grasen konnten, ohne sich den Magen zu verderben. Und gerade waren wir dabei, ein altes, halb verfallenes Stallgebäude auszumisten. Es sollte im Herbst wieder aufgebaut und als Gästehaus hergerichtet werden.

Obwohl ich diese Arbeiten ganz ordentlich erledigte, nagte es gehörig an mir, auf dem Spargelfeld versagt zu haben. Überhaupt kam ich mir insgesamt wie eine ziemliche Null vor. Was brachte ich für diesen Job eigentlich mit? Klamotten, cooles Gehabe, Saufen, Kiffen, Prügeln – solche Sachen mochten in der Nordstadt wichtig sein, hier draußen bedeuteten sie rein gar nichts.

Ganz anders Maren – plötzlich zeigte sie Eigenschaften, die man nie an ihr vermutet hätte: ein Arbeitstempo, das selbst manchen Gutsbewohner ins Schwitzen brachte, eine beachtliche Ausdauer und ein Geschick, das faszinierend anzuschauen war. Sie schien hier draußen geradezu in ihrem Element zu sein.

Während der Zeit bei Micha im Keller hatte ich überhaupt nicht mehr an sie gedacht. Der Abend an der Eisdiele, dieses ungewohnte, prickelnde Gefühl – auf einmal war es mir nur noch wie ein Ausrutscher vorgekommen, eine Spinnerei, ein Spleen, nichts weiter. Ich hatte versucht, das zu vergessen, es war mir regelrecht peinlich gewesen. Dann hatte ich Jürgen zugesagt, auf Gut Neudorf mitzumachen, und prompt war die alte Spannung zurückgekehrt. Als hätte sie die ganze Zeit irgendwo in einem Winkel gehockt und nur den geeigneten Augenblick abgepasst, um sich wieder zu zeigen.

Und jetzt war Maren tatsächlich neben mir im Gemüse und rupfte Unkraut, wie ich. Gleichzeitig schien sie weit weg zu sein. Sie achtete auf nichts und niemanden in ihrer Nähe, war völlig in ihre Arbeit vertieft. Die Pausen verbrachte sie immer unter den Gutsleuten. Sie passte perfekt hierher – man hätte glatt denken können, sie wohne ebenfalls auf Gut Neudorf und nicht in einem Schönhagener Reihenhaus.

Wieder einmal stellte sich die Wirklichkeit als völlig enttäuschend heraus. Ich war Maren so nahe, und doch trennten mich Lichtjahre von ihr. Wie bei meinen heimlichen Heldinnen früherer Zeiten, die lebendige Menschen und zugleich Fantasiegestalten gewesen waren.



***



Trotzdem – ich musste sie immer wieder anstarren, es war wie ein Sog. Die tropfenförmig geschnittenen Augen, deren Grün ich zwar nicht erkennen konnte, aber trotzdem lebhaft vor mir sah. Die nach unten abknickenden Mundwinkel und die schmollende Unterlippe. Schließlich ihre Hände, die geschickt zwischen den Pflanzen herumhantierten, der konzentrierte Blick auf die Arbeit – all das faszinierte mich dermaßen, dass ich regelrecht wegtrat, in eine Art Dämmerzustand glitt.

Ich versuchte zu verstehen, was genau es war, das ihr Anblick in mir auslöste. Es fühlte sich an wie eine tiefe Rührung über die Verletzlichkeit, die sie ausstrahlte. Ich wollte sie beschützen, alles Unheil von ihr fernhalten. Und war völlig verzweifelt darüber, dass das unmöglich war. Aber genau dieser Widerspruch, diese Spannung war das Faszinierendste.

Gleichzeitig hatte ich Angst. Wohin sollte das alles führen? Was war mit den Leuten in der Nordstadt? Konnte ich mich jemals wieder bei ihnen blicken lassen, wenn… ja, wenn was?



***



Der nächste Arbeitstag, der sich zog wie Gummi. Es wollte einfach nicht weniger werden, so sehr wir auch rackerten. Und noch geschlagene zwei Stunden bis Feierabend. Dabei konnte ich schon jetzt nicht mehr, schleppte mich nur noch mit allerletzter Kraft voran.

Pausenlos geisterten mir die Stimmen der Kumpels aus der Nordstadt durch den Schädel: Wozu macht der Idiot das? Reißt sich den Arsch auf für lau! Soll lieber gemütlich ein Bierchen trinken, dieser Hirni! Mehr als einmal war ich versucht, tatsächlich alles hinzuschmeißen und mich vom Acker zu machen. Und doch wusste ich, dass ich bleiben würde, mochte dieser verfluchte Job auch bis Mitternacht dauern.

Sie sollte es mitbekommen! Eigentlich war es absolut dämlich, aber ich wollte, dass sie auf mich aufmerksam wurde. Sie sollte sehen, dass ich nicht schlappmachte, dass ich durchhielt.



***



Gerade arbeitete sie mal wieder ganz in der Nähe. Emsig griffen ihre Finger in die Pflanzen, drehten und prüften, rissen aus oder ließen stehen. Woher nahm sie nur diese Ruhe und Ausdauer? Von Müdigkeit war bei ihr nichts zu erahnen.

Ich wollte mich schon wieder wegdrehen und weiterarbeiten, als sie unvermittelt in ihrer Bewegung stoppte. Sekundenlang geschah nichts. Auf einmal hob sie den Kopf und sah mir genau in die Augen. Ihre Pupillen funkelten, in ihrer Miene lag etwas Verwundertes, Fragendes.

Mein Herz stand einen Moment still. Dann schoss mir das Blut in den Kopf, meine Wangen fingen an zu glühen. Hastig beugte ich mich wieder nach unten und nestelte im Gemüse herum.

Ertappt. Wahrscheinlich hatte ich sie wieder minutenlang angeglotzt, ohne es zu merken, wie schon unzählige Male zuvor. Ich musste endlich damit aufhören, musste mich zusammenreißen. Langsam wurde es peinlich, was ich hier trieb.

Trotzdem konnte ich für den Rest des Tages nur noch an diese kurze Szene denken: Marens Innehalten, ihr abruptes Aufschauen, die grünen Augen, die endlich, endlich auf mich gerichtet waren, schließlich dieser Blick, verwundert und gleichzeitig fragend.

Und noch etwas anderes ging mir durch den Kopf, immer wieder: Sie hatte nicht erst lange suchen müssen, wer sie beobachtete. Sofort hatte sie in meine Richtung geschaut…



***



Jeder Tag verlief nach dem gleichen Schema: vormittags Schule, zu Hause einen Happen essen, dann aufs Fahrrad und ab zum Hof. Name und Uhrzeit in die Liste eintragen, wegen der späteren Abrechnung, und los ging es. Samstags und Sonntags fuhren wir sogar schon morgens zum Arbeiten und blieben den ganzen Tag. Mittags aßen wir zusammen mit den Leuten vom Gut im Speisesaal.

Wenn wir abends im großen Pulk nach Schönhagen zurückfuhren, waren wir völlig erledigt. Sämtliche Knochen taten uns weh, wir waren verdreckt und durchgeschwitzt. Trotzdem herrschte immer eine seltsame Ausgelassenheit. Wir flachsten rum, machten dumme Sprüche. Manchmal sangen wir sogar, irgendwelche Trinklieder mit albernen Texten.

Mittlerweile fiel mir die Arbeit deutlich leichter als zu Anfang. Ich schaffte mehr weg, gleichzeitig arbeitete ich ordentlicher, weil ich jetzt wusste, worauf ich achten musste.

Auch meinen Widerstand gegen Strohhüte hatte ich mittlerweile aufgegeben, die rasenden Kopfschmerzen zu Anfang waren mir eine Warnung gewesen. Man riskierte ernsthaft einen Sonnenstich, wenn man sich nicht schützte. Es waren deswegen schon Leute auf dem Acker zusammengeklappt. Das musste ich nicht haben.



***



Komisch: Immer öfter hatte ich nun das Gefühl, als würde auch Maren schauen. Aber genau wusste ich es nicht – nach der peinlichen Nummer neulich mochte ich nicht mehr selbst gucken, aus Angst, mich endgültig zum Deppen zu machen. Oder wollte ich mir bloß die Illusion nicht kaputtmachen?

„Sie schaut nicht“, raunte eine Stimme in mir. „Warum sollte sie?“

Ja, warum? Mir fiel kein Grund ein, und die Ernüchterung traf mich wie ein Schmerz.

„Doch, sie sieht dich“, entgegnete eine andere Stimme. „Sie mustert dich, ist neugierig.“

Und die Hoffnung flammte wieder auf.



***



Ein weiterer Arbeitstag lag hinter uns. Wir hatten uns aus der Liste ausgetragen und stiegen gerade auf unsere Räder, die vor der Hofeinfahrt abgestellt waren. Da sah ich Maren den Weg herabkommen. Ihr Rad stand ein Stück weiter vorn, sie würde an mir vorbeigehen müssen. Auf einmal fühlte ich mich wie in einer Falle. Ich war ihr zuletzt immer so fern geblieben wie möglich, um mich nicht wieder zum Deppen zu machen – aber jetzt konnte ich nicht mehr abhauen.

Sie kam immer dichter heran. Die ganze Zeit schaute sie zu Boden, wie in Gedanken versunken. Ich hoffte schon, sie würde vorbeigehen, aber als sie fast mit mir auf gleicher Höhe war, hob sie unvermittelt den Kopf und sah mich mit einem sehr intensiven Blick an. Ihre Augen schienen regelrecht aufzuleuchten.

Da war es wieder, dieses Gefühl, als würde etwas heiß und brennend meine Kehle hinablaufen. In diesem Moment hätte sie alles mit mir machen können. Ich war bloß eine Marionette, deren Fäden sie in den Händen hielt. Fast hatte ich das Gefühl, ein Stück über dem Boden zu schweben, mit schwankendem Kopf, rollenden Augen, die Arme kraftlos herabbaumelnd… dann war sie vorbeigegangen. Ich sah nur noch das hochgesteckte, blonde Haar, den schmalen Nacken.

Die Situation konnte höchstens Bruchteile von Sekunden gedauert haben, aber ich blieb danach wie benebelt. Dieser Blick – es hatte ernsthaft so ausgesehen, als ob…



***



Jetzt wollte ich es genau wissen. Als ich wieder das Gefühl hatte, Maren würde rüberschauen, nahm ich allen Mut zusammen und linste ebenfalls. Und – sie guckte!

Blitzschnell ging mein Blick wieder abwärts. Das war Zufall gewesen, garantiert, was sonst? Wie peinlich! Und doch spähte ich jetzt alle paar Minuten in ihre Richtung. Irgendwann trafen sich unsere Blicke wieder, und auch diesmal war der automatische Reflex: nach unten gucken, wegschauen. Aber ich widerstand ihm, wollte einfach nicht an einen Zufall glauben. Ich hielt durch, wich ihrem Blick nicht aus – und auch sie blieb hartnäckig. Also, wie Zufall wirkte das nicht, kein Stück…

Allmählich wurde mir klar, dass sie öfters guckte. Beim Arbeiten. Während der Mittagspause. Auf dem Rückweg ins Dorf. Als ob sie sich versichern wollte, dass ich in ihrer Nähe war. Einmal bohrten sich ihre Augen regelrecht in mich hinein, es war wie ein Ansprechen ohne Worte, fast eine Aufforderung. Bis ich es nicht mehr aushielt und mich schnell nach unten beugte. Mein Herz schlug nicht, es hämmerte wie eine Dampframme. Was ging hier ab? Was passierte hier?

Und ich hatte immer geglaubt, sie würde mich total verachten. Berechtigt wäre es ja gewesen. Und nun… Aber war es wirklich wahr? Es konnte eigentlich nicht sein. Steckte nicht doch etwas anderes dahinter? Es war schlicht unmöglich.

Schließlich glaubte ich es. Wir hatten gerade Feierabend gemacht und fuhren zurück nach Schönhagen, da merkte ich, wie sich etwas in mir löste. Die Freude wurde so stark, so überwältigend, dass ich ernstliche Mühe hatte, mit dem Rad auf dem Weg zu bleiben, nicht zu schlingern und seitwärts in die Büsche zu rauschen.



***



Manchmal fuhr ich allein zum Arbeiten, manchmal zusammen mit anderen aus dem Dorf. Kaum war ich auf dem Gut angekommen, suchte ich alles mit den Augen ab, bis ich sie gefunden hatte. Ihr Anblick versetzte mir jedes Mal einen Stich. Danach ging alles ganz leicht.

Einmal konnte ich sie nirgends entdecken. Ungeduldig wartete ich, aber sie wollte und wollte nicht auftauchen. Irgendwann war klar, dass sie nicht mehr kommen würde. Vor Enttäuschung verging mir sämtliche Lust. Wo war sie? Ich fragte die anderen in der Clique, aber niemand wusste es.

Welche Erleichterung, als sie am nächsten Tag wieder da war! Ihre Oma hatte einen Schwächeanfall erlitten, als Maren gerade bei ihr gewesen war. Sie hatte den Arzt angerufen, ein Krankenwagen war gekommen. Jetzt lag ihre Oma in der Klinik. Das Ganze hatte Maren so mitgenommen, dass sie nachmittags nicht mehr zum Gut gefahren war.

Ich hatte das Gefühl, als würde auch sie sofort nach mir suchen. Mittlerweile war zwischen uns fast etwas wie Vertrautheit entstanden, obwohl wir nach wie vor nur über die Augen miteinander sprachen.



***



Erdbeeren ernten – endlich mal was Einfaches. Kein Abbrechen irgendwelcher zarten Triebe, wie beim Spargelstechen. Und auch kein versehentliches Ausreißen von Nutzpflanzen, wie auf den Gemüse- und Kartoffelfeldern. Man musste bloß die großen, roten Früchte abpflücken und in einen Korb werfen. Oder sie gleich verdrücken.

Es war ein sommerlich warmer Samstag. Mittags trugen wir die Tische und Bänke aus dem Speisesaal auf die Terrasse, um unter freiem Himmel zu essen. Von überall kamen die Leute heran: aus den Wirtschaftsgebäuden, der Schlachterei, der Bäckerei, den Ställen. Einige hatten Wäschedienst im Haupthaus gehabt, andere reparierten Maschinen in der Werkstatt. Nur ein kleiner Teil der Gutsbewohner arbeitete mit uns auf den Feldern.

Ich erwischte einen Platz neben Micha und Bernd. Die Mädchen saßen an einem anderen Tisch, ein gutes Stück entfernt. Meistens war die Sicht versperrt, aber hin und wieder konnte ich einen kurzen Blick auf Maren werfen. Und sie schaute zurück.

Nachmittags zog der Himmel sich allmählich zu. Irgendwann setzte leichter Regen ein, aber den ignorierten wir. Gerade hatten wir einen Lauf, außerdem hielt der warme Wind die Kleidung trocken. Bloß stärker durfte es nicht werden. Leider passierte genau das, oder vielmehr: Es fing an, wie aus Eimern zu kübeln. Wir flüchteten unter einen großen Baum am Feldrand und waren erst mal ratlos. Was jetzt? Morgen weitermachen? Oder warten und hoffen, dass der Regen sich irgendwann verzog?

Wir wollten bereits zusammenpacken und gehen, da sah man am Horizont einen Lichtstreif auftauchen. Gespannt warteten wir – sollte uns das Glück hold sein? Und wirklich: Bald wurde das Gepladder weniger, hörte schließlich ganz auf.

Wir waren wieder an die Arbeit gegangen. Die Luft hatte sich nach dem Schauer deutlich abgekühlt, auch der Wind war aufgefrischt. Mehr und mehr trieb er die Wolken auseinander, bis schließlich die Abendsonne herauskam. Die Landschaft begann zu glänzen wie Kristall und weitete sich noch mehr, dehnte sich ins schier Unendliche. Wir waren nur noch kleine, verlorene Punkte in einem Meer von Grün.

Die Arbeit fiel mir leicht wie nie zuvor – noch ewig hätte ich so weitermachen können. Viele waren es nicht mehr, die außer mir noch hier draußen ausharrten. Ganz in meiner Nähe sah ich Bernd und Kristina. Ein Stückchen vor ihnen waren Jürgen und Silke emsig am Pflücken. Und weit hinten, wo das Feld schon den Hügel hinaufstieg, leuchtete Marens blonder Haarschopf in der Abendsonne.

Obwohl unsere Gruppe so weit über das Feld verteilt war, schienen wir alle nahe beieinander zu sein. Als würde ein unsichtbares Band uns miteinander verknüpfen. Alle Entfernung war aufgehoben.



***



Marens Blick war inzwischen sehr ernst, sehr intensiv. Oft verdunkelten sich ihre Augen merkwürdig, wurde das Auffordernde in ihnen zu etwas Bittendem, fast Flehendem. Es durchlief mich jedes Mal heiß und kalt, wenn sie mich so anschaute.

Bisher war alles ein Spiel gewesen, das jetzt aber zu Ende ging. Ich wusste, dass bald etwas geschehen würde, geschehen musste.

Und plötzlich fragte ich mich wieder, ob ich das wirklich wollte.

07. Maren

Seit einigen Tagen trafen wir uns nachmittags wieder in der Siedlung. Auf Gut Neudorf gab es momentan nicht mehr so viel zu tun. Spargel und Erdbeeren waren geerntet, der Stall ausgemistet, die Gemüsefelder von Unkraut befreit. Zwar mussten sie weiterhin in Schuss gehalten werden, aber das schafften die Gutsleute jetzt allein.

Über drei Wochen hatte ich mitgearbeitet. Mittlerweile waren wir ausbezahlt worden – meine ersten selbstverdienten Mäuse. Viel war es zwar nicht, aber ich spürte trotzdem etwas wie Stolz. Es war immer klar gewesen, dass es bei dem Job nicht ums große Absahnen ging.

Zur Weizenernte würde das ganz anders aussehen, erklärte Bernd. Weizen sei das wichtigste Erzeugnis des Gutes, quasi dessen Existenzgrundlage. Da bräuchten sie dringend Leute, die anpacken könnten, und die würden sie auch entsprechend bezahlen.

„Dann sind Sommerferien“, seufzte Alex.

„Da kannst du ordentlich Schotter machen“, versicherte Bernd und rieb sich die Hände.

„Aber nur, wenn du fit bist!“, rief Jürgen und schaute mich dabei mahnend an – es wirkte, als wolle er mich vor einer Dummheit bewahren. „Säcke schleppen, Strohballen auf die Ladefläche werfen, schuften von Sonnenaufgang bis in die Nacht. Staub, Sonne, 30 Grad Hitze – das ist harte Arbeit, kein gemütliches Unkrautrupfen, wie bei uns.“

„Ja, dazu braucht es echte Kerls, solche wie Jürgen“, meinte Kristina lachend.

Jürgen begann ebenfalls zu schmunzeln. „Okay, ist nicht meine Sache“, gab er zu. „Ich lieg' lieber gemütlich am Strand.“

„Ich auch“, pflichtete Alex ihm bei. „Mann, wie ich mich auf die Ferien freue!“

Ich hörte das Gerede der anderen, aber es schien aus großer Entfernung zu kommen. Meistens hatte ich den Blick aufs Pflaster geheftet und hing meinen eigenen Gedanken nach. Natürlich kreisten sie bloß um ein einziges Thema: Maren.

Jeden Tag wollte ich so schnell wie möglich raus, wollte sie unbedingt sehen. Wenn ich dann hier war und ihr gegenüberstand, hielt ich ihre Nähe kaum aus.

Essen bekam ich fast gar nicht mehr runter, mein Magen fühlte sich völlig zusammengekrampft an. Und immer wieder fuhr es mir wie mit tausend Stichen durch die Nervenbahnen. Ich fragte mich ernsthaft, ob ich vielleicht krank war.

Das konnte nicht mehr lange so weitergehen, ich musste endlich etwas tun. Aber wie sollte ich es anfangen? Einfach zu ihr gehen und mit ihr quatschen? Unmöglich, ich hätte kein Wort herausgebracht. Und überhaupt: Worüber hätten wir reden sollen? Ich wusste gar nichts von ihr. Sie war mir fremder als jemals zuvor.

Die anderen bekamen wohl auch langsam mit, dass irgendwas passierte. Kristina hatte neulich gemeint, Maren wäre endlich wieder „die Alte“. Verstanden hatte ich diese Bemerkung nicht, aber es schien irgendeine Anspielung gewesen zu sein, und ich wurde den Verdacht nicht los, dass sie auf uns gemünzt war.



***



Schon wieder lag ich wach im Bett. Momentan pennte ich schlicht hundsmiserabel, tat stundenlang kein Auge zu. Meistens fiel ich erst morgens in eine Art Dämmerzustand, den man nicht wirklich Schlaf nennen konnte.

Heute war es besonders schlimm. Ich wälzte mich von einer Seite auf die andere und wurde immer wacher. Irgendwann reichte es: Ich zog mir Klamotten über, stieg leise die Treppe hinab und schlüpfte durch die Haustür ins Freie. Es musste nach Mitternacht sein, denn die Straßenlaternen brannten nicht mehr. Auch die Häuser ringsherum waren allesamt dunkel. Die einzigen, noch verbliebenen Lichtquellen befanden sich weit über mir: die Sterne. Aber war dieses krasse, gewaltige Schauspiel da oben wirklich der Nachthimmel, den ich kannte? Sterne in unermesslicher Zahl ballten sich zu Haufen zusammen, alles flimmerte, glitzerte, funkelte. Und dieser samtene Schimmer im Hintergrund, der sich einmal quer über die nächtliche Kuppel zog – das musste die Milchstraße sein. Ich hatte dieses Wort bislang immer bloß gehört und mir nie etwas darunter vorstellen können. Jetzt sah ich sie mit eigenen Augen – und begriff endlich den komischen Namen: Milchstraße. Die Galaxie, in der sich unser kleiner Planet befand, irgendwo inmitten unermesslicher, gleißender Weiten…

Nur mit Mühe konnte ich mich losmachen von dem ziemlich eindrücklichen Bild. Ich pirschte die Eichendorffstraße entlang, und mit jedem Schritt wuchs mein flaues Gefühl in der Magengegend. Sollte ich es wirklich tun? Und wenn jemand mich sah? Aber dann kam schon der schmale Fußweg, der von der Brentanostraße abzweigte. Ich war kürzlich zum allerersten Mal hier gewesen, als wir Maren nach Hause begleitet hatten. Am Anfang wuchsen noch hohe Hecken zu beiden Seiten, die aber bald aufhörten. Ab hier standen die einzelnen Reihenhausblöcke frei auf dem Rasen, es gab keine Vorgärten mit Bäumen oder Sträuchern als Sichtschutz. Man lief wie auf einem Präsentierteller.

Als das Haus der Sührings vor mir auftauchte, verflog alles Unbehagen mit einem Schlag. Marens Fenster lag hier vorn am Weg, im ersten Stock rechts. Das Muster das Vorhangs sah ziemlich verrückt aus, es stach regelrecht in die Augen, sogar jetzt, im Dunkeln – ich musste unwillkürlich schmunzeln. Im nächsten Moment fing mein Herz wie verrückt an zu hämmern. Der Gedanke, dass sie so nahe war, hatte etwas Elektrisierendes. Vielleicht spürte sie, dass jemand hier unten stand? Vielleicht ging gleich ihr Fenster auf? Und dann? Dann würde es passieren, ganz sicher…

Im Fensterrahmen hing etwas, das auf den ersten Blick wie ein Mobile aussah. Aber bald erkannte ich, was es war: ein Halbmond aus Holz mit einem eingeschnitzten Gesicht an der Innenseite. Aus dem Mund ragte eine Pfeife mit einem Teelicht.Der Mann im Mond. War das nicht etwas für Kinder? Gestochen scharf stand das Holzgesicht vor mir; ich sah das milde Lächeln, glaubte sogar den Docht des Teelichts in der Pfeife zu erkennen, trotz der Dunkelheit. Weshalb hing dieses Teil dort? Hatte Maren vergessen, es abzunehmen? Oder wollte sie aus irgendeinem Grund, dass es blieb, wo es war? Vielleicht, um etwas von früher zu behalten?

Wie merkwürdig das aussah: einerseits die Vorhänge mit ihrem verrückten Muster, und dann so ein Spielzeug. Wie musste eine Kindheit gewesen sein, wenn man ihr auf diese Weise ein Andenken bewahren wollte? Und weshalb berührte mich der Anblick so? Da war plötzlich eine seltsame, heftige Traurigkeit, eine Art Heimweh, der verzweifelte Wunsch zurückzukehren. Aber es ging nicht mehr, weil man längst zu weit weg war, zu weit draußen, ohne Hoffnung, jemals wieder Land zu erreichen…

Je länger ich hinaufschaute und das Holzgesicht betrachtete, desto schlimmer wurde es. Ich spürte ein Schluchzen hochsteigen, wollte am liebsten weinen – und schämte mich gleichzeitig. War ich so ein Weichei, dass ich wegen eines Spielzeugs zu flennen anfing? Verzweifelt biss ich mir auf die Unterlippe, ballte die Hände zu Fäusten, drückte die Nägel ins Fleisch.

Der brennende Schmerz holte mich in die Wirklichkeit zurück – rasch drehte ich mich weg und ging.



***



Ich saß am Küchentisch, versuchte mir ein Wurstbrot reinzuwürgen. Nach ein paar Bissen schob ich den Teller weg und ging zum Fenster. Der Himmel zeigte eintöniges Grau. Auf der Straße stand der neue Schlitten von Klaus, ein roter Ford Taunus Kombi. Die Motorhaube war hochgeklappt, Henri beugte sich konzentriert über die Innereien des Autos. In der Hand hielt er einen Schraubenzieher.

Ich setzte mich wieder, zündete mir eine Zigarette an, obwohl Muttern nicht wollte, dass ich hier unten rauchte. Als ich das nächste Mal rausguckte, war neben Henri eine Gestalt aufgetaucht, in einer pinkfarbenen Jacke. Rasch zog ich den Kopf ein, um nicht gesehen zu werden – ich kannte diese Jacke! Im Nu war ich die Treppe hoch- und in Henris Zimmer gestürmt, von wo aus man die ganze Straße überschauen konnte. Der Anblick war seltsam: Henri, der scheinbar völlig in seine Arbeit vertieft war, und sie, die stumm neben ihm stand. Die beiden gaben ein sehr ungleiches Paar ab.

Ich stolperte rüber in mein eigenes Zimmer und überlegte: Vielleicht lief das bei ihnen ja immer so. Er werkelte an irgendwas herum, während sie ihm Gesellschaft leistete. Das hatte vielleicht alles gar nichts mit mir zu tun.

Aber noch während ich diesen Gedanken spann, wusste ich schon, dass er nicht stimmte.

Auf einmal bekam ich Schiss, dass sie weg sein könnte. Sprang auf und rannte wieder rüber: Nein, sie war noch da, ein Glück! Und er glotzte nach wie vor nur auf seinen blöden Motor. Konnten die Zeichen eindeutiger sein?

Irgendwas hätte ich unternehmen müssen, jetzt, sofort. Aber mir fiel absolut nichts ein, mein Kopf war völlig leer.

Ich saß wieder unten in der Küche, rauchte und konnte mich doch zu nichts überwinden. In regelmäßigen Abständen ein schneller, fast schon gewohnheitsmäßiger Blick nach draußen. Sobald ich die pinkfarbene Jacke sah, war ich beruhigt. Jedenfalls für ein paar Sekunden.

Schluss jetzt! Man konnte die Sache nicht ewig so weitertreiben. Einen Anlass, ich brauchte irgendeinen Anlass, um vor die Tür zu gehen. Suchend schaute ich mich in der Küche um – und blieb am Mülleimer hängen. Das war es: Müll rausbringen, meine Lieblingsbeschäftigung! Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend griff ich nach dem Eimer. Und trat den Gang zum Schafott an.

Als ich die Haustür öffnete, starrten Henri und Maren mir mit großen Augen entgegen – die beiden hatten eindeutig nur diesen Moment abgepasst. Auf einmal kam ich mir mit dem halbleeren Eimer in der Hand völlig dämlich vor. Die Aktion war so durchsichtig, so billig…

„Ey Hauke, hier wartet jemand auf dich“, sagte Henri und schubste Maren leicht in meine Richtung. Er hatte noch nie viele Worte gemacht. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

„Kommste mit rein?“, presste ich hervor. Es klang weniger wie eine Frage als eher wie eine Aufforderung. Kaum war es heraus, überlegte ich, ob ich vielleicht einen Fehler gemacht hatte. Durften Mädchen hier einfach so zu Jungen reingehen? Aber sie nickte.

Der Anblick, wie sie vor mir die Treppe hochstieg, in mein Zimmer ging – er hatte etwas Unwirkliches. Mir schwindelte, meine Knie waren nur noch Wackelpudding.

Mit einem Mal sah ich den Raum so, wie sie ihn vermutlich wahrnahm: die vernebelte Luft, den überlaufenden Aschenbecher, den mit Tabakkrümeln übersäten Rauchtisch. Hastig stellte den Aschenbecher weg, wischte mit dem Ärmel notdürftig über die Tischplatte und klappte das Fenster auf.

Als sie sich auf die Bettkante setzte, mir gegenüber, wirkte sie ungewohnt ängstlich.

„Bestimmt hat Frau Rönnfeld gerade gesehen, wie ich mit dir reingegangen bin“, sagte sie leise. „Und in einer Stunde weiß es das halbe Dorf.“

„Nervt dich das?“, fragte ich.

Kurzes Zögern, dann, bestimmt: „Nein.“

„Kriegst du Ärger deswegen?“

„Kann sein… ist mir aber egal.“

Ich fühlte, wie ich etwas ruhiger wurde. Sie saß leicht nach vorn gebeugt, die Arme auf den Oberschenkeln, die Hände ineinander gelegt. Sie trug eine blaue Bluse. Der oberste Knopf war offen, im Ausschnitt glitzerte ein silbernes Kettchen mit einem Anhänger: ein Paar Fische.

„5. März“, meinte sie, als sie sah, wohin ich guckte.

Dann verdunkelte sich ihr Blick, wurde sehr intensiv. Zwischen uns entstand eine Verbindung, eine Art Brücke aus Energie. Eine starke Wärme füllte mich plötzlich aus, und ich wusste, dass es ihr genauso ging. Nichts war mehr zwischen uns, keine Leute, die uns beobachteten, keine Feldarbeit, auf die man sich konzentrieren musste, nichts. Es war, als hätte jemand ein Hindernis weggezogen, eine Trennwand. Auf einmal war der Weg frei.

Sie schaute mir in die Augen, ganz tief. Und ich ließ es zu, wich nicht aus. Für einen Moment war es, als könne sie in mein Innerstes hineinschauen und alles, alles sehen… aber dann wurde es zu viel und ich senkte den Blick.

Ich betrachtete ihre Unterarme. Die Ärmel der Bluse waren hochgekrempelt, die Haut war mittlerweile sehr braun, wohl von der Arbeit im Freien. Wie unendlich ich mich danach sehnte, sie zu berühren! Ganz langsam streckte ich meine Hand aus… Als mein Zeigefinger ihren Arm erreichte, zuckte ich zusammen. Ich war mir sicher, zu weit gegangen zu sein. Aber sie blieb still, ließ es geschehen. Langsam bewegte ich meinen Finger über ihren Unterarm. Ihre Haut war unglaublich weich. Die Haare hatten sich leicht aufgestellt, aber man spürte sie fast nicht. Ich erreichte ihre Hand. Sie drehte sie, öffnete sie. Ich fuhr mit dem Finger über die Handfläche. Sie war wärmer als der Arm, und etwas feucht.

An den Fingerspitzen machte ich halt. Ihre Hand übernahm nun meine Bewegung, ging selbst auf die Reise. Sie strich über meinen Handrücken, meinen Unterarm. Es kribbelte so stark, dass ich es kaum aushielt. Dennoch rührte ich mich nicht. Ich war in eine Art Schockstarre verfallen.

Dann war ich wieder an der Reihe. Ich wurde jetzt wagemutiger, traute mich, ihren Mund zu berühren. Vorsichtig strich ich mit dem Zeigefinger über die Unterlippe und über die Knicke an ihren Mundwinkeln. Spürte den zarten Flaum an der Oberlippe, den warmen Luftzug ihres Atems. Schließlich berührte ich ihr Haar, ließ die Strähnen durch meine Finger gleiten, völlig hingerissen von der Weichheit, dem leuchtenden Blond.

Mittlerweile saß ich fast auf der Kante des Sessels, und auch sie war auf dem Bett ganz nach vorn gerückt. Ich konnte ihren Duft wahrnehmen, irgendeine Seife oder ein Parfüm. Wir schienen Ewigkeiten dort zu sitzen, in geradezu andächtiger Erstarrung, uns betastend und befühlend, als wollten wir über unsere Hände miteinander vertraut werden. „Endlich!“, dachte ich immer wieder.

Irgendwann zog sich die Spannung etwas zurück, und wir fanden unsere Sprache wieder. Maren erzählte, wie heftig im Dorf anfangs über uns geklatscht worden war. Mutter geschieden! Kinder verwahrlost! Dann dieser tätowierte Kerl aus Neuschönhagen! Ich war ziemlich baff, welches Aufsehen ein simpler Einzug hier anscheinend erregte. In der Nordstadt interessierte es niemanden, wenn irgendwo die Mieter wechselten. Meistens bekam man es gar nicht mit.

Es klopfte leise, Muttern steckte ihren Kopf zur Tür herein. „Hallo, ihr beiden.“ Sie blickte zu Maren, zu mir, dann wieder zu Maren. „Ich wollte bloß fragen, ob ihr vielleicht Tee möchtet?“

Nanu, seit wann kochte Muttern Tee, wenn ich Besuch hatte? War sie etwa neugierig? Ich schaute Maren fragend an. Sie nickte. „Okay“, meinte ich.

Muttern zog den Kopf wieder ein und schloss die Tür. Kurze Zeit später kam sie zurück, ein Tablett vor sich hertragend mit Kanne, Bechern und Zuckertopf. Vorsichtig stellte sie es auf dem Tisch ab. „Danke“, sagten Maren und ich brav im Chor.

Während wir Tee tranken, redeten wir weiter, über alles, was uns in den Sinn kam: die Clique, die Arbeit auf Gut Neudorf, die Sommerferien, die nicht mehr allzu fern waren. Zum ersten Mal sprachen wir mehr als nur das Nötigste miteinander. Ich genoss es sehr, auch wenn es sich manchmal noch ziemlich fremd anfühlte.

Und immer wieder kehrte unvermittelt diese Faszination zurück, wie ein Sog. Schlagartig verstummten wir, rückten zueinander, und begannen von Neuem, uns zu berühren und zu streicheln.

Bald saß ich neben ihr auf dem Bett. Ich wagte es endlich, mich zu ihr zu beugen, ganz langsam, immer weiter, bis unsere Lippen sich berührten. War das ein erster, vorsichtiger Kuss gewesen? Ich küsste sie auf die Wange, dann auf die Stirn. Sie hatte die Augen geschlossen. Es sah unbeschreiblich schön aus.

Und immer wieder fragte ich mich: warum ich? Warum lässt sie das alles zu, ausgerechnet bei mir? Nahm sie etwas an mir wahr, das ich selbst nicht sehen konnte?

Ihr Blick fiel auf den Wecker, die Augen weiteten sich. „Ich muss nach Hause!“, rief sie „Es ist schon nach acht! Ich krieg voll Ärger!“

Verdammt, ich hätte aufpassen müssen, ich Idiot! „Ich komm mit!“, sagte ich rasch.

Wir hasteten die Treppe runter, nahmen unsere Jacken vom Garderobenhaken. Draußen fingen gerade die Laternen an zu brennen. Noch immer war der Himmel wolkenverhangen, es dämmerte bereits.

Wir hielten uns beim Gehen fest an den Händen. Als wir an die Stelle mit den hohen Hecken kamen, wo einen niemand sehen konnte, stoppten wir, umarmten uns, drückten, so fest es ging. Erst als uns die Luft knapp wurde, ließen wir los.

„Sehen wir uns morgen?“, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf, sah mich fast entschuldigend an. „Morgen fahr ich mit meiner Mutter nach Eckhorst ins Krankenhaus, zu meiner Oma. Wir kommen erst abends zurück. Aber Freitagnachmittag klappt es.“

Mist, ich hätte sie gern so schnell wie möglich wiedergesehen. Irgendwie schaffte ich es, meine Enttäuschung runterzuschlucken. „Am Telefonkasten, um fünf?“, fragte ich. Sie nickte. Als das Haus der Sührings vor uns auftauchte, ging sie allein weiter.

„Auf dass du nicht so viel Ärger bekommst“, sagte ich leise zu ihr. Noch immer hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht auf die Zeit geachtet hatte.

„Ich denk an dich“, antwortete sie im Rückwärtsgehen. Ihre Augen leuchteten. Selbst im Dämmerlicht glaubte ich ihre grüne Farbe zu erkennen. Ich wollte etwas erwidern, brachte aber nichts heraus – es hatte mir glatt die Sprache verschlagen.

Sie warf mir einen Handkuss zu, drehte sich um, schloss die Tür auf. Noch einmal winkte sie, dann ging sie ins Haus.

Den Rest des Abends verbrachte ich wie im Rausch. Immer wieder rief ich mir die letzten Stunden ins Gedächtnis zurück, konnte kaum glauben, dass alles sich hier zugetragen hatte, in diesem Raum, meinem Zimmer. Selbst als ich längst im Bett lag, glaubte ich noch ihre Hände auf meiner Haut zu spüren. Überall wo sie mich berührt hatte, schien es zu kribbeln. Als hätten sich dort die Poren geöffnet und wollten sich jetzt gar nicht wieder schließen.

Ich glitt in eine Art Halbschlaf, aus dem ich immer wieder ruckartig aufwachte, manchmal erschrocken, weil ich dachte, alles wäre nur ein Traum gewesen, meistens aber trunken vor Glück.

So ging das eine ganze Weile. Irgendwann wurde es hinter dem Vorhang allmählich hell.



***



Ich saß im Bus zur Schule. Draußen nur reifende Kornfelder in der Morgensonne, so weit das Auge reichte. Immer wieder durchliefen mich neue Schauer von Glück. Alles schien vollkommen anders zu sein als noch am Vortag. Die Welt wirkte wie ausgetauscht.

Natürlich war es Maren! Warum hatte ich es nicht von Anfang an gemerkt? Alles war nur auf sie zugelaufen, seit unserem ersten Treffen. Nein, sogar schon vorher. Diese seltsame Kraft, die ich immer wieder spürte, auch vor Schönhagen schon gespürt hatte – Maren war ihr Mittelpunkt, ihr Zentrum.



***



Den ganzen Nachmittag hockte ich drinnen und versuchte, der Konfusion in meinem Kopf Herr zu werden. Meine Euphorie hatte inzwischen deutlich nachgelassen. Verdammt ungünstig, dass Maren ausgerechnet heute nach Eckhorst fuhr. Das mit ihrer Oma sah ich ja ein, und trotzdem: Jede Sekunde, die wir getrennt waren, schien uns weiter voneinander zu entfernen. Schon spürte ich die Anziehung fast nicht mehr, die gestern noch so grenzenlos, so unendlich gewesen war. Stattdessen kroch allmählich ein anderes Gefühl hervor: Unbehagen, Druck, fast Angst.

Maren und ich… konnte das ernsthaft gutgehen? War ihre Welt nicht doch viel zu weit von meiner entfernt? Täuschte sie sich gar in mir? Sah sie in mir jemanden, der ich in Wirklichkeit überhaupt nicht war? Erwartete sie etwas, das ich nicht bieten konnte?

Auf einmal hatte ich ganz merkwürdige Gedanken, die mir gestern nicht im Traum gekommen wären: Waren wir jetzt eigentlich zusammen? Wie sollten wir uns nun vor den anderen verhalten? In der Nordstadt musste man als Beweis eine Art Show abliefern, mit Küssen, Umarmungen und so weiter. Wenn das hier genauso lief, hatte ich ein Problem. Was war denn zwischen Maren und mir bisher passiert? Eigentlich so gut wie gar nichts. Jedenfalls gab es für Außenstehende bislang wenig zu sehen. Nicht mal richtig geküsst hatten wir uns gestern.

Irgendwie war es nichts Halbes und nichts Ganzes.



***



Beim Abendessen ging das Telefon – Hartmann! Mir fiel es wie Schuppen von den Augen: Wir waren ja für das Pfingstwochenende verabredet, und das fing morgen an!

Eigentlich wollte ich nicht, dass er hier aufkreuzte. Ich hatte gerade völlig andere Sorgen. Leider fiel mir auf die Schnelle keine Ausrede ein, aber so kurzfristig konnte ich ihm eh nicht mehr absagen. Er saß quasi auf gepackten Koffern, hatte sich schon die Busverbindungen nach Schönhagen rausgesucht. War es sein Problem, wenn ich unser Treffen verschusselt hatte?

Also Hartmann. Er würde morgen am frühen Nachmittag kommen und bis Pfingstmontag bleiben. Wie sollte ich ihm bloß die Sache mit Maren erklären? Er wusste natürlich noch nichts von ihr. Wie auch? Es war ja erst gestern passiert.

Scheiße, was hatte ich mir da bloß alles aufgehalst?



***



Ich saß in meiner Bude und wartete auf das Türklingeln. Vorhin hatte ich kurz mit Maren telefoniert und Hartmann angekündigt. Sie war total gespannt auf ihn.

Mir dagegen war ziemlich mulmig zumute. Was würde Hartmann zu ihr sagen? Was würde überhaupt gleich passieren? Wir hatten uns seit über einem Monat nicht gesehen. Auch unsere Telefonate waren in letzter Zeit selten geworden.

Endlich klingelte es. Als ich runterging, erkannte ich seine Gestalt bereits durch die Milchglasscheibe der Haustür. „Hi, wie läuft's?“, meinte er, kaum dass ich geöffnet hatte. Er verzog keine Miene.Wie warm es geworden war! Heute morgen hatte es noch nach Regen ausgesehen, aber nun strahlte die Sonne von einem fast wolkenlosen Himmel herab. Hartmann trug seine Jacke über die Schulter gehängt. Die Ärmel seines T-Shirts waren abgeschnitten. Auf seinem rechten Oberarm sah ich ein neues Tattoo: ein Kreuz, um das sich eine Schlange wand. Ich stellte mir Frau Rönnfelds entsetztes Gesicht bei seinem Anblick vor und musste unwillkürlich lachen.

„Was ist?“, fragte er irritiert. „Irgendwas nicht in Ordnung?“

Aber ich hatte mich schon wieder im Griff. „Nee, nee, alles okay“, sagte ich schnell. Wir gingen nach oben. Hartmann warf seine Sachen aufs Bett und fischte eine zerknüllte Packung Camel aus der Hosentasche. Er zündete zwei Kippen an und hielt mir wortlos eine hin.

Während wir rauchten, berichtete er die Neuigkeiten der letzten Zeit. Die Klopperei vom Ostersamstag, die keine gewesen war, sollte demnächst nachgeholt werden – die Hawks hatten sich bereits wieder in der Nordstadt angekündigt. Britta war jetzt mit Tom zusammen, angeblich nicht wegen seiner Kohle, sondern weil sie sich unsterblich in ihn verliebt hatte.

Im Geiste sah ich Toms Zimmer vor mir, die vielen Leute, die Hehler und die ganze Vertickerei. Ich versuchte mir die Prügelei mit einer feindlichen Gang vorzustellen: ineinander verkeilte Leiber, fliegende Fäuste, Staub, Blut…. aber meine Bilder blieben seltsam künstlich und statisch. Wie in einem schlecht gemachten Film.

Ich schaute aus dem Fenster, sah den blauen Himmel, die sonnenbeschienenen Gärten. Auf einmal hatte ich das Bedürfnis, rauszugehen. Ich wollte die Wärme auf der Haut spüren, den Duft des reifenden Korns einatmen. Nichts anderes.



***



Wir standen an der Haltestelle Richtung Strand. Zu einem Fußmarsch hatte ich Hartmann nicht überreden können, also nahmen wir den Bus. Wir wollten uns am Deich hinsetzen, frische Luft schnappen, ein bisschen gucken. Hartmann hatte den Ghettoblaster von Henri dabei, um „Krach zu machen“, wie er meinte.

Beim Einsteigen wollte ich einen Ergänzungsfahrschein lösen, da meine Monatskarte nur bis Schönhagen reichte. Aber Hartmann zog mich wortlos am Fahrer vorbei hinter sich her. Bezahlen sei was für Weicheier, raunte er, als wir die Rückbank in Beschlag nahmen.

Der Bus war fast leer. Hartmann kritzelte mit einem schwarzen Edding auf den Sitzen herum, ich hielt die ganze Zeit panisch Ausschau nach Kontrolleuren. Zum Glück dauerte die Fahrt nicht allzu lange. An der Endstation suchte ich einen passenden Bus für die Rücktour heraus und merkte mir die Abfahrtzeit. Ich wollte nachher auf keinen Fall zu spät zu meiner Verabredung kommen.

Den Weg bis zur Strandpromenade mit ihren Läden, Imbissen und Restaurants hatten wir rasch zurückgelegt. Alles war voller Menschen. Hartmann murmelte etwas von „Stoff holen“ und steuerte einen kleinen Supermarkt an. Wir kauften Dosenbier und Knabberkram, dann enterten wir eine Sitzbank auf dem Deich.

Am Wasser war mittlerweile alles mit Strandkörben zugepflastert, dazwischen lagen überall Leute auf Handtüchern im Sand. Kinder tobten herum, buddelten, spielten Ball. Nur baden tat noch niemand – die Wachtürme der DLRG, die in regelmäßigen Abständen aus dem Sand aufragten, waren alle unbesetzt.

Hartmann riss zwei Biere auf, drückte mir eins in die Hand. Nach jedem Schluck rülpste er laut. Der Ghettoblaster war voll aufgedreht, Punk dröhnte aus den Boxen. Die Spaziergänger machten einen weiten Bogen um uns, Eltern nahmen ihre Kinder an die Hand.Früher hatte ich gern so mit den anderen Kumpels zusammengesessen. Wir hatten uns stark gefühlt, unangreifbar, frei. Wer uns blöd gekommen war, den hatten wir zusammengepfiffen. Auch jetzt gab ich mir alle Mühe, die Situation cool und lustig zu finden. Aber es klappte nicht. Die Art, wie wir uns hier breitmachten, dazu die laute, aggressive Musik, die so gar nicht zur friedlichen Strandatmosphäre passte, schließlich Hartmanns Benehmen – es war mir total peinlich. Am liebsten hätte ich mich unsichtbar gemacht.

„Dein Bier wird warm“, meinte Hartmann. Ich hatte die Dose neben mich gestellt und bisher kaum daraus getrunken. Auch jetzt nahm ich nur einen kleinen Schluck. Ich wollte nicht mit einer Bierfahne nach Schönhagen zurückkommen.

Je weiter die Zeit voranschritt, desto nervöser wurde ich. Ich musste Hartmann endlich erzählen, was Sache war, sonst fiel er nachher aus allen Wolken. Als ich die Musik leiser drehte, guckte er mich einen Moment lang verwundert an. Aber er sagte nichts, machte sich bloß ein neues Bier auf.

„Hab' jetzt übrigens eine Freundin“, meinte ich in beiläufigem, fast gelangweiltem Tonfall. Als ob nichts Besonders passiert wäre, bloß das Übliche. Er reagierte zuerst nicht. Nach einer Weile drehte er sich zu mir: „Hier? Bei den Landeiern?“ Er konnte mir wohl nicht ganz folgen.

Ich wurde knallrot, fühlte mich auf einmal, als hätte ich ein Geständnis abgelegt.

Er schüttelte den Kopf und kniff die Augen zusammen, als müsse er erst mal richtig wach werden. „Die, die immer auf den Öko-Bauernhof rennen und sich Tiere angucken wollen?“

Ich nickte. Ein Kloß saß mir im Hals.

Dann polterte er los: „Sag mal, geht’s noch? Ich dachte, das sind alles totale Penner? Und jetzt hast du hier plötzlich 'ne Freundin?“

„Tja, so kann's kommen.“, erwiderte ich leise, als würde ich mich selbst wundern. Und fast bedauernd fügte ich hinzu: „Wirst sie übrigens gleich sehen.“

„Oha!“ Er trank einen kräftigen Schluck Bier und rülpste lauter denn je. Nach einer Weile fragte er: „Wie heißt sie denn?“

„Maren.“ Wie fremd dieser Name auf einmal klang. Als hätte er gar nichts mit mir zu tun.

Während der Rückfahrt saß Hartmann mit versteinerter Miene neben mir. Bestimmt war er ziemlich sauer. Weshalb hatte ich ihn nie auf dem Laufenden gehalten? Ich hätte öfters in der Nordstadt anrufen müssen. Und eben am Strand wäre es besser gewesen, langsam an die Sache ranzugehen, nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Ich hatte es komplett vermasselt, ich Depp. Kein Wunder, dass er sich jetzt verarscht fühlte.

Es war gerade mal viertel vor fünf, als der Bus in Schönhagen einfuhr. Wir stiegen eine Station früher aus, gingen das letzte Stück zu Fuß. Ich war froh über die unverhoffte Gnadenfrist– mittlerweile ging mir doch ziemlich die Pumpe. Wie sollte ich mich gleich verhalten, wenn wir Maren trafen? Ihr zur Begrüßung einfach einen Kuss aufdrücken? In der Nordstadt war das ein Muss, darunter ging gar nichts. Und hier? Konnte ich das wagen? So viel war klar: Falls Maren mich nicht ließ, war ich vor Hartmann total blamiert!

Punkt fünf Uhr bogen wir vom Achterkamp in die Kleiststraße – am Telefonkasten war niemand. Hatte sie mich versetzt? Gar vergessen? Ein Gefühl herber Enttäuschung brannte in meiner Magengrube, gleichzeitig spürte ich Erleichterung: Die Begegnung zwischen Hartmann und Maren würde zum Glück ausfallen. Erstmal jedenfalls.

Dann hörten wir Stimmen aus der Eichendorffstraße – und schlagartig kehrte das Magendrücken zurück. Schwerem Herzens ging ich um die Ecke: Da saß sie, auf dem Kantstein, zusammen mit Kristina. Exakt wie am ersten Tag, damals im April, aber ich konnte mich über den Anblick nicht freuen. Auf einmal sah ich alles nur noch mit Hartmanns Augen: Zwei schüchterne Tussis vom Lande hockten dort wie Hühner auf der Stange und schauten treuherzig-naiv zu uns hoch. Ging's noch schlimmer? Verdammt ungünstig außerdem, dass Maren Kristina mitgeschleppt hatte. Wahrscheinlich wollte sie Hartmann und mir nicht allein gegenüberstehen, aber dadurch wurde der Abstand zwischen uns nur noch größer…

Ich riss mich zusammen. „Hallo!“, sagte ich und versuchte fröhlich und locker zu klingen. Hartmann brummte etwas, das mit viel Wohlwollen als „Moin“ interpretiert werden konnte. Die Mädchen grüßten nur leise zurück, wohl leicht eingeschüchtert von Hartmanns Knurrigkeit.

Eigentlich hätte ich jetzt alle miteinander bekannt machen müssen, wie in Schönhagen üblich. Aber ich wusste, das Hartmann das blöd gefunden hätte, also ließ ich es bleiben. Stattdessen versuchte ich, ein Gespräch in Gang zu bekommen, über Gott und die Welt und das Wetter. Irgendwie musste ich es schaffen, gute Stimmung zu verbreiten, die beiden unterschiedlichen Parteien miteinander zu versöhnen.

Aber ich kämpfte auf verlorenem Posten: Hartmann stand die ganze Zeit nur mit finsterer Miene da und sagte keinen Ton, die Mädchen gaben sich ebenfalls ziemlich wortkarg. Allmählich gingen mir die Themen aus, im Smalltalk war ich noch nie besonders gut gewesen. Ich fühlte mich wie ein Komiker, der es nicht nicht schafft, sein Publikum mitzureißen. Ringsherum nur versteinerte Mienen, ablehnende Blicke, eisiges Schweigen.

Schließlich sprach niemand mehr. Eine fast unerträgliche Spannung lag in der Luft, alle schienen darauf zu warten, dass etwas passierte, von irgendwoher die Erlösung kam. Endlich standen die Mädchen auf. „Wir müssen rein“, erklärte Kristina. Hartmann zog eine Braue hoch, blieb aber still. „Ich bring dich“, sagte ich schnell zu Maren. Dann fiel mir ein, dass ich Hartmann schlecht hier stehen lassen konnte. „Kommst du mit?“, fragte ich pflichtschuldig, fast widerwillig. Ich wäre liebend gern einen Moment mit Maren allein gewesen.

Schweigend gingen wir zu dritt in die Brentanostraße. Eben bei Marens Aufbruch schien ganz kurz eine Verbindung zwischen uns entstanden zu sein, endlich. Aber der Kontakt hatte nicht gehalten, längst waren wir wieder auf verschiedenen Seiten, sie auf ihrer, ich auf meiner. Und die ganze Zeit spürte ich Hartmanns Blick im Nacken. Klar, er wartete darauf, dass ich endlich was mit Maren anstellte. Ich hätte sie küssen oder wenigstens umarmen müssen, um zu zeigen, dass sie meine Freundin war. Zur Not hätte auch ein bisschen Händchenhalten genügt.

Als wir zum Haus der Sührings kamen, ging ich volles Risiko. Ich griff mir Maren und versuchte ihr einen Abschiedskuss auf den Mund zu drücken. Aber sie wehrte mich ab, sagte leise „Nicht!“. Ein entschuldigender Blick – und sie war weg.

Auf dem Rückweg sprachen Hartmann und ich kein Wort miteinander. Das Desaster war komplett. Ich hatte mich endgültig vor ihm lächerlich gemacht.



***



Tags darauf trafen wir uns mit Bernd, Jürgen und den Mädchen am Telefonkasten. Ich überlegte, ob ich die Vorstellungszeremonie nachholen sollte, die ich mir gestern verkniffen hatte, traute mich aber wieder nicht. Wir wechselten bloß ein paar verhaltene Begrüßungsfloskeln, dann latschten wir los.

Hartmann wirkte zwischen den ganzen Schönhagenern fremder denn je. Seine langen, zotteligen Haare, die vielen Narben und Tattoos auf den Armen, dazu sein finsterer, provozierender Blick – es war, als hätte man ihn aus der Nordstadt herausgeschnitten und hierher verpflanzt.

Wir gingen die Brentanostraße entlang und kamen bald in die kleine Mietshaus-Siedlung, der einzigen in Schönhagen. Die Handvoll Wohnblöcke hatten allesamt nicht mehr als zwei Etagen. In der Mitte gab es einen Spielplatz mit Rutsche, Klettergerüst und Sandkiste. Es erinnerte ein bisschen an die Nordstadt, obwohl dort die Häuser natürlich viel höher waren. Bernd und Jürgen fingen an, auf dem Gerüst herumzuturnen. Vielleicht wollten sie uns demonstrieren, was sie bei der Freiwilligen Feuerwehr gelernt hatten, vielleicht versuchten sie auch bloß die seltsame Spannung abzuschütteln, die sich erneut ausgebreitet hatte. Jedenfalls wirkte ihr Eifer ansteckend: Es dauerte nicht lange, bis die Mädchen es ihnen gleichtaten. Ich fand die Kletterei eigentlich albern. Aber ich wollte nicht außen vor bleiben, also legte ich ebenfalls los. Nur Hartmann blieb unten stehen und beobachtete unser Treiben mit genervter Miene.

Irgendwann hatten wir uns ausgetobt und saßen erschöpft auf der Oberkante des Gerüstes. Hartmann wartete, dass wir wieder herunterkamen, aber niemand rührte sich. Eine Art stilles Tauziehen zwischen ihm und uns entstand. Schließlich kapitulierte er und begann ebenfalls zu klettern. Aber er bewegte sich betont langsam und unmotiviert – wir sollten sehen, wie unglaublich dämlich er das alles fand.

Oben angekommen setzte er sich wie selbstverständlich auf meine Seite. Zwei Fraktionen entstanden: drüben die Schönhagener, hier Hartmann und ich. Zwischen uns lag Niemandsland.

Kristina und Silke begannen uns über die Nordstadt auszufragen. Eigentlich sprachen sie uns beide an, aber Hartmann schwieg eisern, deshalb musste ich die Lücke füllen. Mehr und mehr fiel ich in eine Rolle zurück, die ich eigentlich nicht mehr wollte, von der ich geglaubt hatte, sie längst los zu sein: Ich war wieder der Fremde aus der großen, aufregenden Stadt, den man bestaunte wie einen Exoten.

Je länger sie mich löcherten, desto schlechter ging es mir. Ein Graben klaffte zwischen ihnen und mir, ein gähnender Abgrund, der immer breiter wurde. Es war wie ein Sog, ein starker Magnetismus, der mich immer weiter davontrug, weg aus Schönhagen, weg von den Leuten, von Maren… sie hatte sich wieder ganz in das unauffällige, schüchterne Landei der ersten Tage zurückverwandelt. Warum ich sie kürzlich noch hatte anhimmeln können, erschien mir auf einmal wie ein Rätsel.

Selbst als die Fragestunde längst vorüber war, fühlte ich mich noch wie benommen; nur sehr langsam wollten die Stimmen der anderen in mein Bewusstsein zurückkehren. Da war Bernd, Jürgen, waren die Mädchen. Sie redeten und lachen unaufhörlich, als wäre alles bestens und wie immer.

Dann merkte ich, dass doch jemand von meiner Abwesenheit mitbekommen hatte – Maren. Sie beobachtete mich mit gerunzelter Stirn und verwunderter, fragender Miene.



***



Um mich herum rote Klinkerfassaden, die in den Himmel wachsen. Die Haustüren haben unzählige Briefschlitze, ihre Klingelbretter sind groß wie Tischplatten. Alles ist fremd, monoton, erdrückend. Häuser über Häuser, in der Ferne zu einem geschlossenen Riegel aus Mauern und Fenstern verschmelzend. Und zwischen den Beton-Monolithen nur Leere, steinerne Mondlandschaft.

Unser neues Viertel… der Plattenweg, auf dem ich gehe, ist eine schnurgerade Linie ins Unendliche. Rechts Sitzbänke, gezimmert aus massiven Bohlen, als müssten sie Riesen aushalten. Überall liegen Glasscherben verstreut. Und die ganze Zeit ist eine bedrückende, unheilverkündende Stimmung zu spüren.

Eine Sandkiste – aber weshalb spielt hier niemand? Mein alter Spielplatz ist immer voller Kinder gewesen. Ich fange an zu buddeln, freue mich, die Sandkiste für mich allein zu haben…

Auf einmal sind Kinder um mich herum, ein ganzer Pulk. Sie sagen nichts, glotzen nur. Plötzlich stürzen sie sich auf mich, wie in einer einzigen Bewegung. Schlagen und treten wie besessen auf mich ein, stopfen mir Sand in den Mund, zerreißen meine Klamotten. Jemand zieht mich hoch, ein Gesicht steht vor mir, eine Fratze mit verschnodderten Nasenlöchern und verkrustetem Blut an der Lippe – dann habe ich eine Faust im Gesicht, spüre das Blut aus der Nase schießen. Und die ganze Zeit höre ich eine verzerrt gegrölte Version des Liedes, das ich beim Spielen vor mich hingesungen habe.

Sie sind endlich weg. Vorsichtig stehe ich auf, alles dreht sich. Ich wische mir das Blut aus dem Gesicht, klopfe mir den Sand ab. Dann gehe ich langsam zur Haustür zurück. Leute hasten rechts und links vorbei, aber sie beachten mich nicht, hier ist sich jeder selbst der Nächste. Ich fühle mich wie taub, darf, kann nicht weinen. In mir ist gerade etwas erstickt, gestorben…



***



Ein Rütteln an der Schulter, dann eine knurrende Stimme: „Ey, wach auf!“

Zaghaft öffnete ich die Augen, erkannte in der Dunkelheit undeutlich eine Gestalt: Hartmann.

„Was heulst du rum, Mann?“, fragte er.

Endlich verstand ich: Wir waren in meinem Zimmer, er hatte mich geweckt. Aber ich wusste nicht, was er meinte. Ich spürte nur diesen Kloß im Hals. Und gerade hatte ich einen Traum gehabt, in dem ich den Tränen nahe gewesen war.

Aber ich hatte doch wohl nicht wirklich geheult? Große Scheiße, warum musste das ausgerechnet jetzt passieren, wo Hartmann da war?

Was hatte ich bloß geträumt? Eben waren die Bilder noch glasklar gewesen, aber nun konnte ich sie nicht mehr fassen…

Es war so gnadenlos peinlich! Hoffentlich hatte Hartmann Erbarmen und sprach die Sache morgen nicht mehr an.



***



Pfingstsonntag. Wir saßen im Garten von Jürgens Eltern, gerade stellte uns Herr Engels eine Schüssel Erdbeeren auf den Tisch. Er hatte vormittags sein Beet abgeerntet. „Kleine Gegenleistung“, meinte er und spielte auf die Berge von Früchten an, die wir immer von Gut Neudorf mitgebracht hatten.

Die Mädchen waren heute völlig überdreht. Sie amüsierten sich über Nichtigkeiten, alberten rum, kreischten und krakeelten, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Ich spürte, dass es an Hartmann lag. Sie wollten ihn provozieren, ihm zeigen, dass sie sich von ihm die gute Laune nicht verderben ließen. Ihre Taktik schien aufzugehen: Hartmanns sowieso schon genervte Miene verfinsterte sich immer mehr. Er war kurz davor, abzuhauen, das sah man deutlich. Trotzdem konnte ich eine leise Schadenfreude nicht verhehlen: Warum versuchte er nicht wenigstens, mit den Schönhagenern zu quatschen? Warum wollte er ihnen unbedingt Verachtung entgegenbringen, dieser Sturkopf?

Als wir in die Siedlung zurückgingen, schlug jemand eine Abkürzung über das Gelände der Raiffeisen-Genossenschaft vor. Damit waren die Getreidespeicher am Bahnhof gemeint; den Turm mit dem grünen Logo konnte man aus allen Himmelsrichtungen von weither sehen. Eigentlich durfte man das Areal nicht betreten, aber Jürgen meinte, am Wochenende wäre dort keiner und man würde fast zehn Minuten Weg sparen.

Ich wollte schon hinterherlatschen, als Hartmann mich zurückhielt. „Lass uns den Weg von vorhin nehmen“, raunte er. Okay, es war soweit, er wollte mir eine Ansage machen. „Wir gehen außen rum“, rief ich den andern zu. Sie winkten und ließen uns allein.

Kaum waren sie außer Sichtweite, platzte Hartmann los: „Hauke, bist du total übergeschnappt? Was suchst du bei diesen Landeiern? Und die Blonde – mit dieser albernen, kindischen Ziege willst du zusammen sein?“

Im ersten Moment war ich platt, wie ausgeknockt von der Deutlichkeit und Härte seiner Worte. Seine Stimme hallte in mir nach, immer wieder kehrten einzelne Satzfetzen zurück: „Landeier… alberne, kindische Ziege…“

Dann wurde ich wütend, maßlos wütend. Zum ersten Mal, seit wir uns kannten, hätte ich Hartmann am liebsten eine reingehauen, ihm die Fresse poliert.

Aber auf einmal machte etwas in mir 'klick'. „Ja, will ich“, hörte ich mich sagen. Völlig ruhig und ungerührt hatte ich gesprochen, hatte die Worte sozusagen in die Stille hineinfallen lassen. Und nun war ich über mich selbst erschrocken.



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Stumm gingen Hartmann und ich in die Siedlung zurück. Sein Gesicht drückte Unverständnis aus und manchmal etwas, das wie Fassungslosigkeit wirkte.

Die anderen warteten am Telefonkasten. Alle standen bloß herum, niemand gab einen Mucks von sich. Die Stimmung war auf dem Tiefpunkt angelangt, auch die Mädchen hatten ihr letztes Pulver verschossen. Schließlich haute einer nach dem anderen ab, bis nur noch Hartmann, Maren und ich übrig waren. Wieder begann dieses zermürbende, fast aggressive Schweigen, wie Freitagabend nach unserem Strandausflug.

Die ganzen Tage – so schien es mir jetzt – war ich damit beschäftigt gewesen, den knurrigen Hartmann bei Laune zu halten. Um Maren hatte ich mich so gut wie gar nicht kümmern können. Gestern abend war sie nach Hause gegangen, ohne dass ich es überhaupt gemerkt hatte. Das durfte mir nicht noch einmal passieren, auf gar keinen Fall! Wenn ich sie heute einfach wieder gehen ließ, war es aus, das wusste ich. Und sie würde jeden Moment gehen. Ihre Geduld schien am Ende zu sein. Ich konnte förmlich sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete, wie sie versuchte, einen Entschluss zu fassen.

Hartmann registrierte es offenbar auch. Er schien darauf zu spekulieren, dass sich unser Problem demnächst von selbst erledigte. Ich musste etwas tun, jetzt, sofort, es war meine letzte Chance!

„Kannst du schon mal reingehen, Hartmann?“ Ich hielt ihm den Hausschlüssel hin.

Welche unglaubliche Selbstüberwindung es gekostet hatte, diesen schlichten Satz zu sagen! Aber nun, da er heraus war, fühlte es sich wie eine Befreiung an.

Bisher hatte immer Hartmann bestimmt, wo 's langging. Er kannte alle wichtigen Leute, alle Anlaufpunkte in in der Nordstadt, also hatte er auch das Kommando gehabt. Das schien die natürliche Ordnung gewesen zu sein. Nun hatte ich die Richtung vorgegeben, zum allerersten Mal. Mit einem Schlag schien alles auf den Kopf gestellt.

Eigentlich erwartete ich nicht ernsthaft, dass Hartmann auf mich hören würde. Bestimmt tippte er sich an die Stirn, sagte „Leck mich“ und blieb wo er war. Mit allem möglichen rechnete ich, bloß nicht mit dem, was nun passierte: „Sorry“, murmelte er leise und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. Er wirkte geschockt, als würde ihm erst jetzt so richtig klar werden, was eigentlich Sache war. Dann nahm er den Schlüssel und trottete davon. Plötzlich erinnerte er mich wieder an den kleinen Jungen aus der Grundschule, der von allen herumgeschubst und weggejagt wird. Mein schlechtes Gewissen kam hoch, schon wollte ich hinterherlaufen, mich bei ihm entschuldigen…

Dann fiel mein Blick auf Maren, und ich wusste: Sie war wichtiger. Um Hartmann konnte ich mich später kümmern.

„Gehen wir noch ein Stück?“ Etwas Besseres fiel mir nicht ein. Aber sie nickte.

Wir liefen schweigend nebeneinander her Richtung Dorf. Endlich waren wir allein, zum ersten Mal seit Donnerstagabend. Ob sie überhaupt noch wollte? Oder würde sie mir gleich sagen, dass Schluss war? Überlegte sie bloß noch, wie sie es mir möglichst schonend beibringen konnte?

Irgendwann traute ich mich, ihre Hand zu nehmen… und sie zog sie nicht weg! Meine Erleichterung war riesig, auf einmal fühlte ich mich regelrecht erschöpft. Dann wurde ich ganz ruhig. Durch unsere Berührung schien sich ein Kreis zu schließen. Eine geheimnisvolle Energie begann zu fließen, unsere ineinander verschlungenen Hände wurden immer wärmer.

Auf dem Weg durchs Dorf begegnete uns niemand. Wir durchquerten die schmale Gasse namens „Knüll“, kamen zur Grünen Insel. Die Eisdiele hatte bereits geschlossen, die Sitzbänke am Mühlenteich waren verwaist. Außer dem Plätschern des Wassers und dem gelegentlichen Quaken der Enten hörte man keine Geräusche mehr. Schweigend gingen wir um den Teich herum, uns die ganze Zeit fest an den Händen haltend. Allmählich begann es zu dämmern, der Himmel färbte sich rot. Jeden Augenblick mussten hinten an der Straße die Lichter angehen.

Man konnte förmlich sehen, wie der Tag dahinschwand. Maren würde bald nach Hause müssen, dann war dieser besondere Moment wieder vorbei. Sie dachte offenbar dasselbe: Immer kleiner wurden unsere Schritte, immer langsamer unsere Bewegungen, zeitlupenhafter, schwebender, schwereloser. Wir versuchten den Moment auszudehnen, so lange es ging, und es schien zu funktionieren. Hätten nicht die Straßenlaternen längst brennen müssen? Und das blutrote Licht, in das die Landschaft mittlerweile getaucht war – weshalb nahm es nicht weiter ab? Der Zeitfluss war ins Stocken geraten; dieser Augenblick, so winzig er auch sein mochte, hatte etwas von Ewigkeit, gehörte uns ganz allein.

Natürlich kamen wir rechtzeitig wieder in die Siedlung zurück, standen pünktlich vor der Haustür der Sührings. Und doch hatte ich das Gefühl, sehr lange unterwegs gewesen zu sein, bedeutend länger jedenfalls, als man für den Weg von hier zum Mühlenteich und zurück brauchte.

Anders als am Freitag versuchte ich heute gar nicht erst, Maren einen Abschiedskuss zu geben, sah ihr nur in die Augen. Sie strich mir über den Arm; es schien wie eine Geste des Verstehens und der Aufmunterung. Als wären die letzten Tage für mich schwieriger gewesen als für sie.

„Tschüss“, sagte sie leise und ging hinein.



***



Abends im Bett musste ich immer wieder an diese kurze Szene denken: ihre Berührung zum Abschied, ihr warmer, liebevoller Blick.

Meine Gedanken waren so klar wie nur selten.

Bisher war ich immer mit dem Strom geschwommen, hatte den Weg des geringsten Widerstandes gewählt. Hauptsache, man kriegte keinen Stress mit den Kumpels, hatte seine Ruhe. Alles andere war mir wurscht gewesen.

Jetzt gab es zum ersten Mal etwas, das mir wichtig war. Und prompt fingen die Probleme an, mussten Entscheidungen gefällt werden.

Aber ich brauchte mir nichts vorzumachen: Ich hatte mich längst entschieden – für Maren. Wer das nicht akzeptierte, hatte Pech gehabt.



***



Am nächsten Tag war es so mild, dass wir beschlossen, im Garten zu frühstücken. Ein echtes Teamwork entwickelte sich: Henri, Hartmann und ich deckten den Tisch, Muttern kochte Tee und Kaffee und machte Rührei. Klaus fuhr zum Bäcker – angeblich hatte der auch feiertags geöffnet. Und tatsächlich: Kurz darauf kam er mit einer Riesentüte Brötchen zurück. Schließlich saßen wir unter der Markise an der reichlich gedeckten Tafel und futterten, was das Zeug hielt.

Hartmann schien bester Stimmung zu sein. Er witzelte mit Klaus herum, quatschte mit Henri über Autos, hielt Muttern die Tassen zum Kaffeeeingießen hin. Auch gestern Abend hatte man ihm nichts mehr angemerkt. Sah er die Sache doch nicht so eng, wie ich befürchtet hatte? Nein, ich traute dem Frieden nicht, da kam bestimmt noch was nach. Aber ich wollte mir darüber keine Gedanken machen. Ich wollte jetzt einfach nur hier sitzen und den schönen, sommerlichen Tag genießen.

Klaus beschmierte eine Brötchenhälfte fingerdick mit Marmelade und versenkte genüsslich die Zähne darin. Dieses Frühstück war seine Idee gewesen – wie so vieles, was jetzt bei uns lief. Er schaffte es einfach, Gemeinschaft herzustellen, den Leuten das Gefühl zu geben, etwas wert zu sein, etwas zu können.

Zum Beispiel Henri. In der Nordstadt hatte er immer als Volltrottel gegolten, den keiner ernst nahm. Klaus dagegen übertrug ihm ständig irgendwelche Aufgaben, Reparaturen am Auto oder Arbeiten am Haus, bei denen Henri zeigen konnte, was er drauf hatte. Und er schien einiges drauf zu haben. Nebenbei verdiente er mit diesen Jobs ein hübsches Sümmchen, weil Klaus ihn meistens bezahlte.

Oder Hartmann. Dass er mehr konnte als auf dicke Hose zu machen, den Boss zu geben, den großen Checker, wäre niemand in den Sinn gekommen. 'Au weia' hatte es geheißen, als sich rumsprach, dass Hartmann eine Lehre als KFZ-Elektriker machen wolle. 'Der und Elektrik – na ja!' Klaus dagegen hatte ihm sofort die Arbeiten an der Hauselektrik übertragen, ohne mit der Wimper zu zucken. Und Hartmann schien seine Sache gut gemacht zu haben.

Garantiert war Klaus auch die treibende Kraft hinter Mutterns Verwandlung des letzten Jahres. Er musste sie irgendwie überzeugt haben, dass es lohnte, auch für die Familie Energie aufzubringen, nicht bloß für den Job. Von sich aus hätte Muttern bestimmt nicht angefangen, regelmäßig Essen zu kochen, unsere Hausaufgaben zu kontrollieren und darauf zu achten, dass wir abends pünktlich schlafen gingen.

Schließlich ich selbst. In Klaus hatte ich endlich jemanden gefunden, der sich für meine Themen interessierte, meine Probleme nachvollziehen konnte. Man merkte immer wieder, dass er schon einiges gesehen hatte von der Welt und das Leben kannte.

So viel war sicher: Wenn aus unserem versprengten Haufen allmählich so etwas wie eine Familie wurde, lag das nicht zuletzt an Klaus.

Dabei war ich lange Zeit total wütend auf ihn gewesen. Bloß wegen ihm waren wir mit Sack und Pack aus der Nordstadt weggezogen, hatten dort alles aufgegeben. Aber mittlerweile sah ich die Sache anders. Wären wir nicht nach Schönhagen gekommen, hätte ich die Leute aus der Clique nicht kennengelernt, wäre ich Maren niemals begegnet…

„Was liegt heute eigentlich an?“, fragte Hartmann.

Nanu, weshalb interessierte ihn das noch? Er fuhr nachher doch eh in die Nordstadt zurück. Jedenfalls war es so geplant. Obwohl die Pfingstferien eigentlich erst morgen zu Ende gingen…

„Jürgen hat vorhin angerufen“, meinte ich zögernd. „Um zwei ist Treffen am Telefonkasten.“

„Und dann?“

„Wir wollten ein bisschen latschen, vielleicht mal zum Strand.“

„Baden?“, fragte Klaus.

Ich tippte, nein: hämmerte mit dem Zeigefinger gegen meine Stirn. „Ohne mich!“ Baden – was für eine bekloppte Idee!

„Man könnte ja über die Schiene gehen“, überlegte Hartmann. „wie in der Nordstadt. Fahren da noch Züge?“

Klaus schüttelte den Kopf. „Stillgelegt. Außer zum Sommerfest, wenn sie die Museumseisenbahn wiederbeleben.“

„Museums – was?“ Hartmann guckte nur planlos, auch ich konnte mir darunter absolut nichts vorstellen.

„Ein paar Freaks haben am Bahnhof Schönhagener Strand alles Mögliche zusammengetragen, was früher mal auf Schienen fuhr“, erzählte Klaus. „Züge, Straßenbahnen und so weiter. Bestimmt mit viel Arbeit verbunden. Und zum Sommerfest dürfen sie zeigen, was sie können: Dann pendelt ein alter Reichsbahn-Zug mit echter Dampflok zwischen Schönhagen und dem Strand. Aber das ist erst Anfang Juli. Jetzt habt ihr noch freie Bahn.“

„Also“, meinte Hartmann in meine Richtung. „wie sieht's aus?“



***

 

Zwei Uhr. Die anderen warteten bereits am Telefonkasten. Als ich auf Maren zuging, traten alle beiseite. Es wirkte, als hätten sie sich abgesprochen. Oder bei mir war endlich so was wie Entschlossenheit zu erkennen.

Hartmanns Vorschlag, über die Bahnstrecke zum Strand zu laufen, fand allgemeine Zustimmung. Wir zogen also los. Die Brentanostraße entlang, ein Stück über den Achterkamp, dann ins Dorf und an der Grünen Insel vorbei. Als wir gerade auf dem Pfad am Mühlenteich waren, drängte sich Hartmann zwischen Maren und mich. „Darf ich sie dir mal kurz entführen?“, fragte er. Aber er wartete die Antwort nicht ab, blieb einfach mit ihr zurück.

Verdattert ging ich weiter. Hatte ich doch geahnt, dass die Sache noch nicht ausgestanden war! Komisch: Maren hatte gar nicht überrascht gewirkt.

Immer wieder drehte ich mich um. Die beiden waren völlig in ihr Gespräch vertieft. So aufmerksam hatte ich Hartmann noch nie erlebt. Was erzählte sie ihm bloß? Angestrengt lauschte ich, versuchte ein paar Gesprächsfetzen aufzufangen. Zwecklos – die beiden waren zu weit weg. Und sie schienen darauf zu achten, dass der Abstand nicht kleiner wurde. Im Brook hinter der Kirche, wo der Weg eng und kurvig war, verlor ich sie ganz aus den Augen.

An der Strandstraße sah ich, wie Jürgen und der Rest unseres Trupps gerade das Bahngleis erreichten. Ich winkte ihnen zu und wartete. Endlich kamen Maren und Hartmann aus dem Wald. Er lieferte sie wortlos bei mir ab und rannte nach vorn zur Schiene, um die anderen einzuholen.

Eigentlich dachte ich, Maren würde mir über das Gespräch berichten. Aber sie griff nur nach meiner Hand und zog mich mit. „Was war los?“, platzte es aus schließlich mir heraus. „Was gab es so lange zu bequatschen?“

„Er wollte mich kennenlernen“, sagte sie bloß.

Seit wann wollte Hartmann jemanden „kennenlernen“?

Er sei sehr nett und aufmerksam gewesen, erzählte Maren. Ganz anders als sie gedacht hatte.

Hartmann – nett und aufmerksam? Ich verstand die Welt nicht mehr. Irgendwas an ihm hatte ich anscheinend immer übersehen. Etwas, das Maren mit ihrer Art hervorgelockt hatte.

„Das war wirklich ein gutes Gespräch“, sagte sie, und es klang wie ein Abschluss. Die Sache schien für sie erledigt zu sein. Aber ich wollte auch gar nicht weiter nachbohren. Eigentlich hatte ich gedacht, Hartmann so gut zu kennen wie sonst niemand, nun plötzlich kam er auf einmal mir total fremd vor…

Kaum betraten Maren und ich das Gleis, verfiel ich sofort in meinen gewohnten Trippelschritt über die Holzschwellen – es war ein bisschen wie nach Hause kommen. In der Nordstadt waren wir fast täglich über unsere Bahnschiene gelaufen. „Bahnschiene“ – in diesem Wort hatte ein Versprechen gelegen, nach Freiheit, unberührter Natur, Einsamkeit. Dabei hatte dort nur wenig an Natur erinnert: Zur Linken waren die Häuser der Nordstadt gewesen mit ihren Betonwänden und Glasfronten, zur Rechten die Trümmer des Bunkergeländes, die Müllkippen, die Halden voller Unkraut. Und über einem surrten permanent die Hochspannungsleitungen. Man unterquerte die Autobahnbrücke und stand schließlich vor den schwarzglänzenden Kohlehalden des Kraftwerks. Einsam war es auf der Bahnschiene auch nicht gewesen, im Gegenteil: Man hatte dort ständig Leute getroffen, die vielleicht dasselbe suchten wie wir.

Diese Strecke war völlig anders. Die Schienen waren verrostet und manchmal von Unkraut überwuchert, die Holzschwellen alt und brüchig. Zwischen ihnen war nur Sand, die Schottersteine mussten im Laufe der Zeit weggeschwemmt worden sein. Ein kurzes Stück schlängelte sich die Trasse noch durchs Dorf, dann ging es hinaus. Um uns war jetzt nichts mehr, nur Wiesen und endlose Felder. Der Wind rauschte, es duftete nach geschnittenem Gras. Insekten schwirrten durch die Luft, überall sah man Schmetterlinge.

Ein stiller, sonniger Nachmittag. Das Grün der Felder schien sich in Marens Augen zu spiegeln. Wir umarmten uns, drückten so fest, dass es wehtat. Ich bedeckte ihr Gesicht mit unzähligen Küssen, konnte einfach nicht genug bekommen.

Als wir weitergingen, trennte uns bereits ein gutes Stück Bahnstrecke von Jürgen und Silke. Kristina und Bernd, die vor ihnen liefen, konnte man gerade noch erkennen. Hartmann und Micha schließlich, die unseren Zug anführten, waren nur noch zwei Punkte in der Landschaft. Aber es war ähnlich wie auf dem Erdbeerfeld, am Abend nach dem Regenschauer: Dieses unsichtbare Band war wieder da, alle Entfernung schien aufgehoben.

Micha und Hartmann waren nun offenbar stehengeblieben: Nach einer Weile sah man Bernd und Kristina zu ihnen aufschließen, bald darauf folgten Silke und Jürgen. Schließlich trudelten auch Maren und ich ein – unser Kreis war wieder komplett.

Seitlich des Gleises verlief etwas, das ich erst für eine Laderampe hielt. Dann entdeckte ich ein verwittertes Schild: „Steenbarg“. Es gab eine Wartebank und sogar eine Holztafel mit Resten eines alten Fahrplans. Ein Bahnhof? Aber nirgends waren Häuser. Auf der anderen Seite rauschten ein paar Bäume einsam im Wind, weiter vorn überquerte ein Feldweg das Gleis, der sich aber in beide Richtungen schnell zwischen den Knicks verlor. Wo war der Ort abgeblieben?

„Der liegt ein paar Kilometer entfernt“, erzählte Jürgen. „Die Leute hatten früher ein gutes Stück zu latschen, wenn sie mit dem Zug fahren wollten. Aber seit der Umstellung auf Busse gibt's eine Haltestelle direkt im Dorf.“

Wir gingen weiter. Ein Ende der Strecke war nicht abzusehen. Per Fahrrad oder Bus schien es nur ein Katzensprung bis zum Strand. Erst jetzt, da wir den Weg zu Fuß liefen, merkte ich, wie weit er eigentlich war.

Ein Wald begann, kurz darauf folgte ein weiterer Bahnübergang. „Wollen wir mal zum Geisterhaus?“, fragte Kristina und schien plötzlich sehr aufgeregt. Hartmann und ich glotzten uns verständnislos an.

„Ist ein altes, verfallenes Haus im Wald“, erklärte Bernd.

Ein Haus im Wald? Vielleicht dasselbe, dessen Dach ich im Frühjahr zwischen den Bäumen gesehen hatte?

„Da spukt es“, raunte Silke, und man konnte deutlich hören, dass ihre Stimme zitterte.

„Wollt ihr da wirklich hingehen?“ Auch Micha schien die Sache nicht geheuer zu sein.

„Ach, das ist doch Quatsch!“ Bernd wurde ungeduldig. „Lasst uns lieber zum Ferienzentrum gehen, da ist wenigstens was los.“

Aber die Mehrheit zog es zu diesem Geisterhaus. Mich auch. Inzwischen war ich ziemlich neugierig geworden. Wir verließen die Bahnschiene und kamen kurz darauf an eine Straße. Dann begann ein neuer Feldweg. Wir passierten einen mächtigen Wegstein, dessen Spitze die Form einer Pyramide hatte. Es dauerte einen Moment, bis ich die Inschrift entziffert hatte, die vom Wetter nahezu ausgewaschen war: „A. D. 1810 Stein-Söhren“. Die Buchstaben waren verschnörkelt, das „D“ sah fast aus wie ein „W“.

Immer tiefer arbeiteten wir uns in den Wald hinein. Ich hatte längst jede Orientierung verloren. Unser Weg verschwand zusehends unter Gras und Moos. In einigen Jahren würde er wahrscheinlich nicht mehr zu erkennen sein. Die Bäume bildeten zu beiden Seiten ein dichtes Spalier, dahinter war es fast schwarz vor Dunkelheit.

Niemand sprach mehr ein Wort. Sogar die Vögel waren verstummt. Man hörte nur noch den Wind, wie er unablässig durch die Bäume rauschte. Manchmal knackte es, als würden irgendwo in der Nähe Zweige zerbrochen. Einmal sprangen neben dem Weg plötzlich Rehe auf und flüchteten in den Wald.

Bald zeichnete sich zwischen den Bäumen schemenhaft etwas Rechteckiges ab. Ein Gebäude? Wir bewegten uns nur sehr langsam darauf zu. Immer wieder verschwand der große Schatten im Grün und tauchte an unerwarteter Stelle wieder auf, ein Stück nach rechts oder links versetzt – es war völlig irritierend. Und ein bisschen gruselig.

Endlich teilte sich der Baumvorhang, und der Wald enthüllte sein Geheimnis: Verwitterte Backsteinmauern, leere Fensterhöhlen – ein altes Haus, eine Villa vielmehr. In regelmäßigen Abständen verzierten kleine Türmchen den Dachfirst. An den Vorderflügel schloss sich im rechten Winkel ein weiterer Gebäudeteil an, etwas niedriger und schlichter gebaut, wie ein Trakt fürs Personal oder ein großer Stall. Aber die einstige Pracht war dahin: Tiefe Risse durchzogen das Mauerwerk. Die Fensterrahmen, wenn überhaupt noch vorhanden, waren gesplittert, ihr Anstrich war fast abgeblättert. Das Ziegeldach wies ebenfalls zahlreiche Löcher auf.

Beide Flügel des Portals standen offen, der rostige Türriegel war aufgebrochen. Kaum hatten wir das Gebäude betreten, fiel eisige Luft auf uns herab wie ein nasses, schweres Tuch. Sommer und Wärme waren an der Türschwelle zurückgeblieben, plötzlich herrschte wieder Winter. Fröstelnd wanderten wir über lange Flure, blickten in zahllose leere Räume. Es roch modrig, die Tapeten waren fleckig und schimmelig, in Bodennähe breitete sich überall Moos aus. Einmal durchquerten wir die Reste einer Küche, in der sogar noch ein gusseiserner, komplett verrosteter Herd stand.

Schließlich kamen wir in einen Saal, dessen Rückseite fast vollständig von einer Front aus bodentiefen Fenstern eingenommen wurden. Allerdings fehlten Rahmen und Scheiben, man konnte einfach wie durch ein Tor hinausgehen und stand auf der Terrasse, in Wärme und gleißendem Sonnenlicht. Zu beiden Seiten führten Treppen hinab in den Garten. Wobei das Wort „Garten“ eigentlich nicht mehr passte zu dem Durcheinander aus Unkraut und Gestrüpp, das sich hier ausgebreitet hatte. Sogar einzelne Bäume sah man sprießen – allmählich holte der Wald sich dieses Stückchen Erde zurück.

Die Wände des Saals waren mit Aufschriften übersät, teils gepinselt, teils gesprüht. Die meisten waren längst verblichen, aber einige konnte man noch gut lesen: „Love“, „Jesus“ oder „Free Dope“ stand dort, oft gefolgt vom Peace- oder Anarchie-Zeichen. Vereinzelt sah man auch Kritzeleien mit Filzstift in deutlich kräftigeren Farben, Initialen, manchmal Namen. Bestimmt Urlauber, die sich hier verewigt hatten.

Einst war das Haus Teil eines Landgutes hier in der Gegend gewesen, erzählte Jürgen. Aber die Besitzer hatten keine Nachfahren mehr gehabt, bis auf eine Tochter, mit der sie jedoch über Kreuz lagen. Grund war ihr Verhältnis mit einem verheirateten Mann, der Frau und Kinder heimlich für sie verlassen hatte. Die beiden entschlossen sich, nach Amerika auszuwandern, nach Kalifornien, wo sie Mitglieder einer Sekte wurden. Unter mysteriösen Umständen kehrten sie schließlich nach Deutschland zurück. Das Haus war in der Zwischenzeit der Frau zugefallen – die Familie hatte sie nicht enterbt, niemand wusste, weshalb. Die beiden gründeten hier einen Ableger ihres obskuren Ordens. Wilde Drogenpartys gingen ab, auch von geheimnisvollen Ritualen und Beschwörungen wurde gemunkelt. Es hieß sogar, dass Schwarze Messen gefeiert würden.

Irgendwann hörten die Partys schlagartig auf, es gab fortan kein Lebenszeichen mehr von den Hausbewohnern. Hatten sie das Weite gesucht? Kein Mensch wusste es. Als niemand mehr die Rechnungen bezahlte, wurden Strom und Wasser abgestellt. Schließlich rückten die Bullen an. Ein grausiger Fund erwartete sie: die Leichen der Tochter und ihres Freundes, bereits stark verwest. Neben den Toten war ein Abschiedsbrief drapiert: Sie wollten 'diese verderbte Welt auf immer verlassen', schrieben die beiden darin.

Seitdem stand das Haus leer. Es fand sich kein Käufer mehr. Immer wieder machten Gerüchte die Runde, dass es abgerissen werden sollte, aber bis heute war nichts passiert.

„Wahrscheinlich haben die Behörden diese alte Hütte längst vergessen“, überlegte Bernd.

„Oder wollten sie vergessen“, sinnierte Micha.

„Bis es mal einen Unfall gibt!“ Jürgen wirkte beunruhigt. „Jeder kann hier rein und raus spazieren, wie er Lust hat. Das ist doch gefährlich.“

„Ach was“, stöhnte Bernd. „Hier kommt doch keiner mehr her. Wozu auch?“

„Wann war denn das mit den Toten?“ Jürgens Erzählung ließ mich nicht los.

„Muss an die zehn Jahre her sein“, meinte er. „Ich war damals noch klein, kann mich aber erinnern, dass es der totale Schocker war. Alle haben darüber geredet.“

„In der Zeitung gab's Bilder vom Haus und den beiden Särgen“, behauptete Micha.

„Das meiste ist garantiert bloß Gerede.“ Jürgen machte eine wegwerfende Handbewegung. „Man müsste mal in irgendwelchen alten Akten oder Zeitungen nachschauen, was damals wirklich passiert ist. Dieses Gelaber von Beschwörungen und Schwarzen Messen zum Beispiel halte ich für völligen Nonsens.“

„Wieso? Kann doch sein!“, protestierte Kristina.

„Und in welchem Raum sind die gefunden worden?“ Ich traute mich nicht, den Satz zu Ende zu bringen, die Worte auszusprechen: „In diesem?“

„Keine Ahnung“, murmelte Jürgen.

„Es heißt, das Haus sei verflucht“, flüsterte Maren. „Nachts sollen hier angeblich die Geister der Toten umherwandern.“

„Immer wieder wollen Leute hier Stimmen gehört haben“, fügte Micha hinzu.

„Können wir bald mal weitergehen?“ Bernd war jetzt sichtlich genervt.

Hartmann meißelte gerade seinen Namen in die Wand, mit einem Schraubenzieher, den er aus unerfindlichen Gründen mitgenommen hatte. „HARTMANN“ entstand dort in fetten Blockbuchstaben, direkt neben einem Anarchie-Zeichen.

„Oh, machst du so was auch für Jürgen und mich?“, fragte Silke aufgeregt. Beim Anblick von Hartmanns Werk hatte sie anscheinend alle Geister und Toten dieser Welt schlagartig wieder vergessen.

Ein paar rostige Drahtgestelle fielen mir auf, die in einer Ecke des Saals auf dem Boden verstreut lagen. Als ich näher heranging, sah ich, dass es die kläglichen Reste alter Matratzen und Sofas waren. Ich suchte die Eisengerippe mit den Augen ab. Vielleicht konnte ich noch Spuren entdecken, irgendwas, das man übersehen hatte. Ich fühlte eine seltsame Spannung aufkommen. Gleichzeitig schauderte es mich.

Natürlich fand ich nichts. Bald hatte ich keine Lust mehr und nahm stattdessen den Saal in Augenschein. An den Rändern der Decke erkannte ich Stuck, in der Mitte gab es eine großflächige Rosette, deren Verzierungen fast ganz abgebröckelt waren. Bestimmt hatte dort mal ein Kronleuchter gehangen. Überhaupt wirkte der Saal, als hätten hier früher Konzerte und Feste stattgefunden. Der Kamin an der Rückwand war so hoch, dass man fast aufrecht darin stehen konnte. Von draußen fiel flirrendes Sonnenlicht herein.

Außer Hartmann und mir waren mittlerweile alle ausgeschwärmt. Jürgen und die Mädchen liefen auf der Terrasse herum, Micha und Bernd erkundeten offenbar die endlosen Weiten des Hauses. Man konnte ihre Stimmen aus großer Entfernung hören.

Hartmann hatte die nächste Inschrift fertig: „JÜRGEN + SILKE“. Die Tapetenreste an den Rändern waren säuberlich entfernt. „Du und Maren auch?“, fragte er keuchend. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Ich überlegte. Eigentlich war das ja Kinderkram. Andererseits wurmte mich der Gedanke, dass Maren und ich keine Inschrift haben sollten. Ich nickte, und Hartmann machte sich wieder an die Arbeit.

Wieder hörte ich die Stimmen von Micha und Bernd, sehr leise, sehr weit weg. Ich bekam Lust, die beiden zu suchen.

Während ich über die Korridore lief, musste ich wieder an Jürgens Erzählung denken. Selbstmord… Wie hatten sie es wohl gemacht? Wumme? Die Schüsse hätte man bestimmt gehört, und die Bullen wären viel früher angerückt. Vielleicht die Pulsadern aufgeschnitten? Oder erhängt? Ich sah die Körper der beiden vor mir, an Stricken baumelnd, die Köpfe herabhängend, die Gesichter allmählich blau anlaufend. Und die Augen weit aufgerissen, voller Entsetzten über das, was sich gerade vollzog: Unabwendbar schwand das eigene Leben dahin, immer näher kam das Ende, der Tod…

In der Nordstadt hatte man oft dahingesagt, man würde den und den am liebsten „kaltmachen“ oder „killen“. Ich dachte an unsere hämische Freude, als wir die Story von Mark Solterbeck und der Schiffsschraube gehört hatten. Aber eigentlich war das nur Gelaber gewesen, reine Aufschneiderei. Wem von uns war der Tod wirklich schon begegnet? Mir jedenfalls nicht. „Tod“ – das war für mich immer bloß ein Wort gewesen. Hier jedoch schien er ganz nahe zu sein. Zum ersten Mal erhielt ich eine Ahnung davon, was das eigentlich bedeutete, „Tod“. Und ähnlich wie eben im Saal spürte ich wieder diese Mischung aus Schrecken und Faszination…

Ich kam in die Halle am Eingangsportal. Eine hölzerne Freitreppe, deren Stufen sich stark durchbogen, führte in die oberen Etagen. Ob Bernd und Micha dort hinaufgegangen waren? Das ganze Konstrukt wirkte nicht mehr besonders stabil.

Von irgendwoher streifte mich nun ein eisiger Lufthauch. Nach einer Schrecksekunde entdeckte ich unterhalb der Treppe eine dunkle Öffnung: Steinstufen führten dort in die Tiefe – ein Keller! Und er war nicht versperrt! Auf einmal spürte ich ein starkes Kribbeln im Nacken. Diese geheimnisvolle Kraft, von der ich seit Betreten des Geisterhauses so in den Bann gezogen war – hatte sie mich hierher geführt? Sie schien mir etwas zeigen zu wollen, etwas sehr Wichtiges. Und es war dort unten.

Aber – sollte ich wirklich in diese Katakomben hinabsteigen? Was, wenn sie genauso weitläufig waren wie das Haus darüber? Wenn ich die Orientierung verlor und den Ausgang nicht wiederfand? Egal! Ich musste hinab, unbedingt. Aufgeregt tastete ich nach dem Feuerzeug in meiner Hosentasche. Es war ganz neu. Ich lief also nicht Gefahr, irgendwann im Dunkeln herumzutappen.

Mit weichen Knien ging ich auf die Kellertreppe zu. Als ich ins Halbdunkel der Öffnung kam, wurden die wenigen Geräusche um mich herum leiser, dumpfer. Als hätte sich mit dem Licht auch die Akustik verändert. Aus der Tiefe wehte eisige Luft heran, dazu glaubte ich einen seltsamen Laut zu hören, eine Art Zischen oder Pfeifen. Marens Worte fielen mir wieder ein: „Das Haus ist verflucht… Die Geister der Toten wandern umher…“ Leichtes Grausen packte mich, ich fing an zu zittern.

„Du Memme!“, schimpfte ich innerlich mit mir selbst. Jetzt musste ich erst recht dort runter, alles andere wäre feige gewesen. Ich riss das Feuerzeug an und setzte vorsichtig den Fuß auf die erste Stufe. Einen kurzen Moment war es, als würde ein Beben durch den Untergrund laufen. Erneut strich mir der Eishauch über die Wangen, drang das zischende, pfeifende Geräusch an mein Ohr. Plötzlich entstand ein starker Sog, das Flämmchen erlosch; etwas schien mich zu packen und in die Tiefe zu ziehen, unaufhaltsam…

„Nicht weitergehen!“, warnte eine Stimme hinter mir. Ich fuhr herum. Bernd und Micha standen dort, wie aus dem Boden gewachsen.

„Da verläufst du dich“, meinte Bernd. „Das ist ein völliges Labyrinth.“

„Angeblich sind da schon welche verschwunden und nie wieder aufgetaucht“, flüsterte Micha.

„Obwohl das Gerüchteküche ist“, erklärte Bernd.

Ich starrte auf das schwarze Rechteck zu meinen Füßen und meinte noch immer, diesen unheimlichen, zischenden Laut zu hören. Aber er war leiser geworden, als hätte er sich ein Stück zurückgezogen…

„Wolln wir lieber wieder zu den anderen gehen?“, fragte Micha, und ich glaubte Angst in seiner Stimme zu hören. Bernd nickte, die beiden marschierten los. Mit einem regelrechten Sprung setzte ich ihnen nach – auf keinen Fall wollte ich mehr hierbleiben!

Als wir in den Saal zurückkamen, war Hartmann gerade mit der dritten Inschrift fertig: „HAUKE + MAREN“. Ein Herz umrahmte die tief eingemeißelten Buchstaben. Neben dem Pluszeichen war es von einem Pfeil durchbohrt. Hartmann hatte ganze Arbeit geleistet. Zufrieden betrachtete er sein Werk. „Das kann man auch in 40 Jahren noch lesen“, meinte er, während er sich den Mörtelstaub von den Händen wischte.



***



Wir gingen durch den Wald zurück. Irgendwann tauchte unter Gras und Moos der Weg wieder auf. Wir passierten den Wegstein, kamen endlich auf freies Feld. Die Sonne brannte nur so herab, sehr schnell wurden meine klammen Hände und Füße wieder warm. Hier draußen, in Helligkeit und flirrender Hitze, kam mir mein Erlebnis von eben sehr unwirklich vor. Ich versuchte, nicht mehr daran zu denken.

Die Mädchen schlugen vor, am Strand Pommes zu essen, in ihrem Stammimbiss. Vielleicht jobbte dort gerade der eine oder andere Bekannte, dann gab es sicher Rabatt. Alle waren einverstanden. Inzwischen hatten wir ziemlichen Hunger.

Bis zum Schönhagener Strand war es nicht weit, bald spazierten wir über die Promenade. Auch an der Bank kamen wir vorbei, auf der Hartmann und ich gesessen hatten. Das war erst vor drei Tagen gewesen, aber es fühlte sich an, als läge es Ewigkeiten zurück.

Der Imbiss befand sich am Ortsausgang. Leider bediente uns der Besitzer, deshalb mussten wir den vollen Preis zahlen. Kurze Zeit später saßen wir alle auf dem Deich im Gras und mampften genüsslich unsere Pommes. Fast sämtliche Strandkörbe waren inzwischen belegt. Und man sah die ersten Mutigen im Wasser herumplanschen.

„Geht ihr im Sommer hierher?“, fragte ich.

Kristina schüttelte den Kopf. „Zu voll. Außerdem muss man hier Kurtaxe bezahlen.“ Sie stocherte unlustig in ihren Pommes herum, war offenbar schon satt.

„Am Mittelstrand kann man umsonst baden.“ Bernd, der bereits aufgegessen hatte, starrte gierig auf die Pommes von Kristina.

Mittelstrand – von Henri wusste ich, dass damit der Abschnitt gemeint war, an dem wir Ostern gewesen waren, mit dem Kiosk und der großen Wiese zum Parken.

„Aber da ist es immer völlig überlaufen“, meinte Silke. „Zu nahe am Ferienzentrum. Steenbarg ist am besten. Die Fahrt dauert länger, aber der Weg ist für Autos gesperrt, deshalb ist der Strand immer schön leer.“

„Und du musst Verpflegung mitnehmen. Kaufen kann man da nichts.“, erklärte Bernd mit vollem Mund. Er hielt inzwischen Kristinas Tüte in der Hand, schlang die restlichen Pommes in sich hinein.

Als wir uns auf den Rückweg machten, stand die Sonne bereits ziemlich tief. Wir hatten die Zeit völlig vergessen. Bis zum Abendbrot war der Weg ins Dorf nicht mehr zu schaffen.

„Wir kriegen voll Ärger!“, jammerte Silke.

„Nicht mehr zu ändern“, erwiderte Maren knapp.

Wir liefen dieselbe Strecke, auf der ich Ostersonntag mit Muttern und Henri ins Dorf zurückgefahren war. Ein paar Tage zuvor hatten wir nach der Flucht vor den Kühen hier die Richtung wiedergefunden. Gleich würde der Wald beginnen. Und vielleicht tauchte zwischen den Bäumen wieder das Dach des Geisterhauses auf…

Mir lief es kalt den Rücken runter, als ich erneut den eisigen Luftzug aus dem Kellergewölbe zu spüren glaubte. Und dieses komische Geräusch, dieses Pfeifen und Zischen – was immer es damit auf sich gehabt hatte, es war verdammt unheimlich gewesen. Aber das Haus blieb unsichtbar im grünen Dickicht. Als wir den Abzweig nach Neuschönhagen passierten, atmete ich auf: Nun waren wir definitiv an der Stelle vorbei, von der aus man das Dach sehen konnte.

Wieder im Freien lag vor uns die Silhouette des Dorfes. Der Himmel darüber war abendlich rot gefärbt, in den Bodensenken bildeten sich erste Nebelschwaden. Wie auf dem Hinweg zog unsere Gruppe sich weit auseinander. Diesmal gingen Bernd, Jürgen und Hartmann vorneweg, in einigem Abstand folgten Kristina, Silke und Micha. Maren und ich waren wieder die Schlusslichter.

Über dem Weg flimmerte die Luft. Immer wieder verschwammen die Umrisse der Gestalten vor uns, manchmal schienen sie sich ganz vom Boden zu lösen und zu schweben.

Deutlicher als je zuvor spürte ich das Band, das uns alle miteinander verknüpfte.



***



Als ich Maren nach Hause gebracht hatte und in die Eichendorffstraße zurückkam, standen Hartmann, Jürgen und Bernd an der Ecke vor unserem Haus. Ein Typ war bei ihnen, den ich bisher noch nie gesehen hatte.

„Heiner“, stellte er sich vor.

Im ersten Augenblick dachte ich, er will mich verarschen. Aber er blieb ernst, auch keiner der anderen grinste oder grölte los. Anscheinend hieß der Typ wirklich so. Okay, für seinen Namen konnte er schließlich nichts.

„Aus der Nordstadt hergezogen?“, fragte er.

Ich nickte.

„Und?“

„Bisher ganz okay.“

Ich hatte sofort Respekt vor dem Kerl, trotz seines braven, fast streberhaften Äußeren: Pisspott-Haarschnitt, Cordhose, Halbschuhe. Dazu ein Lederjacken-Imitat, ähnlich wie bei Micha. Der Typ hätte glatt in meine neue Schule gehen können, wenn auch ein, zwei Klassen höher. Aber diese nüchterne Art und der emotionslose Tonfall, dazu der aufmerksame Blick, dem nichts zu entgehen schien – das alles erzeugte bei mir einen Eindruck von Überlegenheit. Der machte sein Ding, ohne sich um die anderen zu scheren, und war trotzdem angesehen. Das imponierte mir.

Hartmann zeigte keine Spur mehr von der Knurrigkeit der letzten Tage; er lachte und alberte pausenlos mit uns herum, war richtig aufgedreht. Als er sah, wie Micha auf einem alten Bonanzarad angefahren kam, machte er Bernd ein Zeichen. Die beiden bauten sich mitten auf der Straße auf, zwangen Micha, anzuhalten. Dann begannen sie, an seinem Fahrrad rumzufummeln. Traten leicht dagegen, bogen die Lampe nach oben, machten Witze über die „Scheißkarre“ und so weiter. In der Nordstadt war das ein Ritual. Man wollte bedrohlich wirken, furchteinflößend. Das Opfer sollte denken, es habe irgendwas ausgefressen, und nun kam die Abrechnung. Wen es erwischte, der durfte sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, musste cool bleiben.

Micha spielte das Spiel tapfer mit, obwohl er die Sitten der Nordstadt nicht kannte. Er lachte über die Scherzchen der beiden, ignorierte ihre Knüffe und leichten Schläge. Manchmal merkte man, dass et leichte Muffe hatte, aber im letzten Moment riss er sich immer wieder zusammen. Ich wunderte mich bloß, dass Bernd prompt auf Hartmanns Wink eingestiegen war. Spätestens jetzt konnte man sehen, dass er aus der Nordstadt kam.

Dann ging der Übermut mit Hartmann durch. Er stellte sich vor Micha, stemmte das Rad mit beiden Händen am Lenker hoch und begann, es rückwärts vor sich herzuschieben. Es ging kreuz und quer über die Wiese, immer schneller. Micha hing hilflos im Sattel und versuchte verzweifelt, mit den Füßen das Gleichgewicht zu halten, nicht runterzufallen. Die Panik stand ihm ins Gesicht geschrieben. Wir lachten Tränen – aus der Zuschauerwarte sah das Ganze einfach zu bescheuert aus.

Armer Micha! Als Hartmann ihn endlich runterließ, war er kreidebleich. Aber nach und nach beruhigte er sich, fand seinen Humor wieder. Hartmann haute ihm versöhnlich auf die Schulter. Ging rein, holte ein Bier, riss es auf, drückte es ihm in die Hand. Die Stimmung war jetzt ausgelassener denn je. Trotzdem war ich froh, dass die Mädchen nichts von Hartmanns Aktion mitbekommen hatten. Schwer vorzustellen, dass sie genauso darüber gelacht hätten wie wir. Und falls Frau Rönnfeld das mit dem Bier gesehen hatte, was gut möglich war, gab es sicher wieder wildes Getratsche über geschiedene Frauen und deren verwahrloste Kinder…

Es dauerte noch eine ganze Weile, ehe unsere Runde sich auflöste. Drinnen war bereits alles dunkel. Hartmann und ich schmierten uns in der Küche ein paar Stullen und nahmen sie mit nach oben. In meinem Zimmer war die Luft so frisch und klar wie draußen. Als wir morgens losgegangen waren, hatte ich wie gewohnt das Fenster aufgelassen.

Irgendwann fiel mir wieder ein: Hatte Hartmann nicht gesagt, dass er heute in die Nordstadt zurück wollte?



***



Mittwochnachmittag traf ich mich mit Maren, Silke und Jürgen. Wir hatten Decken und Verpflegung dabei, wollten ein Picknick machen, irgendwo hinter den Kleingärten. Das Wetter war noch immer super.

Statt runter ins Dorf, wie am Pfingstmontag, liefen wir an der Tankstelle vorbei Richtung Bundesstraße. Kurz vor der Auffahrt bogen wir in die Laubenkolonie, wo sich auch der Garten von Jürgens Eltern befand. Hinter den Parzellen marschierten wir noch eine ganze Weile am Mühlenbach entlang, bevor unser Pfad schließlich an einer kleinen Wiese endete, mitten im Nirgendwo.

Silke und Jürgen blieben hier zurück. Maren und ich gingen weiter, wir bahnten uns hartnäckig einen Weg zwischen Feldrand und Bachufer entlang – bis ein hochgewachsener Knick unseren Bemühungen ein definitives Ende bereitete. Allerdings war dieses entlegene Fleckchen Erde genau das, was wir gesucht hatten: Der Knick hielt den Wind ab und spendete Schatten. In seinem Geäst zwitscherten die Vögel, zu unseren Füßen plätscherte friedlich der Bach. Hinter uns stieg das duftende, sonnenbeschienene Kornfeld den Hügel hinauf, bis es oben an einem Bahngleis endete – die Strecke nach Eckhorst. Sie war stillgelegt, ähnlich wie die Linie zum Strand.

Wir breiteten die Decke aus. Mit einem zufriedenen Seufzer legte Maren sich hin, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen. In ihren rasierten Achselhöhlen sah ich Schweiß glänzen. Das weiße Top spannte sich über ihren schlanken Körper und man konnte erkennen, dass ihre Brüste sehr klein sein mussten. Als sie ihr Knie anwinkelte und der kurze Rock ein Stück hochrutschte, konnte ich mir einen schnellen Blick ins Halbdunkel unter dem Stoff nicht verkneifen: Sie trug einen weißen Slip.

Ich betrachtete ihre nackten Beine. Die Oberschenkel waren ein bisschen zu dick geraten, zu stämmig. Als sei an ihnen noch Babyspeck übriggeblieben. War die Haut dort wirklich so weich wie an den Armen? So sah es jedenfalls aus. Alles in mir schrie danach, es selbst herauszufinden, aber noch traute ich mich nicht.

Marens Gang kam mir in den Sinn. Ihr Oberkörper war dabei immer leicht nach vorn gebeugt. Mit jedem ihrer kurzen, platschenden Schritte warf sie ihre rechte Hand von sich weg, während die linke schlaff herunterhing. Es wirkte ein bisschen plump, aber ich fand es unglaublich süß. Etwas Ungekünsteltes, Ehrliches lag darin.

Unvermittelt öffnete sie die Augen – merkte sie längst, dass ich sie die ganze Zeit ansah? Sie fixierte mich mit ihrem typischen, intensiven Blick, schmiegte sich an mich, so eng es ging. Ihr Arm schlängelte sich um meinen Nacken, sie zog mich zu sich herab, drückte ihren Mund auf meinen. Sanft aber bestimmt schob ihre Zunge meine Lippen auseinander. Wie klein ihr Mund war – ich konnte ihn mit meinem ganz umschließen.

Sie presste sich nun noch fester gegen mich. Ein Vertrauen lag in dieser Geste, so tief, so bedingungslos, dass es fast zu viel war – einen Moment lang schwanden mir vor Erschütterung die Kräfte. Dann brach sich ein anderes, nicht minder intensives Gefühl Bahn: unendliche Sehnsucht, verzweifeltes, schier unstillbares Verlangen. Mit jeder Berührung, jeder Umarmung, jedem Kuss wurde es schlimmer. Ging es ihr genauso? Unsere Körper und Münder rangen bald mehr miteinander als dass sie sich liebkosten.

Irgendwann lagen wir erschöpft aufeinander, Wange an Wange. Ich strich ihr über die Stirn, fuhr durch ihr blondes, duftendes Haar, das sich über die Wolldecke ausgebreitet hatte, erreichte die Schulter, den Oberarm…

Etwas Raues war dort, eine Unebenheit in der Haut. Ich strich einige Male darüber hinweg und nahm die Stelle genauer in Augenschein: Mehrere Schnitte waren zu erkennen, parallel, einige sehr tief und nur schlecht verheilt. Die Haut auf ihnen war deutlich heller als ringsherum.

Die Gedanken jagten mir durchs Hirn. Hatte sie das gemacht? Die zurückhaltende, stille Maren und so etwas – konnte das sein? Ich wollte sie eigentlich fragen, wagte es aber nicht. Auf einmal war ich mir sicher, damit an Dinge zu rühren, die mich nichts angingen.

Immer wieder betrachtete ich die hellen Schnitte in der ansonsten glatten, braunen Haut. Und spürte bald eine seltsame Ergriffenheit: Die Verletzungen ließen Maren nur noch schöner, noch begehrenswerter erscheinen. Als würden Schönheit und Schmerz untrennbar zusammengehören. Das eine war ohne das andere nicht zu haben.



***



Mittlerweile war es Spätnachmittag geworden. Wir hatten uns zu Silke und Jürgen gesellt, gemeinsam verdrückten wir den Proviant. Als meine Colaflasche leer war, schmiss ich sie einfach mich, wie in der Nordstadt. Aber noch in der Wurfbewegung sprangen mir die missbilligenden Blicke der anderen ins Auge, und ich wusste, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Zu spät: Es klatschte laut, die Flasche war im Mühlenbach gelandet.

Was nun? Das Ding jetzt wieder rauszufischen wäre verdammt uncool gewesen. Aber wenn ich nichts machte, war garantiert die gute Stimmung im Eimer…

Okay, sie hatten gewonnen. Unter Aufbietung sämtlicher Kräfte raffte ich ich mich hoch. Der Gang zum Bach schien ewig zu dauern, alles lief wie in Zeitlupe ab. Erst bekam ich die Flasche nicht zu fassen, aber irgendwann klappte es endlich. Als ich zurückkam und das blöde Ding in den Rucksack stopfte, sagte niemand etwas. Dennoch meinte ich die ganze Zeit ihre anklagenden Blicke zu spüren. Es war unglaublich ätzend.

Zum Glück entspannte sich die Atmosphäre bald wieder. Das Gespräch kam auf einen Typen namens Rusi. Ich kannte ihn vom Sehen aus der Alten Mühle, eigentlich hieß er Leif Ruser. Eine komische Gestalt war das: einerseits blondgelockter Sonnyboy, auf den alle Mädchen abfuhren, andererseits hippiemäßig und total verkifft. Diese Mischung wollte bei mir nicht zusammengehen.

Irgendwann schnallte ich, dass dieser Rusi Marens Ex war. Offenbar waren die beiden ziemlich lange zusammengewesen. Ich konnte es nicht glauben. Der Kerl war mindestens achtzehn oder noch älter! Es hieß, dass er und seine Leute manchmal harte Drogen nahmen, unter anderem Koks. Maren und so einer? Ob sie sich auch schon mal was eingeworfen hatte?

Die anderen wechselten bald wieder das Thema, aber ich hörte nicht mehr zu. In mir arbeitete alles durcheinander. Die brave Maren – von wegen! Mein Bild von ihr war gehörig erschüttert, ich musste das so schnell wie möglich mit ihr klären.

Silkes Stimme riss mich aus meinen Gedanken. „Wir dürfen nachher auf keinen Fall zu spät zum Abendbrot kommen“, mahnte sie. „So einen Ärger wie Montag will ich nicht noch mal kriegen.“

Maren nickte. Sie zog eine Schnute und gab den meckernden Tonfall ihrer Mutter wieder: „Das wird in letzter Zeit immer schlimmer! Kommst du bald überhaupt noch zum Essen?“

Wir packten zusammen und machten uns auf den Rückweg.



***



Nach dem Abendbrot trafen wir uns noch auf der Wiese in unserer Straße. Bernd und Kristina waren jetzt ebenfalls da. Schließlich gesellten sich Alex, Micha und sogar Henri zu uns. Die drei hatten auf dem Garagenhof mal wieder an einer Karre herumgebastelt.

Maren und ich saßen Rücken an Rücken auf unserer Decke. Ich hatte die Augen geschlossen und strich mit meinen Armen an ihren entlang, auf und ab, immer wieder. Ich merkte, wie sie eine Gänsehaut bekam.

Die Unterhaltung von vorhin ging mir nicht aus dem Kopf, über diesen Rusi. Die Fragen türmten sich geradezu in mir auf. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, vorsichtig sein zu müssen – das Thema war für Maren bestimmt vermintes Gelände. Ich durfte sie nicht bestürmen, nicht mit der Tür ins Haus fallen. Irgendwann würde ein geeigneter Zeitpunkt kommen, um in Ruhe über alles zu reden. Bis dahin musste ich mich gedulden.

Jürgen und Silke lagen nebeneinander auf dem Bauch und lasen sich gegenseitig aus der „Bravo“ vor. Gerade waren sie bei der Doktor-Sommer-Rubrik angelangt. Wie immer ging es ums Erste Mal.

Manchmal nervten die beiden. Alle Welt sollte sehen, wie ernst sie ihre Beziehung nahmen und wie sorgfältig sie sich auf alles vorbereiteten. Nebenbei demonstrierten sie damit, wie weit sie schon waren. Anscheinend wollten sie demnächst mit Bumsen anfangen. Okay, jetzt wussten wir es.

Irgendwann rief Alex: „Ey Silke, du bist ja nackt unterm Kleid.“

Silke schaute ihn verwundert an. Dann schien sie seine Anspielung zu verstehen. Sie stand auf, hielt die Arme über den Kopf und ließ den Wind unter ihr Kleid fahren, wie Marilyn Monroe. Man erkannte unter dem dünnen Stoff im Gegenlicht deutlich ihre großen, schön geformten Brüste – ich konnte mich gar nicht losreißen von dem Anblick.

Aufreizend langsam begann sie das Kleid hochzuziehen. Bald waren ihre Beine freigelegt, die Haut glänzte bronzefarben im Abendlicht. Der hellgrüne Slip ihres Bikinis tauchte auf. Dann ihr Bauch, üppig und dennoch glatt. Und sie machte immer weiter. Gebannt hielt ich den Atem an…

Schließlich wurde das Bikini-Oberteil sichtbar – enttäuscht stieß ich die angestaute Luft aus. Und nicht nur ich: Alle anwesenden Jungs hatten sich anscheinend ernste Hoffnungen gemacht. Silke, die ihr Kleid mittlerweile ganz ausgezogen hatte und im Bikini dastand, genoss unsere geifernden Blicke sichtlich.

Ich brachte Maren nach Hause. Mittlerweile gab ich ihr, wenn wir vor ihrer Haustür standen, zum Abschied immer die Hand. Es war scherzhaft gemeint, aber nicht nur – ich wollte sie ein letztes Mal berühren, bevor wir auseinandergingen. Auch heute machte ich es so. Ich drehte mich schon um, wollte zurückgehen, aber sie ließ meine Hand nicht los. Mit gerunzelter Stirn schaute sie zur Seite, wie sie es manchmal tat, wenn sie sich gerade zu etwas durchrang. Plötzlich zog sie mich mit einer resoluten Bewegung wieder zu sich heran, umarmte mich und drückte mir einen Abschiedskuss mitten auf den Mund. In ihren Augen lag Trotz. „Sollen die Leute denken, was sie wollen“, sprach es aus ihnen.

Als sie hineinging, konnte ich ihr nur wortlos hinterherschauen. Dieser Kuss war für mich wie ein Geschenk gewesen. Das schönste, das ich jemals bekommen hatte.



***



Mit einem Ruck wachte ich auf. Ich hatte das Gefühl gehabt, zu fallen, sehr tief… und plötzlich aufzuschlagen.

Hastig griff ich nach dem Asthmaspray, fand es im Dunkeln aber nicht gleich. Ich wurde panisch, entdeckte es schließlich neben dem Kopfkissen. Nachdem ich mir zwei kräftige Schübe verpasst hatte, klappte das Atmen wieder besser.

Merkwürdig, dass mein Asthma dieses Jahr schon so früh losging. Normalerweise fing es erst im Juli an, manchmal gar im August. Flogen hier auf dem Land vielleicht mehr Pollen herum?

Ich hatte wieder den Traum geträumt, zum ersten Mal seit langer Zeit…

Ein Meer, ein Ozean. So weit man blickt, nur Wasser. Wie ich herkommen bin, weiß ich nicht, aber ich bin zu recht an diesem verlassenen Ort. Ich spüre ein Gefühl tiefer Schuld. Und fühle mich gleichzeitig unendlich verloren. Der Schmerz ist unfassbar, er drückt mich regelrecht zu Boden…

Das Wasser ist weg, um mich ist jetzt Land, grün und weit, wie ein großer Park. Nein, es ist der weitläufige Hof eines Mietshauses. Das Haus ist schön und alt. Ich selbst bin auf einem Baum, meinem Baum. Von hier aus kann ich alles überblicken.

Ich klettere runter, gehe zu meinen Freunden. Die Sonne scheint, wir laufen barfuß durchs Gras. Springen ins Planschbecken und toben herum. Gehen zur Sandkiste, wollen eine Ritterburg bauen. Die großen Jungs helfen uns. Unter der hohen, schattigen Kastanie sitzt die weißhaarige Frau in ihrem Lehnstuhl. Sie ist mir unheimlich, aber sie tut nichts, schaut nur.

Durch den Keller gelange ich ins Treppenhaus. Die dunklen, glänzenden Holzstufen knarzen unter mir, als ich hochgehe. In unserer Wohnung ist es angenehm schattig und kühl. Im Kinderzimmer hat Henri alles Spielzeug über den Boden verstreut, Ritter und Pferde, Bäume und andere Pflanzen. Die Sachen sind aus Holz geschnitzt und farbig bemalt. In der Küche höre ich Mama arbeiten.

Die Haustür wird geöffnet, jemand kommt herein. Henri läuft in den Flur. Ich will ihm folgen, aber es geht nicht. Ich kann mich nicht vom Fleck rühren, bin ich wie gelähmt. Der Boden unter meinen Füßen schwankt, als sei er morsch geworden. Ich verliere das Gleichgewicht, stürze, falle…

Dann wachte ich immer auf.

Dass diese verdammten Bilder plötzlich wieder da waren, verhieß nichts Gutes. Es schien, als wollten sie mich quälen, mir meinen Frieden nicht gönnen.

08. Sommer

Das Wetter hielt sich. Blauer Himmel, ein paar Schäfchenwolken, keine Spur von Regen. Die Temperaturen waren inzwischen auf sommerliche Höhen geklettert. Anfangs hatte man abends oft zur Jacke greifen müssen, aber nun konnte man ewig lange in Shorts und T-Shirt draußen bleiben.

Wir trafen uns nach der Schule immer am Telefonkasten. Die Räder waren vollgepackt mit Decken, Proviant und Badesachen. Eine kurze Begrüßung, letzte Neuigkeiten austauschen, ein bisschen über Eltern und Lehrer meckern – dann fuhren wir los. Wir nahmen immer dieselbe Strecke: durch die Schwedenhaus-Siedlung auf die Dorfstraße, vorbei an den Läden und der Feuerwache, schließlich aus dem Ort heraus. Eine Zeitlang konnte man zur Linken noch die Bahnstrecke erkennen, aber hinter einer Wegbiegung verschwanden die Gleise in der Landschaft.

Auf einigen Feldern stand das Korn bereits ziemlich hoch. Die goldgelben Ähren mit ihren langen, seidig glänzenden Fäden erinnerten mich an Marens Haar. „Wintergerste, wird bald geerntet“, erklärte Bernd, als Kristina ihn einmal nach der Getreidesorte fragte. „Aber das meiste hier draußen ist Weizen.“ Er wies auf die umliegenden Hügel, die größtenteils mit etwas überzogen waren, das wie hohes, schilfartiges Gras aussah. Wenn der Wind darüber strich, entstanden Wellenmuster. „Der ist erst Anfang August reif, vielleicht auch schon einen Tick früher, das hängt vom Wetter ab. Auf Gut Neudorf gibt's dann ordentlich zu tun.“

Steenbarg, der nächste Ort auf unserer Fahrt, bestand nur aus ein paar schmalen Straßen. Seit Ewigkeiten schien hier nicht neu gebaut worden zu sein, man sah nur alte Bauernhäuschen mit Reetdach und Fachwerk. Sätze waren darin eingeschnitzt wie: „Joachim Ewohlt und Trine Ewohlt haben dieses Haus bauen lassen Anno 1793“. Einige der verschnörkelten Inschriften leuchteten in frischem Weiß – die Hausbesitzer hatten sie restauriert. Im Dorf kamen einem häufig Trecker entgegen. Man musste absteigen und sich dicht an die Hauswand pressen, sonst wurde es eng. Die Bauern winkten uns zu und donnerten vorbei, ohne vom Gas zu gehen. Eine Pferdekoppel lag mitten im Ort, es roch nach frischem Heu und Stall. Unter der Dorflinde saß immer ein Grüppchen alter Männer. Wenn wir vorbeifuhren, unterbrachen sie ihren Plausch und grüßen mit lautem „Moin!“ Dann steckten sie die Köpfe wieder zusammen.

Am Ortsausgang passierte man ein rotes „Durchfahrt verboten“-Schild, darunter hing eine kleine, weiße Zusatztafel: „Radfahrer erlaubt“. Die Landschaft wurde jetzt bretteben, am Horizont tauchte die grüne Deichlinie auf.

Auf dieser Höhe lag der Deich nicht direkt am Wasser, hinter ihm gab es noch einen Streifen Land, der schutzlos der offenen See preisgegeben war. Eine Infotafel am Wegrand wies ihn als Vogelbrutgebiet aus. Alles schien hier in eine Art Urzustand zurückgefallen: Weite Auen, die das Blau des Himmels widerspiegelten, wechselten sich ab mit grellbunt gesprenkelten Blumenwiesen. Teiche und Tümpel verströmten faulige Gerüche. Immer wieder sah man Vogelschwärme aufsteigen, wie ein zusammenhängendes Ganzes durch die Lüfte kreisen und die wildesten Pirouetten vollführen, bis die Wolke sich wieder herabsenkte und in der Niederung verschwand.

Von nun ab wurde der Radverkehr ziemlich dicht. Oft grüßten uns die entgegenkommenden Leute. Ich konnte nach wie vor nicht unterscheiden, ob es Schönhagener waren oder bloß Urlauber, die auf freundlich machten. Zur Sicherheit grüßte ich jedes Mal artig zurück. Schon von weitem erkannte man, wo der Strandaufgang sein musste, wegen der vielen Räder, die immer hier abgestellt waren. Autos dagegen sah man keine, es gab nirgends einen Parkplatz, nicht mal eine Zufahrtsstraße. Allerdings existierten auch keine Buden, an denen man Pommes oder Eis hätte kaufen können – Selbstverpflegung war angesagt.

Wir schlossen unsere Räder zusammen, schulterten das Gepäck und arbeiteten uns gleich einer Karawane aufwärts. Oben auf dem Deich blies einem der Wind ungehindert entgegen. Die Luft war immer sehr klar, das Dunkelblau der See wirkte am Horizont wie mit einem scharfen Messer abgeschnitten. Wolkentupfer zogen gemächlich über den Himmel, bis weit hinaus war das Wasser mit weißen Schaumköpfen überzogen. Am Strand stürzten sich die Kinder schreiend und jauchzend in die heranrollende Brandung. Weiter links, wo eine steinerne Quermole die Wellen abhielt, sah man ältere Leute beim Wassertreten. Der Strand war unbewacht, nirgends ragten hier die Krähennester der DLRG auf. Markierte Zonen für Nichtschwimmer gab es ebenfalls nicht. Hier musste jeder auf sich selbst aufpassen.

Viele Frauen waren oben ohne. Ein paar Leute, Männlein wie Weiblein, lagen sogar komplett nackig in der Sonne. Bei unserem ersten Besuch hatte ich gedacht, an einem FKK-Strand gelandet zu sein, und ernsthaft Panik bekommen. Aber dann hatte ich auch welche in Badeklamotten entdeckt. Mittlerweile wusste ich, dass es hier alle so hielten, wie sie mochten.

Trotz des guten Wetters war es meistens erstaunlich leer. Der Steenbarger Strand schien eine Art Geheimtipp zu sein. Blickte man dagegen nach links Richtung Schönhagener Strand, wurde das Gewimmel entlang der Wasserlinie dichter und dichter, bis es schließlich zu einem einzigen, quietschbunten Knäuel verschmolz. Dort hinten spielte er sich also ab, jener Sommertrubel, um den sich hier in der Region so vieles drehte. Ich kannte ihn bisher nur aus der Ferne, aber nichts zog mich hin.

Ein Pfad führte durch das hochgewachsene, zum Teil bereits vertrocknete Gras des Dünengürtels. Wenn wir den eigentlichen Strand erreichten, ließ ich zur Begrüßung immer den feinen, weißen Sand durch die Zehen rieseln. Oben war er von der Sonne aufgeheizt, aber wenn man sich mit dem Fuß ein Stück hineinwühlte, wurde er feucht und kühl.

In der Regel fanden wir am Rand der Dünen ein windgeschütztes Plätzchen und schlugen dort unser Lager auf. Dann wurde es spannend, denn die Mädchen zeigten beim Umziehen keine falsche Scheu. Zwar drehten sie sich dezent von uns weg, aber sie zogen sich jedes Mal komplett aus, bevor sie in ihre Badeanzüge oder Bikinis schlüpften. Mich brachte das immer völlig durcheinander. Eilig schaute ich weg, wollte nicht als Gaffer dastehen. Und linste doch nach kurzer Zeit wieder rüber, gierig auf den Anblick der nackten Mädchenrücken und Brüste, die mit etwas Glück an der Seite auftauchten, vor allem natürlich bei Kristina und Silke.

Kaum waren wir mit Aufbauen und Umziehen fertig, stürzte Bernd sich wie ein Berserker in die Fluten. Üblicherweise kam er nach kurzer Zeit zurück, in der Hand eine wabbelige Qualle oder ein Büschel tropfendes Seegras. Die Mädchen ahnten bereits, was er vorhatte, und stoben kreischend auseinander. Bernd pickte sich eine heraus, und wenig später sah man ihn und sein Opfer im Zickzack durch den Sand rennen. Er war am ganzen Körper dicht behaart wie ein Affe. Seine Haut war bereits nach wenigen Tagen dunkelbraun gebrannt.

Ich hatte es meistens nicht ganz so eilig, ins Wasser zu kommen. Lieber beobachtete ich erst ein bisschen das Schauspiel zwischen Bernd und den Mädchen oder ließ meinen Blick einfach durch die Gegend schweifen.

Aber irgendwann raffte ich mich doch auf. Das Wasser auf der Haut zu spüren tat immer wieder aufs Neue gut. Ein kurzes Untertauchen, und die Benommenheit durch die Hitze war verschwunden. Zum Lockern machte ich immer ein paar Züge in Bauch- und in Rückenlage; dann schwamm ich am liebsten zur Quermole, kletterte auf den Steinwall und setzte mich in die Sonne. Auf der Seeseite klatschten die Wellen mit Wucht gegen die Felsen, Gischt sprühte hoch und regnete erfrischend auf mich nieder.

Wenn mir langweilig wurde, warf ich mich wieder ins kühle Nass und schwamm bis zum Ende der Mole. Ab hier rollten die Wellen ungehindert heran, rasch trieben sie mich zurück Richtung Strand. Auf der ersten Sandbank, wo man wieder Grund hatte, stoppte ich gern, um ein bisschen durchs Wasser zu waten. Wie klar es war und wie weich der Boden unter meinen Füßen! Es gab weder Steine noch Muscheln, nur Sand. Wenn hohe Wellen kamen, ließ ich mich hineingleiten und ein Stück mittragen.

Meistens verging über eine Stunde, bevor ich mich wieder vom Wasser trennen konnte. „Du darfst nicht so lange drin bleiben“, ermahnte mich Kristina jedes Mal, wenn sie meine vor Nässe verschrumpelten Fingerkuppen sah, „das ist nicht gesund.“ Aber ich hatte keine Lust, mir darüber Gedanken zu machen. Noch spürte ich keine Schäden.

Danach konnte ich Ewigkeiten in der Sonne liegen, ohne dass mir zu heiß wurde. Ein Teil von mir schlief, ein anderer nahm die Umgebung umso deutlicher war. Da war Geschirrklappern, eine zischende Brauseflasche, das Klacken eines Balls auf Holzschlägern. Durch das permanente Wellenrauschen wirkten die Geräusche wie abgeschnitten von ihrer Quelle. Sie standen einfach in der Luft, man hätte nicht sagen können, ob sie von nah oder fern kamen. Wenn ich die Augen wieder öffnete und der Blick langsam klar wurde, konnte ich sehen, dass direkt neben mir Silke eine Limo geöffnet hatte, Bernd und Kristina an der Wasserlinie Strandball spielten, Jürgen sich gerade Kartoffelsalat auf einen Teller füllte.

Einmal beobachtete ich heimlich Maren, wie sie neben mir saß und sich eincremte. Sie war gerade aus dem Wasser gekommen und hatte sich umgezogen, trug jetzt ihren schwarzen Badeanzug. An einigen Stellen sah man noch Wassertropfen auf ihrer Haut glitzern. Mit langsamen, fast andächtigen Bewegungen verteilte sie die Sonnenmilch auf Armen und Beinen. Als sie fertig war, öffnete sie ihre Haarspange. Fasziniert beobachtete ich, wie die goldenen Strähnen, von ihrer Fessel befreit, herabrauschten, sich über Schultern und Nacken ergossen. Maren legte sich neben mich in die Sonne. Ihr zum Trocknen ausgebreitetes Haar wirkte auf dem dunklen Stoff des Badetuchs wie ein Strahlenkranz, der ihr schönes Gesicht einrahmte.

Ich fand es immer noch schade, dass ihre Brüste so klein waren. Manchmal glaubte ich die abfälligen Kommentare der alten Kumpels aus der Nordstadt zu hören: „Flach wie ein Brett“, „Nix unterm Hemd“ und so weiter, die üblichen Sprüche halt. Aber Maren brauchte auf ihrem Handtuch nur irgendeine Bewegung zu machen, das Bein anzuwinkeln, sich eine Strähne aus dem Gesicht zu wischen, die Sonnenbrille in die Stirn zu schieben – und alle Bedenken waren verschwunden. Sie war für mich der schönste Mensch auf der Welt.

Von Heiner wusste ich, dass Bernd früher unsterblich in sie verliebt gewesen war. Aber sie hatte immer bloß Augen für Rusi gehabt. Später war Bernd dann mit Kristina zusammengekommen, aber einige glaubten, dass er insgeheim seine Hoffnungen bis heute nicht aufgegeben hatte. Ich fragte mich, wie Maren das wohl sah? Wusste sie überhaupt davon? Irgendwann würde ich sie darauf ansprechen.

Jürgen ging fast nie ins Wasser. Er bewegte sich überhaupt äußerst ungern, lag die ganze Zeit nur träge auf seinem Handtuch in der prallen Sonne. Allerdings cremte er sich ungefähr 20 Mal am Tag ein, weil er panische Angst vor Sonnenbrand hatte. Mit dem Ergebnis, dass er noch immer schwabbelig-bleich war wie im tiefsten Winter.

Spätnachmittags wandte ich mich immer notgedrungen meinem Schulkrams zu. Zum Glück waren Mutterns Kontrollen inzwischen etwas laxer geworden, sonst hätte sie garantiert gemerkt, dass jetzt oft Sand aus meinen Heften rieselte. Sie hätte mich ermahnt, dass der Strand nicht geeignete Ort war, um Hausaufgaben zu erledigen, was zweifellos stimmte. Aber jetzt, wo es in der Schule so gut stand, konnte man es gut und gern etwas entspannter angehen, fand ich.

Irgendwann kam von der Landseite langsam Schatten herangekrochen – Zeit zum Aufbruch. Ich sprang meistens noch mal kurz in die Fluten, bevor ich mich umzog. Wir spülten unsere Badesachen im Wasser aus, packten zusammen und schlenderten gemütlich durch die Dünen zurück. Am Deichfuß zogen wir immer Schuhe an – barfuß hätte man sich auf dem heißen, weich gewordenen Asphalt glatt die Sohlen verbrutzelt. Oben ein letzter Blick übers Wasser, dann verschwand die See hinter der Deichkrone. Das jähe Aussetzen des Wellenrauschens war jedes Mal verwirrend – plötzlich wurde es vollkommen still, als hätte jemand den Ton abgedreht.

Und wieder die Radfahrt durch die Felder. Die ersten wurden bereits abgeerntet, über den Stoppeln stand der Kornstaub. Nach wie vor war es brütend heiß, unablässig zirpten die Grillen. In Steenbarg liefen überall Kinder durch die Straßen. Die Fenster und Türen der alten Bauernhäuser waren geöffnet, man sah Leute in ihren Gärten beim Essen sitzen.

Schließlich kamen wir wieder nach Schönhagen. Häuser und Asphalt glühten von der Hitze des Tages, die Luft roch nach Sommer und Ferien.



***



Oft trafen wir uns nach dem Abendbrot noch auf der Wiese in unserer Straße, alle frisch geduscht und geföhnt. Maren und ich saßen Rücken an Rücken gelehnt auf unserer Wolldecke. Sie trug immer einen ihrer kurzen, buntgemusterten Sommerröcke, die ihre kindlichen, etwas zu stämmigen Oberschenkel so süß aussehen ließen. Mittlerweile hatte ich ihre Beine schon oft berührt, und tatsächlich war die Haut dort ebenso weich wie an den Armen.

Oder wir gingen runter ins Dorf. Holten uns Eis, setzten uns auf die Grüne Insel, quatschten mit den Leuten, die wir dort trafen. Über die Schule und die bevorstehenden Zeugnisse, das Sommerfest, unsere Pläne für die Ferien. Hier gesellte sich meistens auch Heiner zu uns. Er hatte im Jahr zuvor eine Lehre angefangen, die ihn ziemlich nervte, und musste tagsüber schuften. Der Gedanke klang für mich nach purem Horror: den ganzen Tag in einer Tretmühle von Firma hocken, derweil wir uns am Strand die Sonne auf den Bauch scheinen ließen. Ja, er sei ein Sklave, seufzte Heiner immer, wenn er darauf angesprochen wurde, und schnaubte laut durch die Nase. Bei diesem Geräusch wusste man nie, ob er lachte oder seinen Frust ausdrücken wollte. Jedenfalls war ich heilfroh, nicht in seiner Haut zu stecken.

Wenn ich mit den anderen so dort saß und an mir herabschaute, war ich jedes Mal erstaunt, wie braun ich geworden war. Nach unserem ersten Strandausflug hatte ich mir einen derben Sonnenbrand geholt. Reste abgepellter Haut an den Unterschenkeln und Fußknöcheln zeugten noch davon. Aber diese Zeiten waren lange vobei. Mittlerweile brauchte ich nicht mal mehr Sonnencreme.

Nur eine Sache war seltsam: Seit neuestem interessierten sich die Mücken lebhaft für mich. Früher hatten sie mich immer links liegen gelassen, aber jetzt war ich völlig zerstochen. Egal ob an Fußknöcheln, Armen, Beinen oder am Hals – überall hatte ich rote, juckende Schwellungen, eine neben der anderen, wie an einer Schnur aufgezogen.



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Wenn Maren und ich allein sein wollten, gingen wir meistens zu mir.

Noch nie hatte sich jemand so sehr für mich interessiert. Ihre Fragen schienen kein Ende nehmen zu wollen. Erst antwortete ich bloß zögernd, konnte mich einfach nicht durchringen, so viel über mich zu sprechen. Außerdem erschien mir mittlerweile alles, was sich vor Schönhagen abgespielt hatte, eigenartig fremd und unwirklich.

Aber nach und nach taute ich auf. Begann von Hartmann und den verschiedenen Cliquen zu erzählen, vom Bunker, schließlich sogar von den Solterbeck-Leuten. Wie sie uns terrorisiert und gejagt hatten, wie ich von ihnen zusammengemöbelt worden war. Selbst meine anschließende Panik und den Verfolgungswahn sparte ich nicht aus.

Stundenlang konnten wir zusammensitzen und quatschen. Wir vergaßen die Zeit, achteten nicht darauf, ob es regnete oder die Sonne schien. Es gab nur noch unser Gespräch, unser Ritual aus Fragen, Erzählen und Nachfragen.

Manchmal ging der Übermut mit mir durch. Zum Beispiel drehte ich bei einem unserer Treffen die Musik voll auf – Nordstadt-Mucke. Es sollte richtig schön krachen und scheppern und demonstrieren, was ich vorher nur unbeholfen geschildert hatte.Im ersten Moment schien Maren tatsächlich beeindruckt. Aber schnell veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, zeigte erst Skepsis, dann Abneigung und sogar einen Hauch von Verachtung. Ich regte mich innerlich total auf, dachte: Du Spießertussi! Erst fragst du mich vom Hundertsten ins Tausendste über die Nordstadt aus, aber wenn du sie mal hörst, die Nordstadt, kriegst du sofort nasse Füße. Ist dir die Mucke zu hart? Bringt sie dir das wahre Leben, das Chaos, zu nahe? Willst du lieber in deiner heilen Welt bleiben, du Provinzlerin?Dann erschien mir das, was dort aus den Boxen tönte, plötzlich selbst aufgesetzt und künstlich. Man wollte Eindruck vor anderen damit schinden, sie überrollen, auf Dicke Hose machen. Brauchte man so was hier draußen wirklich? War ich nicht längst ganz woanders? Schließlich würgte ich einfach den Ton ab.Solche Wechselbäder der Gefühle gab es immer wieder. Erst war alles locker und unkompliziert. Man konnte die Dinge einfach dahinsagen, ohne langatmige Erklärungen und Erläuterungen. Aber dann schnitt man ein Reizthema an, ließ ein falsches Stichwort fallen – und mit einem Schlag war alle Nähe verschwunden, trennten uns wieder Welten.

Dennoch hatte ich den Eindruck, als würden diese Situationen seltener, als bewegten wir uns allmählich aufeinander zu. Und mit dieser Veränderung kam ein Gefühl zum Vorschein, das ich bisher nicht gekannt hatte: Vertrauen. Ich begann ihr Dinge zu sagen und zu zeigen, die ich aller Welt bis dahin sorgfältig verschwiegen hatte.

Zum Beispiel durfte eigentlich niemand wissen, dass ich Meditationsmusik hörte. „Meditationsmusik“ – in der Nordstadt war das ein Schimpfwort gewesen. Nur Hippies, Körnerfresser und weltfremde Spinner fanden so was gut. Ich versteckte die entsprechenden Platten immer ganz weit hinten im Schrank. Kaum auszudenken, wenn jemand sie bei mir gefunden hätte. „Hauke ist unter die Gurus gegangen“, hätte es geheißen, oder: „Hauke will nach Indien auswandern“. Ich wäre zum Deppen gestempelt worden, niemand hätte mich mehr für voll genommen.

Aber bei Maren hatte ich das Gefühl, aus meiner Faszination für diese Musik keinen Hehl machen zu müssen. Ich legte eine Scheibe auf, losgelöste Klänge begannen durch den Raum zu wabern. Oft gab es keine richtigen Melodien, bloß verschiedene Tonfolgen und Akkorde, die sich vermischten, gegenseitig überlagerten, wieder auseinanderliefen und von neuem zusammenfanden. Zuerst fühlte ich mich gut, die Musik trug mich davon. Doch je länger das Stück dauerte, desto mulmiger wurde mir. Hatte ich mich auf dünnes Eis begeben, Maren so etwas vorzuspielen?

„Die Musik ist schön“, meinte sie mit verträumtem Gesichtsausdruck. „Aber auch komisch. Sie lockt dich, zieht dich, und wenn sie dich hat, nimmt sie dir alle Kraft. Man will gar nicht mehr zurückkehren ins Draußen, ins Hier.“

Erst verstand ich nicht, was sie meinte. Dann wurde mir klar, dass ihre Worte genau das ausdrückten, was ich mir insgeheim beim Hören solcher Platten immer wünschte – abhauen, verschwinden, niemals mehr zurückkommen ins normale Leben, in die Wirklichkeit mit ihren Problemen, Missverständnissen, täglichen Kämpfen…

Da war sie wieder, die Maren-Souveränität, die mich schon ganz zu Anfang beeindruckt hatte. Diese unerwartete Coolness, mit der sie Dinge durchblickte und auf den Punkt brachte, sie in einfache Worte fasste. Und wieder dauerte es bei mir selbst, bis endlich der Groschen fiel. Zunächst mal fühlte ich mich missverstanden, sogar angegriffen, ähnlich wie bei der Krach-Mucke. Aber hinterher wuchs meine Bewunderung für Maren umso mehr.



***



Die Sehnsucht nach ihrer Haut, ihrem Körper wurde immer stärker. Ich glitt in den Ärmel ihres T-Shirts, strich über die nackte Schulter, versuchte mich noch weiter vorzuarbeiten. Irgendwann stand sie auf, ging zum Fenster und machte den Vorhang zu. Sie stand dort, zögerte einen Moment. Dann drehte sie sich zu mir und zog T-Shirt und Bustier aus. Ihre Brüste waren sehr klein, bestanden fast nur aus den roten Höfen um ihre Brustwarzen. Sie kam zurück, legte sich wieder zu mir aufs Bett, umarmte mich.

Ich war wie erstarrt. Ungläubig begann ich, über ihren Rücken zu streichen, über ihre Seite. Ich spürte die Linie der Taille, den Ansatz der Brust. Marens Hände glitten unter mein T-Shirt, wollten es mir über den Kopf ziehen. Aber ich ließ es nicht zu.

Auf einmal kam ich mir völlig verklemmt vor. Dabei hatte ich von dieser Situation so oft geträumt: Ein Mädchen, das sich freiwillig auszieht, mit dem man richtig was anstellen kann. Und jetzt? Worauf wartete ich noch? Ran an den Speck, aber zackig!

Ich konnte die Erregung tatsächlich nicht länger zurückhalten. Stürzte mich auf Maren, presste sie auf den Rücken, streichelte und küsste ihre kindlichen Brüste, fühlte die Brustwarzen hart werden. Sie begann leise zu seufzen. Und als sie irgendwann wieder versuchte, mir das T-Shirt abzustreifen, wehrte ich mich nicht mehr, im Gegenteil: Ich half ihr mit hektischen, fahrigen Bewegungen, konnte es kaum abwarten.

Aber komisch: Je gieriger ich wurde, desto mehr zerstob mein Gefühl, verschwand ins Nirwana. Maren, eben noch meine Prinzessin, war plötzlich nur irgendein Mädchen zum Begrapschen, Rummachen und Sich-Aufgeilen, sonst nichts. Was passierte bloß mit meiner Liebe zu ihr, sobald unsere Körper ins Spiel kamen? Weshalb wurde aus Berühren und Streicheln jedes Mal schnell reine Fummelei? Irgendeine komische Lücke klaffte da in mir, die ich zwar überspringen, aber nicht schließen konnte.

Maren hatte dieses Problem nicht, bei ihr flossen Liebe und Lust nahtlos ineinander. Völlig ungezwungen offenbarte sie mir ihre Gefühle, brachte mir ein geradezu kindliches Vertrauen entgegen. Wie sehr ich mir wünschte, diese Hingabe erwidern zu können – aber es ging nicht.

Irgendwann verlor ich jedes Mal komplett den Faden, wurde völlig mechanisch. Ich kannte das aus der Nordstadt, dort war es auch immer so gelaufen. Ich hatte das Mädchen unter mir bearbeitet, als würde ich einen Job erledigen, meine Pflicht erfüllen.

Schließlich merkte Maren es. Oder besser: Ich merkte endlich, dass Maren es gemerkt hatte. Längst schaute sie abwesend weg, ihr Körper hatte sich versteift. Ich rollte mich zur Seite, gab sie frei, erlöste sie.

Dann wich ich ihrem Blick aus, so lange es ging, wollte nicht den stummen Vorwurf ertragen müssen, der garantiert aus ihm sprach. Mein schlechtes Gewissen war auch so groß genug. Ich hasste mich regelrecht für das, was ich nicht besaß, nie besitzen würde. Ich war ein Nichts, ihrer unwürdig.

Schließlich schaute ich doch und stellte jedes Mal überrascht fest, dass ihr Blick nicht anklagend war, sondern voller Mitgefühl. Als wäre ich die bedauernswerte Person, nicht sie.



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Zu Maren nach Hause ging ich überhaupt nicht gern. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass insbesondere ihr Vater etwas gegen mich hatte. Sie meinte zwar, das würde nicht stimmen, das kaufte ich ihr nicht ab.

Ein einziges Mal war ich dem Typen bisher begegnet, im Hausflur der Sührings. Er kam gerade von der Arbeit und war noch in Schlips und Kragen. Von Jürgen wusste ich, dass er einen wichtigen Job im Großmarkt in Hoheneck hatte. Maren umarmte ihn, gab ihm einen Kuss auf die Wange. Dann schob sie mich nach vorn.

Er war fast einen Kopf größer als ich und schaute sozusagen auf mich herunter. So brav wie möglich sagte ich „Guten Tag“ und hielt ihm zaghaft die Hand hin. Er grüßte zurück, korrekt und gleichzeitig irgendwie frostig. Seine Pranke zerquetschte mir fast die Hand, sein Blick taxierte mich misstrauisch. Ich schien immer kleiner zu werden, sozusagen in mich zusammenzuschrumpeln, als ich so vor ihm stand. Leider wollte sich seine Miene partout nicht entspannen; die Stirn blieb gerunzelt, die Falten schienen noch tiefer zu werden. Schließlich drehte er sich wieder zu Maren und ermahnte sie, nicht zu spät zum Abendbrot zu kommen.

Der Personencheck war wohl nicht günstig ausgefallen. Wie auch? Wenn man bei mir den wohlerzogenen, properen Jungen aus gutem Hause suchte, fand man eben nichts. Es war exakt dieselbe Situation wie bei Dr. Busch, dem Direx am Wilhelm-Gymnasium. Bei solchen Typen konnte man sich noch so abmühen – man blieb doch immer der Proll, der Untermensch.

Mit Marens Mutter kam ich besser klar. Sie arbeitete halbtags in einem Laden im Dorf und war, wenn ich nachmittags bei Sührings klingelte, meistens zu Hause. Sie kochte uns Tee, stellte manchmal selbstgebackenen Kuchen hin. Wir plauschten immer ein bisschen zu dritt, bevor Maren und ich nach draußen abhauten oder uns auf ihr Zimmer verzogen. Ihre Mutter würde meine freundliche und „sensible“ Art mögen, erzählte Maren. Und es gefalle ihr, dass ich sie abends immer bis zur Haustür brachte. Angeblich wüsste sie ihre Tochter bei mir „in guten Händen“.

Bei dem Gedanken, dass mich jemand „sensibel“ fand, musste ich schmunzeln. Aber ich mochte Frau Sühring auch. Sie entsprach genau dem, was ich mit dem Begriff „Mutter“ verband: Sie war total nett, kümmerte sich, war immer da, wenn man sie brauchte. Insgeheim wunderte ich mich, wie eine so sanfte Frau neben wuchtigen, sperrigen Herrn Sühring bestehen konnte.

Aber auch zu Marens Mutter wollte ich nach Möglichkeit auf Distanz bleiben. Wenn ich bei ihr zu viel Vertraulichkeit aufkommen ließ, riskierte ich, allmählich in Marens Familie hineingezogen zu werden. Dann aber hätte ich irgendwann wieder ihrem Vater gegenübergestanden, und diese Aussicht fand ich sehr unheimlich. Schade, dass alles so kompliziert war. Weshalb konnte es nicht laufen wie zum Beispiel wie bei Hartmanns Eltern?

In Marens Zimmer fühlte ich mich sauwohl. Der Raum war ziemlich klein. An der Rückwand befand sich der Einbauschrank; das Bettsofa war mitten im Zimmer postiert, was ich ziemlich cool fand. Ein Regal mit Büchern und Krimskrams nahm eine Seitenwand ein, an der anderen hing eine große Schwarzweiß-Fotografie. Sie zeigte das Gesicht eines Kindes mit blonden, zerzausten Locken und Schmollmund. Erst dachte ich, das wäre Maren – als Kind musste sie genauso ausgesehen haben. Aber sie erzählte mir, dass das Poster in der Bibliothek ihrer Schule gehangen hatte. Als die Gelegenheit günstig war, hatte sie es mitgehen lassen.

Unter dem Bild waren Schnappschüsse angepinnt. Auf einem war definitiv Maren zu sehen, vor einer verschneiten Landschaft. Sie trug eine dunkelblaue, wattierte Jacke und hatte sich mehrere Schals in verschiedenen Farben um den Hals gebunden. Ein wollenes Stirnband schützte die Ohren und hielt das Haar aus dem Gesicht. Sie lachte in ihrer typischen Art, mit leuchtenden Augen und nach unten gezogenen Mundwinkeln, während ihre Nasenflügel sich krausten. Die Hände steckten in grauen Wollhandschuhen und waren abwehrend erhoben, als wollte Maren nicht, das man sie fotografierte. Ihr Gesicht war von der tiefstehenden Sonne zur Hälfte rötlich gefärbt, das Licht spiegelte sich in ihren Augen. Es sah atemberaubend schön aus.

„Wann war das?“, fragte ich und zeigte auf das Bild.

„Im vorletzten Winter.“

„Und wer hat das aufgenommen?“

„Jürgen, glaube ich“, sagte sie nach kurzem Schweigen.

Bei meinem nächsten Besuch hing das Winterfoto nicht mehr dort.

In einer anderen Ecke ihres Zimmers stand eine Nähmaschine, die ziemlich professionell wirkte. Schneidern war ihr Hobby. Sie nähte Hosen und Kleider mit schrillen Mustern aus den Fünfzigern und Sechzigern. Manchmal trug sie die Klamotten selbst, meistens aber verschenkte sie ihre Werke oder verkaufte sie. Auch ihre Vorhänge hatte sie selbst gemacht. Sie hatte den Stoff auf irgendeinem Flohmarkt entdeckt und sofort gekauft, weil ihr das grellbunte Muster gefallen hatte

Vom Fenster zwinkerte mir der Mann im Mond zu. „Wir kennen uns ja bereits“, schien er zu sagen. Unter ihm lagen auf der Fensterbank ein paar flache, blaue Steine. Als ich sie genauer in Augenschein nahm, sah ich, dass sie aus Glas waren. Einige waren kreisrund, andere hatten eine angedeutete gezackte Form, wie Sterne. Der Sternenhimmel. Und darüber der Mond. Ich nahm einen der Glassteine und hielt ihn gegen das Tageslicht. Seine dunkelblaue Farbe strahlte etwas zutiefst Beruhigendes aus.

Eines Nachmittags, als wir in Marens Zimmer waren, berichtete ich ihr von meinem Absturz in der Schule und dem katastrophalen Halbjahreszeugnis. Ich schilderte, wie ich in den letzten Monaten gerackert und mich langsam aus dem Schlamassel herausgearbeitet hatte, erst am KBZ, dann am Wilhelm-Gymnasium, und dass ich nun vielleicht noch die Versetzung schaffen würde.

Beim Abschied legte sie mir etwas in die Handfläche und drückte meine Finger darüber zusammen. Ich spürte etwas Glattes, Kaltes – es war einer der blauen Glassteine von der Fensterbank. „Ein Glücksstern“, sagte sie und schaute mir in die Augen, mit ihrem Intensiv-Blick.

Erst kapierte ich mal wieder nicht, was sie meinte, aber dann kam die Erleuchtung: Sie spielte auf das bevorstehende Zeugnis an, wollte mir Glück wünschen. Und man spürte, dass sie das nicht nur so dahinsagte. Es schien ihr wirklich wichtig zu sein. Sie wollte, dass ich die Versetzung noch schaffte und endlich in ruhigeres Fahrwasser kam.



***



Das Sommerfest rückte unaufhaltsam näher. In der Alten Mühle löcherte mich der Lange Udo jetzt regelmäßig wegen des Geschenkesammelns für die Tombola. Schließlich konnte ich mich nicht länger rausreden.

Eines Nachmittags fuhr ich bei Bernd mit, auf einer seiner Kradtouren durch die Region. Er hatte eine Liste mit jenen Firmen dabei, die in den letzten Jahren etwas gespendet hatten. Aber wir sollten auch dort vorsprechen, wo bisher nix rausgesprungen war. „Macht sie mürbe“, hatte Udo gesagt.

Und so klapperten wir alles ab, was ein Firmenschild hatte, egal ob Ladengeschäfte, Büros oder Werkstätten. Die Spenden würde Udo später mit dem VW-Bus der Alten Mühle abholen, Kleinteile nahmen wir gleich mit und verstauten sie unter der Rückbank. Alles mögliche heimsten wir ein: Bücher, Platten, Uhren, Elektrogeräte wie Toaster, Wasserkocher, Radiowecker und vieles mehr.

Das Reden übernahm meistens Bernd. Wenn ich mal zaghaft meinen Senf dazugab, war die Sache meistens schon in trockenen Tüchern. Die ungewohnte Atmosphäre der Büros, Geschäfte und Betriebe, diese ganze Welt von Arbeiten und Geldverdienen machte mir angst. Eigentlich war ich mehr ein Klotz am Bein als eine Hilfe.

„Als nächstes ist der Großmarkt in Hoheneck an der Reihe“, meinte Bernd, als wir nach einem erfolgreichen Besuch gerade wieder auf die Karre stiegen. „Dort müssen wir zu Marens Vater.“

Er reichte mir die Liste nach hinten: „Herr Sühring, Leitung/Vertrieb“. Au Backe! Jetzt war ich ausnahmsweise froh über unsere Rollenverteilung. Bei dem Typen überließ ich Bernd liebend gerne die Show.

Die Fahrt zum Großmarkt ging schnell. Wir stellten die Karre ab, klemmten uns die Helme unter den Arm und gingen auf das imposante, vollständig verglaste Verwaltungsgebäude zu. Mittlerweile fragte ich mich, weshalb wir hier eigentlich vorsprechen mussten. Konnte Maren ihren Vater nicht einfach um ein Geschenk für die Tombola anhauen? Überhaupt – was sollte das ganze Rumgekurve? Alle wussten doch, dass zum Sommerfest eine Tombola stattfand. Weshalb ließen sich die Firmenbosse jedes Jahr von neuem anbetteln?

„Ich wundere mich auch immer wieder“, meinte Bernd. Er schaute an mir hoch und runter, als würde er etwas suchen: „Sag mal, eigentlich kannst du doch viel besser labern als ich.“

Worauf wollte er hinaus?

Dann ließ er die Katze aus dem Sack: „Ich hab' mit Marens Vater immer totale Probleme. Der Kerl ist irgendwie anstrengend. Ich finde, jetzt bist du mal dran.“

Vor Schreck fiel mir glatt die Kinnlade runter.

„Das kann ich nicht“, stotterte ich. „Du machst die Sache doch ganz gut. Ich brech mir da garantiert einen ab.“

„Ach, du schaukelst das schon“, meinte Bernd bloß.

So eine Scheiße! Ausgerechnet bei Marens Vater sollte ich meinen Einstand als Schnorrer geben! Aber eigentlich hatte Bernd recht, das musste ich zugeben: Viel hatte ich bisher nicht zum Erfolg unserer Aktion beigetragen. Besser gesagt gar nichts. Rausreden war also nicht mehr drin.

Die Glastüren des Haupteingangs öffneten sich automatisch vor uns. Bernd marschierte zum Tresen und nannte der adrett gekleideten Empfangsdame unsere Namen. Sie griff zum Telefonhörer, um uns anzumelden. Mir zitterten jetzt buchstäblich die Knie vor Aufregung.

„Sie können raufgehen“, sagte die Empfangsdame, als sie den Hörer wieder aufgelegt hatte. „Kennen Sie den Weg?“

Bernd nickte. Wir fuhren mit dem Fahrstuhl nach oben, liefen durch einen langen, mit dunklem Holz getäfelten Korridor, kamen schließlich an eine Tür. Mittlerweile war ich so nervös, dass ich ernsthaft befürchtete, jeden Augenblick loszureihern.

Wir klopften. Von drinnen war ein zackiges „Herein!“ zu hören.

Herr Sühring saß hinter einem riesigen schwarzen Schreibtisch. „Ah, die Komplementäre aus der Alten Mühle“, sagte er, wies auf die beiden Stühle vor sich und zupfte sich die Krawatte zurecht. Als wir saßen, blickte er zwischen Bernd und mir hin und her, als wollte er sagen: „Dann lasst mal hören.“

Ich legte sofort los, als ginge es um Leben und Tod. Erzählte von Tourismus als Wirtschaftsfaktor, und dass Aktionen wie Sommerfest und Tombola gezieltes Marketing wären. Die gesamte Region würde davon profitieren, und so weiter. Vor einigen Wochen hatte ich in der Schule ein Referat zum Thema „Harte und weiche Standortfaktoren in der Wirtschaft“ gehalten. Natürlich hatte mich das Ganze nicht die Bohne interessiert, aber jetzt war ich verdammt froh über das Wissen, dass ich mir zwangsweise eingetrichtert hatte. Ich konnte sozusagen aus dem Vollen schöpfen.

Marens Vater schien sich gut zu amüsieren: Das Grinsen in seinem Gesicht wurde immer breiter. Irgendwann ging mir die Munition aus. „Ich will sehen, was ich für euch tun kann“, sagte er lapidar und entließ uns.

Als wir wieder im Freien waren, platzte es aus Bernd heraus: „Mann, dem hast du's gegeben! Das war geil!“

Ich verstand nicht, was er meinte.

„Den hast du plattgelabert. Ich hätte das nie hingekriegt.“

Hatte ich Herrn Sühring mit meinem Gefasel wirklich beeindruckt?

„Bin gespannt, was er als Geschenk rausrückt.“ Bernd grinste. „Ein Auto ist das mindeste, mit weniger kommt der diesmal nicht davon!“

Ich tippte mir an die Stirn. „Ein Auto – geht's noch?“

„Wieso nicht? Alter, bei dem hast du jetzt n Stein im Brett, das glaubst du ja wohl!“

Das glaubte ich ganz sicher nicht. Welchen Unsinn reimte Bernd sich da zusammen?



***



Nach einer kühlen, wechselhaften Wetterphase kam der Sommer zurück, und zwar mit Macht. Es gab Hitze satt, noch mehr Hitze, schließlich zu viel Hitze. Alles flirrte, zitterte, waberte. Kochend heiße Luft ergoss sich über einen, kaum dass man vor die Tür trat. Man konnte nur noch in den Schatten flüchten.

Alle sehnten den großen Regen herbei, und eines Nachts war es soweit: Laute Donnerschläge warfen mich fast aus dem Bett, Blitz-Kaskaden machten die Nacht zum Tag, Wassermengen biblischen Ausmaßes gingen auf unser Dach nieder. Erst nach geschlagenen drei Stunden kehrte wieder einigermaßen Ruhe ein.

Leider brachte der Wetterumschwung nicht die erhoffte Erholung: Morgens drückten Feuchtigkeit und Dunst schwerer als zuvor aufs Land, selbst die geringsten Bewegungen verursachten Schweißausbrüche. Das Atmen fiel schwer, in der Schule musste ich ständig zum Asthmaspray greifen.

Erst nachmittags kam zaghafter Wind auf, der sich aber allmählich verstärkte. Die Dunstglocke begann sich aufzulösen, ein frischer Geruch nach Blüten, Pflanzen, Feuchtigkeit zog durch die Lüfte. Schließlich brach die Wolkendecke auf, die Sonne zeigte sich. Die Erleichterung war unbeschreiblich.

Maren und ich radelten durch die Felder. Wir wollten zum Bismarckturm, einem bekannten Aussichtspunkt. Angeblich war er im Stil eines mittelalterlichen Burgturms errichtet, was sich für mich komisch anhörte: Wer baute so etwas und wozu? Aber der Blick von dort oben sollte grandios sein.

Zum ersten Mal fuhr ich von der Küste weg landeinwärts. Hier gab es keine Deichlinie und keine See als Orientierungsmarke. In alle Richtungen nur Land, schier endloses Grün. Allein wäre ich in dieser Weite hoffnungslos verloren gewesen, aber Maren schien sich bestens auszukennen: An keiner Abzweigung zögerte sie, immer wusste sie, wie es weiterging.

„Wie kann man sich bloß diese Strecke merken?“, wunderte ich mich.

„Kennt hier jeder“, meinte sie bloß.

Wir durchquerten entlegene Dörfer mit seltsamen Namen wie Krakery oder Legbank. Meistens waren sie wie ausgestorben. Oder sie befanden sich unter der Herrschaft der Kinder, die in Horden herumtobten, ungewaschen, barfuß, manchmal nackt. Einmal gerieten wir in einen Pulk Hühner, die mitten über die Dorfstraße staksten. Nur unter protestierendem Gegacker rannten sie zur Seite und gaben den Weg frei.

Der Himmel war inzwischen nahezu klar, die Sonne schien fast permanent. Ihr Licht ließ die Landschaft noch weiter, noch verlorener wirken. Gerade hatten wir den nächsten Flecken passiert, den man kaum 'Dorf' nennen konnte, als zwischen den Hügeln ein schneeweißes Gebäude auftauchte, ein Schloss mehr als ein Haus. Inmitten der grünen Einöde wirkte es fast wie eine Sinnestäuschung. „Das Herrenhaus von Gut Friedrichsburg“, wusste Maren.

Nach gut zweistündiger Fahrt konnte ich am Horizont etwas ausmachen, das an einen riesigen, in den Himmel weisenden Finger erinnerte. Als wir näherkamen, erkannte ich endlich den Turm. Er war aus roten Backsteinen errichtet und viereckig. Seine Zinnen ließen tatsächlich an einen mittelalterlichen Burgturm denken – allerdings fehlte die dazugehörige Burg.

Es ging in eine langgezogene Kurve, und das altertümliche Bauwerk verschwand wieder aus unserem Blickfeld. Wenig später tauchte es von Neuem auf, jetzt dicht vor uns, fast ein bisschen bedrohlich. Die Straße endete an einem kleinen, mit Kies gedeckten Parkplatz, der aber leer war. Wir stellten unsere Räder gegen die Turmwand und schlossen sie zusammen. Die Taschen mit dem Proviant ließen wir einfach auf den Gepäckträgern – außer uns schien eh niemand hier zu sein. Dann betraten wir eine düstere, mit Kalk geweißte Halle. Ich suchte nach einer Kasse, konnte aber nichts entdecken. Kostete es denn keinen Eintritt?

Maren stapfte zielstrebig auf einen Durchgang zu, hinter dem man Stufen sah – eine Wendeltreppe lief dort aufwärts. Bald erreichten wir eine Zwischenplattform. Die Aussicht war hier bereits recht ordentlich, aber damit gaben wir uns natürlich nicht zufrieden. Wir wollten ganz nach oben.

Also wieder auf die Treppe. Der Weg zog und zog sich, nichts geschah. Vom vielen Im-Kreis-Gehen wurde uns bald schwindelig. Nach einer gefühlten Ewigkeit endlich Licht über uns – eine Öffnung! Wir begannen zu laufen, erreichten sie, kamen ins Freie…

Wir standen auf dem Dach der Welt. Über uns nur noch azurblauer Himmel, nichts anderes mehr. Und der Blick in die Tiefe – er war schlicht atemberaubend: Ein gewaltiger, grüner Flickenteppich, eine wogende, schier endlose Fläche aus Kornfeldern, Wiesen, Knicks, Wäldern… ich begann mich um meine eigene Achse zu drehen, erst langsam, dann immer schneller, bis der Schwindel zurückkehrte Es war ein naiver, sehr hilfloser Versuch, die Aussicht zu erfassen, in ihrer ganzen Weite und Vielfalt.

Ein Glanz war auf einmal in Marens Augen, der offenbar das Grün der Natur widerspiegeln wollte. Die Augen waren das schönste an ihr – dieses neugierige Funkeln, diese Lebendigkeit. Zugleich lag etwas Rätselhaftes in ihnen, das sicher von der Farbe herrührte. Aber ich liebte auch diesen Mund, die Knicke an den Mundwinkeln, die Unterlippe, die ihrem Gesicht immer etwas Kindlich-Schmollendes gab. Nicht zu vergessen ihr leuchtend-blondes Haar, das mich mehr denn je an reifendes Korn erinnerte. Blondes Haar und grüne Augen – gab es eine Kombination, die besser hierher passte, in diese Landschaft, den Sommer, seine Helligkeit und Wärme?

Plötzlich bekam ich Lust, Maren nackt zu sehen, hier oben, in diesem Licht, vor den Feldern. Ich zog die Träger ihres Kleides und des Bustiers zur Seite, streifte den Stoff herab. Sie ließ es geschehen, erst verwundert, dann erregt. Wie sehr ich mittlerweile ihre kleinen Brüste liebte. Sie erzeugten eine Lust in mir, die viel intensiver war als ich es bei großen Brüsten erlebt hatte. Die Brustwarzen waren sehr empfindlich. Kaum berührte man sie mit den Händen oder Lippen, wurden sie auch schon hart.

Schritte auf der Treppe! Hastig zog Maren sich wieder an. Sie war kaum fertig, da trat ein älteres Ehepaar aus dem Durchgang auf die Plattform heraus, der Mann hielt einen Reiseführer in der Hand. Leicht irritiert schauten die beiden uns an. Ob sie was mitbekommen hatten?

Arm in Arm gingen sie auf die anderen Seite, beugten sich über die Zinne und glotzten in die Ferne. Maren und ich warfen uns genervte Blicke zu. Dann ging ein schelmisches Grinsen über ihr Gesicht. „Darling, du wirst immer rassiger!“, rief sie, „du hast es mir großartig besorgt!“

Ich schaute sie verdattert an. Noch immer war ich es nicht gewohnt, wenn die vermeintlich brave Maren so sprach. Aber ich kapierte natürlich, worauf sie hinaus wollte, und prompt fiel mir eine Antwort ein: „Ja, deine Liebesschreie müssen meilenweit zu hören gewesen sein!“ Kaum hatte ich diesen Unsinn gesagt, prusteten wir auch schon los. Die beiden Touris standen peinlich berührt da und versuchten krampfhaft, die Aussicht zu genießen. Sie konnten einem fast leid tun. Endlich hatten sie ein Einsehen und gingen. Wir waren wieder allein. Gewonnen!

Ich holte den Proviant von unten herauf. Wir hatten beschlossen, unser Picknick hier auf dem Turm abzuhalten. Der sonnenbeschienene, warme Steinboden war unser Tisch. Besucher kamen nur noch selten. Wenn sie uns beim Schmausen sahen, wünschten sie uns Guten Appetit.

Ich musste an einen weit zurückliegenden Sonntagmorgen denken: das warme Frühlingswetter, die Radfahrt mit Hartmann zur alten Kanalbrücke, der Blick auf die andere Seite, dieses schmale, blass-grüne Band am Horizont. Es hatte unerreichbar gewirkt, und jetzt waren wir mittendrin. Das Band hatte sich zu einer Fläche entfaltet, es war eben jene Hügellandschaft, die unseren Turm umgab wie ein grünes, endloses Meer.



***



Es war bereits später Nachmittag, als wir weiterfuhren. Maren wollte mir noch das „Hünengrab“ zeigen, eine alte, heidnische Kultstätte. Auch Jürgen hatte schon davon erzählt. Er und Silke machten wohl öfters Touren auf dem Roller dorthin. Hünengrab, Kultstätte – das klang spannend, auch wenn ich mir nicht viel darunter vorstellen konnte.

Die Gegend wurde nun völlig einsam. Alle menschlichen Behausungen hörten auf, es kamen keine Autos mehr, auch keine Radfahrer oder Wanderer. Eine fast unheimliche Stille senkte sich herab, fast schien es, als wären wir unwissentlich in eine Zone geraten, die für Menschen verboten war.

So ganz allmählich ging mir die Puste aus. Ich wollte Maren bereits fragen, wie weit es noch war, da entdeckte ich einen auffälligen, mit Bäumen bewachsenen Grashügel, der sich mitten in einem Kornfeld erhob. Das Gebilde wirkte wie ein Fremdkörper, ein kulturelles Überbleibsel aus alten Zeiten. Das musste es sein, das geheimnisvolle Hünengrab!

Maren bremste ab und schaute konzentriert auf den Knick am Wegrand. „Irgendwo hier kommt man durch“, sagte sie. Schließlich entdeckten wir eine schmale Öffnung, hinter der sich ein Pfad anschloss. Er war einfach ins Korn getrampelt.

Die Seitenwände des Hügels waren steil, wir mussten regelrecht klettern, um hinaufzukommen. Die Oberseite dagegen war flach wie ein Plateau. Wir wanderten zwischen den Bäumen umher und lasen die in die Stämme geritzten Inschriften. Einige waren bereits wieder zugewachsen. Einmal glaubte ich etwas zu erkennen, das wie „1904“ oder „1914“ aussah. Ehrfurcht ergriff mich: Noch immer Spuren von Leuten zu finden, die vor ewigen Zeiten genauso hier herumgelaufen waren wie wir jetzt – es fühlte sich aufregend an. Nur schade, dass ich nichts dabei hatte, um uns genauso zu verewigen. Die Messer unseres Picknickgeschirrs eigneten sich dafür leider nicht. Ich nahm mir vor, demnächst wiederzukommen und das Versäumte nachzuholen. Falls ich allein überhaupt den Weg fand, was ich stark bezweifelte.

Irgendwann hatten wir genug geschaut. Wir setzten uns an die Hügelkante und blickten schweigend über das in der Abendsonne leuchtende Korn, das sich ringsherum breitete, soweit das Auge reichte. Jürgen hatte kürzlich mal gesagt, er kenne keinen anderen Ort, an dem eine solche Stille herrsche. Jetzt wusste ich, was er meinte.

Jürgen – erst gestern hatte mich mit ihm und Bernd getroffen, auf der Wiese vor unserem Haus. Wir hatten bis in die Nacht zusammengesessen und über Gott und die Welt gelabert. Auch der Name Rusi war dabei gefallen. Auf mein Nachfragen hatte Jürgen bloß erwidert, über das Thema solle ich besser mit Maren quatschen.

Es war jedes Mal dasselbe: Sobald man auf diesen Typen zu sprechen kam, prallte man gegen eine Mauer aus Abwehr und Schweigen. Als wäre etwas Schlimmes an dem Kerl, als brächte man sich in Gefahr, wenn man versehentlich etwas Falsches über ihn sagte. Maren hatte mir noch gar nicht von ihm erzählt. Aber ich hatte mich bisher auch noch nicht getraut, sie nach ihm zu fragen. Wir redeten überhaupt nur über mich, nie über sie. Es war schon merkwürdig: Sie wusste mittlerweile fast alles von mir, während ich nicht einmal ihre jüngste Vergangenheit kannte.

Lange hatte ich das hingenommen, meine Geduld im Zaum gehalten. Aber nun wollte ich endlich mehr über sie erfahren. Wenigstens die Sachen, die sowieso allgemein bekannt waren.

„Erzähl mir von Rusi“, sagte ich. Trotz des Gefühls, im Recht zu sein, fing mein Herz plötzlich stark zu pochen an.

Erst verzog sie das Gesicht, als wollte sie sagen: „Muss das sein?“ Aber dann schien sie sich eines Besseren zu besinnen. Sie atmete durch und begann.

Ihr Vater war früher oft beruflich unterwegs gewesen. In dieser Zeit hatte sich Rusi sehr um sie gekümmert. Er war wie ein älterer Bruder gewesen. Ein bisschen auch wie ein Vater.

Ungefähr vor zwei Jahren merkten die beiden, dass ihre Gefühle füreinander sich verändert hatten. „Und dann waren wir zusammen.“

„Einfach so?“, fragte ich erstaunt.

Sie nickte. „Einfach so.“

Ihre Eltern waren glücklich über den Gang der Dinge. Sie hatten auch kein Problem damit, dass Rusi drei Jahre älter war als Maren. „Klar, bei diesem Traumschwiegersohn“, sagte sie mit leichtem Spott in der Stimme. Tatsächlich war Rusi damals so gewesen, wie alle Eltern es sich wünschten: gut erzogen, charmant, ein Ass in der Schule, zudem die totale Sportskanone.

Er und Maren verbrachten eine traumhaft schöne Zeit miteinander. Ihre besten Freunde hießen Kristina und Bernd, die selbst gerade zusammengekommen waren. Man nannte die vier allgemein das „Quartett“, weil man sie immer bloß gemeinsam sah.

Ich lag mittlerweile im Gras und schaute nach oben, ins grüne Dickicht der Baumkronen. Ansonsten überließ ich mich ganz dem Klang von Marens Stimme, die sich weich anhörte, verträumt. Als ich einmal schaute, sah ich, dass ihr Blick sich verschleiert hatte und in die Ferne ging.

Rusi, erzählte sie weiter, war ein lieber, aufmerksamer Typ, aber er hatte eine Schwäche: seine Eifersucht. Sobald Maren bloß in die Nähe eines anderen Jungen kam, durfte sie sich hinterher seine Tiraden anhören. Und wenn sie mal einen Nachmittag nicht mit Rusi verbrachte, wurde sie anschließend regelrecht ausgefragt: was sie unternommen hatte, wer dabei gewesen war und so weiter.

„Das muss ja genervt haben“, meinte ich.

Sie drehte sich zu mir, schaute mich verwundert an. „Ging so.“ Ihre Stimme war eine Spur kühler geworden.

Irgendwann fing Rusi an, mit Schohl und dessen Leuten rumzuhängen. Ermachte plötzlich auf cool und unnahbar. War permanent zugekifft. Wusch sich kaum noch, wechselte die Klamotten nicht mehr, fing an zu stinken. Bei Maren ließ er sich jetzt kaum noch blicken. Wenn er doch mal vorbeikam, behandelte er sie immer sehr herablassend, wie ein naives Kind, das von der Welt keine Ahnung hatte. Er wurde ihr immer fremder.

„Eines Tages kam er an und meinte: Es ist Schluss.“ Sie wirkte jetzt vollkommen abwesend. In ihren Augenwinkeln glänzten Tränen. „Ich fiel in ein regelrechtes Loch. Weiß nicht, wie ich's sonst sagen soll. Er war immer dagewesen, ich hatte das Gefühl, ohne ihn gar nicht leben zu können.“

Sie mochte nicht mehr vor die Tür gehen, stand manchmal den ganzen Tag nicht auf. Andauernd hatte sie Schmerzen, aber der Arzt konnte nichts feststellen.

Mein Blick wanderte zu den Narben an ihrem Oberarm: In der tiefstehenden Sonne zeichneten sie sich umso deutlicher ab. Stammten sie aus dieser Zeit? Hatte Maren ihrer Verzweiflung irgendwie Luft machen wollen? War sie gar überzeugt gewesen, dass sie die Schuld an allem trug?

Schuld – so ein Quatsch! Was konnte sie dafür, wenn dieser Rusi so ein durchgeknallter Spinner war?

„Hat der Typ dir wenigstens mal erklärt, weshalb er Schluss gemacht hat?“, fragte ich.

Sie schwieg. Nach ein paar Sekunden schüttelte sie kaum merklich den Kopf. „Nein, nie.“

Ruckartig setzte ich mich auf. „Mit dem Kerl bist du ja wohl fertig, oder? So ein mieser Sack!“ Ich hatte das Gefühl, jeden Moment zu explodieren, zu platzten.

Aber sie schien mich gar nicht zu hören. „Er musste dann in die Nervenklinik. Hatte einen Zusammenbruch. Ihm ging's wohl ziemlich schlecht.“

Sollte das jetzt etwa eine Entschuldigung für ihn werden?

„Solche Vertrautheit wie zwischen ihm und mir gibt's bestimmt nicht oft. Wir wussten alles voneinander…“

Sie wussten alles voneinander… diese Worte lenkten meine Gedanken in eine komplett andere Richtung, auf einmal hatte ich eine sehr schräge Idee. Obwohl es eigentlich nicht sein konnte, so jung wie sie damals gewesen sein musste… „Habt ihr eigentlich auch…?“ Ich suchte nach dem richtigen Wort. Gefickt? Gevögelt? Gebumst? „Äh… zusammen…“

„Geschlafen?“, fragte sie, fast gelangweilt. „Ja klar. Zum Schluss ist er ja bloß noch deswegen vorbeigekommen. Meine Eltern fielen aus allen Wolken, als ich die Pille haben wollte.“ Sie ahmte den Tonfall ihrer Mutter nach, wie sie es häufiger tat: „Kind, du bist doch erst 14.“

Schon wurde sie wieder ernst: „Aber dann war ja eh Schluss.“

Sie sagte nichts mehr. Aber ich wollte auch nichts mehr hören. Auf einmal fühlte ich mich hundeelend, bereute es fast, dass ich überhaupt nachgefragt hatte.

Die Story mit Rusi war das eine. Eine weitere, vielleicht wichtigere Sache kam hinzu. Maren war jetzt 15, also ein Jahr jünger als ich. Das war aber bloß die Biologie. Was ihre Lebenserfahrung anging, schien sie mir weit, weit voraus. Und nicht nur sie. Alle Leute hier wirkten so unglaublich reif, so entwickelt und erfahren.

Und was hatte ich die ganze Zeit getrieben? Ich war in der Nordstadt rumgelaufen und hatte auf Dicke Hose gemacht. Die Fassade war das Entscheidende gewesen, nicht der Inhalt. Aber welche Gefühle hatte ich gehabt, womit hatte mich auseinandergesetzt, welche Dinge waren mir klar geworden? Und ich hatte immer gedacht, bei uns würde das wahre Leben toben, nur in der Nordstadt könne man lernen, was abgeht in der Welt.

Verglichen mit den Schönhagenern kam ich mir wie eine leere Hülle vor. Ich war ein Niemand, ein absolutes Nichts. Wie sollte ich alles nachholen, was sie längst kannten? Und schließlich: Wie sollte ausgerechnet ich die Lücke füllen, die Rusi in Maren hinterlassen hatte? Niemals würde das funktionieren, das begriff ich in diesem Moment.

Die Erkenntnis kam urplötzlich, wie ein heftiger Schlag aus dem Nichts, der einen voll erwischte. Mir schwanden regelrecht die Sinne, ich hatte das Gefühl, den Halt zu verlieren, zu fallen, immer schneller…

Dann hörte ich wieder Marens Stimme: „Die anderen haben sich wirklich rührend um mich gekümmert. Bernd, Kristina, Jürgen, Silke – alle. Ohne sie wäre ich wahrscheinlich selbst in der Klapsmühle gelandet. Und wie sie sich freuten, als es endlich besser wurde. Als sie merkten, dass es wieder jemanden nach Rusi für mich gab.“

Es dauerte einen Moment, bis ihre Worte bei mir ankamen. Und einen weiteren, bis ich kapierte, dass sie von mir gesprochen hatte.

„Klar hab ich gemerkt, dass sie mich beobachteten, alles im Blick hatten.“ Ein leises, glucksendes Lachen war nun von ihr zu hören, voller Wärme. „Aber ich hab mich ja selbst so gefreut. Dachte ernsthaft, diese Dunkelheit, dieses Elend – das bleibt jetzt immer so. Und endlich wieder: Licht!“

Einen Augenblick war nur das Rauschen der Bäume zu hören. Dann sprach sie weiter: „Zuerst fand ich dich ziemlich blöd. Ich dachte immer: Was für ein polteriger, lauter, unbeholfener Typ! Aber wenn du erzählt hast, war es doch spannend. Und auch lustig. Die Jungs hatten am Anfang Respekt vor dir. An der Eisdiele hatten einige, glaub ich, sogar ein bisschen Schiss. Aber da war noch etwas anderes an dir…“ Wieder suchte sie nach Worten. „Etwas Weiches, irgendwie Liebes. Wie du auf Gut Neudorf mitgearbeitet hast… Hartmann hätte das bestimmt nicht gemacht, oder?“

Ihre Stimme klang auf einmal deutlicher, klarer. Sie musste sich in der Zwischenzeit zu mir umgedreht haben.

„Hey, alles okay?“, fragte sie besorgt.

Wahrscheinlich sah man mir an, dass ich mich in den letzten Minuten nicht gut gefühlt hatte. Aber es war schon wieder besser. Viel besser sogar. Ich spürte Erleichterung, wie nach einem abziehenden Sturm. Das Grün der Baumkronen erschien mir frischer und kräftiger denn je.

Ich schüttelte den Kopf, musste mich aber räuspern, bevor ich sprechen konnte: „Es ist nichts. Alles klar.“

Maren legte sich neben mich, strich mir mit der Hand über die Stirn. „Aber du hast mitgemacht auf Gut Neudorf“, flüsterte sie mir ins Ohr. „Du wolltest… zu uns kommen. Das war schön.“

Sehr langsam fuhren ihre Finger durch mein Haar, über die Kopfhaut. Eine Gänsehaut lief mir über den Nacken. Sie rückte sehr nah an mich heran, ihr Atem war nun fast lauter war als ihre Stimme: „Ich bin so glücklich, dass du da bist.“

Im Augenwinkel hatte ich eine Träne, die immer dicker und schwerer wurde. Und wupps – schon fiel sie runter. Ich stellte mir vor, dass sie über Marens Haar perlte und schließlich darin versank. Wieder strich ihre Hand, die jetzt ganz warm war, über meine Stirn.

Stille. Ein goldener, milder Sommerabend.

09. Grünes Meer

In Todesangst schreckte ich hoch. Es war finster und stickig, der Schweiß lief mir über die Stirn. Ich konnte nicht mehr atmen, ein zentnerschweres Gewicht schien auf meiner Brust zu liegen… zum Glück fand ich sofort das Asthmaspray neben dem Kissen; ich inhalierte tief, hielt kurz inne, atmete weiter. Nur ganz allmählich wurde es besser.

Schon wieder hatte ich diesen Albtraum gehabt…

Ich bin allein, allein und verloren. Unter mir wogt die endlose See. Ihr Wasser ist grün, wie eine giftige Flüssigkeit. Wind kräuselt die Oberfläche.

Ich stehe auf einem Turm, einen hohen Backsteinturm mit Zinnen und Schießscharten, wie bei einer Ritterburg. Und da unten – das ist gar kein Wasser, sondern eine hügelige Landschaft, endlos weit, mit Kornfeldern, einsamen Seen und Wäldern ganz hinten am Horizont. Sie beginnt sich zu verändern, wird zu einem Park, einem Garten… unserem Hof. Ich hocke in meinem Versteck auf dem Baum. Die anderen toben auf der Wiese herum, weiter hinten spielen die großen Jungs Fußball. Auch die weißhaarige Frau in ihrem Lehnstuhl ist wieder da.

Ich gehe runter, in den Keller und ins Treppenhaus, dann nach oben in die Wohnung. Henri sitzt inmitten des Holzspielzeugs, in der Küche ist Mama am Rumoren. Jemand schließt die Haustür auf, öffnet sie… Henri stürmt hinaus in den Flur. Ich will ihm folgen, komme aber plötzlich nicht mehr vom Fleck. Unter meinen Füßen knarzen die Dielen, der Boden beginnt zu schwanken, bricht weg. Ich stürze, falle… und wache auf.

Der verfluchte Traum – warum konnte er mich nicht in Ruhe lassen, warum kam er immer wieder?Ich wollte mich frei fühlen, glücklich sein – aber es ging nicht. Irgendetwas versperrte mir den Weg, ließ mich nicht durch.

Was war mit mir, was stimmte nicht? Und wer konnte mir helfen?

 

 

***

 

 

Der letzte Schultag vor den Ferien. Ungeduldig saßen wir die Stunden ab, kein Pauker machte mehr Unterricht. Ein paar laberten mit uns über dies und das, bei anderen gab es lustige Spielchen. Gerade führte Herr Fischer, der Chemielehrer, Experimente vor. Es knallte, blitzte und rauchte.

Ich dachte an letzten Mittwoch zurück: Wahlstedt hatte mich nach der Englischstunde zu sich gerufen. Mit einem sehr flauen Gefühl im Bauch war ich aufs Lehrerpult zumarschiert. Am Vortag hatte es Zeugniskonferenzen gegeben; bestimmt wollte er mir mitteilen, dass sie mich leider abgesägt hatten. Ich durfte das Jahr wiederholen, all mein Rackern hatte leider nicht gereicht. Komisch: Als erstes kam mir Maren in den Sinn – wie ihr diese schlechte Nachricht beichten? Zumindest konnte sich ihr Vater jetzt beruhigt zurücklehnen: Nicht mal das Schuljahr hatte der Junge geschafft – was sollte aus dem bloß werden?

Dann kam ich bei Wahlstedt an. „Sie wollten mich sprechen?“

„Ah, Hauke.“ Er stopfte gerade umständlich seine Bücher in die Aktentasche und würdigte mich keines Blickes. „Gestern auf der Konferenz sind wir deinen Fall noch mal durchgegangen.“

Es folgte eine kurze, bedeutungsvolle Pause, dann fuhr er fort: „Die Kollegen sind alle derselben Meinung gewesen: eine erstaunliche Leistung. Ich muss zugeben, dass ich nicht darauf gewettet hätte.“

Wundert mich nicht die Bohne, dachte ich. Gleichzeitig fragte ich mich, worauf er eigentlich hinaus wollte.

„Auf der alten Schule mochte sich dein Zensurenspiegel ja wieder verbessert haben. Aber hier auf dem Wilhelm-Gymnasium sind wir schon etwas anspruchsvoller. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass du bei uns durchhältst. Ehrlich gesagt sah ich dich längst eine Klasse tiefer.“

Endlich schaute er auf, und man erkannte das typische Blitzen in seinen Augen, das immer etwas Heimtückisches hatte: „Nun, du hast das Jahr geschafft. Man kann dir nur gratulieren.“

Wie betäubt wankte ich zu meinem Platz zurück. Mittlerweile kannte ich Wahlstedt gut genug, um zu wissen, dass seine kühle Ansprache in Wahrheit ein dickes Lob gewesen war. Eigentlich musste ich also stolz sein, aber ich spürte gar nichts. Vielleicht war alles noch zu viel, um es erfassen zu können.

Oder hatte die Sache vielleicht doch einen Haken? Kam da noch irgendein ein richtig dickes Ende?

Rums! Ein lauter Knall beförderte mich unsanft wieder in die Gegenwart. Das Licht wurde angeknipst, dichter Rauch stand im Chemiesaal. „Ende der Show“, rief Herr Fischer. „Euch eine schöne Zeit!“

Es gab Applaus, dann gingen wir runter in die Pause. Liefen nervös auf dem Schulhof hin und her, warteten ungeduldig, dass es wieder klingelte.

Und dann begann sie, die letzte Stunde vor den Ferien. Die Stunde der Wahrheit. Herr Wahlstedt schritt feierlich in die Klasse, die berüchtigten Giftblätter lässig in einem knitterigen Pappordner unterm Arm tragend. Sie waren alphabetisch nach Familiennamen sortiert. Ewigkeiten schienen zu vergehen, bis endlich „J“ wie Jansen dran war und ich mein Zeugnis bekam. „Versetzt nach Untersekunda“, stand dort. Nun war es amtlich: Ich hatte es geschafft. Marens Stein hatte doch gewirkt.

Bilder vom Anfang des Jahres stiegen vor mir auf, ich sah mich am Schreibtisch sitzen und arbeiten. Draußen war es längst dunkel, die Leselampe brannte. Ich büffelte englische und französische Vokabeln, verbiss mich in die Lösung quadratischer Gleichungen, versuchte die physikalischen Gesetze von Reflexion und Brechung zu verstehen. Immer wieder war ich kurz davor, zu kapitulieren, alles hinzuschmeißen. Ich musste mich regelrecht weiterprügeln. Dann der Umzug nach Schönhagen, der jähe Schulwechsel, das verzweifelte Gefühl, von vorn beginnen zu müssen. Aber es klappte, wider Erwarten konnte ich an die Leistungen im KBZ anknüpfen.

Wie scheiße ich das Wilhelm-Gymnasium am Anfang gefunden hatte. Wie zurückgeblieben die Schüler, wie autoritär die Lehrer. Aber nach und nach hatte ich mich an die Gegebenheiten gewöhnt. Inzwischen fühlte ich mich richtig wohl, das musste ich zugeben. Es störte mich nicht mehr, dass die Leute in meiner Klasse so uncool und brav waren. Im Gegenteil: Die altbackenen, traditionellen Strukturen passten sogar besser zu mir. Der Druck, etwas Besonderes sein zu müssen, sich permanent anzupreisen, um aus der Masse herauszustechen – er fiel hier komplett weg. Gut, Nazi-Typen wie Wahlstedt hatte man am KBZ nicht gehabt, aber die meisten meiner Lehrer am Wilhelm-Gymnasium waren absolut okay. Eigentlich fühlte sich hier alles viel entspannter an.

Es klingelte. Ein großes Taschenpacken und Stühlerücken setzte ein. Sechs Wochen Ferien erwarteten uns, sechs Wochen Freiheit und süßes Nichtstun.

Draußen standen wir noch eine Weile zusammen und redeten über unsere Urlaubspläne. Viele verreisten mit ihren Eltern. Ich würde im August mit Hartmann und seiner Familie zwei Wochen an der Nordsee verbringen, auf Föhr. Vorher ging es nach Dänemark, mit Klaus, Muttern und Henri.

Juliane und ich saßen auf der Mauer neben der Haltestelle und rauchten eine letzte Zigarette zusammen. Als mein Bus kam, stieg ich nicht ein. Der nächste würde erst in einer Stunde fahren, aber das war mir egal. Ich hatte Sommerferien und alle Zeit der Welt.

Ringsum begannen sich die Schülergrüppchen mehr und mehr zu verlaufen. Schließlich lag das Schulgelände leer und verlassen da. Es würde sich erst in sechs Wochen wieder füllen.

Nur Juliane und ich waren jetzt noch hier. Sie hatte ihren Bus ebenfalls davonfahren lassen. Wir saßen an der Haltestelle in der Sonne, quatschten und hatten beide keine Eile, nach Hause zu kommen.



***

 

 

Endlich schaltete sich die Straßenbeleuchtung ab – Mitternacht. Im Schutz der Dunkelheit huschte ich ins Freie und schlich zu den Garagen, auf dem Rücken den gepackten Rucksack. So leise es ging öffnete ich das Tor und holte das Rad heraus. Dann fuhr ich ohne Licht zum Achterkamp, wo Jürgen und Bernd bereits auf ihren Drahteseln warteten. Nach einer Weile kam Heiner angeradelt. Er hatte momentan Urlaub.

Gespannt warteten wir. Würden die Mädchen es schaffen, sich heimlich rauszuschleichen? Große Freude, als Kristina und Silke aus dem Dunkel auftauchten. Jetzt fehlte bloß noch Maren. Wo blieb sie? Heiner und ich überlegten bereits, zurückzufahren und nach ihr zu schauen, da kam sie endlich angestrampelt. „Meine Eltern saßen ewig vor der Glotze“, entschuldigte sie sich, völlig außer Atem. Sie war allen Ernstes aus dem Fenster gestiegen und am Efeu herabgeklettert. „Mach ich immer so“, meinte sie, als wäre es das Normalste von der Welt. Als sie mein erschrockenes Gesicht sah, versicherte sie rasch: „Zurück geh' ich aber durch die Tür.“

Wir wollten zum Steenbarger Strand, ein bisschen feiern. Die Mädchen hatten Salate gemacht, Jürgen Frikadellen gebraten. Der Wein war von Bernd und mir, Heiner steuerte einige Dosen Bier bei. Auch Baden wollten wir. Wäre es nach Kristina gegangen, hätten wir alle nackt ins Wasser springen müssen, aber ohne irgendwas untenrum lief bei mir nix, da konnte die Nacht noch so schwarz sein. Deshalb hatte ich selbstverständlich die Badehose eingepackt.

Ich merkte, dass ich ziemlich nervös war. Klar fand ich unser Vorhaben spannend, aber trotzdem hatte ich Bedenken. Konnten wir einfach des Nachts am Strand eine Party feiern? Trieb sich dort draußen vielleicht übles Gesocks herum? Gab es streunende Hunde oder anderes gefährliches Getier? Was sollten wir dann tun, ohne Waffen? Oder machte ich mir ganz einfach zu viele Sorgen?

Der Feldweg nach Steenbarg, der eigentlich durch schönste Natur führte, wirkte im Dunkeln ziemlich unheimlich. Immer wieder stoppten wir, um lose Zweige und Äste einzusammeln. Heiner und Bernd planten, am Strand ein Lagerfeuer zu machen. Bald lag auf jedem Gepäckträger ein ordentliches Bündel Brennholz, verschnürt mit Tragegummis.

Der Himmel war so klar wie bei meinem nächtlichen Gang zu Marens Fenster. Zahllose Lichtpunkte lagen da oben ausgestreut wie Sand; dazu hing über dem Dorf eine schmale Mondsichel und ließ die Häuser sowie dem zwiebelförmigen Kirchturm in ihrer Mitte wie einen Scherenschnitt aussehen. In der Gegenrichtung erkannte man ein mattes Leuchten am Horizont. Es erinnerte an Dämmerung, aber das konnte nicht sein. Die Uhr zeigte gerade mal halb Eins.

„Die Mitternachtssonne“, meinte Maren.

Mitternachtssonne – gab's die nicht bloß in Skandinavien? Waren wir so weit im Norden?

„Ich nenn's bloß so“, lachte sie, als sie mein verwundertes Gesicht sah. „Bei klarem Himmel wird's um diese Jahreszeit nachts nie richtig dunkel.“

Wir durchquerten das in tiefstem Schlummer liegende Steenbarg. Hinter dem Ort wurde die Helligkeit noch deutlicher. Der Himmel war nicht mehr schwarz, wie über Schönhagen, sondern von einem samtenen Lichtblau, das die Sterne verblassen ließ. Es war, als würde man in den beginnenden Tag hineinfahren.

Als wir schließlich auf dem Deich standen, begriff ich, was Maren gemeint hatte: Das Leuchten über der See war so intensiv, der Himmel dort so transparent, dass sich unwillkürlich ein Gefühl von Sonnenaufgang einstellte. Jeden Augenblick erwartete man den roten Glutball am Horizont auftauchen zu sehen. Landeinwärts dagegen herrschte nach wie vor Dunkelheit, blitzten die Sterne kalt und klar wie Diamanten. Tag und Nacht schienen gleichzeitig stattzufinden, quasi nebeneinander zu stehen. Es war sehr seltsam.

Der Pfad durch die Dünen ließ sich bei diesem Licht problemlos verfolgen. Als wir zur Wasserlinie kamen, zogen die anderen ihre Schuhe aus und liefen barfuß weiter. Ich dagegen behielt meine Treter lieber an, für den Fall der Fälle. Auf dem hellen Sand kauerten überall schwarze Flecken wie dunkle Kreaturen, aber sie rührten sich nicht. Bald erkannte ich, dass es Büschel von angespültem Seegras und Tang waren. Am Schönhagener Strand glommen ein paar Lichter, sonst konnte ich nichts entdecken. Die See war ziemlich ruhig; flache Wellen rauschten in Kaskaden heran, verloren schnell ihren Schwung und flossen gemächlich zurück.

Wir breiteten die Decken aus, holten den Proviant aus unseren Rucksäcken. Heiner und Bernd schichteten das Holz zu einem Turm und und bekamen ihr Machwerk tatsächlich zum Brennen. Weinflaschen machten die Runde, Heiner nippte an seinem Bier. Aus Bernds Recorder erklang Reggae.

Anfangs blieb ich wachsam, versuchte alles im Blick zu behalten, wie geplant. Aber allmählich entspannte ich mich. Genoss es einfach, in Gesellschaft zu sein, zusammen mit den anderen am warmen Feuer zu sitzen, zu essen und zu trinken, die milde Nachtluft zu spüren. War der Wein schuld? Oder hatte mich die Sorglosigkeit der anderen angesteckt?

Irgendwann wollten die Mädchen baden gehen. Sie zogen sich um oder aus, ich wusste es nicht, und stürmten davon. Wie hilfesuchend blickte ich zu Jürgen. Aber der riss sich zu meiner großen Überraschung gerade selbst die Klamotten vom Leib und wetzte los. Im Wasser angekommen stieß er ein geziertes „huch“ aus, dann hörte man es klatschen.

Alle plantschten jetzt in den Wellen, nur Heiner und ich saßen noch hier. Poseidon müsse heute leider auf seine Gesellschaft verzichten, meinte er und nahm einen Schluck aus der Dose. Das Sprechen fiel ihm bereits schwer. Ich überlegte, ob ich ebenfalls hierbleiben sollte. Dann merkte ich, dass es mich zu den anderen zog. Ich wollte bei ihnen sein, unbedingt. Zur Not auch nackt.

Hastig stahl ich mich aus den Plünnen und tappte durch den feuchten, kühlen Sand. Das Wasser war so eisig, dass ich erschrocken zusammenfuhr. Ich zögerte. Auf einmal bekam ich Panik, dass jemand mich splitternackt hier stehen sah, und stapfte mit zusammengebissenen Zähnen weiter. Endlich war es tief genug zum Schwimmen. Nach einer Weile spürte ich die Kälte nicht mehr.

Jemand kam von der Seite herangeglitten – Maren. Sie stellte sich hin, versperrte mir den Weg. Unter dem nassen, am Kopf klebenden Haar trat ihr Gesicht seltsam deutlich hervor. Ein herausforderndes Lächeln lag darin. Nun umfasste sie mich und schmiegte sich an mich. Das Gefühl ihres nackten Körpers auf meiner Haut raubte mir fast die Sinne. Ich strich über ihren Rücken, bis hinunter zum Po, und nichts war im Weg.

Jetzt spürte ich, wie mein Schwanz sich regte. Auch Maren merkte sicher, was gerade passierte. Ich wollte mich losmachen, aber sie hielt ihre Arme fest um meine Hüfte geschlungen, strich mir über den Po, ging leicht zwischen die Backen…

Sie machte das extra! Hektisch befreite ich mich und sprang in die Fluten. Sie lachte.

Mit kräftigen Zügen schwamm ich zum Strand. Auf einmal fror ich. Ich lief zum Feuer, schnappte mir mein Handtuch und rubbelte mich notdürftig ab. Als ich versuchte, mit noch immer halbnassen Beinen in die Unterhose zu steigen, verlor ich prompt das Gleichgewicht und konnte nur mit knapper Not verhindern, dass ich seitwärts in den Sand kippte. Hinter mir hörte ich die anderen ausgelassener denn je im Wasser herumalbern.

Ich arbeitete mich gerade mühsam in die Jeans, da kam Maren angestürmt und griff sich ihr Badelaken. Ohne jede Scheu rekelte und wand sie sich unter dem Stoff hin und her, bis sie trocken war. Sie beugte sich hinab, packte ihr klatschnasses Haar mit beiden Händen und wrang es aus wie einen Lappen. Während sie sich ihren gewohnten Knoten machte und mit der silbernen Haarspange festklemmte, zeichneten sich auf ihrem Brustkorb die Rippen ab.

Als wir mit Anziehen fertig waren, nahm sie eine Weinflasche und griff nach meiner Hand. „Komm“, sagte sie und zog mich hinter sich her.

Wir setzten uns ein Stückchen abseits in die Dünen. Jetzt, nach dem Baden, war uns ganz warm. Still betrachteten wir die See. Marens Kopf lag auf meiner Schulter.

„Maren? Hauke?“, hörten wir nach einer Weile Kristina rufen. „Seid ihr da hinten?“

„Ja!“, antwortete Maren.

„Wollt ihr noch Wein haben?“

„Sind versorgt!“, rief Maren zurück.

Eng aneinandergelehnt saßen wir da und beobachten, wie das matte Blau des Himmels langsam in ein wärmeres Orange überging. Niemand sagte etwas.

Als wir nach Schönhagen zurückfuhren, war es bereits ziemlich hell. Silke und Kristina machten sich Sorgen, dass sie vielleicht nicht mehr unbemerkt zu Hause reinkamen. Maren war da entspannter: Ihre Eltern hatten Urlaub und pennten garantiert noch tief und fest.

Trotzdem brachte ich sie heute, anders als sonst, nicht bis vor die Tür – das war uns dann doch zu gefährlich. Sie wollte das letzte Wegstück schnellstmöglich hinter sich bringen, am besten im Laufschritt. An den Hecken verabschiedeten wir uns. Ich warf ihr einen letzten Handkuss zu und ging zur Straße zurück.

Das Rad entspannt neben mir herschiebend latschte ich zur Garage. Zwischendurch schaute ich immer wieder nach oben in den Himmel, wo ein paar letzte Sterne glommen. Ich fühlte mich eigenartig berauscht, aber das kam nicht vom Wein.

Ich war berauscht vor Glück. So glücklich wie hier war ich schon sehr lange nicht mehr gewesen.



***



Der Turm, das weite, hügelige Land… der Hof, unsere Wohnung, Henri und das Holzspielzeug. Mama in der Küche, die sich öffnende Haustür, das Schwanken des Bodens, der Fall… schließlich das abrupte Aufwachen.

Mein Albtraum – was bedeutete er? Was wollten mir seine Bilder sagen?

Nachdem zuletzt alles immer schlimmer, immer drängender geworden war, hatte ich die Flucht nach vorn angetreten. Ich hatte den Traum zerlegt und die einzelnen Bruchstücke regelrecht aus mir herausgezerrt. Dass sie alle mit meiner Kindheit zu tun hatten, lag auf der Hand. Aber anscheinend war das Leben vor der Nordstadt gemeint. Obwohl es sich anfühlte, als hätte es das nie gegeben. Vor der Nordstadt – was sollte damit gemeint sein? Diese Worte machten überhaupt keinen Sinn.

Aber beim Umzug war ich immerhin schon sechs gewesen. Und da waren ja auch Erinnerungen, undeutlich und verworren, einzelne Bilder nur, Fetzen. Aber sie existierten…

Der Hof – auf ihm hatten wir immer gespielt. Ein weitläufiges, grünes Gelände. Die Häuser umschlossen es vollständig, niemand konnte es betreten, der nicht hier wohnte. Wir waren von der Straße abgeschirmt, fühlten uns sicher und beschützt.

Unser Hof war schön, voller interessanter Orte. Die hohen Bäume, die im Sommer Schatten spendeten und im Herbst alles mit ihren gelben Blättern übersäten. Die große Wiese, die Sandkiste, der Spielplatz des benachbarten Kindergartens, den man durch ein Loch im Zaun erreichte.

Die großen Jungs waren unsere Freunde. Sie bauten Sandburgen mit uns, manchmal durften wir auch beim Fußball mitmachen. Und wenn einer aus der Nachbarschaft kam und uns verprügeln wollte, jagten sie ihn weg. Nur vor der alten, weißhaarigen Frau in ihrem Lehnstuhl hatten alle ein bisschen Angst. Obwohl sie nichts tat, bloß schaute. Und schwieg.

Unsere Wohnung. Die Fenster waren groß, die Räume hoch und licht. Die Holzdielen federten und knarrten beim Gehen. Mama war zu Hause. Sie kochte Essen, las uns vor, ging mit uns in den Zoo oder auf den Abenteuerspielplatz. Papa war zur Arbeit.

Warum schaffte ich es im Traum nie, zu ihm zu gehen, wenn er abends nach Hause zurückkam? Was war damals geschehen? Warum war unser Vater so urplötzlich weg gewesen?

Eine ganze Welt schien mit seinem Verschwinden einzustürzen. Wir mussten aus der schönen Wohnung raus, zogen in die Nordstadt. Unsere Mutter arbeitete jetzt, war den ganzen Tag weg, von frühmorgens bis abends, wir sahen sie so gut wie gar nicht mehr. Dann kam Vaddern zu uns. Erst war er nett, aber später fing er mit seiner Sauferei an und scherte sich um gar nichts mehr.Alles hatte sich völlig verändert, kein Stein war mehr auf dem anderen geblieben.

Immer wieder stellte ich Muttern Fragen, wollte verstehen, was passiert war, mein Leben schien davon abzuhängen. Aber ihre Antworten fielen jedes Mal sehr knapp aus. „Euer Vater ist abgehauen, hat uns hängenlassen“, sagte sie. „Zum Glück hab ich den Job in der Nordstadt-Klinik und die Wohnung gefunden, sonst hätte es zappenduster für uns ausgesehen.“

Mehr war nie aus ihr rauszubringen. Weshalb hatte unser Vater sich davongemacht? Gab es noch Kontakt zu ihm? Und wären wir obdachlos geworden, wenn Muttern nicht rechtzeitig Wohnung und Job gefunden hätte? Wären wir auf der Straße gelandet und hätten in Müllcontainern übernachten müssen, wie die Tippelbrüder in der Nordstadt? Fragen über Fragen, teils vernünftig, teils verrückt, auf die ich nie eine Antwort bekam. Aber oft konnte ich selbst nicht richtig formulieren, was ich wissen wollte, worum es mir eigentlich ging. Innerlich rannte ich früher oder später immer gegen eine Art Gummiwand, die alles blockierte: die Bewegungen und auch das Denken. Wie in einem Albtraum, wenn man unbedingt irgendwohin kommen musste, aber es einfach nicht schaffte. Und tatsächlich lief man ja bei Muttern gegen eine regelrechte Wand, sobald man dieses Thema anschnitt. Jede Pore an ihr strahlte Unwillen aus, Abwehr und sogar Hass.

Irgendwann resignierte ich dann wohl und fügte mich. Die Vergangenheit – das war etwas Schlimmes, Gefährliches, über das man nicht sprechen durfte. Ich musste sie vergessen, von mir abschneiden, im Klo runterspülen, auf dass sie für immer verschwand, zersetzt wurde, sich auflöste. Nur dann war man wirklich sicher. Die Nordstadt sollte fortan alles sein, was zählte. Dass andere Kinder mir auflauerten und mich verkloppten, wie am Anfang in der Sandkiste, würde mir niemals mehr passieren. Ich war nun jederzeit auf alles vorbereitet, und wenn es sein musste, schlug ich zu, zimmerte drauf, mit Fäusten und allem, was zur Hand war: Steine, Flaschen, Knüppel, Schlagringe – da war ich nicht wählerisch, Hauptsache, es wirkte. Notfalls wäre ich über Leichen gegangen, ernsthaft.

Lange Zeit hatte diese Strategie gut funktioniert. Bis zum letzten Winter, um genau zu sein. Da war plötzlich alles aus den Fugen geraten, es hatte einen Knall nach dem anderen gegeben: der Ärger mit den Solterbeck-Leuten, mein Zwischenzeugnis, Vadderns Absturz. Wie ein Kartenhaus, das schlagartig in sich zusammenfällt.

Mit dem Einzug von Klaus begann endgültig eine neue Zeitrechnung bei uns. Etwas wie Gemeinschaft entstand, Zusammenhalt. Wir zogen nach Schönhagen, ich lernte die Leute aus der Clique kennen, kam mit Maren zusammen. Alles schien sich zum Guten zu wenden… und prompt kehrten die alten Bilder und Erinnerungen zurück. Sie waren nicht in ihrem Verlies erstickt, sondern hatten überlebt und wollten ans Licht, trotz aller Scheu und Abwehr.

Leider war Klaus, anders als sonst, bei diesem Thema keine große Hilfe. Er riet mir bloß, Muttern nicht auf die alten Geschichten anzusprechen. Sie wolle das alles hinter sich lassen, am liebsten komplett vergessen, meinte er.

Wie zur Bestätigung hatte ich neulich im Wohnzimmerschrank alte Fotoalben gefunden: Jede Menge Aufnahmen aus der Nordstadt waren darin gewesen – von unserer Wohnung, dem Blick aus dem Küchenfenster, Henri und mir im KBZ, einer Betriebsfeier in der Klinik. Ein Bild zeigte sogar Vaddern in einem seiner seltenen nüchternen Momente. Aber von vorher gab es nichts. Als hätte diese Zeit nie stattgefunden. Man konnte rackern und sich abmühen, wie man wollte – die Vergangenheit blieb doch unerreichbar.

Und war das nicht sogar besser? Was, wenn sich eben nicht alles zum Guten fügte? Wenn nicht tolle, schöne Wahrheiten ans Licht kamen, sondern solche, die man eigentlich nicht hören wollte, die man bisher immer sorgfältig gemieden hatte?

Was lähmte mich im entscheidenden Moment des Traums, gerade wenn unser Vater von der Arbeit zurückkam? Was zog mir immer den Boden unter den Füßen weg? Ein schlimmes Gefühl kochte dann hoch, eine entsetzliche, kaum auszudenkende Befürchtung… hatte es vielleicht an mir gelegen, dass unser Vater abgehauen war? Besaß ich etwas nicht, das er sich von seinem Ältesten unbedingt gewünscht hatte? War ich einfach nicht gut genug, ein Fehlprodukt, Mangelware? Hatte er sich deshalb enttäuscht abgewendet und das Weite gesucht? War ich schuld an allem?

Oder redete ich mir bloß Gespenster ein? Gab es vielleicht ganz andere Gründe für sein Verschwinden? Aber selbst wenn: Henri und ich waren doch seine Kinder gewesen! Zählten wir so wenig, dass man im Fall des Falles einfach den Abflug machen konnte? Waren wir so unwichtig, so irrelevant? Das sagte im Grunde doch alles. So oder so musste es also an uns gelegen haben, oder?

Es war wirklich paradox: Einerseits wollte ich so gern alles hören, alles wissen, andererseits hatte ich die schiere, nackte Panik vor der Wahrheit. Je länger man nachgrübelte, desto stärker wurde das Ganze zu einem Horrorstreifen: Etwas unsagbar Grauenvolles lauerte möglicherweise in der Finsternis. Etwas, das niemals in Erscheinung trat, das man nie sah. Aber es konnte da unten sein, ganz tief versteckt. Und sobald man ihm zu nahe kam…

Wer bewies einem, dass es nicht so war? Und eben diese Unsicherheit ließ das geheimnisvolle Etwas dort unten in der Tiefe immer bedrohlicher und furchterregender werden.

Ich steckte fest, kam nicht mehr vor noch zurück.



***



Eines Abends war große Zusammenkunft im Wohnzimmer. Wir hatten auf der Terrasse gegrillt und waren alle müde vom Essen, den Bergen an Fleisch, die gerade in unseren Mägen verschwunden waren.

Henri gähnte. Der Film, der im Fernsehen vor sich hin plätscherte, irgendein Problemdrama aus Skandinavien, interessierte ihn nicht besonders – keine Schießereien und Explosionen, keine Auto-Karambolagen, und Blut floss auch nur, wenn der Typ seine Alte vermöbelte. Vorhin beim Grillen war er in seinem Element gewesen. Zündeln, Kokeln, Futtern – das liebte er. Aber jetzt, da das Feuer aus und kein Essen mehr da war, langweilte er sich.

Neulich war er mit einer ganz schrägen Story bei mir angekommen. Er wollte ein Gespräch belauscht haben, zwischen Muttern und dem Langen Udo. Unser richtiger Vater, behauptete er, wäre bei Nacht und Nebel wegen einer anderen Frau verduftet. Angeblich stammte sie aus vermögender Familie, hatte sich aber mit ihrer Sippschaft komplett überworfen. Es hieß, die beiden wären nach Kalifornien durchgebrannt und dort in obskure Kreise geraten. Danach verlor sich ihre Spur.

Das klang einerseits nach Räuberpistole, nach der üblichen Hirngrütze, die Henri sich gern ausdachte. Andererseits hatten Muttern und der Lange Udo einen guten Draht zueinander, die beiden saßen abends gern im Wohnzimmer zusammen und labern endlos. War Muttern bei einer dieser Sitzungen etwas offener gewesen als normalerweise, und Henri hatte alles mitgekriegt? Später kam mir noch ein anderer Gedanke: Ich wusste, dass er ebenfalls mit unserer Familiengeschichte haderte. Auch er hatte Probleme, die Lücke in seiner Vergangenheit zu akzeptieren. Phantasierte er sich vielleicht gerade eine eigene Welt zusammen, einfach weil alles besser war als dieses gähnende Schwarze Loch?

„Ich geh pennen“, sagte er irgendwann und schlurfte hinaus.

„Gute Nacht“, rief Klaus ihm hinterher.

Der war mittlerweile ganz bei uns eingezogen. Zuletzt hatte es wohl ziemlichen Ärger zwischen ihm und seiner Noch-Frau gegeben, und nun machte er sich ernstlich Sorgen, ob er seine Kinder regelmäßig würde sehen können. Das Ganze zog ihn wohl richtig runter: Immer öfter hockte er nun, wenn Muttern Überstunden machte oder auf Fortbildung war, allein im Wohnzimmer, vor sich Bier und Korn, der Blick glasig. Es erinnerte – dieser Gedanke machte mich schaudern – an Vaddern. Und an die vielen anderen Loser in der Nordstadt, die sich aufgegeben hatten, die tatenlos zusahen, wie ihr ganzes Leben allmählich den Bach runterging.

Vorhin beim Grillen hatte man ihm nichts angemerkt, da war er ganz der Klaus gewesen, den man kannte – zupackend, verlässlich, der Ruhepunkt im Team. Aber anscheinend war das nur ein kurzer, trügerischer Moment gewesen, vielleicht ein letztes Aufbäumen. Jetzt wirkte er wieder völlig mutlos, hing wie ein nasser Sack auf der Couch. Abwesend und stumm glotzte er auf sein Bier, beobachtete eine Fliege, die darin herumpaddelte und nicht herauskam. Komisch: Aus irgendeinem Grund löste der Anblick bei mir ein Gefühl von nahendem Unheil aus, das ich mir nicht erklären konnte…

Muttern dagegen war schon den ganzen Abend guter Dinge. Vielleicht weil sie morgen frei hatte, was derzeit selten genug vorkam. Oder weil ihr das Grillen Spaß gebracht hatte – immerhin unsere erste gemeinsame Aktivität seit langem. Jetzt steckte sie sich sogar eine Zigarette an. Das regelmäßige Rauchen hatte sie aufgegeben, aber bei passender Gelegenheit griff sie gern noch mal zum Glimmstängel.

Ich gab ihr Feuer. Als sie sich lächelnd bedankte, beschloss ich, aufs Ganze zu gehen: „Da liegen ja die ganzen Fotoalben im Wohnzimmerschrank.“ Ich versuchte möglichst gelassen zu klingen, möglichst unverfänglich. „Wieso sind da eigentlich keine alten Bilder drin?“ Noch während des Redens spürte ich, wie Mutterns gute Laune dahinschwand – und plötzlich frostige Kälte von ihr ausging. Aber ich wollte unbedingt am Ball bleiben, nicht zurückstecken: „Aus der Zeit vor der Nordstadt, meine ich?“

Das Lächeln war aus Mutterns Gesicht verschwunden. Ihre Stirn krauste sich, die Pupillen zuckten. „Fang doch nicht wieder damit an“, zischte sie und stieß den Rauch durch die Nase aus.

Eisiges Schweigen. Klaus schaute erst Muttern an, dann mich, dann wieder sie. Traute er sich nicht, seinen Mund aufzumachen? Oder checkte er gar nicht mehr richtig, was vor sich ging, weil er schon zu viel intus hatte?

„Ist ja schon total spät“, rief Muttern mit einem Blick auf ihre Armbanduhr. „Ich geh auch zu Bett.“ Sie drückte ihre gerade angerauchte Zigarette aus und hastete aus dem Raum.

Klaus sah ihr hinterher, blieb aber still. Auch meine eigene Entschlossenheit war mit einem Schlag wieder verschwunden. Auf einmal wusste ich selbst nicht mehr, warum ich das Thema angeschnitten hatte. Was sollte das noch bringen? Die Vergangenheit war vorbei, sie ließ sich nicht mehr ungeschehen machen.

„Tu mir bitte einen Gefallen“, murmelte Klaus, als vom oberen Flur kein Licht mehr kam, „und versuch nicht länger, mit Mutti über diese Sachen zu quatschen. Das ist wirklich besser, okay?“

„Klar“, meinte ich und nickte schnell.

Er kippte den Korn runter und stellte das Glas mit lautem Knall auf die Tischplatte. „Auch einen?“ Er hielt die Flasche hoch.

Kurz war ich versucht, sein Angebot anzunehmen, schüttelte dann aber den Kopf.

„Auch besser“, grinste er und schenkte sich den nächsten ein. Mir wurde immer unbehaglicher. Ich betrachtete das nach wie vor halbvolle Bierglas auf dem Tisch: Die Fliege darin bewegte sich nicht mehr.

Als ich nach oben ging, fühlte ich mich auf einmal müde. Sehr, sehr müde.



***



Ich stand auf der Außenplattform eines historischen Eisenbahnwaggons. In gemächlicher Fahrt ging es durch die Landschaft, Felder und Wiesen zogen vorbei. Der Fahrtwind zerwühlte mir das Haar. Vorn schnaufte die alte Dampflok vor sich hin, immer wieder sah man dunkle Rauchfetzen über uns hinwegziehen.

Das Sommerfest war in vollem Gange. Tatsächlich hatte die Museumseisenbahn zu diesem Anlass einen ihrer alten Dampfzüge entmottet, der stündlich zwischen Ort und Strand pendelte. Am Schönhagener Bahnhof hing sogar ein auf alt getrimmter Fahrplan. Den Hinweis aufs Abfahrtgleis hätten sie sich allerdings sparen können – es gab bloß eines. Sönke, ein Bekannter aus der Alten Mühle, lief in seiner historischen Reichsbahner-Uniform durch die Waggons und lochte die Tickets. Ich durfte gratis mitfahren.

Auf der Grünen Insel war heute Flohmarkt. Die Mädchen hatten dort einen Stand, wollten alte Sachen verkloppen. Auf meine Frage, ob sich der Aufwand überhaupt lohne, hatte Kristina bloß erwidert: „Da wirst du jeden Scheiß los und verdienst noch Geld damit.“

Abends stieg endlich die große Tombola, im Kurpark beim Ferienzentrum. Wir hatten tags zuvor mit dem Aufbauen der Bühne angefangen, nachher sollte es weitergehen. Mein Rad stand noch im Park, ich war gestern abend zusammen mit Udo und den anderen im VW-Bus nach Schönhagen zurückgefahren.

Der Museumszug erreichte den Steenbarger Bahnhof und stoppte mit quietschenden Bremsen. Auf der Wiese hinterm Bahnübergang hatte die Freiwillige Feuerwehr eine Gulaschkanone aufgebaut, wer wollte, konnte sich hier mit Suppe und Würstchen verpflegen. Es herrschte bereits dichtes Gedränge – neben den Fahrgästen hatten sich auch viele Ausflügler eingefunden.

Immer wieder entdeckte ich bekannte Gesichter in der Menge: Alex schaufelte emsig Eintopf in Plastiknäpfe, Micha legte Bockwürste dazu. Doris versorgte am Getränkestand durstige Kehlen mit Bier, Limo und Wasser. Jürgen lief herum und hatte alles im Blick. Er trug seine dunkelblaue Paradeuniform, trotz der gnadenlos brennenden Sonne, der schwülen Witterung. Längst klebten ihm die Haare im Nacken, seine Stirn glänzte vom Schweiß. Als er mich sah, füllte er einen Teller mit Suppe und hielt ihn mir hin. „Auf Kosten des Hauses“, meinte er. Eigentlich hatte ich null Hunger, aber ich mochte nicht nein sagen.

Währenddessen wartete der Zug am Bahnsteig, geduldig fauchte und zischte die Lokomotive vor sich hin. Bis plötzlich ein schrilles Pfeifen ertönte – das Signal zur Weiterfahrt. „Danke fürs Essen“, rief ich Jürgen zu und stopfte den leeren Teller in einen Müllsack. Der Zug war jetzt längst nicht mehr so voll. Ich überlegte, ob ich mich drinnen hinzusetzen sollte, blieb dann aber doch auf der Plattform. Der Fahrtwind sorgte wenigstens für ein bisschen Abkühlung. In meinen Eingeweiden rumpelte und rumorte es vom Eintopf.

Als wir in den Wald einfuhren, verschluckte dichtes Grün das Sonnenlicht. Auf einmal wurde es dämmrig und ziemlich kühl. Ich begann zu frösteln – wegen des Temperaturabfalls, aber auch, weil ich plötzlich wieder daran denken musste, was für heute Nacht geplant war.

Nach der Tombola wollten wir im Geisterhaus eine Party feiern, eine Gruselparty. Die Idee war neulich am Strand entstanden. Kristina hatte vorgeschlagen, mal im Dunkeln zum Haus zu fahren. Nach anfänglichem Schaudern war die Stimmung allmählich umgeschlagen. Warum nicht Proviant mitnehmen und ein bisschen dort bleiben, hatte Heiner angeregt. Zu Hause im Keller liege noch ein Stapel alter Matratzen, erzählte Jürgen, die würden sich ideal zum Feiern eignen. Bernd wollte im Terrassenzimmer den Kamin anheizen. Schließlich brachte Maren den Abend der Tombola ins Spiel, wenn eh alle unterwegs waren. Dann müsse man sich nicht heimlich aus dem Haus schleichen, meinte sie.

Wir legten sofort mit der Organisation los. Bernd stibitzte aus dem elterlichen Garten eine Ladung Holzkloben für den Kamin. Heiner lieh sich von einem Kumpel eine Zündapp Bergsteiger mitsamt Anhänger, um damit Matratzen und Feuerholz zu transportieren. Wenn ein Vehikel den Holperweg durch den Wald schaffe, meinte er, dann dieses. Tatsächlich ging die Aktion wohl ohne größere Probleme über die Bühne. Ein Teil der Matratzen wurde ins Terrassenzimmer gebracht, der Rest in den benachbarten Räumen ausgelegt, für später nach der Party.

So erzählten es die anderen. Ich selbst fuhr nie mit, half lieber Jürgen, die Matratzen aus dem Keller zur Straße zu schleppen – immerhin 150 Meter Weg pro Ladung, weil der Hauseingang der Engels so weit zurückgesetzt lag. Auch wenn ich es nicht laut aussprechen mochte: Der Gedanke, das Geisterhaus ein weiteres Mal zu betreten, machte mir angst. Obwohl mein seltsames Erlebnis an der Kellertreppe mittlerweile über einen Monat zurücklag.

Erst hatte ich den anderen das Party-Projekt ausreden wollen. Aber mit welcher Begründung? Weil es im Geisterhaus nicht geheuer war? Weil dort irgendwas in den Katakomben herumspukte? Etwas, das Pfeiftöne von sich gab und eisige Kälte verbreitete? Das hätte ein schönes Gelächter gegeben! Und überhaupt – glaubte ich neuerdings an Gespenster, oder wie? Was sollte passieren? Es würde spannend und lustig werden, Punkt.

Bernd wollte heute ebenfalls per Fahrrad in den Kurpark kommen. Der Plan war, dass wir uns gleich nach dem Ende der Tombola vom Acker machten, in Schönhagen unsere Schlafsäcke holten und dann die anderen trafen, an derselben Stelle wie neulich, bei unserem nächtlichen Badeausflug.

Der Wald endete. Unser Zug drosselte sein Tempo, das Gleis begann sich zu verzweigen. Über Weichen rumpelnd passierten wir lange Reihen alter, ausgedienter Waggons, Lokomotiven und Straßenbahnen. Überall blätterte die Lackierung von den Fahrzeugen ab, viele Fenster waren eingeschlagen. Sönke betonte zwar stets, wie sehr er und die anderen von der Museumseisenbahn sich mit der Instandhaltung abmühten, aber dennoch wirkte alles irgendwie trostlos. Wie ein großer Friedhof für Züge. Endstation.

Wir kamen neben dem historischen Bahnhofsgebäude zum Stehen. „Schönhagener Strand“ prangte in altdeutschen Buchstaben auf dem Stationsschild. Eine Lautsprecherstimme lud zum Besuch des Eisenbahnmuseums ein. „Bis später, im Kurpark!“, rief Sönke mir hinterher. Ich winkte kurz und marschierte Richtung Ausgang. Direkt neben mir stieß die Lokomotive eine Wolke weißen Dampfes aus, der sich rasch verbreitete. Auf einmal entstand der Eindruck von Herbstnebel, November, Kälte, Abschied. Die Bäume auf der anderen Seite des Bahnhofs, nur noch schattenhaft zu erkennen, wirkten wie abgestorben…

Ich drehte mich weg und verließ rasch den Bahnhof. Draußen brannte die Sonne wieder so hell und heiß herab wie zuvor. Das kurze Wegstück zum Strand lag schnell hinter mir. Die Promenade war zu beiden Seiten mit Verkaufsständen und Karussells gesäumt. Die Leute drängelten und schubsten, immer wieder wurde man zwischen schwitzenden Leibern eingequetscht. Hinter dem Ort standen die Buden nicht mehr ganz so eng zusammen, dafür gab es hier weniger Schutz vor der Sonne. Die Hitze wurde schier unerträglich, mir klebten Shorts und T- Shirt am Körper.

Dann kam ich zum Mittelstrand. Die Wiese hinterm Deich quoll über vor Fahrzeugen. Außer den blinkenden Wagen eines Autoskooters, der zwischen Parkplatz und Deich aufgebaut war, bewegte sich hier nicht mehr viel. Die Schlange der wartenden Fahrgäste vermischte sich mit dem Menschenstrom in der Budengasse, was zu einem heillosen Durcheinander führte. Beim Anblick all der Massen konnte ich mir nur schwer vorstellen, wie ausgestorben es hier an Ostern gewesen war, auf meiner Radtour mit Muttern und Henri.

Als die Buden und Fahrgeschäfte aufhörten, ging ich auf der Deichkrone weiter. Spaziergänger begegneten mir jetzt kaum noch, es wurde sehr still. Selbst hier oben regte sich kaum ein Lüftchen. Am Strand sah man die Badegäste reglos in der Sonne braten, die See wirkte fahl und bleigrau. Lustlos kamen die Wellen heran und schwappten mit letzter Kraft auf den Sand.

Wie anders dagegen das Bild auf der Landseite: Frisch und üppig grün breiteten sich dort die Salzwiesen. Vögel schwirrten in dichten Pulks herum, Enten quakten, Grillen zirpten. Das brütend-heiße Wetter, das wir momentan hatten, schien den Wiesen kaum etwas auszumachen. Wie zum Gruß schickten sie nun einen kühlen Windzug, der mir wohltuend über die Haut strich.

Leider wurde das Areal bald jäh abgeschnitten von einer monotonen, brettebenen Rasenfläche – der Kurpark begann. Sein Anblick erinnerte ziemlich an die Nordstadt: Plattenwege wie mit dem Lineal gezogen, mickrige Bäumchen, die sich mit letzter Kraft und der Hilfe von Stützbalken aufrecht hielten, Sonnendächer aus Beton. Allerdings fehlten die Spaziergänger, die darunter Schutz suchten. Man sah bloß ein paar Kaninchen träge über den sonnenverbrannten Rasen hoppeln. Am Horizont flimmerte das Ferienzentrum im Dunst. Seine Türme wirkten durch die Luftspiegelungen wie vom Boden getrennt. Jeden Moment schienen sie abheben zu wollen, um wie Raketen in den Himmel zu fliegen.

Ich musste noch ein gutes Stück über die Rasenfläche wandern, bis endlich das Festareal begann. Hier gab es, neben den obligatorischen Buden und Karussells, auch ein paar Bühnen, auf denen sich sogar schon Bands abmühten. Obwohl bislang kaum Publikum anwesend war – kein Wunder bei dieser Gluthitze. Am Tombola-Stand hatten die anderen bereits wieder losgelegt. Ein pyramidenförmiges, mit schwarzer Folie ausgelegtes Holzgestell erhob sich jetzt unter dem Partyzelt, das wir gestern aufgebaut hatten. Udo war mit dem VW-Bus auf den Rasen gefahren und reichte die Sachen aus der Seitentür heraus. Ich wurde Bernd zugeteilt, sollte mit einem dicken Edding Nummern auf Pappschilder schreiben, die er dann an die Preise heftete. Der Hauptgewinn war übrigens ein Sportrad.

„Vom Großmarkt in Hoheneck“, meinte Udo und nickte uns anerkennend zu. „Euer Einsatz.“

„Hatten eigentlich mit 'nem Auto gerechnet“, meinte Bernd. Die Enttäuschung war ihm deutlich anzuhören.

„Nun lasst mal die Kirche im Dorf“, lachte Udo.

Als alles fertig war, schwärmten wir mit Loseimern aus. Der Kurpark hatte sich mittlerweile gefüllt. Überall sah ich unsere Schilder hängen: „Große Tombola! Spannende Preise! Unterstützen auch Sie die Jugendarbeit in der Schönhagener Region!“ Die Werbung tat anscheinend ihre Wirkung: Ich verkaufte Lose wie blöd.

Muttern und Klaus kamen mir entgegen. „Da habt ihr wirklich gute Arbeit geleistet, Hauke“, meinte er und zeigte mit dem Daumen zum Tombola-Stand. Meine Freude, die beiden zu sehen, hielt sich arg in Grenzen. Vor auf allem auf Klaus konnte ich momentan gut verzichten. Es stieß mir sauer auf, dass er überhaupt keine Hilfe war, wenn es um unseren Vater ging. In der Situation mit den Fotoalben zum Beispiel hatte er mich total im Regen stehen lassen.

Aber Mensch – was wollte ich denn? Selbst wenn Klaus alles aus Muttern rausgekitzelt hätte, die ganze Story – was wäre dann gewesen? Die Zeit zurückdrehen konnte auch er nicht. Verflucht, warum gab ich mich nicht mit dem zufrieden, was ich hatte? Was fehlte mir? Warum überkam mich jetzt ständig wieder diese Traurigkeit, dieses Gefühl, völlig allein zu sein, abgeschnitten von allem? Es wurde immer schlimmer, immer mächtiger, immer schwärzer. Dagegen wirkte mittlerweile sogar die Euphorie der letzten Wochen fragil, unecht, nur noch wie eine Scheinwelt, ein Luftschloss, das jeden Augenblick zu zerplatzen drohte…

„Kriege ich kein Los, Hauke?“ Klaus riss mich aus meinen Gedanken.

„Für dich auch?“, fragte er Muttern. Ich blickte starr zu Boden. Irgendwann hörte ich sie sagen: „Ihr wisst doch, dass ich bei solchen Sachen grundsätzlich nicht mitmache.“

Richtig, sie hasste Lotterien, Glücksspiele und dergleichen wie die Pest. Aber warum gab sie sich nicht mal einen Ruck, wenigstens heute?

Klaus sah zwischen uns hin und her. Er schien etwas sagen zu wollen, sich aber nicht zu trauen. Wieder hatte er Schiss vor Muttern. Bis vor kurzem hatte er noch die Richtung bei uns vorgegeben, und jetzt machte er sich ständig klein, duckte sich ängstlich weg. Was hatte ihm bloß den Mut geraubt? War es der Ärger mit seiner Ex? Die Befürchtung, dass er seine Kinder vielleicht nicht mehr sehen durfte? Konnten einen solche Sachen dermaßen fertigmachen?

Oder hatte ich mich schlicht in ihm getäuscht? War auch er bloß einer dieser Schwächlinge, die sich vom kleinsten Problem umhauen ließen? Umgehauen, ausgeknockt – genauso wirkte er. Er lag am Boden, und irgendetwas sagte mir, dass er nicht wieder aufstehen würde. Auf ihn konnte ich nicht mehr zählen. Ich war wieder ein Einzelkämpfer, wie früher in der Nordstadt. Wieder allein. Alles ging jetzt von neuem los…

Plötzlich wollte ich die beiden, wollte ich am liebsten niemanden mehr sehen. Ich reichte Klaus ein Los, nahm sein Geld und ging weg, ohne mich noch mal umzudrehen.

Marens Eltern schlenderten händchenhaltend umher. Der Zufall wollte es, dass sie genau in meine Richtung kamen. Ich bog scharf nach links, um in einer größeren Menschenansammlung zu verschwinden. Aber zu spät – sie hatten mich bereits entdeckt. Ich blieb stehen, ergab mich meinem Schicksal.

„Hallo Hauke“, grüßte Frau Sühring mit ihrer freundlichen, warmen Stimme. Marens Vater nickte mir zu. Beide kauften ein Los.

„Das war ja neulich 'n doller Vortrag von dir“, meinte Herr Sühring. „Und – Spende genehmigt?“

„Klar!“, beeilte ich mich zu sagen. Ich merkte, wie ich knallrot wurde.

„Was willst du später eigentlich mal machen?“, fragte er unvermittelt. „Beruflich, meine ich? Was hast du für Ziele?“

Oje, daran hatte ich noch nicht den Funken eines Gedankens verschwendet. Später – wann sollte das sein? Ich lebte hier und jetzt. Wer konnte sagen, ob die Welt morgen überhaupt noch existierte? Wie immer bei Herrn Sühring hatte ich plötzlich das starke Gefühl, in einer Prüfung zu sein. Heute würde ich sie nicht bestehen, dessen war ich mir sicher. Mir ging die Muffe, aber richtig.

„Du solltest ernsthaft überlegen, Betriebswirtschaft zu studieren“, fuhr er fort.

Betriebswirtschaft… Ich musste an Köpke in der Nordstadt denken, der immer meinte, Betriebswirte wären die Schweine, die überall Leute feuern, aber selbst im dicken Porsche durch die Gegend fahren. Und so was sollte ich werden?

„Ich denk drüber nach“, murmelte ich.

„Maren will ja Jura studieren.“ Er ließ nicht locker.

So, wollte sie das? Davon wusste ich nichts. Allerdings hatten wir bisher nie über solche Themen gesprochen. Maren, eine Rechtsanwältin – auf einmal kam sie mir wieder sehr fremd vor.

„Unsinn, Hermann“, schaltete sich Marens Mutter ein. „Du willst, dass sie Jura studiert. Nun lass sie erst mal in Ruhe ihr Abitur machen, dann sehen wir weiter.“

Herr Sühring fing an zu grinsen. Die Vertraulichkeit zwischen den beiden wurde mir unangenehm. „Äh, ich glaub, ich muss mal weiter“, stotterte ich. „Noch 'n schönes Fest.“ Ich drehte mich um und zog von dannen.

„Und euch noch viel Erfolg bei der Tombola!“, rief mir Herr Sühring hinterher. Ich tat, als würde ich ihn nicht mehr hören.

Henri, der mit zwei seiner Kumpels unterwegs war, fing mich ab und versuchte, ein Gratislos rauszuschlagen. Vor einer Stunde hätte ich mich vielleicht noch erweichen lassen, aber jetzt biss er bei mir auf Granit. „Ohne Kohle läuft gar nix“, wiederholte ich stur. Ich wusste um sein Glück bei Lotterien. Ob auf dem Jahrmarkt in der Nordstadt oder dem Hafenfest – irgendwas hatte der Kerl bisher immer gewonnen. Der brachte es fertig und heimste den Hauptgewinn ein, ohne bezahlt zu haben. Als er nicht lockerließ, merkte ich, wie ich immer gereizter wurde. Viel fehlte nicht und ich hätte ihm eine gezwiebelt, wie früher, als er oft der Blitzableiter für meine Wut gewesen war. Endlich gab er es auf und verdrückte sich, seine beiden Schergen im Schlepptau.

Die Verlosung begann. An unserem Stand flammte grelles Scheinwerferlicht auf. Udo machte den Zeremonienmeister, Bernd und Micha reichten ihm die Preise von der Pyramide herab. Ich stand nur dumm an der Seite und kam mir vor den ganzen Zuschauern hilflos und bescheuert vor.

Muttern und Klaus waren im Publikum, ein Stück hinter ihnen stand Henri. Auch Marens Eltern entdeckte ich, Herr Sühring schien mir einmal zuzuzwinkern. Ausgerechnet diese Geste löste einen neuen Schwall Traurigkeit in mir aus. All die Menschen dort – mir schien, als würde ich sie gerade zum letzten Mal sehen, als gelte es, Abschied zu nehmen, von ihnen und den unfassbar, unwirklich schönen Monaten, die ich mit ihnen verbracht hatte. Jetzt kehrte die Realität zurück…

Das Fahrrad gewann ein dickbäuchiger Glatzkopf in Bermudashorts und Unterhemd aus Feinripp. Der Typ sah im Scheinwerferlicht wie frisch geölt aus, so stark schwitzte er. Da ging er also hin, unser toller Hauptpreis. Ich bezweifelte, dass der Kerl das Rad jemals benutzen würde; solche wie der wuchteten ihre Ärsche doch niemals aus dem Autositz. Selbst bei Henri wäre die Schleuder in besseren Händen gewesen. Hätte ich ihm bloß sein verdammtes Los geschenkt!

Als die Lichter ausgingen und die anderen mit dem Abbauen loslegten, zog Bernd mich zur Seite: „Ich fahr schon mal vor, den Kamin anheizen.“

Wozu wollte er bei dieser Hitze Feuer machen?

„Soll sich abkühlen. Sie haben Gewitter angekündigt.“

Und so radelte ich allein nach Schönhagen zurück. Inzwischen war es vollständig Nacht geworden. Die Finsternis erschien mir heute tiefer als sonst, undurchdringlicher. Als ich kurz Halt machte, um mir eine zu drehen, konnte ich kaum die Hand vor Augen erkennen. Dazu dieses permanente, nervöse Grillenzirpen, das auffallend laut klang, fast wie eine Warnung, ein Alarmsignal. Irgendetwas schien bevorzustehen, eine angespannte, bedrohliche Stimmung lag in der Luft.

Das Geisterhaus kam mir wieder in den Sinn. Was wohl passieren würde, wenn wir mitten in der Nacht dort aufkreuzten? War unser Vorhaben wirklich so harmlos, ein bisschen Gruseln und Gänsehaut, nicht mehr? Ich dachte an mein seltsames Erlebnis zurück, die Geräusche auf der Kellertreppe – alles war so deutlich gewesen: der merkwürdige Zischlaut, dieser eisige Luftstrom aus dem Dunkel, auch der starke Sog in die Tiefe. Dazu die Story mit den Toten, das Gerede über Schwarzen Messen – konnte man wirklich des nachts einen Ort betreten, an dem so furchtbare Sachen passiert waren? Überschritten wir damit nicht eine rote Linie? Rührten wir nicht an Dinge, die in Ruhe gelassen werden wollten?

Endlich zu Hause griff ich mir den Schlafsack und holte ein paar Dosen Bier aus dem Keller. Dann fuhr ich zum Treffpunkt am Achterkamp. Die Mädchen ließen gerade eine Rotweinflasche kreisen und gackerten unaufhörlich. Ihr Flohmarkt war wohl ein Bombenerfolg gewesen. „Wieder viel Platz im Keller“, rief Kristina. Jürgen wirkte ebenfalls recht angeheitert. „Eine kleine Feier mit der Mannschaft, nach dem Abbauen am Steenbarger Bahnhof“, erklärte er. Unsere Verpflegung bestand heute ausschließlich aus Wein, Bier und hartem Alk wie Rum und Wodka. Alles war hastig aus den heimischen Kühlschränken, Wohnzimmerbars und Kellern zusammengeklaubt.

Ob wir uns vor der Party nicht eine Abkühlung am Steenbarger Strand verschaffen sollten, schlug Maren vor. Ich war dagegen, wollte Bernd nicht so lange im Geisterhaus allein lassen, wurde aber überstimmt. Heiner, der schon reichlich stoned aussah, verkündete träge, dass auch er heute „im Adamskostüm“ baden würde.

Statt zum Geisterhaus schlugen wir also die Richtung zum Steenbarger Strand ein. Die drückende Hitze hatte kaum abgenommen, obwohl es auf Mitternacht zuging. Immer wieder fegten starke Windböen aus dem Dunkel heran und schüttelten alles durch, aber sie brachten nie Erfrischung. Hinterher begann das nervtötende, monotone Fiepen der Grillen von Neuem, als wäre nichts gewesen.

Wir kamen zum Abzweig nach Hoheneck. Die anderen fuhren achtlos daran vorbei, aber ich drosselte das Tempo und machte lieber einen Sichtcheck, aus alter Gewohnheit: Trieb sich dort hinten jemand herum, vielleicht irgendwelche versprengten Idioten vom Sommerfest, die ein Opfer suchten? Die beiden Spuren des Weges verloren sich schnell im Dunkel, an den Seiten rauschten die Knicks – nichts Auffälliges also. Beruhigt wollte ich mich wieder nach vorn wenden und in die Pedale treten – da sah ich plötzlich doch etwas: Schatten, zwei Gestalten! Sie kamen sehr schnell heran, man hörte Keuchen, auch Schluchzen – und schließlich erkannte ich Alex und Sönke!

Aber was war mit den beiden los? In ihren Gesichtern stand helle Panik, sie wirkten völlig aufgelöst!

„Eine Leiche!“, rief Alex. „Da hinten hat sich jemand 'n Strick genommen!“

Ich bremste mit lautem Quietschen. Mein erster Gedanke war: Wollen die uns Angst machen, einen Schrecken einjagen? Wirklich saukomisch, ihre Nummer!

„Wir müssen die Bullen holen!“ Sönke klang, als müsse er jeden Moment losheulen.

„Wo denn?“, fragte Silke leise. Sie und die anderen waren inzwischen zurückgekommen.

„Kurz vor Hoheneck!“ Alex fuchtelte hektisch herum. Jetzt sah ich, dass er Tränen in den Augen hatte. „Direkt am Wegrand, im Knick.“ Die beiden rannten weiter und verschwanden bald wieder in der Finsternis.

Ratlos standen wir dort. Nach ein paar Schrecksekunden hörte ich Heiner fragen: „Ob wir auch mal gucken sollen?“

Es war, als hätte er meine Gedanken gelesen. Eine richtige Leiche! Und noch niemand hatte sie angerührt, keine Bullen, keine Sanitäter, kein Reinigungskommando…

Silke stand mir am nächsten; ich konnte sehen, wie ihr Blick leicht angewidert an Heiner hoch- und runterfuhr. „Also, ich will sofort hier weg!“, sagte sie.

„Ich auch“, stimmte Maren zu. Die Erschütterung war ihr deutlich anzuhören.

„Ach, bloß schnell mal prüfen, die Sache“, schaltete Jürgen sich ein. Seine Worte kamen schon etwas fahrig. „Dauert doch nicht lange.“

„Wir fahren jetzt zum Strand!“ Kristina wurde unwirsch. „Wer unbedingt die Leiche angucken will, kann ja später nachkommen.“ Mit diesen Worten dampften die Mädchen geschlossen ab.

Die Entrüstung der drei, die sehr ehrlich, sehr ungespielt rübergekommen war, ließ mich endlich aufwachen; erst jetzt begriff ich allmählich, was eigentlich los war: Jemand hatte sich gerade das Leben genommen, hing tot in den Büschen, nicht weit von hier weg! Und auf einmal löste sich die Angst, breitete sich immer stärker in mir aus, wie ein schwarzes, zerstörerisches Gift…

Heiner und Jürgen stiegen ebenfalls auf ihre Räder. Im ersten Moment dachte ich, sie würden auf den Feldweg nach Hoheneck einbiegen. Aber dann fuhren sie doch geradeaus, wie die Mädchen. Erleichtert folgte ich ihnen.

Wir waren noch nicht weit gekommen, als meine Kette ablief – das passierte mir ständig in letzter Zeit. Wütend bremste ich mit lautem Quietschen, stieg ab und beleuchtete mit dem Feuerzeug die Bescherung. „Was gibt ’s?“ Heiner stoppte ebenfalls. „Soll ich helfen?“, fragte er. Aber ich wollte nicht, dass die beiden wegen mir hier warten mussten. „Fahrt ihr mal weiter“, brummte ich genervt. „Ich komm dann nach.“

Kaum waren sie verschwunden, bereute ich meinen Entschluss wieder: Allein erschien mir die Finsternis noch absoluter, noch unheimlicher. Meine Arme und Beine waren wie Pudding, nur mit Mühe schaffte ich es, das Fahrrad umzudrehen. Hektisch versuchte ich die Kette wieder auf die Zahnräder zu bekommen, aber je ungeduldiger ich wurde, desto weniger wollte es klappen. Und die ganze Zeit hatte ich das Gefühl, als würde jemand oder etwas durch die Finsternis streichen: Permanent knackten Zweige, raschelten Sträucher…

Aus Richtung Steenbarg tauchte nun ein Lichtschein auf. Er schwebte durch die Finsternis, an den Knicks entlang, über die pechschwarzen Felder hinweg, ein Irrlicht auf der Suche. Schließlich fand es sein Ziel, glitt langsam auf mich zu. Immer näher kam es…

Als ich endlich das Schnarren eines altersschwachen Dynamos hörte, fühlte ich mich regelrecht erlöst. Natürlich war es ein Fahrrad, was sonst? Dann radelte Heiner aus der Dunkelheit heran. „Wollte lieber mal schauen, ob alles klar ist“, grinste er. Mit seinem Feuerzeug leuchtete er mir, und endlich schaffte ich es, die Kette wieder aufzuziehen. Anschließend waren meine Finger natürlich total eingesaut, aber Heiner hatte Papiertaschentücher dabei. Ohne ihn wäre ich gerade ziemlich aufgeschmissen gewesen!

Gemeinsam fuhren wir weiter. In Steenbarg waren die Straßenlaternen längst ausgeschaltet, auch hinter den Fenstern brannte nirgends mehr Licht. Der völlig abgedunkelte Ort wirkte, als stünde ein Luftangriff bevor. Wieder in den Feldern frischte der Wind noch einmal auf, das Treten wurde nun zu einer mühseligen Angelegenheit. Die Fahrradlichter bohrten sich in die Finsternis vor uns und ließen den Eindruck eines Tunnels entstehen, eines engen, gewundenen Schlauchs, von dem man nicht wusste, wann und wo er endete.

Dann tauchten abgestellte Räder in unseren Lichtkegeln auf – wir waren da. Oben auf dem Deich wurde uns erst richtig bewusst, wie heftig der Wind blies. Permanent krachten Wellen auf den Strand, landeinwärts wurden die Bäume vom Sturm gepeitscht. Das alles hörten wir aber bloß, sehen konnte man nichts. Alles war in tiefstes Schwarz getaucht, als hätte jemand ein riesiges Tintenfass über uns ausgestülpt.

Wie Blinde stolperten wir den Deich hinab, irrten durch den Dünengürtel, erreichten irgendwie den Strand. Hartnäckig trotzten wir dem auflandigen Wind, hielten tapfer die Sandkörner aus, die uns wie winzige Geschosse ins Gesicht prasselten. Allmählich schälten sich weiße Wellenkämme aus dem dem Dunkel. Und tatsächlich: Inmitten des Brandungslärms hörte man leises Jauchzen und Lachen – sie waren also wirklich dort rausgeschwommen.

Heiner fing an, sich die Klamotten abzustreifen. „Auf ins Getümmel“, knurrte er, und wie so oft klang es, als würde er bloß witzeln. Aber er schien es ernst zu meinen. Widerwillig zog ich mich ebenfalls aus. Zur Sicherheit machte ich unsere Plünnen mit ein paar herumliegenden Steinen windfest und schlich hinterher.

„Wir kommen!“, brüllte Heiner in die tosende See hinaus.

„Na, dann mal los!“, antwortete Kristina nach einer Weile.

Die ersten Ausläufer der Wellen umspülten unsere Füße – sie waren kaum kühler als die Luft. Mit dem Mut der Verzweiflung warf ich mich in die Brandung und paddelte, was das Zeug hielt.

„Hey, schwimmt zum Boot!“, rief Silke. Wir schlugen die Richtung ein, aus der ihre Stimme gekommen war. Bald tauchte etwas Weißes vor uns auf. „Seid ihr da?“, schrie Heiner.

„In voller Truppenstärke!“, bellte Jürgen zurück und lachte.

Wir erreichten ein Boot, das in den Wellen stark krängte. Schemenhaft erkannte ich, wie Heiner sich flink an der Bordwand hochzog und hineinkletterte, als würde er das täglich machen. Ich schaffte es nicht, rutschte immer wieder ab. Endlich fand ich irgendwie Halt und hievte ich mich mit letzter Not in den Kahn, aber es musste sehr jämmerlich ausgesehen haben. Zum ersten Mal an diesem Abend war ich froh über die Finsternis.

Ich setzte mich auf die Reling. Die verdammte Nussschale schaukelte dermaßen, dass ich Mühe hatte, Halt zu finden und nicht ins Wasser zurückzuplumpsen. Den Stimmen nach zu schließen hockten die Mädchen alle auf der Ruderbank. Ich versuchte mir den Anblick auszumalen: drei sehr hübsche Mädchen, alle splitternackt – aber ich spürte nichts, war innerlich wie taub. Auf einmal konnte ich an nichts Schönes mehr denken; alles schien nur noch hässlich, eklig, abstoßend. Und bedrohlich. Die Atmosphäre war bis zum Zerreißen gespannt, dazu dieses undurchdringliche Dunkel… ein schlimmes Ereignis stand bevor, dessen war ich mir jetzt absolut sicher. Der Erhängte im Knick war eine unmissverständliche Warnung gewesen.

Etwas Kaltes, Feuchtes berührte mich am Arm. Ich zuckte zusammen, musste im ersten Moment an eine Qualle denken. Dann merkte ich, dass es Marens Hand war. Instinktiv rückte ich auf der Reling ein Stück nach hinten, um außer Reichweite zu gelangen. Ich schämte mich plötzlich über alle Maßen, nackt zu sein. Und trotz der warmen Luft schlotterte ich, hatte das Gefühl, krank zu werden. Lag es am Heuschnupfen? „Mir wird kalt“, murmelte ich und sprang wieder ins Wasser.

Im Nu hatten die Wellen mich an den Strand zurückgetrieben, nicht weit von der Stelle entfernt, an der unsere Klamotten lagen. Der Wind hatte tatsächlich versucht, sie wegzuzerren, dank der Steine aber ohne Erfolg. Während ich mich anzog, wurde mir auf einmal bewusst, dass man die Mitternachtssonne überhaupt nicht sah. Auch der Mond leuchtete nirgends, und kein einziger Stern stand am Himmel. Dann begriff ich: Es musste sich bewölkt haben, irgendwann nach Einbruch der Dunkelheit. Stimmte es, was Bernd gesagt hatte? Zog tatsächlich ein Unwetter auf?

Ich hörte die anderen aus dem Wasser kommen. Aber ihr Lachen und Herumalbern erreichte mich nicht mehr, sie schienen plötzlich weit weg, wie in einer anderen Dimension. Als wir losgingen, konnte ich ihnen kaum folgen. Meine Bewegungen liefen wie in Zeitlupe ab, obwohl ich versuchte, das Letzte aus mir herauszuholen. Ich gab alles, und doch war etwas anderes stärker, eine geheimnisvolle Kraft, die mich langsam in die Tiefe zog.

Auf dem Pfad durch die Dünen machte der feine, staubtrockene Sand das Gehen noch beschwerlicher. Mittlerweile waren die anderen weit voraus, ihre Stimmen kaum noch zu hören inmitten des Wellenrauschens. Als ich endlich auf der Deichkrone ankam, sah ich landeinwärts weiße und rote Fahrradlichter gerade davonziehen wie einen Schwarm flüchtender Glühwürmchen. Der Anblick versetzte mir einen Stich – merkten sie nicht, dass jemand fehlte? Für Sekundenbruchteile erwachte ich aus meiner Trance: Ich lief runter zum Fahrrad, band hastig die Tasche fest und strampelte um mein Leben. Ein einziges Mal schaute ich noch zurück, aber da hatte die Nacht den Deich längst wieder verschluckt.

Der Lichterpulk machte nun einen Schwenk nach rechts. Verdammt, dort war doch überhaupt kein Weg! Aber als ich an die fragliche Stelle kam, sah ich dort perplex einen Weg wie alle anderen beginnen, mit betonierten Spuren und einem Grasstreifen in der Mitte. Es erschien mir fast wie Hohn, dass ich diesen Abzweig nie bemerkt hatte, so oft, wie wir auf unseren Strandtouren hier vorbeigefahren waren. Verzweifelte Wut packte mich: Kannte ich hier überhaupt irgendwas? War ich nicht immer noch ein Fremder, ohne Zugang zu ihrer Welt?

Ich trat in die Pedale. Der Weg verlief offenbar parallel zum Deich, dem Wellenrauschen nach zu schließen, das die ganze Zeit nicht leiser wurde. Wohin mochte er wohl führen? Wenigstens gelang es mir bald, die Gruppe wieder einzuholen. Gerade wollte ich einen lockeren Spruch bringen, etwas rufen wie „Bin wieder zurück“ – da hörte ich ihr Lachen und Gackern: Es klang mittlerweile völlig überdreht, fast hysterisch. Hielten sie unsere Aktion etwa noch immer für pure Gaudi? Spürten sie denn überhaupt nichts von der bedrohlichen Stimmung, dem Unheil, das sich doch so deutlich ankündigte? Dann mussten wahrlich Welten zwischen uns liegen…

Auf einmal schien landeinwärts grelles Wetterleuchten auf und lief wie ein Pulsieren über den gesamten Himmel. Kaltes, weißes Licht enthüllte über uns ein bizarres Muster aus Wolken, am Horizont stand die finstere Silhouette des Waldes. Dann fiel wieder Dunkelheit herab, tiefer und absoluter als zuvor.

Die Unterhaltung der anderen war jäh verstummt. „Schaffen wir's rechtzeitig?“, fragte Silke nach einer Weile ängstlich.

„Kann noch dauern, ehe das Gewitter hier ist“, meinte Heiner in seiner typischen, emotionslosen Art. „Bis dahin sind wir längst im Geisterhaus.“

Das Geisterhaus! Schwarze Messen, die Leichenfunde… endlich wurde mir bewusst, was ich schon die ganze Zeit gespürt hatte: Irgendetwas wartete dort auf uns. Etwas Furchtbares, das mit den toten Sektenmitgliedern zu tun hatte, und auch mit dem Flüstern und Wispern auf der Kellertreppe, dem eisigen Luftstrom, dem Sog in die Finsternis. Es gab eine Verbindung zwischen diesen Dingen und mir selbst, meinem Leben, meiner Vergangenheit. Der Erhängte im Knick passte ebenfalls perfekt ins Bild.

Aber wie sollte all das zusammengehen? Ich hatte keine Ahnung. Nur eines wusste ich: dass ich auf keinen Fall mehr in dieses Haus wollte. Es war schlichter Wahnsinn, was wir vorhatten! Ich musste hier weg, sofort, ansonsten rannte ich in mein Verderben. Aber ich fühlte mich wie paralysiert, konnte ihnen nur folgen. Alles war besser, als jetzt allein zu sein.

Die Lichter unserer Fahrradlampen strichen über Bäume und Sträucher am Wegrand, ließen sie gespenstisch hervortreten. Wieder musste ich daran denken, dass hier draußen gerade jemand gestorben war. Und obwohl ich wusste, dass die Stelle ein gutes Stück entfernt lag, rechnete ich jeden Augenblick damit, einen baumelnden Körper vor mir zu sehen.

Bald verschwanden die Knicks, statt ihrer tauchten überall Stämme mit kräftigen Maserungen auf – wir hatten den Wald erreicht. Über unseren Köpfen rauschte das Laub im Sturmwind. Dann holperten wir über Gleise – es konnte nur der Bahnübergang sein, den ich schon nachmittags mit dem Dampfzug passiert hatte. Genau hier hatte Kristina zum ersten Mal das Geisterhaus erwähnt, auf unserer Pfingstwanderung. An dem Tag hatte ich das Haus zum ersten Mal betreten – und insgeheim gehofft, es möge auch das letzte Mal gewesen sein…

Wir überquerten eine Straße, bogen in einen neuen Feldweg. Schließlich mussten wir absteigen und schieben, unsere Fahrradlampen glommen nur noch schwach. Dafür schien es durch das Blätterdach jetzt oft grell auf – das Gewitter konnte nicht mehr weit weg sein. Ich torkelte hinter den anderen her wie ein Betrunkener. Die Angst, sie zu verlieren und allein hier zurückzubleiben, war machtvoller und quälender denn je.

Die Leiche von vorhin, die Toten im Geisterhaus, das Flüstern auf der Treppe zu den Katakomben, der eisige Luftstrom aus der Tiefe… all diese Ereignisse waren miteinander verwoben, ganz sicher. Auch mein verhängnisvoller Stimmungsumschwung der letzten Tage hing irgendwie damit zusammen. Aber so sehr ich mich auch bemühte, alles zu ordnen und zu begreifen – es gelang mir nicht.

Als wir auf die Lichtung hinaustraten, war das Wetterleuchten noch intensiver geworden. Jeder Blitz enthüllte die dunklen Umrisse des Geisterhauses. Das Eingangsportal wirkte wie ein riesiger, geöffneter Schlund. Jürgen knipste die Taschenlampe an, wir holten tief Luft – und tauchten ins Dunkel. Zitternd fuhr der Lichtstrahl über fleckige, bemooste Wände. Der Atem stand uns wie Dampf vor den Mündern. Die leeren Türfüllungen zu beiden Seiten erinnerten an Eingänge in Verliese oder Höhlen. Wir durchquerten die Küche, erreichten den Seitenflügel. Endlich erkannte ich vor uns ein rötliches, warmes Leuchten, kurz darauf betraten wir den Terrassensaal.

Im Kamin prasselte ein helles Feuer. Bernd hockte davor und stocherte mit einem Ast in der Glut herum. Der Abzug musste verstopft sein: Dichter Rauch quoll aus der Kaminöffnung, sammelte sich unter der Saaldecke und zog von dort durch die leeren Fensterhöhlen hinaus ins Freie. Weiter hinten steckten Fackeln im rissigen Steinboden und sorgten für zusätzliches Licht. Nun sah ich, dass auch Micha und Schohl hier waren. Offenbar hatte Bernd seinen Mund nicht halten können und ihnen von der Party erzählt.

Wir zogen die Matratzen ein Stück vom Feuer weg in die Raummitte, um dem Qualm nicht so nahe zu sein, und setzten uns. Weinflaschen wurden geköpft, Verschlüsse von Bierdosen gerissen, harte Drinks gemischt. Micha, Schohl, Heiner und ich ließen eine Tüte kreisen. Nach jedem Zug spülte ich hektisch mit Wein nach. Aus dem Ghettoblaster ertönten seltsame Klänge: ein nölender Gesang, unterlegt mit schwebenden Keyboards und monotonem Schlagzeug. Drogenmucke, garantiert von Schohl.

Über den Bäumen im Garten wetterleuchtete es mittlerweile permanent; das Flackern erinnerte an den Widerschein einer lodernden Feuerwand. Machtvolles Donnern ließ nun immer wieder den Boden erzittern, dazwischen hörte man die ersten Tropfen aufschlagen. Schließlich brach das Unwetter mit voller Gewalt los: Lichtadern zerrissen in schneller Abfolge den Himmel, die Wolkengebirge dahinter erschienen wie gigantische Rauchschwaden, die Donnerschläge klangen wie Explosionen. Im Schein der Blitze sah man, wie der Garten sich langsam in einen See verwandelte; höher und höher stieg der Wasserspiegel…

Mich konnte all das nicht mehr erreichen. Dope und Alkohol taten endlich ihre Wirkung, ich spürte nur noch Gleichgültigkeit. Sogar Maren erschien mir auf einmal fremd und unbedeutend. In der Nordstadt hatte mal jemand erzählt, dass man seine wahren Gefühle erst erkennt, wenn man stoned ist. Daran musste ich jetzt denken. War dies mein wahres Gefühl? Liebte ich Maren gar nicht? War in Wirklichkeit immer diese Leere, diese weltraumartige Kälte um mich?

Nach und nach legte sich der Gewittersturm. Die Detonationen wurden wieder zu undeutlichem Grummeln in der Ferne, von den Blitzen blieb nur regelmäßiges Wetterleuchten. Allein der sintflutartige Regen wollte nicht weniger werden. Ich sah Silke und Jürgen hinausgehen. Schohl starrte abwesend in die Luft und rührte sich nicht mehr. Micha fummelte mit fahrigen Bewegungen am Recorder herum, der seinen Geist aufgegeben hatte. Heiner war längst eingepennt. Wo Bernd und Kristina abgeblieben waren, wusste ich nicht.

Jemand nahm meine Hand, zog mich hinter sich her – Maren. Ich erinnerte mich an die Kondome in meiner Jackentasche. Wir hatten verabredet, heute Nacht miteinander zu schlafen. Erst gestern war das gewesen, aber es kam mir vor wie die Erinnerung aus einer anderen Zeit. Der Hauke, der ihr dieses Versprechen gegeben hatte, war im Verschwinden begriffen, existierte schon fast nicht mehr. Sie würde alles verlieren, wie schon einmal… warum nur, warum?

Ich nahm eine Fackel und leuchtete uns den Weg in einen der hergerichteten Räume. Maren breitete den Schlafsack auf den Matratzen aus. Ich goss Wein auf die Fackel, um sie zu löschen. Dann zogen wir uns nackt aus und krochen in den Schlafsack. Noch immer war das Rauschen des Regens zu hören. Und manchmal schien ein letztes, schwaches Wetterleuchten zum Fenster herein.

Die Schwarzen Messen, der Selbstmord… wo mochte es passiert sein? Vielleicht hier, in diesem Raum? Ein Schaudern durchlief mich von oben bis unten. Ich fühlte mich ausgekühlt, als käme ich geradewegs aus dem strömenden Regen.

„Bist du krank?“, flüsterte Maren.

Ich schüttelte den Kopf. „Ich möchte mich wieder anziehen.“

„Okay.“

Wir streiften die Klamotten über und kuschelten uns zusammen in den Schlafsack. Ich legte den Kopf auf ihre Brust. Sie strich mir durchs Haar.

„Schlimm?“, fragte ich.

„Nein.“, kam es nach einem kurzen Moment leise zurück.

Sie tat mir so unendlich Leid. Ich merkte, dass ich Tränen in den Augen hatte. Irgendwann schlief ich ein.



***



Als ich aufwachte, war von draußen nur noch leises Tröpfeln zu hören. Mir brummte der Schädel, in meinen Ohren rauschte und pfiff es. Noch immer war es stockfinster. Maren schlief. Ich spürte, wie ihr Brustkorb regelmäßig auf- und niederging.

Behutsam öffnete ich den Reißverschluss des Schlafsacks und setzte mich. Wie kalt es geworden war! Aber dieses Geräusch, der Pfeifton… kam das wirklich aus meinem Kopf? Atemlos lauschte ich ins Dunkel, auf das feine, durchdringende Summen und Sirren, das wie bewegungslos in der Luft stand…

Klang es nicht sogar wie leises Flüstern? Je länger ich horchte, desto deutlicher glaubte ich es zu erkennen: Ein permanentes Wispern und Gezischel. Und es schien sich zu nähern! Manchmal lösten sich einzelne Stimmen aus dem Strom und begannen eindringlich zu raunen, drohend, lockend, verzweifelt… kurz darauf erstarb es, wurde wieder eins mit dem Strom.

Irgendwas passierte hier gerade! Es musste mit dem Kellergewölbe zu tun haben – das, was dort unten hauste, war herausgekommen und geisterte nun umher. Längst schien es überall zu sein, auch hier, in diesem Raum! Ich meinte etwas wie ein Kraftfeld über mir zu spüren, eine mysteriöse Energie. Wellen kamen von dort, die mich zitternd durchliefen. Dann strich ein eisiger Luftzug über mich hinweg, wie von einer Bewegung, als würde etwas aus dem Dunkel nach mir greifen…

Im nächsten Moment sah ich mich rennen. Über den Flur ins Terrassenzimmer und durch alle Räume. „Raus hier!“, schrie ich immer wieder. Wir mussten so schnell wie möglich von hier verschwinden!

Ich beruhigte mich erst wieder, als wir alle vorm Haus standen. Die anderen hatten schreckensbleiche Gesichter und waren völlig außer Atem. Bernd und Kristina hatten sich nur notdürftig ihre Klamotten übergestreift und waren völlig erschrocken über mein Gebrüll nach draußen gerannt.

„Mensch Hauke, bist du übergeschnappt?“, fauchte Micha, so heftig, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. „Wieso drehst du hier so durch?“

Erst jetzt sah ich, dass sie allesamt ratlos und verwundert dreinschauten. Niemand außer mir wollte etwas bemerkt haben. Ich war völlig perplex. Nahmen sie mich aufs Korn? Machten sie sich über mich lustig? Ich war mir doch so sicher gewesen!

„Und woher kam diese Eiseskälte?“, stotterte ich verwirrt. „War die etwa normal?“

Bernd lachte. „Klar war es kalt, nach dem Gewitter. Hättest halt am Kamin bleiben sollen.“ Er knuffte mir freundschaftlich in die Seite.

Langsam kapierte ich, dass die anderen keine Scherze mit mir trieben. Es war ihnen ernst.

„Lasst uns die Sachen holen und abhauen“, murmelte Heiner. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen.

Ich wollte auf keinen Fall ins Haus zurückgehen. Jürgen blieb mit mir vor der Tür. „Vielleicht hast du einfach zu viele Geschichten über das Geisterhaus gehört.“, überlegte er.

Hier draußen konnte man sehen, dass es bereits dämmerte. Auf einmal kam mir meine Panik selbst lächerlich vor. Vielleicht war mir der Joint nicht bekommen. Das Kiffen hatte schon einmal einen Horrortrip bei mir ausgelöst.

Als alle sich beruhigt und in der Zwischenzeit ihre Sachen geholt hatten, fuhren wir los. Die Landschaft wirkte unter dem grauen, schweren Himmel völlig verändert. Der Sturm hatte die Felder zerzaust, die Wege waren mit Blättern bedeckt, überall lagen abgerissene Äste und Zweige. Sogar umgestürzte Bäume sahen wir.

Ich musste wieder an meine Panik im Geisterhaus denken, mein Schreien, meine Flucht. Wahrscheinlich hatte ich mich damit ganz schön blamiert. Ich konnte froh sein, wenn die Sache sich nicht herumsprach.

Aber hatte ich mir wirklich alles nur eingebildet – die Kälte, dieses Flüstern und Wispern. Es war so deutlich gewesen, das konnte unmöglich bloß in meiner Phantasie passiert sein!

Maren und ich fuhren nebeneinander. Sie war meine letzte Hoffnung. Immerhin hatte sie direkt neben mir gelegen, sie musste einfach etwas mitbekommen haben. Kurz vor Schönhagen fragte ich sie leise:

„Hast du vorhin auch nichts gemerkt?“

Sie schaute mich an, eine Mischung aus Bedauern und Mitleid in ihrem Blick. Kaum merklich schüttelte sie den Kopf. Die letzte, rettende Tür schien in diesem Moment zuzuschlagen.

Schweigend fuhren wir in das menschenleere Dorf ein.

10. Alles nur ein Traum?

Weshalb hatte ich mich bloß zu dieser verdammten Dänemark-Reise überreden lassen? Familienleben – eine ganze Woche lang. Es gab kein Entrinnen, keine Möglichkeit, sich abzusetzen. Unser Ferienhaus lag völlig ab von allem, irgendwo weit oben in Jütland, an der Nordseeküste.

Alle Arbeiten erledigten wir gemeinsam: kochen, essen, abwaschen, saubermachen. Bei gutem Wetter grillten wir im Garten, dann lief Henri zu großer Form auf. Und fast jeden Tag unternahmen wir Fahrten in die nähere Umgebung, zum Strand oder in irgendeinen Ort. Vor kurzem hätte ich das alles noch ziemlich klasse gefunden, aber auf einmal konnte ich mich dafür nicht mehr begeistern. Es erschien mir nun wie eine billige, hohle Fassade, hinter der es bröckelte und gammelte.

Blöd war auch der Startzeitpunkt unserer Reise gewesen, gleich am Morgen nach dem Kurparkfest und der Sache im Geisterhaus. Alles war so rasch gegangen, ich hatte vor der Abfahrt mit niemandem mehr gequatscht, auch mit Maren nicht.

Es gab hier einen weiten Strand, auf den man mit dem Auto fahren konnte. Die Steilküste zog sich in beiden Richtungen bis zum Horizont. Häufig stürmte es, und wir hatten eine tolle Brandung. Zum Baden war es eigentlich zu kalt, aber Henri und ich sprangen trotzdem manchmal rein und tobten durch die Wellen. Auch machte ich oft lange Spaziergänge durch die Dünen- und Graslandschaft, die hinter unsrer Ferienhaussiedlung begann. Diese Touren waren mir das Liebste, weder Regen noch Sturm konnten mich davon abhalten.

In mir brannte eine Sehnsucht nach Maren, die kaum zu ertragen war. Ich wurde einfach das Gefühl nicht los, dass eine Tür zugeschlagen war, die sich durch die Ereignisse dieses Jahres kurzzeitig geöffnet hatte. Einmal versuchte ich einen Brief an sie zu schreiben. Aber ich fand nicht die richtigen Worte, brachte nur abgedroschenes Gelaber zustande. Ich konnte diese unbestimmte Angst, sie zu verlieren, einfach nicht ausdrücken. Am Ende zerriss ich den Brief wieder.

Manchmal saß ich abends mit Klaus auf ein Bier zusammen und ließ ich ihn aus seiner Jugend erzählen. Er war in einem üblen Viertel aufgewachsen, hatte sich später einer stadtbekannten Gang angeschlossen. Es gab derbe Auseinandersetzungen mit verfeindeten Gruppen. Einmal wollte er bei einer Jahrmarktsschlägerei einen Typen vor den Autoskooter werfen und wurde erst im letzten Moment von seinen eigenen Leuten gestoppt. Nach seiner Ausbildung zum Krankenpfleger war er als Entwicklungshelfer ins Ausland gegangen. Er hatte sich also um 180 Grad gedreht, war vom Rocker zum Reisenden geworden, der unter Moslems klarkommen musste. Irgendwie beeindruckte mich das.

Trotzdem ließ sich immer weniger wegreden, dass er anders geworden war. Er wirkte oft geknickt, deprimiert. Sein Scheidungsverfahren zog sich in die Länge, nach wie vor wusste er nicht, wie es weitergehen würde. Ich hätte ihm gern etwas Aufmunterndes gesagt, aber ich hatte Schiss, dass er anfangen würde, mir sein Herz auszuschütten. Dieser Gedanke war schlimm. Ich wollte ihn nicht schwach sehen. Er sollte stark sein, überlegen, vertrauenerweckend.



***



Endlich zurück in Schönhagen!

Jeden Nachmittag trafen wir uns bei Bernd auf der Terrasse. Seine Eltern waren verreist, er hatte sturmfreie Bude. Ein pausenloses Kommen und Gehen herrschte, manchmal schien das halbe Dorf anwesend zu sein. Alles laberte wild durcheinander, Ferienerlebnisse wurden berichtet, Neuigkeiten ausgetauscht.

Noch immer war die Nacht des Unwetters beherrschendes Thema. Der Sturm hatte überall Bäume entwurzelt. Die Feuerwehr war im Dauereinsatz gewesen, um die zahllosen vollgelaufenen Keller leerzupumpen. Bei Engels hatte es angeblich dreimal eingeschlagen. Diverse Elektrogräte waren kaputtgegangen, aber Feuer war glücklicherweise nicht ausgebrochen. Die Vorstellung hatte etwas Skurriles: Ausgerechnet dem Feuerwehrhauptmann persönlich brannte die Bude über dem Kopf ab. Alle lachten, Jürgen inklusive.

Auch über den Toten im Knick wurde gesprochen. Er war noch immer nicht identifiziert. Nur so viel stand fest: Er war von außerhalb gewesen, möglicherweise ein Urlauber. Dass es sich um Selbstmord handelte, galt ebenfalls als sicher.

Ich erinnerte mich inzwischen nur noch schemenhaft an die Ereignisse in jener Nacht. Der Cocktail aus Alkohol und Dope, den Alex, Micha und Schohl uns verabreicht hatten, war mir eindeutig nicht bekommen. Und dann meine blöde Panikattacke – zum Glück hatte die nicht die Runde im Dorf gemacht…

Das Wetter war momentan sehr seltsam. Jeder Tag begann mit strahlendem Sonnenschein. Bereits in den Morgenstunden stiegen die Temperaturen auf 30 Grad und höher. Mittags begannen sich die Wolken aufzutürmen wie Gebirge, kurz darauf brachen Regengüsse und Gewitter los. Sie kreisten und irrten übers Land wie aufgebrachte Vogelschwärme. Abends, wenn sie sich abreagiert hatten, fielen die Blumenkohl-Wolken wieder in sich zusammen. Die Nächte waren immer sternenklar. Und anderntags fing alles von vorn an.

Kürzlich war es über Mittag einigermaßen sonnig geblieben, und wir hatten uns entschlossen, einen Strandausflug zu wagen. Auf den Feldern war das Korn oft plattgedrückt, wohl von den Wolkenbrüchen der letzten Zeit. Wo die Halme noch aufrecht standen, waren sie gräulich verfärbt und ließen die Köpfe hängen. Auch das Laub in den Knicks war oft gelb oder sogar braun verfärbt, vermutlich wegen der wochenlangen Trockenheit vor dem Wetterumschwung. Die Natur wirkte ausgelaugt und erschöpft, vom frischen, kräftigen Grün des Frühsommers war nicht mehr viel übrig.

Kaum am Strand angekommen, sprang ich sofort ins erfrischende Nass. Ein kurzes Durchspülen und Wachwerden, dann nahm ich meine Wanderungen über die Sandbank wieder auf. Anders als sonst war die See heute eher ruhig. Die Wasserfläche glänzte nahezu einsam im Sonnenlicht, auch am Strand lagen nur wenige Menschen. Ich beobachtete Bernd, Maren und Kristina, die an der Wasserlinie Frisbee spielten. Er brachte vollen Einsatz, hielt die beiden ordentlich auf Trab. Maren hatte ein Seidentuch in ihr Haar geflochten, das beim Laufen wie ein buntes Band hinter ihr her flatterte.

Meine Liebe zu ihr wurde immer stärker und heftiger, brannte mittlerweile fast wie ein Schmerz in mir, ein tiefer Schnitt in die Eingeweide. Warum hörte nur diese Sehnsucht nie auf? Konnte ich Maren nicht jederzeit in die Arme nehmen? Sie küssen, spüren, riechen, schmecken? Ja, klar. Gleichzeitig schien die Person, die dort hinten über den Sand lief, unerreichbar fern zu sein, nur eine Phantasie, ein Wunschtraum…

Am Himmel waren inzwischen dunkle Wolken aufgetaucht; abrupt verschwand die Sonne. Das Wasser, gerade noch durchsichtig und klar, wurde zu einer trüben Suppe, der seichte Grund unter meinen Füßen war plötzlich nicht mehr zu sehen. Ich schwamm zurück an Land, trocknete mich ab und wechselte die Badehose. Dann machte ich es mir auf dem Handtuch bequem.

Jürgen schnarchte nebenan leise vor sich hin. Er war nach wie vor käsig weiß, wie am ersten Sommertag. Ich schloss die Augen. Noch immer hörte ich Bernd und die Mädchen Frisbee spielen. Die schwüle Luft schien ihnen nichts auszumachen. Eigentlich hätte ich mehr Initiative zeigen, Bernd nicht kampflos das Feld lassen sollen. Stattdessen lag ich hier müde und träge herum. Ich sah das Problem glasklar und konnte mich doch nicht aufraffen.

Landeinwärts ertönte nun tiefes, langgezogenes Donnergrollen, ein kühler Wind strich plötzlich über uns hinweg.

„Kommt das hierher?“, hörte ich Maren besorgt fragen.

„Glaube nicht. Scheint da hinten längs zu ziehen“, sagte Bernd.

Er behielt recht. Das Donnern wiederholte sich zwar noch ein paarmal, aber es wurde immer leiser. Schließlich hörte es ganz auf, und die Sonne brannte wieder herab wie vorher.

Als wir spätnachmittags zu den Rädern gingen, lösten sich am Horizont gerade die letzten Wolken auf. Noch immer war es drückend und schwül, sodass man sich fragte, wo während des Donnerns der kühle Wind hergekommen war.

In den nächsten Tagen hatten wir nicht mehr so viel Glück mit dem Wetter. Ständig kamen Güsse herab, oft begleitet von Blitz und Donner. Die Terrasse der Stützers wurde nun unser festes Domizil. Kraftlos saßen wir dort jeden Nachmittag rum, laberten, hörten Musik. Die Markise, die zum Schutz vor dem Regen ausgezogen war, tauchte die Szenerie immer in unwirkliches Orange.

Silke kam auf die Terrasse. Sie führte zu Hause gerade ein Einsiedlerdasein, ähnlich wie Bernd. Der Rest ihrer Familie, Kristina inklusive, weilte zurzeit in der Bretagne. Normalerweise hätte auch Silke mitfahren müssen, aber sie war dieses Jahr vom gemeinsamen Urlaub freigestellt worden. Stattdessen plante sie im August mit Jürgen eine Motorroller-Tour durch Dänemark.

Sofort sah man, dass sie mal wieder keinen BH trug. Ich betrachtete gjerig ihre großen Brüste, die im Gegenlicht unter dem Kleid deutlich zu erkennen waren, die dicken Nippel, den leicht vorstehenden Bauch. Ihre erotische Ausstrahlung haute mich jedes Mal wieder um. Aber merkwürdig: So stark die Faszination im ersten Augenblick auch sein mochte – sie war nie von großer Dauer. Eine Explosion der Sinne, die rasch wieder verpuffte.

Bei Maren war das anders. Verglichen mit Silke wirkte sie im ersten Moment unscheinbar, wenig aufregend. Aber wenn ich sie eine Weile beobachtet hatte, war es um mich geschehen. Mein Blick saugte sich regelrecht an ihr fest, ich war wie in Trance, konnte sie stundenlang einfach bloß anschauen und bewundern.

Was war es nur, das sie für mich so unfassbar, so unsagbar anziehend machte? Waren es ihre schlanken, fast dünnen Arme? Oder die zu stämmigen Oberschenkel mit ihrer atemberaubend glatten Haut? Faszinierte mich der schmale, sonnengebräunte Nacken, auf dem der Badeanzug einen hellen Streifen hinterlassen hatte? Waren es gar die Narben und Schnitte am Oberarm, die sichtbar wurden, sobald der Ärmel ihres T-Shirts ein Stückchen hochrutschte? Sie schien immer schöner zu werden, je länger dieser Sommer dauerte. Und permanent brannte diese Sehnsucht in mir, dieses verzweifelte Gefühl, Maren sei nicht wirklich hier, nur ein Traumbild, das sich wieder auflösen würde.

Bald würde sie mit ihren Eltern auf Italienreise gehen. Ich fuhr zeitgleich nach Föhr, mit Hartmann und dessen Familie. Beide Touren waren lange geplant, und doch nervte es mich gründlich, dass wir geschlagene zwei Wochen getrennt sein sollten. Auch dass ich sie gerade jeden Tag mit der Clique teilen musste, stieß mir sauer auf. Warum wollte sie immer hier bei den anderen sein? Warum durfte ich sie nie für mich haben? Es war, als treibe sie unaufhaltsam davon. Mittlerweile hatte ich den leisen Verdacht, sie wolle nicht mehr so gern mit mir allein sein.

Andererseits: Weshalb wollte ich mich plötzlich mit Maren abkapseln? Wir waren immer mal unter uns, mal mit den anderen zusammen gewesen. Genau dieser Wechsel war doch das Interessante, Spannende. Sich einzuigeln wie ein altes Ehepaar – wozu sollte das gut sein?

Bernd rückte Maren gerade mal wieder ziemlich auf die Pelle. Verdammt, wie dieser Typ mich nervte! Ständig machte er an ihr herum. Kitzelte sie, piekste ihr in die Seite, kniff sie. Jetzt nestelte zur Abwechslung mal an ihrer Haarspange rum. Und plopp – sie sprang auf, der Knoten über dem Nacken löste sich, das Haar rauschte herab.

„Toll, Bernd! Und nun?“ Marens grüne Augen funkelten ihn an, ihre Miene schwankte zwischen Genervtheit und Belustigung.

„Wollte mal sehen, was passiert“, grinste er.

Silke erzählte, dass Maren vormittags bei ihr vorbeigekommen war, mit einer Ladung Wäsche, weil bei ihr zu Hause gerade die Maschine streikte. Silke hatte sowieso waschen wollen, schmutzige Sachen von Kristina. Sie warfen alles in die Maschine, anschließend frühstückten sie erst einmal ausgiebig. Als Maren gerade draußen war, klingelte es – Bernd stand vor der Tür. Er langweilte sich. Dann könne er ja schon mal anfangen, Kristinas Wäsche im Garten aufzuhängen, schlug Silke vor, die ihn loswerden wollte, um in Ruhe mit Maren weiter zu frühstücken. Allerdings hatte sie vergessen, dass nicht nur Kristinas Wäsche in der Maschine war, sondern auch Marens. Als die beiden in den Garten kamen, war Bernd gerade dabei, in Seelenruhe die Slips von Maren im Gegenlicht zu studieren.

Alle grölten los. „Was kann ich dafür, wenn ich die Wäsche aufhängen muss?“, verteidigte sich Bernd. „Endlich mal gute, interessante Slips! Echt was anderes als Kristinas Billigslips mit ihren Blümchenmustern. Sogar mit Spitze waren welche dabei. Teilweise durchsichtig und so. Echt geil.“

„Ja, Bernd, erzähl's doch bitte noch genauer“, rief Maren. Wieder war sie sichtlich hin und hergerissen zwischen Genervtheit und Mitlachen.

Ich versuchte, ganz ruhig zu bleiben. Sei vernünftig, sagte ich mir immer wieder. Hatte er irgendwas gesehen, das ich noch nicht kannte? Ach verdammt, Marens Unterwäsche ging ihn einfach nichts an! Der Kerl hatte aber auch ein Glück – sogar beim Wäscheaufhängen!

Maren saß inzwischen auf dem Boden, stütze sich mit dem Ellenbogen auf Bernds Oberschenkel ab. Ich wusste, dass der Umgang zwischen den beiden total ungezwungen und vertraut war. Sie kannten sich halt schon ewig. Eigentlich war da nichts, woran ich mich hätte stören sollen. Oder doch?

Nach der Aktion mit der Spange hatte Maren ihr Haar offengelassen. Bernd war das natürlich nicht entgangen: Er hatte sich eine ihrer Strähnen geschnappt und wickelte sie nun fortwährend um seinen Finger. Maren schien das nicht zu stören. Vielleicht machte Bernd das immer bei ihr, und sie hatte sich bereits daran gewöhnt. Aber mir versetzte der Anblick doch einen ziemlich Stich in die Magengegend.

Es war weniger Eifersucht, was ich empfand, als vielmehr Neid. Ich war neidisch auf Bernd, seine Lockerheit, seine Unkompliziertheit und Spontanität. Kristina war verreist und er einsam, also suchte er sich jemanden zum Spielen, in diesem Fall Maren. Mühelos gelang es ihm, ständig um sie zu sein, sie in seine Nähe zu ziehen. Ich selbst war abgeblockt, kam nicht mehr an sie heran. Warum konnte ich nicht so unverkrampft sein wie Bernd? Ganz sicher würde Maren dann jetzt bei mir sitzen und nicht bei ihm.

Ich fühlte mich ihm hoffnungslos unterlegen. Ihm und allen anderen hier in Schönhagen. Ich war minderwertig. Wie Säure fraß sich dieses Gefühl in mich hinein, immer tiefer, bis es zur Gewissheit wurde. Und plötzlich war ich mir nicht mal mehr Marens Liebe sicher. War Bernd nicht viel charmanter, witziger, attraktiver? Bestimmt regten sich in ihr längst tiefere Gefühle für ihn. Sie wollte es eigentlich gar nicht, es war einfach über sie gekommen.

Und bald würde sie mir sagen, dass Schluss war.



***



Die anderen waren ins „Abenteuer-Wunderland“ gefahren, einem Vergnügungspark in der Schönhagener Region. Ich hatte mich entschieden, nicht mitzukommen. Mein Heuschnupfen war in den letzten Tagen ziemlich stark geworden. Ich fühlte mich, als hätte ich hohes Fieber.

Aber mittlerweile wusste ich, dass ich mich hätte zusammenreißen und aufraffen müssen. Schließlich war ich nicht wirklich krank. Allein diese verdammte Allergie machte mich platt.

Ich saß wie auf glühenden Kohlen. Zum Nichtstun verdammt zu sein, und das unnötigerweise, durch eigene Blödheit, war pure Folter. Die ganze Zeit hatte ich das sichere Gefühl, dass da draußen etwas passierte, das ich hätte verhindern müssen.

Und jetzt konnte ich nicht eingreifen, hatte mich selbst schachmatt gesetzt.



***



Wieder war eine große Menschentraube bei Bernd auf der Terrasse versammelt. Aber diesmal hatte ich aufgepasst und einen Platz direkt neben Maren erwischt. Bernd war ausgebootet.

Wie gern ich Maren gezeigt hätte, dass ich sie über alles liebte, dass ein Leben ohne sie für mich nicht vorstellbar war. Aber ich saß nur dort und hielt ihre Hand, streichelte sie wie ein kostbares Stück, das mir gnädigerweise überlassen worden war. Zu mehr traute ich mich nicht. Die ganze Zeit wagte ich nicht, sie in den Arm zu nehmen oder gar zu küssen. Nicht mal in die Augen schauen konnte ich ihr. Es war, als flößte mir eine innere Stimme ein: „Du darfst es nicht. Du bist ihrer unwürdig.“ Wahrscheinlich hatte ich schlicht ein Rad ab.

Der Ausflug ins „Abenteuer-Wunderland“ war wohl ein voller Erfolg gewesen, die vier Ausflügler wurden es nicht müde, davon zu schwärmen. Endlos erzählten Bernd, Jürgen, Silke und Maren von ihren Erlebnissen: der Achterbahn mit ihren fünf Loopings, einer riesigen Schiffsschaukel, dem „Powertower“ und der berühmten Wildwasserbahn. In letztere hatten sich Jürgen und Silke nicht getraut, dafür waren Bernd und Maren gleich dreimal mitgefahren.

Die beiden schienen überhaupt alles zusammen gemacht zu haben. Wie gut, dass ich nicht mitgekommen war, schließlich hätte zu fünft immer einer allein fahren oder passen müssen…

Sie redeten und redeten und wollten gar nicht wieder aufhören. Fast jeder auf der Terrasse schien das „Abenteuer-Wunderland“ zu kennen und konnte eigene Erlebnisse beisteuern. Unmerklich begann sich die Sitzordnung zu verändern, mehr und mehr Leute drängten heran. Erst versuchte ich noch, in Marens Nähe zu bleiben, aber es wurde immer schwieriger. Irgendwann spürte ich, wie sie vorsichtig ihre Hand wegzog. Von da an gab es kein Halten mehr, bald war wieder ein ganzer Pulk Menschen zwischen uns.

Schließlich sah ich sie mit Bernd und Heiner auf dem Boden hocken, sehr weit weg, so weit es ging eigentlich. Machte sie das extra? War das vielleicht ihre Methode, mir zu signalisieren, dass sie sich umentschieden hatte, dass für mich leider Sense war? Es schien fast so.

Die Abendbrotzeit rückte näher. Maren stand auf und schaute wartend zu mir herüber. Ich blieb stur, rührte mich nicht. „Bringst du mich?“, fragte sie und hielt mir die Hand entgegen. Man merkte, dass sie leicht ungehalten war.

Schweigend gingen wir das kurze Stück bis zu ihrer Haustür. Als wir ankamen, fragte sie: „Was ist eigentlich los mit dir?“

Ihre direkte Frage überraschte mich. „Was soll los sein?“, wich ich aus.

„Du hast doch irgendwas.“

Ja, das stimmte. Aber was eigentlich? Ich konnte mein komisches Gefühl, diese Mischung aus Eifersucht, Frust und Wut, einfach nicht in Worte fassen. Außer Rumgedruckse und einem gemurmelten „Keine Ahnung“ brachte ich nicht viel heraus.

„Du musst doch wissen, was mit dir los ist.“

Verdammt, sie hatte ja recht: Etwas passte mir nicht. Aber wie sollte ich es erklären?

Sie selbst war natürlich nie unsicher, wusste immer, was sie wollte, hatte die Dinge jederzeit im Griff. Und ich sollte am besten genauso sein.

Je länger ich über die Situation nachdachte, desto geladener wurde ich. Bei mir war es eben anders! Bei mir war da immer wieder dieses große große Kuddelmuddel aus Gefühlen, dieses Wirrwarr. Sollte ich mich dann jedes Mal in die Ecke stellen und schämen? Mir die Eselsmütze aufsetzen?

Schließlich machte ich vollends dicht, ging auf Frontalangriff: „Nö, alles okay!“ Ich glotzte ihr direkt in die Augen, ziemlich böse.

Der Schuss hatte offenbar gesessen: Sie runzelte die Stirn, man merkte, dass sie unsicher geworden war. Dann begann ihr Blick mich abzutasten, wie auf der Suche nach einer undichten Stelle, einer Schwäche. Aber ich blieb ganz ruhig, gab mir keine Blöße.

Schließlich ließ sie von mir ab. „Du musst es wissen“, seufzte sie leise.

Beim Zurückgehen fühlte ich mich richtig mies. Nun stand wirklich etwas Ungeklärtes zwischen uns – zum ersten Mal.



***



Ich war auf dem Weg ins Dorf, um bei Presse-Söncksen ein bestelltes Buch abzuholen, einen Bildband über die Sahara. Ich hatte den Ziegel in einer Anzeige entdeckt und fand, dass es ein gutes Geburtstagsgeschenk für Klaus war. Henri beteiligte sich.

Immer wieder musste ich an die gestrige Szene mit Maren denken. Mittlerweile ärgerte ich mich total über mich selbst. Warum konnte ich nicht einfach zugeben, dass Bernds Art, sich an sie ranzuschmeißen, mir sauer aufstieß? Dass ich Probleme damit hatte, wie locker sie mit den anderen Jungs umging?

Jedenfalls hatte ich mir fest vorgenommen, nachher offen mit ihr zu quatschen. Und mich für die dämliche Nummer gestern abend zu entschuldigen. In Zukunft wollte ich mich zusammenreißen. Ich sehnte mich so sehr danach, sie wieder in den Armen zu halten, ohne schlechte Hintergedanken, ohne Eifersucht, einfach so.

Gerade war ich an der Grünen Insel vorbei und kam in die Fußgängerzone, da begegnete mir Heiner. „Ist ja witzig“, meinte er, „Maren hab ich eben auch schon getroffen.“

„Wo denn?“, fragte ich hastig. Ich wollte sie unbedingt sehen!

„Am Mühlenteich, mit Rusi.“

Als ich diesen Namen hörte, dachte ich im ersten Augenblick: Ach ja, der ist ja aus der Klapse zurück. Ich hatte die anderen bei Bernd auf der Terrasse schon darüber reden hören. Aber auf einmal spürte ich heftiges Herzklopfen, meine Hände fingen an zu zittern.

„Wo sie hin wollten, haben sie nicht zufällig gesagt?“, fragte ich Heiner. Irgendwie schaffte ich es, ganz cool zu bleiben.

„Nö. Dachte eigentlich, zu Rusi in die Strandstraße. Sah jedenfalls danach aus.“

Eigentlich war Heiner ein schlauer Typ. Jedenfalls wenn es um technische Dinge ging, um Maschinen, Motoren, Elektrik und so Zeugs. Für das, was zwischen Menschen lief, hatte er allerdings überhaupt kein Gespür. Sonst hätte er bestimmt nicht so arglos dahergeplaudert, der gutmütige Trottel.

Als ich am Mühlenteich vorbei zur Strandstraße ging, schlotterte alles an mir. Rusi… warum hatte Maren mir nicht erzählt, dass sie sich wieder mit ihm traf? Wie oft mochten die beiden schon zusammengehockt haben, seit er zurück war?

In der Strandstraße konnte ich keine Menschenseele entdecken. Sicher waren sie längst zu Rusi reingegangen. Leider kannte ich die Hausnummer nicht, sonst hätte ich einfach geklingelt. Meine Phantasie ging mit mir durch. Bestimmt hockten sie gerade einträchtig nebeneinander auf dem Sofa und tranken Tee. Oder sie waren bereits im Bett. Womöglich hatte er ihr heimlich was in die Tasse geschüttet. Mit Drogen kannte er sich ja bestens aus…

In meiner Panik rannte ich kreuz und quer durchs Dorf und fand natürlich keine Spur der beiden. Irgendwann sah ich ein, dass es zwecklos war. Und außerdem total lächerlich. Was trieb ich da eigentlich?

Ich riss mich zusammen. Ging einfach direkt zu ihr und klingelte. Ihre Mutter öffnete. „Nein, Maren ist nicht da“, meinte Frau Sühring lächelnd. Anscheinend freute sie sich, mich mal wieder zu sehen. „Aber zum Mittagessen kommt sie zurück.“

Das war zumindest eine Aussicht. Etwas beruhigter ging nach Hause, setzte mich in meinen Sessel, wartete. Die Zeit schien zu kriechen.

Endlich ging es auf Mittag zu. Mich hielt es nicht mehr auf dem Allerwertesten – ich sprang hoch, latschte wieder zu ihr, klingelte. Sie öffnete selbst die Tür. „Lass uns nach oben gehen.“, sagte ich. Mein Tonfall geriet einen Tick zu laut, zu hektisch. Sie merkte sofort, dass etwas nicht stimmte.

Kaum hatte ich die Zimmertür hinter uns geschlossen, sagte sie auch schon: „Also, was ist los?“

Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, die Sache in Ruhe zu klären, keine falschen Verdächtigungen auszusprechen. Aber ich hatte mich nicht mehr im Griff, platzte sofort los: „Hättest mir wenigstens sagen können, dass ihr euch wieder trefft, Rusi und du!“

Sie sah mich einen Augenblick irritiert an. Dann verstand sie, kam auf mich zu. „Hey, das ist rein freundschaftlich“, sagte sie mit leiser Stimme und strich mir vorsichtig über die Schulter. „Er ist vor ein paar Tagen aus der Klinik entlassen worden. Wir sind ein Stück spazieren gegangen.“

„Heiner meint, ihr seid zu ihm gegangen“, log ich. Was für ein Idiot war ich eigentlich, Heiner so in die Pfanne zu hauen?

Sie seufzte und schaute zur Zimmerdecke. „Ich habe ihn nach Hause gebracht. Und bin noch kurz mit reingegangen, ja.“ Zum ersten Mal klang ihre Stimme leicht gereizt.

Dann ging ihr Blick ins Leere, auf ihrem Gesicht erschien ein gedankenverlorenes Lächeln. Ich kannte es bereits, von unserem Nachmittag am Hünengrab. „Musste Rusis Eltern doch mal ‚Hallo’ sagen. Immerhin bin ich für sie ja so was wie eine Tochter.“

Als ich das hörte, brannten bei mir endgültig die Sicherungen durch. „Ich würd's eigentlich gut finden, wenn du dich überhaupt nicht mehr mit ihm triffst“, versetzte ich. So deutlich hatte ich das nicht sagen wollen. Aber nun war es halt passiert.

„So, würdest du?“ Plötzlich war ihre Stimme kühl geworden. Ich musste schlucken.

Sie drehte sich weg, hantierte hektisch mit ihrem Nähzeug herum. Unwirsch griff sie sich eine Stoffbahn und begann, ein Muster hineinzuschneiden. Einer der Schnitte ging anscheinend daneben, denn mit einem Mal schmiss sie den ganzen Kram von sich und stieß zischend ein „Scheiße!“ aus. Es versetzte mir einen regelrechten Stich. Sie nahm eine Zeitschrift mit Schnittmustern, blätterte wie wild darin herum.

Irgendwann hielt sie in ihrer Bewegung inne und schaute mich fest an. Ihre Stimme war ganz ruhig und hatte dennoch etwas sehr Bestimmtes, fast Einschüchterndes: „Ich will einfach nicht mehr, dass mir irgendjemand sagt, mit wem ich mich treffen soll und mit wem nicht. Diese Tour hatte ich mit Rusi lange genug.“

Das war deutlich gewesen. Wieder musste ich schlucken. Ich war kurz davor, den Rückzug anzutreten, bedingungslos zu kapitulieren. Aber einen letzten Versuch machte ich noch: „Immerhin ist er dein Ex-Lover.“

Sie seufzte wieder, diesmal sehr laut. „Hauke, das ist nicht einfach nur mein ‚Ex-Lover’. Wir kennen uns von klein auf. Er ist fast wie ein Bruder für mich, auch wenn das blöd klingt.“

„Schöner Bruder, so mies, wie er dich behandelt hat!“

„Ja, stimmt“, gab sie zu. „Aber es tut ihm leid. Er hat sich dafür entschuldigt, und ich glaube, er meint's ehrlich.“

Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Ich kann ihn jetzt nicht hängen lassen. Momentan geht's ihm wirklich mies.“

Ich kam ernstlich ins Grübeln. Konnte ich ermessen, wie wichtig die beiden einander waren? Hatte ich jemals mit einem Menschen ein so intensives Verhältnis gehabt? Was verlangte ich da? Mir wurde flau in der Magengegend, das Thema schien mir über den Kopf zu wachsen, zu groß für mich zu werden, zu mächtig. Ich atmete tief durch. Es wird schon irgendwie gehen mit Rusi, sagte ich mir, es muss gehen!

Aber bevor ich einlenken konnte, schoss mir andere Sache durch den Kopf: „Was will eigentlich Bernd von dir?“

Wieder brauchte Maren einen Moment, ehe sie die Anspielung verstand. „Och Hauke, was du meinst, ist ewig her, damit ist Bernd längst durch.“ Sie sprach in einem gutmütig aufmunternden Ton, wie bei einem Kind, einem kleinen, bockigen Jungen. „Das musst du locker sehen. Bernd denkt sich nichts dabei, das läuft bei ihm immer so. Außerdem ist er mit Kristina zusammen. Und Bernd ist treu. Was man von Kristina nicht immer behaupten kann.“

Sie hatte recht. Kristinas Fremdgeherei war geradezu legendär und sorgte im Dorf immer wieder für wildes Getratsche. Bernd hatte deswegen ja sogar Schluss mit ihr gemacht. Aber in den letzten Monaten schien es zwischen den beiden problemlos gelaufen zu sein.

Ich musste unwillkürlich lächeln. Eigentlich hatte ich es selbst nie geglaubt. Maren und Bernd – die beiden passten überhaupt nicht zueinander…

Sie lächelte ebenfalls und strich mir durchs Haar. „Okay?“, fragte sie. Nach kurzem Zögern nickte ich. Der bockige Junge war getröstet. Aber egal, ich war einfach nur froh, dass ich sie endlich wieder in die Arme nehmen und ihre Wärme spüren durfte.



***



Großes Kaffeetrinken bei den Sührings. Marens Vater hatte Geburtstag. Eine Unmenge Verwandter waren zu Besuch gekommen, Omas und Opas, Onkels und Tanten, Cousins und Cousinen.

Alle hatten sich schick gemacht. Die Männer trugen Jacketts, die Frauen, Maren inklusive, waren im Kostüm. Nur ich trug meine normalen Plünnen. Auf die Idee, mich rauszuputzen, war ich überhaupt nicht gekommen, hätte dafür auch gar keine Klamotten gehabt. Und jetzt fühlte ich mich zwischen den ganzen Sonntagsgarderoben völlig fehl am Platz.

Das Kaffeetrinken fand auf der Terrasse statt. Herr Sühring hielt eine Ansprache, bedankte sich bei allen fürs Kommen. Maren saß zwischen ihren Eltern. 'Die heile, glückliche Familie', war mein erster Gedanke bei dem Bild.

Auch mit den Tischmanieren hatte ich meine Probleme. Die Servietten, die als Zylinder zusammengerollt auf dem Teller standen, hielt ich erst für Deko. Ich wollte meine einfach zur Seite schmeißen, als es mit dem Futtern losging. Aber dann sah ich, wie meine Sitznachbarn sie sorgfältig auf den Oberschenkeln drapieren. Beim Essen saßen alle kerzengerade, als hätten sie Besen verschluckt. Verglichen damit hing ich über meinem Teller wie ein Kleiderhaken.

Am meisten nervten die dämlichen Fragen, die von allen Seiten auf mich einprasselten: Was meine Studienpläne waren, welchen Beruf ich mir ausgesucht hatte, ob ich mich beim Bund verpflichten wollte und so weiter. Nein, Sport trieb ich leider nicht. Nein, ich hatte kein Instrument gelernt. Ja, wirklich toll, dass Maren jahrelang Klavierunterricht gehabt hatte.

Auf Dauer wurde das geradezu beklemmend. Ich kam mir wie ein kulturloses, völlig verkorkstes Subjekt vor, das nichts drauf hatte und nichts mitbrachte. Am liebsten wäre ich abgehauen.

Maren hatte ihrem Vater ein Blutdruckmessgerät geschenkt. Reihum musste sich nun jeder Gast prüfen lassen. Marens Blutdruck war okay. Dann kam ich dran. Marens Vater pumpte, blickte auf die Anzeige, runzelte die Stirn. „Zu niedrig.“, verkündete er laut.

„Zeig mal, Hermann“, rief eine alte Schachtel und beugte sich über das Gerät an meinem Arm. Dann wandte sie sich zu mir: „Junge, du solltest besser zum Arzt gehen.“

Jetzt wurde Frau Sühring hellhörig: „So schlimm?“, fragte sie und schaute auf die Anzeige. „Na ja, könnte wirklich n bisschen höher sein, Hauke.“

Eine lautstarke Diskussion über die richtigen Blutdruckwerte entbrannte. Vor allem die Älteren redeten sich die Köpfe heiß. Endlich hatte Herr Sühring Erbarmen mit mir und befreite meinen Arm von dem Gerät.

Kein Wunder, dass mein Blutdruck so niedrig war. Ich hatte mich zuletzt völlig in mir selbst verkrochen, hatte versucht, innerlich zu verschwinden. Aber selbst das war danebengegangen, sie hatten mich in meinem Versteck gefunden und erbarmungslos herausgezerrt. Jetzt konnten es alle sehen und hören: Bei Hauke Jansen stimmte gar nichts, nicht mal der Blutdruck!

Später wurde die Tischtennisplatte aufgestellt. Maren war erstaunlich gut. Ihren Vater, der immerhin mal im Verein gespielt hatte, servierte sie glatt ab. Auch mir flogen die Bälle nur so um die Ohren. Sie waren oft angeschnitten, sprangen nach dem Aufprall in völlig unerwartete Richtungen, sodass ich mit meinem Schläger ins Leere schaufelte. Irgendwann erwischte sie mich auf dem falschen Fuß: Ich rutschte aus und lag im Gras. Verstohlenes Gelächter machte sich breit, jemand rief „Üben!“

Nun kochte es endgültig in mir über. Viel hätte nicht gefehlt, und ich wäre einem der properen Cousins an die Gurgel gegangen. Aber dann hatte ich eine bessere Idee. Betont ruhig und gefasst stand ich auf, legte den Schläger auf die Platte, drehte mich um und ließ die feine Gesellschaft einfach stehen. Statt durchs Haus ging ich durch den Garten und von dort direkt auf den Weg zur Brentanostraße. Zum ersten Mal an diesem Nachmittag spürte ich ein Gefühl der Überlegenheit.

Auf der Straße kam endlich die angestaute Wut heraus. Eine herumliegende Dose musste dran glauben: Wie ein Berserker kickte ich sie durch die Gegend. Einmal flog sie gegen ein parkendes Auto – egal! Wer damit Probleme hatte, sollte rauskommen, dann konnten wir das gleich klären. Aber hinterher bitte nicht das Maul zerreißen über schlimme Zugezogene aus der Stadt.

Zu Hause rannte ich die Treppe hoch, donnerte die Zimmertür hinter mir zu, dass die Wände wackelten. Ich ließ mich in den Sessel fallen und steckte mir endlich eine Fluppe an – die erste seit Stunden, bei den Sührings war Rauchen natürlich absolut tabu gewesen. Während ich dem Qualm nachblickte, der träge durch den Raum zog, beruhigte ich mich allmählich. Das Nagen und Bohren ließ sich nun nicht länger zurückhalten. Ich hätte nicht einfach abhauen dürfen, hätte mir wenigstens eine Ausrede einfallen lassen müssen, um die Form zu wahren. Die Sache würde ein Nachspiel haben, ganz sicher…

Irgendwann ging die Klingel. Die Haustür wurde geöffnet, Schritte polterten die Treppe hoch. Dann klopfte es bei mir, laut, unheilvoll. „Ja?“, brachte ich kläglich heraus.

Als sie ins Zimmer trat, hatten sich ihre grünen Augen seltsam verdunkelt. Das war mehr als nur Wut. Sie war völlig mit den Nerven fertig, brachte kaum zusammenhängende Sätze heraus. Langsam dämmerte es mir, dass dies ein sehr wichtiger Tag für sie gewesen war. Und ich hatte sie einfach hängen lassen. Tiefer Selbsthass brach sich in mir Bahn.

Ich stammelte eine Entschuldigung, aber sie konnte einfach nur jämmerlich, armselig klingen. Es war mir nicht möglich, ihr zu vermitteln, wie sehr ich meine Aktion bereute. Für derartige Gefühle hatte ich einfach keine Worte. Eine dunkle Ahnung beschlich mich: Wer sagte, dass Menschen, die zueinander gehörten, auch wirklich zueinander fanden?

Ob sie denselben Gedanken hatte? Erschrocken sahen wir uns an. Dann fielen wir uns in die Arme, küssten uns, immer wieder. Ich hörte ihr leises Weinen an meinem Ohr. „Mach das nie wieder, okay?“, bat sie mich.

„Okay“, flüsterte ich zurück. Würde ich dieses Versprechen je halten können?

Wir drückten uns, pressten uns aneinander, immer fester, bis es wehtat. Ich spürte ihre Rippen an meinem Körper. Warum konnten wir jetzt nicht miteinander verschmelzen, eins werden? Warum ging das bloß nicht?



***



Kristina war aus der Bretagne zurück. Als ich zu Bernd auf die Terrasse kam, wurde sie gerade von allen Seiten begrüßt. Begeistert erzählte sie von felsigen Küsten, weiten Stränden, einsamen Sandsteinkirchen. Sie hatte uns total vermisst.

Auch heute herrschte auf der Terrasse wieder dichtes Gewusel. Jedes Fleckchen war ausgefüllt mit Leibern. Maren saß auf meinem Schoß. Ihre Fingerspitzen wühlten sich in meine geschlossene Hand und öffneten sie. Die Berührung war so intensiv, dass ich eine Gänsehaut bekam.

Ich musste an unsere gestrige Versöhnungsszene denken. Wie sehr ich es genossen hatte, sie einfach nur zu halten, sie atmen zu hören, ihre warme Wange an meiner zu spüren. Ich hätte ewig mit ihr dort stehenbleiben können. Aber dann überkam mich ein derartiges Gefühl der Lust. Ihr ging es genauso. Eine Art Welle durchlief uns. Aus unseren Umarmungen wurde rasch ein Kämpfen, ein Ringen. Wir begannen, uns gegenseitig auszuziehen, rissen uns die Klamotten regelrecht vom Leibe.

Diesmal war es soweit. Vor lauter Aufregung bekam ich das Kondom nicht drüber, obwohl ich so oft allein geübt hatte. Sie half mir, hatte offensichtlich Erfahrung mit den Dingern, es ging einfach nur flutsch – und schon war es drauf.

An diesem Tag schlief ich zum ersten Mal mit einem Mädchen. Die Lust war fast wie ein Schmerz. Als es mir kam, wühlte ich mich ins Kissen, um den seltsamen Laut zu unterdrücken, der mir entfuhr.

Hinterher fühlte ich mich erschöpft und eigenartig leer. Maren lächelte. Sie wirkte, als würde sie gerade aus weiter Ferne zurückkehren. Ich lächelte zurück, aber es war nur eine Fassade. Eigentlich lag sie allein dort.

Warum hatte es nicht bei der Umarmung bleiben können? Warum hatten wir diesen besonderen Moment nicht ausgekostet? Wir waren uns ganz, ganz nah gewesen, so nah wie niemals zuvor. Aber plötzlich war diese Geilheit gekommen. Was dann geschehen war, hätte ich mit jedem anderen Mädchen genauso haben können…

Und nun saß Maren auf meinem Schoss, hier bei Bernd, und ahnte nichts von meinen düsteren Gedanken. Das Gespräch kam auf die Geburtstagsparty, die vorgestern im Drachenfliegerverein stattgefunden hatte, in der Nähe des Bismarckturms. Ich war nicht eingeladen gewesen, weil die Leute dort, Freunde von Bernd, mich nicht kannten. Begeistert erzählte Silke von den Geländefahrten auf dem Quad.

„Der Hammer war“, sie wandte sich lachend an Maren, „wie Rusi mit dir kreuz und quer über die Startbahn gerast ist. Du hast so laut geschrien, dass man es übers ganze Gelände hören konnte.“

Maren hielt sich die Augen zu, weil es ihr so peinlich war. „Das war die absolute Höllenfahrt!“ gestand sie. Aber dann musste sie ebenfalls lachen.

„Hab schon gehört, dass Rusi wieder da ist“, meinte Kristina, „und dass ihr euch wieder vertragen habt.“

Maren nickte. „Wir hatten ein längeres Gespräch.“

„Es wäre auch verflucht schade gewesen. Ihr seid einfach wie Bruder und Schwester.“ Kristina schien sich richtig zu freuen, als sie das sagte.

Auf einmal hatte ich das Gefühl, mir unbedingt Luft verschaffen zu müssen. Ruckartig und ohne Ansage stemmte ich mich hoch. Sie verlor das Gleichgewicht, ruderte hektisch mit ihren Armen und kam nur ganz knapp wieder auf die Füße. In diesem Augenblick schien etwas zwischen uns zu reißen. Glasklar, mit fast brutaler Deutlichkeit spürte ich, was ich getan hatte. Ich hätte sofort gegensteuern, mich entschuldigen müssen. Aber ich beachtete Marens erschrockenen, vorwurfsvollen Blick nicht, stürmte bloß Richtung Klo davon.

Durch das kleine Klappfenster konnte ich hören, dass es zu regnen angefangen hatte, mal wieder. Ich stand bloß dort und lauschte dem Platschen der Tropfen. Wie beruhigend das klang, wie traurig und schön.

Irgendwann sah ich ein, dass ich mich nicht ewig hier verbarrikadieren konnte. Schon mehrmals hatten Leute an der Tür gerüttelt, weil sie mal mussten. Ich schloss auf und zwang mich, auf die Terrasse zurückzugehen.

Dort war es inzwischen noch voller geworden. Ich fand nur noch einen Platz ganz außen, am Rand der Markise, wo man völlig abseits des Geschehens war. Vom Gespräch bekam ich dort kaum etwas mit. Andauernd ertappte ich mich dabei, dass ich nicht mehr zuhörte, mit den Gedanken abschweifte.

Maren hockte wieder am Boden, zwischen Bernd und Heiner. Letzterer schien ein Auge auf sie geworfen zu haben. Er rückte so nah an sie heran wie es ging, versuchte ihr zu schmeicheln, nett zu ihr zu sein. Aber seine Anbaggerei wirkte armselig. Steif wie eine Zaunlatte saß er auf seinem Stuhl, mit zusammengeklemmten Oberschenkeln und nach innen gedrehten Füßen. Die süßlichen Worte, die er von sich gab, waren mehr als peinlich. Der Typ konnte einem fast Leid tun. Gegen den war ich ja Casanova persönlich!

Kristina kam und setzte sich auf die Seitenlehne meines Stuhls. „Ist was mit Maren und dir?“, fragte sie.

„Wieso?“ Ich wurde rot.

„Sieht zwischen euch jetzt irgendwie so anders aus.“

Ich war erschrocken. Fiel es schon so sehr ins Auge? Gleichzeitig flammte ein Hoffnungsfunken in mir auf. Vielleicht half es ja, jemanden ins Vertrauen zu ziehen? Vielleicht konnte Kristina zwischen uns vermitteln?

Nein, sie würde sich wohl auf Marens Seite schlagen. Für meine komischen Problemchen hatte sie sicher kein Verständnis. Sie würde mich ein bisschen belabern, mit Standardsprüchen abspeisen von wegen, ich solle das alles nicht so eng sehen und so weiter. Das brauchte ich nun wirklich nicht.

Und so zuckte ich bloß mit den Achseln und glotzte ratlos aufs nassglänzende Pflaster des Gartenwegs. Betrachtete die Pfützen, die sich auf dem Rasen gebildet hatten und immer weiter anschwollen. Mit jedem Windstoß bekam ich neue Regenschwaden ab. „Rückt mal zusammen!“, forderte Kristina die Leute auf. „Hauke wird ja total nass.“ Ein lustloses Herumgeschiebe begann. Es brachte nicht viel – hinterher saß ich noch immer im Regen.

Kristina war bald wieder weg. Der Regen verstärkte sich zusehends, meine Hose war bereits bis zu den Oberschenkeln nass. Ich beschloss, rübergehen und eine trockene anzuziehen. Als ich in mein Zimmer kam und die Tür hinter mir schloss, wusste ich, dass ich hierbleiben würde.

Ich hatte genug von Regen und Nässe, konnte die schwüle, elektrisch aufgeladene Atmosphäre bei Bernd nicht mehr ertragen. Stattdessen machte ich Musik an, Meditationsmusik. Ich wollte auf eine Reise gehen, am liebsten nie mehr zurückkehren ins Draußen, ins Hier…



***



Seit mehreren Tagen regnete es bereits. Und es schien kühler geworden zu sein. Wenn ich in meinem Sessel saß, fing ich schnell an zu frieren. Einmal hatte ich die Heizung angedreht, aber sie war kalt geblieben. Wahrscheinlich lief das Aggregat im Keller nicht.

Über eine Woche war die Sache auf Bernds Terrasse nun her. Ich musste mich unbedingt wieder bei den anderen blicken lassen, durfte nicht länger Versteck spielen.

Andererseits: Weshalb kam Maren nicht zu mir? Sie hielt es anscheinend für ausgemachte Sache, dass ich den ersten Schritt tat. Obwohl sie doch diejenige war, die nicht von ihren früheren Lovern abließ, sich alle Türen offenhielt.

Aber diese Rechnung hatte sie ohne mich gemacht. Wenn sie unbedingt ihren Rusi behalten wollte – bitte schön! Sollte sie doch sehen, wie sie mit diesem durchgeknallten Kiffer glücklich wurde!

Sie trieb davon, ich würde sie verlieren. Ich musste etwas tun, sofort!

Weshalb kam sie nicht?



***



Früher Nachmittag. Seit Stunden saß in meinem Zimmer und starrte Löcher in die Luft, wie meistens in letzter Zeit. Muttern und Klaus arbeiteten, Henri streunte mit seinen Kumpels herum. Niemand war da, der mich störte in meiner selbst gewählten Einsiedelei.

Der Dauerregen der letzten Zeit hatte mittlerweile aufgehört, Straßen und Gehwege waren abgetrocknet. Aber noch immer hing ein schwerer, grauer Vorhang am Himmel, der bedrohlich nach neuem Schlechtwetter aussah.

Lautes Türklingeln zerriss die Stille. Ich wusste sofort, wer es war. Endlich! Sie war also doch noch gekommen.

Jetzt brauchte ich nur nach unten zu gehen und die Tür zu öffnen. Wir würden einander gegenüberstehen, uns anlächeln und in die Arme fallen. Alles würde gut werden. Ich meinte bereits ihren Duft wahrzunehmen, nach Seife oder irgendeinem Parfüm …

Aber ich rührte mich nicht. Es ging nicht. Ich war mit einem Mal wie gelähmt, konnte nicht mehr aufstehen.

Wieder klingelte es. Panik stieg in mir hoch – wenn ich jetzt nicht öffnete, ging etwas kaputt zwischen uns, definitiv. Noch konnte ich es verhindern, ich hatte es in der Hand. Nur die paar Schritte runter zur Haustür…

Nein, ich wollte sie zappeln lassen. Sie sollte selbst erleben, wie es war, vor verschlossener Tür zu stehen, zurückgewiesen zu werden.

Abends klingelte es wieder. Als ich hörte, wie Henri aus seinem Zimmer kam, sprang ich auf und blockierte ihm den Weg zur Treppe. „Wenn das Maren ist: Ich bin nicht da! Du hast keine Ahnung, wo ich bin, klar?“, zischte ich.

Rasch nickte er mehrmals hintereinander. Er kannte mich und wusste, dass ich in solchen Momenten keine dämlichen Fragen hören wollte.

Bis eben hatte ich es noch bereut, ihr nachmittags nicht geöffnet zu haben. Aber nun begann mein innerer Kampf aufs Neue: So schnell nahm sie den nächsten Anlauf? Dann konnte der Warnschuss nicht deutlich gewesen sein. Ich musste hart bleiben. Wenn ich jetzt schon einknickte, war ich der Dumme. Sie würde sich im Recht fühlen, womöglich eine Entschuldigung erwarten. Ohne mich, schönen Dank!

Henri kam wieder nach oben.

„Und? War sie's?“, wollte ich wissen.

Er nickte.

„Was hat sie gesagt?“

„Nichts weiter.“

„Will sie noch mal wiederkommen?“

„Hat sie nicht gesagt.“



***



 

Sie klingelte noch häufiger, rief auch ein paarmal an.

Einmal war ich zufällig gerade in Henris Zimmer und sah sie durch den Vorgarten kommen. Außer mir war keiner zu Hause, niemand hörte das Türklingeln. Ich brauchte nur abzuwarten, bis sie es aufgab.

Ein paar Tage später schickte ich Henri vor, ließ mich ein zweites Mal durch ihn verleugnen. Er spielte mit, aber nur sehr unwillig. „Was soll denn das?“, knurrte er hinterher. „Warum machst du das?“

Verdammt, was ging das diesen Kerl an? Eine schier unglaubliche Wut packte mich. Glaubte er etwa, sich einmischen zu dürfen, bloß weil er das erste Treffen zwischen Maren und mir vermittelt hatte?

„Halt die Fresse, du Arsch!“, zischte ich. Am liebsten hätte ich ihm eine reingezimmert, dass es krachte, ihn so lange getreten, bis er nicht mehr aufstand.

Ich lief in mein Zimmer, knallte die Tür hinter mir zu. Was für ein unglaubliches Arschloch war ich eigentlich, was für ein elender Haufen Dreck? Kaum war der Beton der Nordstadt ein bisschen weggekratzt, tauchte prompt die Verwesung auf. Sie zersetzte und zerfraß alles, was mir wichtig war. Und das würde immer so bleiben.

Mein Leben – ich hasste es! Und das Leben hasste mich. Eigentlich war ich schon lange tot.



***



Am nächsten Tag lag ein Brief für mich in der Post – von Maren. Zum ersten Mal sah ich ihre Handschrift: einerseits zierlich und verschnörkelt, halt typisch Mädchen, zugleich aber ungewöhnlich schräg nach rechts verlaufend. Ich wusste nicht, was ich von dem Anblick halten sollte. Er ging so gar nicht mit dem Bild zusammen, das ich von Maren hatte.

Zögernd riss ich den Umschlag auf und las den Brief. Er war nicht lang. Sie fragte, wo ich steckte und bat mich, ihr ein Lebenszeichen zu geben, damit sie endlich wisse, was los sei.

Also hatte ich noch eine Chance bekommen, eine allerletzte. Auf gar keinen Fall durfte ich die vergeigen, sonst war es vorbei. Ich musste mich unbedingt zusammenreißen, alles beiseiteschieben, was zuletzt zwischen uns gewesen war. Was immer sie verlangte – sie sollte es bekommen!

Ich nahm den Weg über die Terrasse und durch den Garten, das ging am schnellsten. Wie kühl es draußen geworden war! Der krasse Wetterumschwung war während meiner Stubenhockerei komplett an mir vorbeigegangen. Ein kurzer, verstohlener Blick auf die Nachbarterrasse: Niemand war dort. Die Gartenmöbel standen zusammengeklappt an der Seite, die Markise war eingezogen. Dann entdeckte ich doch ein letztes Überbleibsel unserer Sitzungen während des Dauerregens: einen randvollen, vergessenen Aschenbecher auf der Fensterbank. Er wirkte wie ein Bild aus einer anderen, längst vergangenen Ära.

Die Straßen waren fast leer, kein bekanntes Gesicht begegnete mir unterwegs. Als ich zum Haus der Sührings kam, schlug mir das Herz bis zum Hals. Und jetzt? Da war der Klingelknopf, ich musste bloß draufdrücken. Oder lieber wieder verduften? Dann gab ich mir einen Ruck – das Ertönen der Türklingel ließ mich regelrecht zusammenzucken.

Nichts rührte sich, und schon keimte Hoffnung in mir auf, dass niemand zu Hause war. Aber dann wurde hinter dem Türglas doch eine Gestalt sichtbar – man erkannte sie sofort am blonden, wehenden Haar.

Im ersten Moment wirkte sie nicht sonderlich begeistert über meinen Anblick. Aber dann überzog doch ein Lächeln ihr Gesicht. Wir gingen in die Küche. Sie fragte, ob ich Tee wolle, sie hätte gerade welchen gekocht.

Wir saßen am Tisch, vor uns die dampfenden Becher. Marens Eltern waren nicht zu Hause. Ihr Vater arbeitete, Frau Sühring war beim Arzt, wegen ihrer Neurodermitis. Als Kind habe sie die ebenfalls gehabt, erzählte Maren, sogar ziemlich schlimm. Mittlerweile sei sie gesund, aber man müsse jederzeit damit rechnen, dass die Symptome wiederkamen. Komisch, dass ich erst jetzt davon erfuhr. Hatte Maren mir vorher wirklich nie davon erzählt? Vermutlich ich hatte es immer verschlafen. Das schien mir nichts Gutes zu verheißen.

Dann quatschten wir über Jürgens Geburtstagsparty am Freitagabend. Wir hatten beide noch kein Geschenk und überlegten gemeinsam, worüber er sich wohl freuen würde. Insgeheim hoffte ich, dass es bei dieser Art von Unterhaltung blieb, dass wir über allgemeine, ungefährliche Themen wieder Kontakt zueinander finden konnten. Ich wollte am liebsten vergessen, was zwischenzeitlich passiert war.

Aber plötzlich wurde ihr Gesicht ernst. „Und du?“, fragte sie. „Wo bist du in letzter Zeit abgeblieben?“ Man hörte deutlich die Wut in ihrer Stimme.

Die abrupte Wendung des Gesprächs überrumpelte mich. Ich brachte keinen Ton mehr heraus, starrte sie nur an.

Sie hätte es andauernd bei mir versucht, erzählte sie. Schließlich hätte sie den Brief geschrieben. „Anders gab's keine Chance, an dich ranzukommen. Du warst wie vom Erdboden verschluckt. Henri hatte auch keine Ahnung, wo du steckst.“

Mein schlechtes Gewissen kam hoch, es wuchs und wuchs. Was konnte ich noch zu meiner Verteidigung vorbringen? Hatte ich nicht die Höchststrafe verdient? Ich versuchte mich an die Ausrede zu erinnern, die ich vorhin noch so akribisch zusammengebastelt hatte, war aber völlig konfus, brachte nur wirres Brabbeln zustande.

Sie unterbrach mich schroff: „Ich hab' da keinen Bock mehr drauf! Ich kann das nicht. So geht das mit uns nicht weiter.“

Und plötzlich war ich abgrundtief angekotzt. „So geht das mit uns nicht weiter“ – wie ich solche Getragenheit hasste! „Mit uns“, sagte sie, dabei war doch klar, dass sie mich meinte. Alles lag allein an mir. Sie war natürlich unschuldig. Sie kam nicht mal auf die Idee, dass sie vielleicht auch Teil des Problems war.

„Willst du Schluss machen?“

Es war mir einfach so rausgerutscht. Meine Kehle fühlte sich auf einmal rau und belegt an. Ich wusste, dass es wie eine Drohung geklungen hatte. Aber genau das hatte es wohl auch sein sollen.

Der Schlag hatte gesessen. Sie wurde unsicher, begann sich zu verhaspeln, wich aus, wiederholte sich… aber langsam fand sie ihr Gleichgewicht wieder. So sei es jedenfalls kein Zustand, erklärte sie, auch wenn es mir vielleicht nicht gut gehe.

Jetzt musste also meine Gesundheit als Begründung herhalten. Hauptsache, der Schwarze Peter blieb an mir hängen. Sie war nicht bereit, auch nur einen Zentimeter zurückzuweichen. Wie eine Wand stand sie dort vor mir und ließ alles an sich abprallen. Mein Zorn wurde immer rasender, überstieg jede Vernunft und Gesprächsbereitschaft. „Kannst ja drüber nachdenken“, schoss es giftig aus mir heraus. „Und Bescheid geben, wie du dich entschieden hast.“

Das war's. Vorbei. Wie ihr jetzt noch vermitteln, dass mir das Versteckspiel der letzten Tage unendlich leid tat? Wie ihr glaubwürdig versichern, dass ich nie mehr ohne sie sein wollte? Nein, es war zu spät. Jetzt konnte ich es nur noch zu Ende bringen.

Ich drückte all meinen Schmerz nieder, machte mich kalt und stumm. Stand auf, ging in den Flur, nahm meine Jacke. Als ich sie anschaute, entdeckte ich in ihrer Miene neben Verzweiflung zum ersten Mal einen Anflug von Resignation. Das bestärkte mich nur noch in meinem Entschluss.

Leise schloss ich die Haustür hinter mir und ging den Weg hinab.



***



Abends rief Hartmann an. Wie ich mich freute, seine Stimme zu hören! Es schien Ewigkeiten her, da wir zuletzt telefoniert hatten.

Wir quatschten über den Föhr-Urlaub, der nächste Woche losging. Eigentlich wollte ich Montagabend in die Nordstadt fahren, aber Hartmann schlug vor, schon Samstag zu kommen, wenn die ganze Truppe das Hafenfest unsicher machte.

Das Hafenfest – na klar! Wie hatte ich das bloß vergessen können? Auf keinen Fall durfte ich da fehlen! Vielleicht konnte Klaus mich am Samstag in die Nordstadt mitnehmen, ich wusste, dass er Spätdienst in der Klinik hatte. Aber zur Not würde ich mit dem Bus fahren. Ohne noch lange zu überlegen sagte ich Hartmann zu, und mit einem Schlag war dieses Gefühl von Dauermüdigkeit wie weggeblasen. Endlich von hier verschwinden! Schönhagen nervte mich nur noch an. All diese wohlerzogenen, selbstbewussten Söhne und Töchter – ich konnte sie nicht länger ertragen. Nie zögerten sie, nie waren sie um eine Antwort verlegen. Und wer nicht nach ihrem Muster funktionierte, lief knallhart auf, war raus.

Es war ein Fehler gewesen, sich überhaupt mit ihnen einzulassen. Ich konnte dabei nur verlieren. Insgeheim hatte ich das längst eingesehen. Diese innere Lähmung der letzten Zeit – sie war in Wirklichkeit eine Weigerung gewesen, die ganze Chose noch länger mitzumachen.

Ich wollte zurück. Zurück in die Nordstadt, wo ich endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Wo ich mich nicht verstellen und verbiegen musste. Wo ich ein auch Stück Scheiße sein durfte und keiner sich drum scherte.

Mir war, als würde ich nach langer Zeit aus einem schweren, wirren Traum erwachen.



***



Freitagnachmittag. Das Telefon klingelte, Jürgen war an der Strippe. Ob er nachher mit mir rechnen könne, wollte er wissen. Verdammt, er feierte ja heute abend in seinen Geburtstag rein! Ich war seit Wochen eingeladen, hatte sogar ein Geschenk gekauft, ein Buch. Aber inzwischen lagen die Dinge anders. Ich hatte mich entschieden, wohin ich gehörte. Auf Jürgens Party zu gehen ergab jetzt schlicht keinen Sinn mehr. Nur blöd, dass ich ihm nicht Bescheid gesagt hatte. Irgendwie hatte ich es total vergessen.

Ich druckste herum, suchte nach Worten. Dass meine Absage nicht die einzige sein würde, machte es nicht gerade leichter: Von Henri wusste ich, dass auch Maren nicht hinging. Angeblich war sie krank, eine Erkältung.

„Muss heute abend leider passen“, murmelte ich. „Hab gerade derben Heuschnupfen.“ Das war nicht mal völlig gelogen, die verdammte Allergie setzte mir gerade wieder ordentlich zu. Trotzdem ärgerte ich mich. Weshalb stand ich nicht zu meiner Entscheidung? Wozu noch dieses Rumeiern?

Einen Augenblick war es still in der Leitung. „Schade“, meinte Jürgen. „Da kann man nichts machen.“

Er sprach ruhig, aber man spürte, dass ihn die Nachricht traf. Auf einmal hätte ich die Zeit am liebsten ein paar Sekunden zurückgedreht, noch mal neu angesetzt.

„Aber bevor du wegfährst“, hörte ich wieder seine Stimme, „sehen wir uns doch noch, oder?“

Nun musste ich schlucken. Er wusste ja gar nicht, dass ich schon morgen abhauen würde, nicht erst am Montag. Wahrscheinlich dachte er, dass alle sich noch einmal sahen, bevor sie sich in sämtliche Winde zerstreuten, ich an die Nordsee, Maren in den sonnigen Süden, er und Silke nach Dänemark…

Ich räusperte mich, riss mich zusammen. „Ja, vielleicht. Falls nicht: Dir und Silke einen schönen Urlaub.“ Dann legte ich schnell auf.

Anschließend saß ich am Schreibtisch und schaute hinaus, auf die Gärten und den Nachbarblock. Immer wieder gingen unten Leute entlang und klingelten bei Jürgen. Aus seinem Zimmer drang schummriges Kerzenlicht. Eigentlich hätte die rote Lampe gut dazu gepasst, aber sie war nicht eingeschaltet.

Viele der Neuankömmlinge kannte ich nicht. Ob sie aus der Schule in Schmölln waren? Mir fiel ein, dass ich Marens Schmöllner Freunde bisher nie getroffen hatte. Überhaupt – da war so vieles an ihr, das es noch immer zu entdecken galt. Dazu würde es jetzt wohl nicht mehr kommen…

Wieder fiel mein Blick auf das Buch, das ich Jürgen hatte schenken wollen. Es war ein Historienschinken, von dessen Autor er mir neulich vorgeschwärmt hatte. Nun hatte ich es nicht mal eingepackt. Es lag einfach so da.

Im Hintergrund lief der Fernseher. Gerade wurden Bilder vom Hafenfest gezeigt, von der Eröffnungsfeier. Politiker und Prominente aus Film, TV und Musik waren gekommen. Immer wieder schwenkte die Kamera übers Wasser und die zahllosen Segelschiffe.

Nein, ich würde definitiv nicht mehr zu Jürgen gehen! Vielleicht konnte ich ihm das Buch nachträglich schenken. Oder ich gab es einfach Klaus, der liebte historische Romane über alles.



***



Klaus trat das Gaspedal durch, ließ den Motor des Ford Taunus aufheulen. Gerade hatten wir Eckhorst hinter uns gelassen. Jetzt ging es auf der Autobahn schnurstracks in die Nordstadt.

Als vorhin die Türme des Ferienzentrums am Horizont verschwanden, hatte das etwas Endgültiges gehabt. Wenn ich Mitte August zurückkam, würde alles ganz anders sein als vorher…

Ein letztes Mal hatte sich mein schlechtes Gewissen gemeldet: Ob es wohl doch besser gewesen wäre, den anderen Bescheid zu sagen? Ich hätte beispielsweise kurz bei Bernd durchklingeln können. Nun wusste niemand, dass ich schon weg war. Andererseits – wer würde mich in Schönhagen noch groß vermissen?

Wir erreichten die Kanalbrücke. Die Silhouette der Nordstadt tauchte auf, die Front aus Hochhäusern, die Weißen Riesen. Ich hatte das Gefühl, als würden sie mich freudig begrüßen, aber ich konnte die Euphorie nicht recht erwidern. Die verwaschene Jeansjacke fühlte sich an meinem Körper fremd und eng an. Seit dem Frühjahr hatte ich sie nicht mehr getragen, seit dem letzten Besuch bei Hartmann, der so plötzlich geendet hatte. Die Aufschläge rochen noch immer nach Rauch und alten Sitzmöbeln.

Klaus wollte mich bis zu Hartmann vor die Tür fahren, wegen meiner schweren Reisetasche. Aber ich stieg lieber am Einkaufszentrum aus, obwohl man von dort noch ein gutes Stück zu laufen hatte. Die Betonfläche draußen vorm Gebäude erschien mir gewaltig. Pausenlos öffneten und schlossen sich die automatischen Türen des Hauptportals, Menschen mit prall gefüllten Tüten hasteten an mir vorbei, eine Bande Knirpse machte auf notdürftig zusammengeflickten Fahrrädern den Parkplatz unsicher. Ich stellte fest, dass ich keinen von ihnen kannte. In der Nordstadt eigentlich nichts Ungewöhnliches, aber mir erschien es plötzlich sehr merkwürdig.

Mit der schweren Reisetasche auf dem Rücken schlich ich durchs Viertel. Es war kühl, der Himmel zeigte sein gewohntes Grau. Die Rasenflächen waren durch die Regengüsse der letzten Zeit zu Schlammwüsten geworden, an den Litfaßsäulen hingen die Plakate halb abgerissen herab. Die Straßen wirkten endlos, die Bürgersteige kamen mir viel breiter vor als früher. Die schroff in die Höhe schießenden Hauswände gaben mir das Gefühl, winzig klein zu sein. Überall standen verwaiste Einkaufswagen herum, teilweise schon verrostet. Komisch, dass mir all diese Sachen früher nie aufgefallen waren…

Aber je länger mein Weg dauerte, desto mehr wich das Gefühl von Fremdheit. Auch meine Jacke fühlte sich endlich wieder wie eine zweite Haut an, statt zu kneifen und zu drücken, wie vorhin bei Klaus im Auto. Dann liefen mir Tappert und Jönck über den Weg. Ich dachte, sie würden mich nicht mehr erkennen, aber von wegen: Sie begrüßten mich lautstark, geradezu begeistert, nahmen mich auf wie einen verlorenen Sohn, der nach langen Jahren endlich aus der Fremde zurückkehrt. Ich war richtig gerührt. Anschließend brauchte ich eine ganze Weile, bis ich mich wieder gefasst hatte und weitergehen konnte.

Der Block der Hartmanns tauchte vor mir auf. Problemlos fand den richtigen Klingelknopf. Ich drückte und wartete auf den Summer. Ließ den Fahrstuhl links liegen, stieg die Treppe hoch, Etage um Etage. Ich wusste, dass Hartmann bereits auf dem Laubengang stehen und mich erwarten würde. Wenn wir uns sahen, würde ich ganz cool bleiben. Dämlich grinsen – das taten bloß Landeier.



***



Die Bahn in die Innenstadt war proppenvoll. Hartmann und Piet mussten sich gerade das Gezeter zweier Opas anhören, weil sie auf Schwerbehindertenplätzen saßen und nicht aufstehen wollten. Ein paar Mädels ergriffen Partei für uns, skandierten Sprüche wie „Rentner raus“ und so. Sie trugen alle ihr Haar hochtoupiert, ihre Jacken waren über und über mit Buttons bepflastert. Die anderen Fahrgäste schauten weg, als ginge sie das alles nichts an. Schließlich mussten die Opas klein beigeben und im Mittelgang stehenbleiben, wo sie sich mühselig an den Haltestangen festklammerten. Man wartete förmlich darauf, dass sie einen Herzkasper bekamen und zusammenklappten.

Tom und die anderen waren schon auf dem Fest. Wir würden sie nachher am Altstadtmarkt treffen und dort erst mal vorglühen. Dann sollte es unters Volk gehen, Rabatz machen, vielleicht jemandem die Fresse polieren. Die Gang aus Schweden war angeblich auch wieder in der Stadt. Letztes Jahr hatten sie rechtzeitig abhauen können, aber heute waren sie fällig.

Der Altstadtmarkt erinnerte an eine riesige, in den Boden eingelassene Wanne. Der Grund war mit Kopfsteinen gepflastert, die Wände zeigten nackten, grauen Beton. Treppen führten nach oben, zu diversen futuristischen Glaspavillons mit Geschäften. Wer das alles schön finden sollte? Niemand wusste es. Ich konnte unsere lärmende Horde schon von weitem sehen. Sie hatten sich in der Mitte des Marktes versammelt, am „Nabel“. Damit war ein dickes Rohr gemeint, das wie ein Schiffskamin geformt war. Wasser sprudelte daraus hervor und lief in ein steinernes, völlig zugemülltes Becken. Der „Nabel“ galt als der Ursprung der Stadt. Keine Ahnung, ob das stimmte.

Mindestens dreißig unserer Leute waren gekommen. Ein paar hatten sich richtig rausgeputzt: Benecke trug einen schwarzen Ledermantel der Waffen-SS, Köpke hatte einen Helm mit Hörnern auf, wie ein Wikinger. Wir wurden johlend begrüßt und sofort mit Fassbier versorgt. Tom hatte seine Zapfanlage mitgebracht. Überall lagen leere Becher herum, einige aus unserer Truppe standen breitbeinig am Beckenrand und pissten, was das Zeug hielt..

Ich registrierte befriedigt, dass sämtliche Festbesucher einen Bogen um uns machten. Klar, die sahen, wer hier der Boss war und wollten keinen Ärger bekommen. Gleichzeitig war da ein bohrendes, nagendes Gefühl von Einsamkeit. Was war denn los, verdammt? Wahrscheinlich musste ich einfach erst wieder reinkommen. Ein paar Bier, und alles würde gut werden.

Plötzlich versetzte mir jemand einen saftigen Tritt in den Arsch. Ich stolperte, beinahe hätte ich mich langgemacht. „Die Schweden!“, schoss es mir durch den Kopf. Ich wollte mich umdrehen und Contra geben, aber schon hagelte es weitere Tritte, eine ganze Salve. Wie ein räudiger Hund wurde ich über den Platz getrieben. Endlich schaffte ich es, mich umzudrehen; ich riss die Fäuste hoch – und traute meinen Augen nicht: Da stand Schwaddi, einer aus unserer eigenen Mannschaft! Sein Blick war schon ziemlich glasig, der Unterkiefer hing ihm leicht herab.

„Ey Schwaddi, ich bin's!“, rief ich. Er schien mich nicht zu hören, holte schwankend aus, wollte mir offenbar eine verplätten. Jetzt explodierte etwas in mir, sämtliche angestaute Wut wollte sich entladen. Ansatzlos schlug ich mit der Rechten zu, wie ein Boxer, in die Fresse, auf den Zinken, die Augen, immer wieder. Irgendwann kippte er, und ich begann auf ihn einzutreten, wollte ihm das Gesicht endgültig zermatschen, zerkloppen, seine Eier zu Brei verarbeiten… da wurde ich von hinten gepackt und weggezogen.

Ich saß auf der Beckenmauer, Wortfetzen drangen zu mir: „Wie er den zerlegt hat… Notarzt holen… für den ist die Party vorbei…“. Nach und nach kam ich wieder zu mir, sah die Bescherung: Schwaddi lag am Boden, wurde von Tom und ein paar anderen verarztet. Sie versuchten ihn vorsichtig aufzurichten; ich sah sein blutüberströmtes Gesicht, hörte das Stöhnen und Jammern… und mir war hundeelend zumute. Aber verflucht – warum hatte Schwaddi das gemacht? Konnte man wirklich so besoffen sein, dass man seine eigenen Leute nicht mehr erkannte? Hartmann und Piet redeten mir gut zu: „Musstest dich schließlich wehren“, „Wenn der Kerl so blöd ist“ und so weiter. Jemand drückte mir ein frisches Bier in die Hand.

Ein paar brachten Schwaddi weg, in die Unfallklinik. Langsam beruhigte ich mich wieder. Die anderen hatten völlig recht: Er war selbst schuld, ich durfte mir wegen so etwas nicht den Abend verderben lassen. Aus den Augen, aus dem Sinn – so war das halt.

Irgendwann rief Tom: „Die Schweden sollen sich in der Gegend um die City-Arena rumtreiben. Lasst uns mal losziehen.“

Unser Tross setzte sich in Bewegung, keiner verlor noch ein Wort über Schwaddi. Es ging durch die Fußgängerzone, vorbei an Fressbuden, Kleinkünstlern, Gauklern. Von diversen Bühnen schallte ohrenbetäubend laute Musik herab. Andauernd gab es Rempeleien zwischen unseren Leuten und den Passanten. Einmal sah ich Tappert und jemand anders ineinander verkeilt am Boden liegen. Hartmann und Benecke trennten die beiden. Ich kickte sämtliche Mülleimer weg, die mir in den Weg kamen, Berge von Essensresten, Dosen, Flaschen ergossen sich über die Gehwegplatten der Fußgängerzone.

Ein Stückchen vor uns tauchte in der Menge immer wieder eine Gruppe Typen mit Strickpullis und Latzhosen in der Menge auf. Scheiß Ökos!, dachte ich und wollte prompt weitermachen, wo ich bei Schwaddi aufgehört hatte. „Los, kommt mit!“, rief Hartmann und Piet zu, aber die beiden lachten bloß. „Vielleicht später“, meinte Hartmann. „Werd erst mal klar im Kopp.“ Ich wollte allein losstürmen, aber sie hielten mich fest, diese Idioten!

An einer Bushaltestelle fing ich an, auf das gläserne Wartehäuschen einzutreten. Einige aus unserer Gruppe machten mit. Irgendwann barsten die Scheiben unter unseren Tritten, das Verbundglas regnete in kleinen Stücken herab. Es war wie eine Befreiung. Endlich stellte sich bei mir die lang erwartete Bierseligkeit ein. Mir wurde alles egal.

Wir kamen zur City-Arena, einer Konzert- und Veranstaltungshalle, die mehr als 10.000 Leute fasste. Zum Hafenfest fand hier immer eine Riesen-Disco statt. Der Eintritt war frei. Wir sammelten uns am Rand der Tanzfläche, auf der bereits heftigst abgehottet wurde. Auch die Ränge waren schwarz von Menschen. Gigantische Spots pflügten mit ihren Lichtfingern durch die brodelnde Menge. Mädchen, die Huckepack auf irgendwelchen Schultern saßen, wurden für Sekundenbruchteile angestrahlt. Die Luft war zum Schneiden dick. Von den Schweden nirgends eine Spur.

Mir wurde ein schäumendes Bier in die Hand gedrückt. Tom und die anderen hatten das nächste Fass angestochen. Wie waren sie mit dem Riesending durch die Kontrollen gekommen? Aber ich war längst zu benebelt, um mir darüber groß Gedanken zu machen. Undeutlich sah ich, wie Thorun neben mir einfach umfiel. Er schlug mit dem Hinterkopf auf die blanken Steinplatten und lallte am Boden herum. Niemand beachtete ihn. Hartmann und Piet waren verschwunden, auch die Mädchen konnte ich nirgends sehen. Tanzten die? Irgendwann war ich oben auf den Rängen. Ich hätte eigentlich dringend aufs Klo gemusst, bekam aber den Weg nicht mehr zusammen. Erschöpft ließ ich mich auf einen der Plastiksitze fallen. Ich legte meine Arme auf die Rückenlehne vor mir, bettete den Kopf darauf und schloss die Augen.

Wirre Bilder stiegen vor mir auf, vermischten sich mit den Geräuschen ringsumher, der Musik, den Stimmen. Ich sah Bernd und Jürgen, wie sie sich mit Hartmann und Piet kloppten. Erst waren sie auf der Grünen Insel, dann am „Nabel“. Ich haute Thorun mit voller Wucht in die Fresse. Er knallte rückwärts aufs Pflaster und blieb liegen. Langsam wälzte sich eine Blutlache unter seinem Kopf hervor. Köpke mit seinem Wikingerhelm stand daneben und glotzte blöde. Tom sah ihn. „Die Schweden!“, brüllte er und rannte weg, floh auf die Ränge. Kristina und Maren liefen dort zwischen den Leuten herum, an der Treppe begegneten sie Gabi und Britta. Alle hielten Plastikbecher in der Hand.

Wahrscheinlich saß ich ziemlich lange dort oben. Als ich aufwachte, fühlte ich mich besser. Aber ich hatte jetzt ernsthaft Druck auf der Blase. Zum Glück wusste ich mittlerweile wieder, wie man zu den Klos kam. Unterwegs kickte ich ständig gegen herumliegende Flaschen und Dosen – diesmal aber unbeabsichtigt. man kam fast nicht durch vor lauter Müll. Im Männerklo war alles vollgekotzt, in der Pissrinne lag ein Typ und und schlummerte selig. Ich fand eine freie Klokabine, pinkelte im Stehen und sah zu, dass ich wieder wegkam. Auf dem Flur hinter den oberen Rängen lagen ebenfalls überall Schnapsleichen. Auf einer der Garderobentheken saß eine Tussi, zwischen ihren Schenkeln einen verschwitzten Typen. Er hatte ihren Rock hochgeschoben und arbeitete sich mit beiden Händen geradewegs in den Slip, der durchsichtig war. Deutlich sah man seine Wurstfinger, wie sie eifrig die Arschbacken kneteten – besonders geil war der Anblick nicht, ehrlich gesagt.

Zurück in der Halle ließ ich den Blick über die Ränge und das Parkett schweifen, auf der Suche nach Hartmann oder sonst einem bekannten Gesicht. Einmal meinte ich Britta auf der Tanzfläche zu sehen, Huckepack bei jemandem auf der Schulter, aber sie war sofort wieder weg. Gegenüber schlängelten sich die Ökos durch die Feiernden. Aber die Lust auf Prügeln war mir vergangen.

Irgendwann gab ich es auf und beschloss, abzuhauen. Hartmann lag sicher längst im Koma. Er hatte bereits morgens angekündigt, heute mal wieder richtig abstürzen zu wollen. Zum Glück hatte mir seine Mutter einen Zweitschlüssel mitgegeben.

Die Uhr auf dem Hallenvorplatz zeigte eins. Auch hier draußen war noch immer der Bär los. Feuerschlucker und Akrobaten zeigten ihr Können. Weiter hinten gab es eine Puppenbühne, auf der ein Stück gespielt wurde. Eine Horde Punks saß einfach auf dem Boden. Sie hatten den Ghettoblaster aufgerissen und tranken Dosenbier. Zwischen ihnen liefen diverse Hunde herum. Am Rand des Vorplatzes übten Skateboarder Sprünge auf die Betonmauer. Überall sah man Ohrringe in phosphoreszierendem Grün leuchten. Sie wurden von fliegenden Händlern verkauft und waren gerade der Renner. Ein letztes Mal schaute ich mich nach Hartmann um. Natürlich vergebens.

Der Nahverkehr fuhr während des Hafenfestes rund um die Uhr. Die Haltestelle war vollgestopft mit Menschen. Zum Glück ließ meine Bahn nicht lange auf sich warten. Ich hätte mich liebend gern hingesetzt, aber freie Plätze waren natürlich Fehlanzeige bei diesen Massen. Nach halbstündiger Fahrt endete die Linie in der Jahn-Siedlung. Der Anschlussbus in die Nordstadt war wie üblich weg; ich musste den restlichen Weg zu Fuß gehen, gleich einer Handvoll weiteren Festbesuchern.

Nach und nach verlief sich das Grüppchen, schließlich war ich allein. Ich dachte kurz an die Solterbeck-Gang, aber dieses Thema war in der Nordstadt schon lange durch. Tatsächlich passierte auf dem letzten Wegstück rein gar nichts mehr. Oben in der Wohnung war es längst dunkel. Ich schlich über den Flur zu Hartmanns Zimmer – niemand war hier, wie schon vermutet. Müde zog ich mir Schlafklamotten an, packte mich auf die altbekannte Gästeliege und schaltete das Licht aus.

Vorhin hatte ich mir sehnlichst ein Bett herbeigewünscht, aber auf einmal war ich hellwach. Durchs das aufgeklappte Fenster hörte man permanentes Brausen und Klopfen. Es kam von den Werften und aus dem Containerhafen, manchmal mischte sich auch das Heulen der nahen Stadtautobahn darunter. Auf der Straße krakeelten ein paar Besoffene. Sie zerschlugen Flaschen, traten gegen Autos. In der Nachbarschaft wurde lauthals gestritten.

Die Geräusche der Nordstadt. Früher hatten sie zu mir gehört, waren ein grundlegender Teil von mir gewesen. Jetzt nicht mehr. Es gab kein Zurück für mich, das wusste ich nun. Auch hier war ich bloß noch ein Fremder, jemand von außerhalb.



***



Ferien an der Nordsee, das hieß: Überfahrt mit der Autofähre von Dagebüll. Bärtige Seeleute in roter Arbeitskleidung, nur Platt redend. Auf dem Oberdeck ein kräftiger Südwest, zur Linken Halligen, flach wie Striche. Am Horizont voraus die grüne Deichlinie und dahinter, ganz klein, Dächer und Baumkronen. Schließlich Einfahrt in den kleinen Hafen. Beim Anlegen ein strenger Geruch nach brackigem Meerwasser und Schiffsdiesel. Die Schotten öffneten sich, ein Strom Fahrzeuge ergoss sich lärmend und qualmend auf die Insel. Danach folgten die Fußgänger – wir waren da.

Ferien an der Nordsee, das hieß auch: Radfahren über flaches, fast baumloses Land. Binnendeiche, durchschnitten von schmalen Teerstraßen. Reetdachhäuser und Windmühlen, auf Warften gebaut. Wattwandern, barfuß, mit hochgekrempelten Hosenbeinen. Menschenleere, endlose Weite. Unter den Füßen kalte Sandrillen, über uns der wolkenzerrissene Himmel.

Der Strand erstreckte sich im Süden und Westen der Insel. Dort badeten wir an den wenigen Sonnentagen, die uns beschert waren. Wir beobachteten Mädchen, suchten uns die schönsten aus. Ich entdeckte eine Blonde, Süße, die mich an Kathrin erinnerte, unsere Brigitte Bardot am KBZ. Nur wirkte sie viel netter, nicht so eingebildet und hochnäsig. Eher wie die Mädchen in Schönhagen. Aber auch nicht so landeimäßig. Irgendwas dazwischen.

Einmal gingen wir in die Feriendisco des Wyker Jugendzentrums und sahen dort die Mädchen vom Strand wieder. Hartmann behauptete steif und fest, die hübsche Blonde würde ihn die ganze Zeit anblinzeln. Aber als der diesjährige Sommerhit gespielt wurde, kam sie zu mir und zog mich hinter sich her auf die Tanzfläche. Oje! Ich war der schlechteste, peinlichste Tänzer der Welt. Hilflos wischte ich mit den Füßen auf dem Parkett hin und her und versuchte einigermaßen im Takt zu bleiben. Aber es schmeichelte mir trotzdem, dass sie mich zum Tanzen geholt hatte und nicht Hartmann.

Ich spürte, dass sie es auf mich abgesehen hatte. Eine Bewegung von mir, die kleinste Reaktion auf ihre Blicke und Gesten, und ich hatte freie Bahn. Warum sollte ich die Gelegenheit nicht nutzen? Es waren Ferien, wen interessierte es, was danach kam?

Doch ich stieg nicht auf das verlockende Angebot ein. Etwas hielt mich zurück. Als das Lied zuende war, zog ich von dannen, ohne die Blonde noch einmal anzuschauen. Hartmann stand am Tresen, eine Flasche Bier in der Hand. „Was ist?“, wunderte er sich. „Geht's nicht weiter?“

„Ich hau ab“, sagte ich und ließ ihn allein. Sollte er sich die Alte doch schnappen.



***



Ferien an der Nordsee, das hieß andererseits: endlose Regentage. Stubenhocken, TV glotzen. Einmal lief ein Special über neue Bands, die oft nur aus zwei Leuten bestanden. Der Sound war rein elektronisch, harte Beats, monotone Sequenzer, alles hammerschnell und gnadenlos laut. Sehr befremdlich wie Leute wie mich, die eher Rockmucke gewohnt waren. Hartmann dagegen war völlig elektrisiert. Er fing an, Pogo zu tanzen, immer wilder und ekstatischer. Bis seine Mutter ihn vehement aufforderte, wieder zur Vernunft zu kommen.

Abends spielten wir immer Skat mit Broder Hansen, unserem Vermieter. Ein Landwirt, wie er im Buche steht: stämmig, gutmütiger Gesichtsausdruck, Latzhose und Gummistiefel, nur Platt redend. Unsere Zockerrunden dauerten immer bis spät in die Nacht, das Bier floss reichlich. Am nächsten Tag war ich jedes Mal ziemlich erledigt. Und um einige Taler ärmer.

Die beiden Ferienwochen vergingen wie im Flug. Unerbittlich rückte der Tag der Abreise heran. Ich hatte keine Idee, was danach kommen würde. Einfach in mein altes Leben zurückzukehren erschien mir mittlerweile unmöglich. Es existierte nicht mehr, war zerbröselt, unter mir weggebrochen, schlicht verschwunden.

Was, wenn ich einfach hierblieb, auf Broders Bauernhof anheuerte? Kühe melken, Mist schaufeln, abends in den Dorfkrug, Korn und Bier trinken, im Winter heißen Grog. Warum ging das nicht? Warum konnte man nicht einfach alles hinter sich lassen, komplett neu anfangen?



***



Unser vorletzter Tag auf der Insel. Ich hatte mir am Fähranleger Pommes gekauft und saß mampfend auf den Deich. Es war Ebbe. Gerade hatte die Fähre abgelegt und pflügte sich durch die schmale Fahrrinne Richtung Festland. Die letzten Tage waren ziemlich windig gewesen, wie ein Vorgeschmack auf den Herbst. Hartmann und ich hatten uns schon auf eine Sturmflut gefreut, aber das Wasser war kaum höher aufgelaufen sonst. Inzwischen hatte sich der Sturm wieder gelegt. Es herrschte nahezu Windstille, auch die Wolken am Himmel waren fast vollständig zur Ruhe gekommen.

Noch immer wirkte der Traum nach, den ich letzte Nacht gehabt hatte. An Details erinnerte ich mich nicht mehr, nur dass Maren darin vorgekommen war. Und jetzt brannte eine schier unerträgliche Sehnsucht in mir. Wie sehr ich sie vermisste! Genauso die Clique. Und auch das Dorf, Schönhagen.

Ich bekam es mit der Angst. Wie hatte ich die ganze Zeit bloß so ruhig sein können? Warum hatte ich nicht gemerkt, wie sehr Maren mir fehlte?

Die Panik steigerte sich immer mehr, wurde zu einem regelrechten Horror. Ich wollte, ich musste so schnell wie möglich zurück. Plötzlich saß ich dort wie auf glühenden Kohlen.

11. Stiller Herbst

Sonntag, der letzte Ferientag. Nachmittags waren wir von Föhr zurückgekommen. In der Nordstadt hatte Klaus mich eingesammelt, nun ging es wieder nach Schönhagen. Hinter Eckhorst, bereits auf der Bundesstraße, drehte ich das Wagenfenster runter. Das Wetter war sonnig und mild, überall leuchteten goldgelbe Stoppelfelder. Wo schon neu ausgesät war, stand frisches, kurzes Gras auf den Äckern.

Meine Torschlusspanik der vergangenen Tage war mittlerweile einem dumpfen, pochenden Schmerz in der Magengegend gewichen. Wie ein Geschwür, das kurz vorm Aufbrechen war. Die Stunde der Wahrheit – unerbittlich rückte sie näher…

Bald tauchten am Horizont die Türme des Ferienzentrums auf, hinter ihnen sah man das glitzernde Band der See. Der Anblick war wunderschön – und zugleich seltsam unbewegt und starr. Wie ein altes Foto, ein Bild aus der Vergangenheit. Das Bild einer Welt, die ich nicht mehr erreichen konnte, deren Eingang für mich jetzt verschlossen war.

Wir passierten das Schönhagener Ortsschild, fuhren den Achterkamp entlang, bogen in die Kleiststraße. Schließlich hielten wir in der Eichendorffstraße. Als ich ausstieg, kam mir alles sehr verändert vor. Die Blumen waren verblüht, die Sträucher begannen sich zu lichten. Es ging bereits deutlich auf den Herbst zu.

Nebenan saß Bernd auf der Gartenbank unterm Küchenfenster und ließ sich die Abendsonne ins Gesicht scheinen. Ich grüßte ihn mit dem langen, gedehnten „Moin!“, das ich mir auf Föhr angewöhnt hatte. Er sagte nichts, grinste mich nur kurz an.

„Wie war die Ernte auf Gut Neudorf?“, fragte ich. „Alles fertig?“ Ich dachte an die vielen Stoppelfelder, die wir unterwegs gesehen hatten.

Er nickte.

„Und? Ordentlich Schotter gemacht?“

Erneut Nicken. Dann ein sehr breites, stolzes Grinsen. „Bis gestern geackert. Die neue Karre ist gebongt.“ Er spielte auf das Motorrad an, das er sich kaufen wollte, wenn er nächstes Jahr volljährig wurde.

„Nicht schlecht.“ Eigentlich interessierte mich sein Biker-Kram nicht die Bohne, aber gerade war mir jedes Thema recht, um ein Gespräch in Gang zu bekommen. Ich klagte über die viel zu kurzen Ferien, den morgigen Schulstart.

„Immer noch besser als Job“, meinte Bernd bloß.

„Und was liegt die nächsten Tage so an?“ Ich versuchte, möglichst arglos zu klingen. Es sollte sich anhören wie eine Frage, die man eben stellt, wenn man längere Zeit weggewesen ist.

Er antwortete nicht. Langsam kriegte ich Schiss. Benahm er sich nicht reichlich seltsam? Irgendwas stimmte hier nicht.

„Morgen um sechs treffen wir uns bei Micha zum Kino“, meinte er nach einer Weile. „Er hat 'nen neuen Film, Zeichentrick. Irgendwas mit 'ner Katze.“

„Kommen da alle?“ Mein Herz raste. Dies war der entscheidende Moment. Bestimmt konnte Bernd sich denken, worauf ich anspielte.

Erneut Schweigen. „Glaub schon“, murmelte er schließlich.

Ich atmete innerlich auf. Okay, bei Micha. Und alle würden kommen – perfekte Bedingungen also, mehr konnte man nicht verlangen.

„Na, dann bis morgen“, sagte ich, so freundschaftlich wie möglich.

Er hob nur die Hand und sonnte sich weiter. Irgendwas war mit ihm los, ganz bestimmt. Oder sah ich Gespenster? Hatte er bloß keinen Bock, sich zu unterhalten? Ich wurde nicht schlau aus ihm.

Oben in meinem Zimmer empfing mich abgestandene Luft. Die Sitzmöbel wirkten schmuddelig und fleckig, das Fenster war fast blind von den Schlieren, die der Regen hinterlassen hatte. Eigentlich hätte ich es öffnen und Sauerstoff hereinlassen sollen, aber ich setzte mich bloß auf die Bettkante und starrte ratlos vor mich hin. Es war, als gehörte ich nicht hierher, wäre bloß zu Gast bei jemand anders. Jemand, den ich schon lange nicht mehr getroffen hatte, der mir fremd geworden war.

Morgen würde die Schule wieder losgehen. Auch dieser Gedanke fühlte sich merkwürdig an. Ich konnte mich kaum noch erinnern, wie es dort gewesen war. Vor den Sommerferien – das war eine unfassbar weit zurückliegende, vollkommen andere Zeit…

Ich ging runter in die Küche, kochte mir einen Kaffee und schaute nach draußen, auf Michas Haus. Dort fand es also morgen statt, das große Treffen. Ob sich alles wieder zum Guten wenden würde? Ich versuchte mir auszumalen, wie meine Chancen standen, bekam es aber nicht hin. Diese innere Grenze war wieder da, über die ich nicht hinausdenken konnte.



***



Am nächsten Morgen saß ich in meinem gewohnten Bus nach Eckhorst – ein ganz normaler Schultag schien seinen Anfang zu nehmen. Und doch kam mir alles völlig verändert vor, ähnlich wie gestern.

In meiner Klasse nur sonnengebräunte, strahlende Gesichter. Alle schienen sich einen Wolf zu freuen, endlich wieder in die Schule zu dürfen. Einige hatten über die Ferien einen regelrechten Alterssprung hingelegt. Mädchen, die bisher flach wie ein Brett gewesen waren, zeigten auf einmal sehr weibliche Rundungen. Jungen, die man immer als Milchgesichter bezeichnet hatte, spross jetzt dunkler Flaum auf der Oberlippe.

Unser neuer Klassenraum lag im Souterrain. Er war ein bisschen dunkel, dafür konnte man aus dem Fenster direkt auf den Schulhof klettern, sparte sich den Weg über den Korridor und durchs Foyer. Die Vorgängerklasse hatte uns sogar eine Sitzecke mit Sofas und Sesseln hinterlassen; allerdings entsprach sie wohl nicht den Brandschutz-Bestimmungen und musste demnächst entsorgt werden – schade eigentlich. Unterricht gab es noch keinen. Herr Wahlstedt verlas den Stundenplan und ging die Themen des Schuljahres durch. Bei Herrn Bode, dem Mathe- und Physiklehrer, erzählten wir uns gegenseitig von den Ferien. Nach drei Stunden war der Spuk schon wieder vorbei.

Zu Hause saß ich rum, hörte Musik und wartete, dass es Abend wurde. Der Schmerz in der Magengegend war inzwischen sehr stark geworden. Und immer wieder wurde mir die Luft knapp, wie bei einem Asthmaanfall. Aber es war kein Asthma, das wusste ich nur zu gut…

Und wenn man nachher einfach tat, als wäre alles im Lot? Sich nicht scherte um die Dinge, die zuletzt gelaufen waren? Ich würde zu Micha in den Keller runtergehen und alle begrüßen wie immer. Mich über das Wiedersehen freuen. Silke und Jürgen von ihrer Dänemark-Tour erzählen lassen. Jürgen nachträglich zum Geburtstag gratulieren und ihm endlich sein Buch schenken, das ich mittlerweile eingepackt hatte. Und Maren? Was sollte ich mit ihr anstellen? Sie einfach in die Arme nehmen und ihr einen Kuss geben, noch bevor sie protestieren konnte? Ja, irgendwas in der Art. Es würde schon klappen, jedenfalls, wenn ich die nötige Entschlossenheit aufbrachte und zugleich locker blieb, meinen Charme spielen ließ. Das bisschen, das ich besaß.

Es war soweit. Ich nahm die Jacke vom Haken, machte mich auf den Weg. Mittlerweile hatte es sich bewölkt, für den Abend war Regen vorhergesagt. Obwohl ich nur winzige Schritte machte, kam das seltsame Architektenhaus rasch näher; es schien sich wie von selbst auf mich zuzubewegen.

Die Haustür stand offen, von unten aus dem Keller drang lautes Stimmengewirr. Es mussten viele Leute gekommen sein. Mit weichen Knien stieg ich die Treppe hinab. Öffnete die Tür. Ging rein.

Sämtliche Gespräche schienen schlagartig zu verstummen, alle Köpfe sich in meine Richtung zu drehen. Es dauerte eine Weile, ehe ich kapierte, dass nichts derartiges geschah. Niemand registrierte mein Eintreten, die Lautstärke nahm keinen Deut ab. Überall hockten Leute in Grüppchen zusammen und quatschten angeregt. Der Raum war bereits stark verqualmt, im Hintergrund sägte Hardrock-Mucke vor sich hin.

Ich entdeckte Alex, Micha und Schohl. Keiner der drei reagierte auf mein zaghaftes „Moin“. Wobei sie sich gerade leidenschaftlich über irgendwelche Gitarrenmarken stritten und nicht viel mitbekamen vom Treiben ringsherum. Ich stellte mich einfach dazu und mimte den interessierten Laien. Wenigstens ein Anfang, dachte ich, wenigstens schon mal drin.

Vorsichtig ließ ich den Blick durch das Kellergewölbe schweifen. Dort, wo normalerweise das Schlagzeug stand, war der Projektor aufgebaut. Als Leinwand diente ein altes Laken, auf das bereits ein Standbild projiziert wurde: die Köpfe von Che Guevara und Bob Marley, beide mit einem qualmenden Joint im Mundwinkel. Über ihnen prangte das Logo der RAF: ein blutroter, fünfzackiger Stern mit einer Maschinenpistole in der Mitte. Den Hintergrund bildeten, etwas abgeschwächt, die Farben Afrikas: grün, gelb und rot.

Endlich sah ich sie, am anderen Ende des Raumes, im Halbkreis auf dem Boden sitzend: Kristina und Bernd waren dort, auch Silke und Jürgen. Und Maren. Wie braun sie geworden war im sonnigen Süden! Und wie schön sie aussah: Ein zartes Rot überzog ihre Wangen, das selbst im kalten Neonlicht des Kellers seltsam anrührte. Und dieses Haar – es leuchtete heller als alle Weizenfelder der Region zusammen, man mochte es kaum glauben.

Alle unterhielten sich angeregt, keiner von ihnen achtete auf die anderen Leute. Wenig erstaunlich, denn dies war vermutlich ihr erstes Treffen seit langem. Maren hatte die letzten 14 Tage mit ihren Eltern in der Toskana verbracht, Jürgen und Silke waren erst gestern abend von ihrer Dänemark-Tour zurückgekommen, und Bernd hatte die ganze Zeit auf Gut Neudorf gearbeitet.

Gerade wollte ich mich aufraffen und zu ihnen gehen, da begann der Projektor zu rattern. Das Licht erlosch, wirres Geflimmer überlagerte die Konterfeis von Bob Marley und Che Guevara, aus den Lautsprechern begannen die ersten Stimmen zu quaken. Das Gerede im Raum erstarb, und alle wandten sich der Leinwand zu, auf der in dicken Lettern der Filmtitel erschien: „Fritz The Cat“.

Normalerweise war ich gierig auf Filme. Gierig auf die Fantasiewelt, die sie entstehen ließen. Normalerweise war ich der erste, der alles um sich herum vergaß, sobald ein Film begann. Und auch jetzt starrte ich sofort gebannt auf die Leinwand, kaum dass dort die erste Totale zu sehen war: eine in düsterem Schwarzweiß gezeichnete Straßenschlucht.

Aber schon bald verlor ich die Konzentration. Immer stärker wurden die mittlerweile grellbunten Filmbilder überlagert von den Eindrücken in meinem Kopf: der verqualmte Raum, die aufgeladene, hektische Stimmung unter den Leuten, das Hickhack zwischen Micha, Schohl und Alex, schließlich die Clique in ihrer Ecke, weit, weit von mir weg. Und ich konnte nichts machen, war zur Untätigkeit verdammt: Die Dunkelheit und der flackernde Lichtstrahl des Projektors schrieben den momentanen Zustand fest.

Nach einer gefühlten Ewigkeit war endlich Schluss. Die abrupt aufflammenden Neonröhren an der Decke erschien mir wie Spots, die sich auf mich richteten. Jetzt kam's drauf an. Bloß nichts verkehrt machen, nichts vermasseln. Ich stand auf, biss die Zähne so fest zusammen, dass ich meinte, sie knirschen zu hören. Als ich Richtung Clique ging, war es, als müsste ich mich einen steilen Berg hochquälen. Ich kam fast nicht voran, drohte immer wieder abwärts zu rutschen.

Dann war ich bei ihnen. Erst nahmen sie keine Notiz von mir. Ich räusperte mich, brachte ein krächzendes „Hallo“ heraus. Die ersten Blicke wendeten sich in meine Richtung, ziemlich unsicher und verlegen, wie mir schien. Maren stand noch immer mit dem Rücken zu mir. Endlich drehte sie sich um, erkannte mich erst nicht – und zuckte dann sichtbar zusammen. Auf ihrem Gesicht entstand ein schwaches, gequältes Lächeln.

Sie hielt nicht lange durch, wandte sich rasch wieder ab. Ich blieb dennoch stehen, zwang mich, gute Miene zu machen, dem Gespräch zu folgen. Aber ich konnte nichts mehr verstehen, war plötzlich fast taub, hatte auch so ein komisches Pfeifen im Ohr, wie nach einem lauten Knall, einer Detonation…

Gegenüber lehnte ein alter, eingestaubter Garderobenspiegel an der Wand, der unsere Gruppe zeigte. Alle waren deutlich zu erkennen: Jürgen, Bernd, Silke, Kristina, Maren. Nur ich fehlte, als hätte jemand mich aus dem Kreis herausgeschnitten. Sicher war ich bloß verdeckt von den anderen, immerhin stand ich ziemlich weit am Rand. Und doch wusste ich, dass der Spiegel die Wahrheit sagte: Ich war nicht mehr anwesend, nur noch ein Geist aus vergangenen Zeiten ohne Spiegelbild.

Jetzt wachte ich endlich auf. „Tschüss“, murmelte ich leise und verließ fluchtartig Michas Bude. Rannte die Treppe hoch, stolperte ins Freie. Draußen war ich wie geblendet, trotz der Dämmerung, die mittlerweile eingesetzt hatte. Bleischwere Wolken zogen über den Himmel.

Während des kurzen Rückwegs begann es zu regnen.



***



Am darauffolgenden Nachmittag kam Jürgen vorbei. Großes Aufatmen! Wenn jemand mir helfen konnte, dann er. Ich hatte es immer gewusst: Er war die Brücke, über die ich endlich zurückkehren würde, zu den anderen, zu Maren…

„Wie war eure Fahrt nach Dänemark? Hat das Wetter mitgespielt?“ Endlich konnte ich ihm all die Fragen stellen, die ich mir bereits für das Treffen bei Micha zurecht gelegt hatte. Auch das eingepackte Buch überreichte ich ihm. Dann berichtete ich, was bei mir alles so passiert war in letzter Zeit. Erzählte vom Hafenfest und von der Fahrt nach Föhr. Ach ja, von Hartmann sollte ich ihn auch grüßen. Alles war genauso, wie ich es mir vorgestellt hatte.

Bis auf einmal das Lächeln aus Jürgens Gesicht verschwand. „Ich hab' da noch was“, sagte er, fischte einen Brief aus seiner Jackentasche und legte ihn zwischen uns auf den Tisch. Der Umschlag war weiß, an der Seite erkannte ich zwei mit roter Farbe gezeichnete Palmen. „An Hauke“ stand neben ihnen, ebenfalls in roter Tinte. Die Buchstaben waren zierlich und neigten sich zugleich auffallend nach rechts. „Wollte ich dir eigentlich schon vorm Urlaub geben“, meinte Jürgen, „aber du warst ja Hals über Kopf verschwunden.“

Ich wagte nicht, den Brief anzurühren, ließ ihn einfach auf dem Tisch liegen, als wäre er gefährlich, explosiv. Stand auf, wechselte die Musik, zündete mir eine neue Zigarette an, quatschte einfach weiter. Über die Schule, Jürgens Motorroller, schließlich sogar über die Freiwillige Feuerwehr. Er berichtete von einem Alarm, den es am Tag nach meiner Abreise gegeben hatte. Bloß ein Zimmerbrand in Hoheneck, nichts Großes.

Irgendwann hielt ich die Anspannung nicht länger aus. Ich hechtete nach dem Brief, murmelte etwas wie „Bin kurz draußen“ und ging rüber in Henris Zimmer, der gerade nicht da war. Hastig riss ich den Brief auf. Weißes, neutrales Papier kam zum Vorschein, mit derselben Tinte beschrieben wie wie der Umschlag. Und wieder diese zierliche, auffallend schräge Handschrift.

Die ersten Absätze waren allgemein gehalten. Sie erzählte, wie sehr sie sich auf Italien freue, wünschte mir eine schöne Zeit an der Nordsee und so weiter. Ich fragte mich bereits, worauf sie hinauswollte, als endlich die entscheidenden Sätze kamen:

Ich habe lange über uns nachgedacht, und es fällt mir nicht leicht, dir diese Zeilen zu schreiben. Warum hast du dich so verändert? Wo bist du? Ich kann dich einfach nicht mehr erreichen. Ich habe Dich noch immer sehr, sehr gern, aber ich möchte nicht, dass es so weitergeht. Lass uns versuchen, einfach Freunde zu sein. Okay?

Alles Liebe,

Maren“

Als ich ins Zimmer zurückkam, schaute Jürgen mich mit ernstem und leicht betroffenen Blick an. Ob er wusste, was in dem Brief stand?

Ich kam mir plötzlich vor wie der Hauptdarsteller in einem Film. Großes Melodram, alle starrten gebannt auf die Leinwand, auf mich, warteten, dass ich zusammenbrach, in Tränen zerfloss. Jeden Moment würde das Geigencrescendo einsetzen…

Aber nichts passierte. Ich sah nur geistesabwesend zum Fenster hinaus, betrachtete den stillen, grauen Himmel. Gerade begann ein Musikstück, das ich sehr mochte. Ich sang den Text laut mit, wie immer, wenn ich allein war. Dann fiel mir ein, dass Jürgen ja noch dort saß. Ich schaltete die Musik ab und starrte weiter aus dem Fenster. Mir fiel nichts mehr ein, worüber man noch hätte quatschen können.

Irgendwann stand er auf. „Ich will los. Lass dich mal wieder sehen.“

„Klar“, meinte ich, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden. Die Tür klappte zu – der Raum hinter mir war leer.



***



Ich saß den ganzen Abend nur da. Von Zeit zu Zeit griff ich nach dem Brief und las ihn von neuem. Natürlich kapierte ich, was die Sätze bedeuteten. Aber noch immer konnte ich nichts fühlen.

Einmal musste ich an den vorletzten Tag auf Föhr zurückdenken, meine Pommes-Mahlzeit auf dem Deich. Wie ich plötzlich diese Todesangst bekommen und schnellstmöglich nach Hause gewollt hatte, um irgendwie zu retten, was zu retten war. Ich Volldepp hatte mir da noch ernsthaft Hoffnungen gemacht, obwohl zu diesem Zeitpunkt der Brief längst geschrieben, alles zu spät gewesen war, tot und begraben… dann riss der Gedankenfaden ab, die Leinwand wurde wieder dunkel. Ich saß taub und leer dort, zu keiner inneren Regung fähig.

Pünktlich um zehn ging ich ins Bett und wurde, anders als erwartet, sofort müde. An der Schwelle zum Einschlafen, wenn die Gedanken allmählich verschwimmen, sich vermischen mit Bildern, Impressionen, Gefühlen des Unterbewusstseins, schien etwas unvermittelt einzurasten, klar zu werden…

Blitzschnell zuckte ich wieder hoch. Gerade hatte sich die Hölle vor mir aufgetan! Sie war ganz nahe, nur eine hauchdünne Schicht trennte mich von ihr! Auf keinen Fall durfte ich wieder einschlafen, musste mich unbedingt in Acht nehmen, sonst war es aus…

Ich versuchte, munter zu bleiben, kämpfte regelrecht gegen die Müdigkeit. Aber schon begann wieder dieses Schweben, ich wurde leicht, glitt davon… und bekam erneut nur ganz knapp die Kurve.

Schließlich gab ich es auf, ließ einfach los, sank hinab. Verworrene Träume lösten sich aus dem Dunkel: Maren, bleich und tot am Boden, ertrunken, das Haar und die Kleidung völlig durchnässt. Das Land ist verwüstet, zerrissen, zerschmettert. Woher sind plötzlich die Wassermassen gekommen? Niemand ahnt, dass ich der Urheber des Unglücks bin. Ich habe das Schleusentor hochgezogen, die Flutwelle ausgelöst.

Zwischendurch wurde ich oft wach. Meistens fand ich mich in meinem Bett wieder, aber einmal lief ich in der Küche herum, ein anderes Mal war ich sogar draußen vorm Haus.

Die Träume gingen weiter. Die Zeit ist zurückgedreht, das Geschehene ungeschehen gemacht. Maren ist heimgekehrt, ich habe sie wieder, gottlob! Mit aller Kraft presse ich sie an mich, will mit ihr verschmelzen, endlich eins mit ihr werden. Auf einmal spüre ich, dass ich sie zerdrücke, alles Leben aus ihr herauspresse wie Luft aus einer Puppe. Ich halte nur noch eine schlaffe, eingefallene Hülle mit leeren Augenhöhlen in den Händen.



***



Am nächsten Morgen war ich krank und konnte nicht in die Schule. Das Fieber stieg immer weiter. Abends kam der Arzt. Er meinte, eine Virusgrippe hätte mich erwischt, und gab mir eine Spritze in den Arsch, von der mir kotzübel wurde.

Nachts begannen wieder die Träume. Ich stehe vor Maren, flehe sie um Vergebung an. Ihre grünen Augen werden immer dunkler und verzweifelter. Schließlich explodieren sie, zerplatzen, Scherben fliegen umher wie Schrapnelle. Ich versuche zu fliehen, aber meine Glieder sind schwer, ich bin wie gelähmt. Dennoch gebe ich nicht auf. Als ich schon hoffe, in Sicherheit zu sein, erwischt mich doch noch ein Splitter am Hals. Ein kurzer, tiefer Schnitt, und der Blutstrom beginnt zu fließen. Er ist so druckvoll und heftig, dass ich ihn mit den Händen nicht zurückhalten kann. Langsam pulsiert das Leben aus mir heraus. Ich spüre tiefe Genugtuung und Befriedigung, denn für die anderen wird es viel schlimmer sein als für mich.



***



Noch einige Tage vergingen, bis das Fieber endlich gesunken war. Bald konnte ich wieder fernsehen und lesen, ohne sofort einen Drehwurm zu kriegen. Als auch mein Appetit zurückkehrte, hatte ich das Gefühl, über den Berg zu sein. Schließlich stand ich wieder auf.

Das Wetter war in diesen Tagen grau, aber mild. Ich stand oft in der Küche am Fenster und schaute hinaus. Aber ich sah kaum Leute.

Ich musste versuchen, neue Freunde zu finden. Auch wenn ich noch keine Ahnung hatte, wie. Vielleicht über die Alte Mühle? Nein, lieber über die Schule, da war der Abstand größer. Wie früher würde es eh nicht mehr werden.

Zu Jürgen und den anderen jedenfalls würde ich nicht mehr gehen. Was sollte ich dort noch? Was war mir die Clique ohne Maren? Ohne sie war alles sinnlos. Dass ich nicht irgendein guter Freund sein konnte, wie sie es vorgeschlagen hatte, war mir inzwischen klar. Sie vor mir zu sehen und nicht küssen, sie nicht mal mehr berühren zu dürfen – das war, wie von vorn zu beginnen, diesmal allerdings in der schlechteren Variante. Die andere, schöne, große war nur ein Irrtum gewesen, reines Wunschdenken, komplett unrealistisch.

Nein, niemals! Um nichts in dieser Welt!

Wir waren zusammen gewesen, hatten uns berührt, geküsst, alles. Selbst wenn es jetzt nur noch wie ein kurzer Moment wirkte, ein Lidschlag im Zeitablauf: Es war Wirklichkeit gewesen. Das anfangs schier Undenkbare war tatsächlich passiert. Das konnte mir keiner mehr nehmen.

Doch, einer konnte es: ich selbst, wenn ich die andere Möglichkeit akzeptierte. Dann hätte sich tatsächlich alles zerstäubt, zersetzt, aufgelöst. Als wäre es nie geschehen. Aber das würde ich nicht tun.

Nur blöd, dass die beiden Briefe verschwunden waren, die Maren mir geschrieben hatte. Auch den blauen Stein konnte ich nirgends mehr finden. Ich musste die Sachen in einem Anfall geistiger Umnachtung weggeworfen haben. Leider war die Mülltonne inzwischen geleert worden.

Wenn ich wenigstens ein Foto von ihr gehabt hätte! Aber das ständige Geknipse der anderen ging mir generell auf den Zeiger, deshalb besaß ich von niemandem irgendwelche Bilder, nicht mal von Hartmann.

Und so existierte jetzt bloß noch ein einziger Beweis, dass die Zeit mit Maren keine Ausgeburt meiner Phantasie war, sondern wirklich und wahrhaftig stattgefunden hatte: die Inschrift im Geisterhaus, an der Wand des Festsaals. Ausgerechnet!

Ich konnte die Gravur deutlich vor mir sehen: „HAUKE + MAREN“, eingeschrieben in ein großes Herz, das von einem Pfeil durchstochen war.



***



Es war an einem der folgenden Tage. Ich saß in meinem Zimmer und las. Das Fenster war aufgeklappt, herbstlich frische Luft wehte herein. Irgendwann hörte man Stimmen von unten aus dem Garten. Ich stand auf und sah Henri im Apfelbaum sitzen. Er pflückte eifrig, neben sich im Geäst einen Eimer, die Trittleiter stand gegen den Stamm gelehnt. Klaus war dabei, herabgefallene Äpfel vom Rasen aufzusammeln.

Eigentlich hatte ich ja mitmachen wollen, wie damals beim Efeu-Schneiden, aber das Obst war überreif, fiel schon vom Baum. Sie hatten nicht mehr länger warten können. Ob ich runtergehen und helfen sollte, jedenfalls ein bisschen? Aber dann ließ ich es bleiben. Ich war einfach noch zu schlapp; wenn ich nicht aufpasste, wurde ich womöglich wieder krank.

All das Gute, das sich dieses Jahr entwickelt hatte, schien dahin – es sollte wohl so sein.



***



Bald wagte ich draußen die ersten Schritte. Ich hatte das Gefühl, sehr lange fort gewesen zu sein.

Schließlich fuhr ich auch wieder zur Schule. Jetzt war ich froh, auf dem Eckhorster Gymnasium zu sein, nicht auf dem Schmöllner, wo man ständig Leuten aus Schönhagen begegnet wäre. Schade nur, dass das Wilhelm-Gymnasium keine Ganztagsschule war, wie früher das KBZ. Dann hätte ich bis abends dort bleiben können, anstatt schon um die Mittagszeit wieder nach Hause fahren zu müssen.

Nachmittags saß ich immer stundenlang in meinem Zimmer herum. In die Alte Mühle zu gehen, wie eigentlich angedacht, hatte ich nie den Mut. Mittlerweile kam mir die Idee, sich dort an Leute zu halten, die nichts mit der Clique verband, sehr naiv vor. Alles hing hier mit allem zusammen. Man konnte sich nicht einfach irgendein Stück herauspicken, so wie in der Nordstadt.

Deshalb blieb ich lieber hier drinnen, starrte aus dem Fenster und machte ansonsten gar nichts. Jeden Tag schickte der Himmel dichten, endlosen Regen. Bald würde endgültig der Herbst einziehen. Ich freute mich darauf, freute mich auf seine melancholische Stimmung, seine Traurigkeit und Düsternis. Der Herbst und ich waren Freunde, wir gehörten definitiv zusammen.

Einmal schaute Jürgen vorbei. Wir saßen ein bisschen zusammen, quatschten über dies und das. Ich solle mich mal wieder blicken lassen, meinte er. Die anderen würden sich freuen, auch Maren. Als er endlich ging, spürte ich plötzlich totale Erschöpfung.

Als hätte ich gerade einen massiven Angriff abgewehrt.



***



Samstags dauerte die Schule jetzt immer bis sage und schreibe halb eins. Wir hatten bereits lautstark protestiert und sogar eine Abordnung zu Dr. Busch entsandt, dem Direx. Aber natürlich war alles beim Alten geblieben.

Für mich, der ich in Schönhagen wohnte, war die Situation besonders ungünstig. Samstags fuhren so gut wie keine Busse von Eckhorst dorthin. Ich musste nach dem Unterricht über eine Stunde warten, bis ich endlich hier wegkam.

Als krönenden Abschluss hatten wir immer eine Doppelstunde Kunst. Kunst bei Frau Staak, einem schmalen, dunkelhaarigen Persönchen mit Mireille-Mathieu-Frisur. Sie wirkte leicht spleenig, als hielte sie sich für ein verkanntes Genie, der das Schicksal die wohlverdiente Künstlerkarriere versagt hatte. Stattdessen musste sie hier ihr Brot verdienen, an einer schnöden Schule, wo ungehobelte Halbwüchsige sie täglich mit Ignoranz und Desinteresse quälten. Aber einen schönen Raum hatte sie bekommen, wenigstens das, als kleines Trostpflaster: weit und licht, unterm Dach, wohin sich nur selten anderes Lehrpersonal verirrte, abgesehen von ihrem Kollegen, Herrn Doose. Ein eigenes, kleines, ungestörtes Reich also. Hier durften wir uns an guten Tagen die Zeit die Zeit mit Pinseln, Kleben und Collagieren vertreiben, an schlechten versuchte Frau Staak uns die großen Kunstepochen nahezubringen. Dann zog sich der Unterricht wie Kaugummi, es ging vom Hundertsten ins Tausendste.

Heute war es besonders schlimm. Die Zeiger der großen Uhr über dem Ausgang schienen wie eingefroren, sie wollten einfach nicht von der Stelle rücken. Mir taten vom vielen Gähnen schon die Kiefergelenke weh, auf der Mappe fand sich kaum noch ein freies Plätzchen für Kritzeleien. Währenddessen leuchtete durch die Dachfenster ein prachtvoller, frühherbstlich-blauer Himmel herein. Man hatte eigentlich nicht mehr daran geglaubt, dass es noch mal schön werden würde. Wie gern hätte mich jetzt draußen irgendwo hingesetzt und mit Licht vollgesogen, mit purer Energie, vielleicht zum letzten Mal in diesem Jahr. Stattdessen war ich hier drinnen eingesperrt, musste mir Frau Staaks Gesülze über den Impressionismus anhören. Es war schlicht zum Heulen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit schrillte endlich die Klingel. Hastig warf ich meine Sachen in den Rucksack und flüchtete. Im Treppenhaus wurde mir mit einem Mal blümerant, ich konnte die vier Etagen nur noch im Kriechgang zurücklegen. Draußen empfing mich eine Hitze wie mitten im Hochsommer. Ich freute mich, endlich im Freien zu sein, aber zugleich war da eine merkwürdige Niedergeschlagenheit, die ich mir nicht erklären konnte. Irgendwie hing es damit zusammen, dass die Zeit einfach verging. Alles verflog, zerstäubte sich, man konnte nichts halten. Auch dieser schöne Tag würde bald schon wieder Vergangenheit sein, ohne dass irgendetwas von ihm zurückblieb.

Als ich zur Haltestelle kam, stiegen die Wartenden gerade allesamt in den Bus nach Schmölln. Die hatten's gut, waren bald zu Hause und konnten das Wochenende genießen. Bei mir würde es sage und schreibe halb vier werden, ehe ich in Schönhagen ankam. Die Türen schlossen sich, lärmend zog der Bus von dannen. Tausend bedauernde Blicke schienen durch die Heckscheibe zurückzugehen zur Haltestelle, wo jetzt nur noch ein einziges armes Schwein ausharrte…

Normalerweise verbrachte ich die Zeit bis zur Abfahrt auf der Mauer neben dem Wartehäuschen. Aber heute war das Wetter einfach zu herrlich, um sich hier eine geschlagene Stunde den Allerwertesten wund zu sitzen. Ich schlurfte zur angrenzenden Rasenfläche, baute mir ein Lager aus Jacke und Schultasche und fläzte mich hin. Durch die geschlossenen Augenlider drang das Sonnenlicht, tauchte alles in blutiges Rot. Und wieder kam diese Traurigkeit hoch, schlimmer als zuvor, dieses lähmende Gefühl, dass mir die Zeit unter den Fingern zerrann…

Beinahe hätte ich die Ankunft meiner Busse überhört. Samstags waren es immer zwei: Einer nahm den direkten Weg über die Bundesstraße, der andere fuhr die Strecke über Norderby und brauchte eine halbe Stunde länger. Normalerweise benutzte ich die schnellere Variante, aber heute reizte mich die Nebenstrecke. Sie war schmal, kurvig und nahm jeden Hügel mit, auf ihr konnte man eintauchen ins Land, ins endlose Grün. Außerdem war ich eh schon so elend spät, dass 30 zusätzliche Minuten auch keine Rolle mehr spielten. Und so stieg ich spontan in diesen Bus.

Zunächst ging es in holpriger Fahrt hinunter zum Fischereihafen, dann an der Bucht entlang. Die Uferpromenade war mit stattlichen Villen gesäumt. Auf der anderen Seite des Wassers, sehr weit entfernt, sah man eine Steilküste unwirklich weiß in der Sonne leuchten, der Horizont über der See verschwamm in der dunstigen Spätsommerluft. Das Bild eines Vaters mit seinen beiden kleinen Jungen sauste an uns vorüber: Die drei ließen unten am Strand einen Papierdrachen steigen. Irgendeine Erinnerung löste der Anblick in mir aus, die sehr alt sein musste… oder war es eher eine Szene aus einem anderen Leben, pastellfarben und verschwommen, wie ein impressionistisches Gemälde?

Die Straße führte jetzt vom Ufer weg einen Hügel hinauf und vorbei an einer roten Backsteinkirche aus Kaisers Zeiten, die zwischen den alten Fischerhäuschen viel zu wuchtig wirkte, zu massiv. Hinter einer Neubausiedlung ging es aus dem Ort hinaus. Die Äcker ringsherum waren längst neu bestellt, leuchteten in frischem, kräftigem Grün. Stoppelfelder sah man nirgends mehr. Zur Rechten tauchte zwischen den Hügeln immer wieder die See auf, mal azurblau, mal silbrig glitzernd.

Wir kamen in ein Waldgebiet. Sonnenstrahlen fielen durchs Laubdach, ein Flackern und Flirren entstand, das in den Augen schmerzte. Wieder im Freien tauchte ein prachtvolles Gebäude auf, ein Schloss geradezu – das Herrenhaus von Gut Friedrichsburg. Ich kannte es bereits von der Radtour mit Maren zum Bismarckturm, aber jetzt war ich viel näher dran als damals. Vorm Haus lag ein spiegelglatter Teich, der das Haus und die umliegenden Bäume verdoppelte – allerdings auf dem Kopf stehend. Und schon war alles wieder hinter uns verschwunden, wie eine Fata Morgana, ein Traumbild.

Irgendwann erreichten wir Norderby, das letzte Dorf vor Schönhagen. Hier hatte ich mich vor Ewigkeiten an einem Haustürkiosk mit Cola und Schokolade versorgt. Wir stoppten, obwohl weder jemand aus- noch einsteigen wollte. Der Fahrer öffnete beide Türen und stellte den Motor ab. Warmer Herbstwind wehte herein – umso besser: Die Luft hier drinnen war während der langen Fahrt doch ziemlich stickig geworden.

Nach einer Weile ging es weiter. Hinter dem Ort wurde das Land sehr flach. Zur Linken zeichneten sich inmitten der Felder nun die Türme des Ferienzentrums ab, dahinter verlief die grüne Deichlinie mit dem glitzernden Band der See. Dann fuhren wir auch schon in die langgezogene Kurve vor Schönhagen, passierten das Ortsschild. Der Bus hoppelte über das Kopfsteinpflaster der alten Dorfstraße. Wir überquerten den Bach, ließen die Wassermühle links liegen. Mit lärmendem Motor ging es den Berg hoch, vorbei an der Kirche mit ihrem zwiebelförmigen Turm und dem Pfarrhaus, dessen Glaslaterne neben dem Eingang das Sonnenlicht widerspiegelte.

Schließlich hielten wir am Bahnhofsgebäude. Das letzte Häuflein Fahrgäste stieg aus und verlief sich rasch. Der Fahrer lenkte den Bus in das kleine Depot neben dem Bahnhof und kam kurz darauf aus dem Gebäude. Er schloss ab und ging davon, laut pfeifend und in der Rechten munter seine Arbeitstasche schwingend.

Wieder allein. Wie konnte man den schönen Nachmittag nutzen? Bestimmt nicht, indem man jetzt nach Hause ging, wie sonst, und dort Löcher in die Luft starrte. Ich schulterte den Rucksack und marschierte einfach los. Irgendetwas zog mich in die Gartenkolonie. Zielstrebig durchquerte ich das Areal mit seiner Handvoll Parzellen, erreichte bald den Pfad entlang des Mühlenbachs. Ich war im Frühsommer zuletzt hier gewesen, bei unserem Picknick. Auf den Feldern zur Linken hatte damals das Korn dicht und hoch gestanden, nun war alles wieder neu bepflanzt. Unter der dünnen Grasschicht zeichneten sich die Ackerfurchen ab, schnurgerade und exakt parallel zueinander den Hügel hochlaufend. Oben sah man die stillgelegte Bahnstrecke nach Eckhorst.

Bald endete der Pfad, ich musste meinen Weg am Bachufer fortsetzen. Bis schließlich ein hoch aufragender Knick jedes Weiterkommen unmöglich machte. Hier setzte ich mich ins Gras; erneut diente der Rucksack mit den Schulsachen als Unterlage, wie schon vorhin an der Haltestelle. Die Sonne war von einer geradezu unwirklichen Wärme, zumal in diesem Winkel, wo sich kaum ein Lüftchen regte. Bloß das Vogelgezwitscher fehlte. Die meisten Zugvögel mussten längst fort sein.

Ich hatte die Grenze erreicht. Hinter dem Knick endete die überschaubare, wohlgeordnete Welt, und jene Hügellandschaft begann, die ich normalerweise nur vom Busfenster aus sah. 'Das Grüne Meer', hatten Maren und ich sie immer genannt, und wirklich schien sie eher Wasser als Land zu sein, ein Ozean, der niemals aufhörte. Das Grüne Meer… seine Verlorenheit durchfloss mich wie eine Energie, die wärmte und zugleich lähmte. Wieder spürte ich diese bleierne Müdigkeit, allmählich fielen mir die Augen zu… und doch war ich wach, wacher als zuvor. Dieses grüne Leuchten ringsum – es war, als wollte die Natur aufbegehren, sich stemmen gegen das Unvermeidliche. Seht her!, schien sie auszurufen, es ist alles falsch, was man erzählt über Herbst und Verblühen, Abschied, Dunkelheit und Kälte. Seht doch selbst! Und man wollte es so gern glaubten – und wusste zugleich, dass es vergeblich war, dass die Zeit unerbittlich weiterlief. Es würde doch Winter werden, wieder Winter. Warum musste immer alles gehen, warum blieb nichts? Wie unsagbar hoffnungslos das alles war… Gefühle begannen in mir aufzuwallen, Töne kamen aus unbekannten Sphären heran, Akkorde, deren schmerzvolle Melancholie kaum auszuhalten war – und trotzdem zwingend, unwiderstehlich, intensiver, größer als die Wirklichkeit. Die Töne, die Musik, die Gefühle – sie waren wie reißende Ströme, stürzende Wasser… ich wollte, musste lernen, darauf zu schwimmen, anders würde ich dem verhängnisvollen Sog in die Tiefe nicht widerstehen können, aber es war schwer, unfassbar schwer, ich spürte, dass ich es erneut nicht schaffen würde, ein weiteres Mal hatte ich den Dreh nicht gefunden, den Durchgang verpasst, die magische Passage, unaufhaltsam wurden die Klänge leiser, die Farben verblassten, das Licht erstarb, zu spät, vorbei… und wieder blieb nur dieser Ozean aus Wehmut, dieses Grüne Meer der Trauer mit seinen wogenden Wellen und Hügeln…

Als ich langsam zurückkam und die Augen öffnete, war die Sonne bereits hinter dem Knick verschwunden. Tau lag auf dem Gras, unangenehme Kälte hatte sich ausgebreitet. Ich raffte mich hoch und musste eine ganze Weile gegen Schwindel und Übelkeit ankämpfen. Mein Rucksack war an der Rückseite völlig durchnässt – hoffentlich nur außen, andernfalls konnte ich die Schulsachen wegschmeißen.

Ich beschloss, nicht durch die Kleingärten in die Siedlung zurückzulaufen, sondern über den Bahndamm. Allerdings schien es keinen Weg nach oben zu geben; mühselig musste ich mich am Feldrand entlang bergauf arbeiten. Als ich endlich das Gleis erreichte, war ich völlig erledigt. Auf dieser Strecke gab es, anders als zum Strand, ein Schotterbett, dessen Steine jetzt die gespeicherte Sonnenwärme abstrahlten – es war ein bisschen, als würde man in den dahingegangenen Tag zurückkehren. Der Himmel über der Bachniederung war inzwischen blutrot gefärbt. Irgendwo da hinten musste auch der Bismarckturm sein, aber ich suchte ihn vergeblich mit Blicken. Er lag wahrscheinlich schon jenseits des Horizonts.

Gerade hatte ich die ersten Tippelschritte über die Holzschwellen gemacht, da betraten auf Höhe der Kleingartenkolonie ein paar Leute die Schiene. Und natürlich latschten sie genau in meine Richtung. Einen blöderen Moment hätten die sich wirklich nicht aussuchen können – ich ertrug gerade absolut keine anderen Menschen!

Und jetzt? Verdünnisieren? Umkehren und in die andere Richtung laufen? Was, wenn ich die Typen nicht los wurde, weil sie bis in den nächsten Ort oder noch weiter wollten? Wo würde ich am Ende landen? Und gerade ging die Sonne unter, bald war es komplett dunkel. Unschlüssig verharrte ich auf der Stelle, sah das Grüppchen immer näherkommen – bis ich sie schließlich erkannte: Es waren Silke, Jürgen, Kristina, Bernd – und Maren! Mir stockte der Atem.

Die Wärme über dem Schotterbett ließ ihre Gestalten immer wieder verschwimmen. Erst schienen sie weit weg, dann wieder unmittelbar vor mir. Manchmal wirkte es, als würden sie ein Stück über dem Boden schweben. Maren lächelte, und doch lag ein Hauch von Melancholie in ihrem Gesicht. Selbst aus dieser Entfernung glaubte ich das Grün ihrer Augen zu erkennen.

Ob sie mich bereits entdeckt hatten? Ich musste schleunigst von hier verduften, sonst lief ich ihnen genau in die Arme! Panisch suchte ich an der Seite nach irgendeiner Fluchtmöglichkeit…

Und plötzlich waren sie verschwunden. Die Schiene zitterte und flimmerte von der Wärme, aber sie war leer. Das Grüppchen hatte sich aufgelöst.

Waren sie auf einen Trampelpfad abgebogen? Hatten sie den Tag im Garten von Jürgens Eltern verbracht und jetzt eine Abkürzung genommen, die ich noch nicht kannte? So musste es sein! Ich hätte versuchen sollen, sie einzuholen, um mich selbst zu überzeugen. Aber es ging nicht – auf einmal war ich wie gelähmt. Steif und stumm stand ich dort, bloß noch eine menschliche Statue.

Als ich endlich weiterging, leuchteten am Himmel bereits die ersten Sterne. Im Kornweg war die Straßenbeleuchtung eingeschaltet, die Luft roch mittlerweile feucht, manchmal mischte sich der Duft von brennendem Kaminholz dazwischen. Auch Geräusche waren jetzt wieder zu hören: Wind, der durch raschelndes Laub ging, Musik aus einem Haus in der Raiffeisenstraße, ein davonfahrendes Auto. Über der Niederung am Mühlenbach lag mittlerweile eine dichte, weiße Nebelbank.

Seit diesem Abend stellte ich mir vor, dass sie auf mich warteten. Das unsichtbare Band zwischen ihnen und mir existierte noch immer, verknüpfte uns wie eh und je, würde es immer tun. Und Maren liebte mich noch genauso wie ich sie. Längst bereute sie ihre Entscheidung.

Wie deutlich ich das alles spürte – es konnte gar nicht anders sein!



***



Gerade war ich aus der Schule gekommen und wärmte mir Mittagessen auf. Muttern hatte es abends vorgekocht. Seit sie in ihrem Job befördert worden war und wieder massenhaft Überstunden schob, gab es bei uns keine gemeinsamen Mahlzeiten mehr.

Nach dem Essen ging ich in mein Zimmer und rauchte eine Zigarette. Eigentlich wartete ein Berg Schulkrams darauf, erledigt zu werden, aber ich konnte mich wieder mal nicht aufraffen. Draußen riss der Sturm immer neue Stöße vergilbter Blätter von den Bäumen. Manchmal wurden Regentropfen ans Fenster geweht und liefen in nassen Streifen herab. Außer dem Pfeifen des Windes und dem Heizungsrauschen war nichts zu hören.

Immer düsterer, immer unwirtlicher wurden die Tage. Die Ereignisse des Sommers lagen jetzt mehr als zwei Monate zurück, die Erinnerung begann allmählich zu verblassen. Der Schmerz ließ endlich nach.

Hin und wieder kam Bernd rüber und brachte neue Platten mit. Ich fand es rührend, dass er überhaupt noch an mich dachte, und fühlte mich jedes Mal in der Pflicht, ein bisschen mit ihm zu quatschen. Aber uns ging immer schnell der Gesprächsstoff aus. Kein Wunder – er war halt Praktiker, außer Motorrädern interessierte ihn nicht viel. Ich war immer erleichtert, wenn er wieder abhaute.

Auch Heiner besuchte mich manchmal. Mit ihm ließ sich erschöpfend diskutieren, über die Gesellschaft, den Sinn des Lebens und ähnliches. Seine kühle, analytisch-distanzierte Art imponierte mir mehr denn je. Weshalb konnte ich nicht wie er sein? Ein souveräner Einzelgänger, unerreichbar, unverwundbar, ein Steppenwolf. Weshalb konnte ich mich partout nicht mit der Einsamkeit abfinden?

Wenn Jürgen anrief, ging ich nie ran, ließ mich, falls Henri oder Muttern das Gespräch annahmen, immer verleugnen. Ich vermisste ihn total, wollte aber sein Gerede über die Clique und deren Unternehmungen nicht hören, Geburtstagspartys, Ausflüge und dergleichen. Er ließ nichts unversucht, mir das Gemeinschaftsleben wieder schmackhaft zu machen. Aber ich würde nicht zurückkommen. Das war vorbei.

Mittlerweile fühlte ich mich am wohlsten, wenn ich allein war. In der Schule ging ich noch mit Juliane zum Rauchen, ansonsten ließen alle mich in Ruhe. Vielleicht ekelten sie sich auch: Mittlerweile war ich ähnlich verwahrlost wie der dreckige Michael. Ich duschte nicht mehr und zog jeden Tag dieselben Klamotten an, inklusive der Unterwäsche. Statt der obligatorischen Jeansjacke trug ich jetzt immer einen billigen, imitierten Bundeswehrparka. Ich hatte ihn im Dorf von meinen letzten Kröten geschossen. Das Ding war so unauffällig wie nur irgendwas, es machte mich regelrecht unsichtbar. Genau das wollte ich: unsichtbar werden, verschwinden, mich auflösen.

Mein Leben glitt langsam in eine Art Tiefschlaf, und ich wehrte mich nicht. Wollte nur weg aus der Wirklichkeit und in meiner eigenen Welt sein, mich ganz meinen Gedanken und Träumen überlassen. Jede noch so kleine Begebenheit, jede Stimmung, selbst wenn es nur das Licht oder die Stille war, füllte mich jetzt bis in den letzten Winkel aus. Diese plötzliche Feinfühligkeit – sie war untrennbar mit den Ereignissen dieses Jahres verbunden, mit dem Dorf, der Natur, Maren…

Ich schlurfte zum Bett, ließ mich fallen, sah draußen die Wolken unaufhörlich über den herbstlichen Himmel ziehen. Allmählich wurden mir die Lider schwer. Gestern Abend war es mal wieder viel zu spät geworden. Die 22-Uhr-Regel, die mir früher so gut bekommen hatte, gehörte längst der Vergangenheit an; mittlerweile ging ich nie vor zwölf, ein Uhr zu Bett, manchmal gar noch später. Früher hatte ja Muttern mit Argusaugen darüber gewacht, dass Henri und ich genug Schlaf bekamen, aber diese Zeiten waren passé, solche Sachen interessierten sie längst nicht mehr…

Als ich wieder aufwachte, war es bereits dunkel. An der Zimmerdecke, direkt über mir, zeichnete sich ein Rechteck aus Licht ab. Ich wusste, dass es aus der Küche des gegenüberliegenden Hauses kam. Mühsam wuchtete ich mich hoch und wankte zum Fenster: Drüben saßen wieder alle am Abendbrottisch, Vater, Mutter und Tochter. Letztere hieß Gabriele, ich kannte sie von früher aus der Alten Mühle. Sie war zwei, drei Jahre jünger, dick und eher hässlich. Bestimmt ging sie nachher noch zu Jutta, ihrer besten Freundin. Die beiden würden zusammen Tee trinken und endlos quatschen. Vielleicht kamen noch andere Leute dazu.

Bei Jürgen sah man wieder die rote Lampe brennen. „Ich liebe dich“, sagte er Silke damit. Sagte es ihr seit zwei Jahren und würde es ihr in zwei Jahren garantiert noch immer sagen.

Nur für mich gab es nichts, wo ich hätte hingehen können. Vermutlich war ich der einzige im ganzen Dorf, der an einem Abend wie diesem allein blieb. Der im Dunkeln stand und heimlich die erleuchteten Fenster betrachtete.

Würde es jetzt immer so sein?



***



Die Tage blieben dämmrig und grau. Endlose Wolkenmeere zogen über den Himmel, brachten Regen, Sturm, schließlich Kälte. Die Bäume verloren ihre letzten Blätter.

Einmal trieb es mich nachmittags auf die Bahnstrecke Richtung Strand. Der Regen hatte die Holzbohlen rutschig werden lassen, man kam nur sehr langsam vorwärts. Die Welt jenseits des Gleises schien auf zwei Farben reduziert: das Braun der kahlen Bäume und Sträucher sowie das dunkle Grün der regennassen Felder und Wiesen.

Bereits nach kurzer Strecke machte ich kehrt. Der Wind blies jetzt von vorn, warf mir dicke, kalte Tropfen ins Gesicht. Als ich nach Schönhagen zurückkam, war es bereits dunkel. Auf dem Asphalt der Straßen stand das Wasser, die Lichter der vorbeifahrenden Autos spiegelten sich darin.

Statt die direkte Strecke durchs Dorf lief ich einen weiten Umweg über die Bahnhofstraße und die Tankstelle. Es war besser so. Im Dorfkern wäre man womöglich bekannten Gesichtern begegnet, schlimmstenfalls Leuten aus der Clique, und das wollte ich um jeden Preis vermeiden. Obwohl sie mich vielleicht gar nicht mehr erkannt hätten in meiner billigen Parka-Imitation, diesem Tarnumhang, zumal in der Dunkelheit und bei diesem Regen.

Als ich schließlich in unserer Siedlung ankam, wurde mir wieder einmal bewusst, wie nah Maren eigentlich war. Sie wohnte im Prinzip um die Ecke, nur einen Katzensprung von hier entfernt; fast meinte man nach ihr greifen zu können. Aber dieser Schein trog. In Wahrheit waren sie und alles, was mit ihr zusammenhing, in den Nebeln versunken.

Ich hatte keinen Zugang mehr zu der Welt, in der sie lebte. Sie war für mich unerreichbar.



***



Dann kamen die ersten Nachtfröste. Morgens hörte man, wie draußen die Leute ihre Autoscheiben freikratzten. Als es hell wurde, enthüllte sich ein gleichmäßig grauer Himmel. Der Wolkenstrom war zur Ruhe gekommen, die Landschaft erstarrt, versiegelt unter weißem Raureif.

Der Herbst hatte Regen und Sturm gebracht, Schwermut und Traurigkeit, innere Wirrnis. Mit dem Winter kehrte endlich Stille ein. Es war eine wohltuende, fast feierliche Stille.

Bald würde es Schnee geben. Weihnachten war ebenfalls nicht mehr fern. Ich freute mich wieder auf Weihnachten, wie früher als Kind. Dabei schenkten wir uns inzwischen nur noch Kleinigkeiten, große Überraschungen waren nicht zu erwarten. Aber das störte mich nicht.

Ich dachte jetzt wieder oft an das unsichtbare Band zwischen Maren, der Clique und mir. Deutlicher als jemals zuvor konnte ich es spüren. Sie hörten mein Rufen. Und würden mir bald antworten.



***



Weiße Weihnachten.

Bereits seit einem Monat hatten wir Dauerfrost, alles lag unter einer stattlichen Schneeschicht begraben. Die morgendliche Autofahrt nach Eckhorst war zum Schluss kein Vergnügen mehr gewesen. Auf spiegelglatten Straßen hatten wir uns vorankämpfen müssen, waren manchmal bloß noch Schritttempo gefahren, wegen des dichten Eisnebels. Aber nun hatten endlich die Ferien begonnen.

Leider weigerte sich der Himmel seit einigen Tagen, uns mit Nachschub zu versorgen. Der alte Schnee war mittlerweile überall beiseite geräumt, zertreten, mit Streugut verschmutzt – aber immerhin: Es gab ihn. Eigentlich war alles, wie es sein sollte.

Das erste Weihnachten in Schönhagen. Heiligabend verbrachten wir zu dritt. Klaus war bei Frau und Kindern und würde erst am nächsten Tag zu uns kommen. Muttern hatte sich über die Feiertage freigenommen. Zurzeit machte sie mal wieder auf Familie: Sie hatte aufwändig gekocht und sogar gebacken, Kekse und Weihnachtsstollen.

Nach den Feiertagen würde es schnell wieder vorbei sein mit dem Idyll, aber darüber dachte ich jetzt nicht nach. Mit geradezu kindlicher Inbrunst genoss ich den Weihnachtszauber, schuf mir eine eigene, magisch-verwunschene Welt. Sämtliche Hollywood-Schinken, die über die Feiertage gesendet wurden, standen auf meiner Programmliste. Ich hörte stundenlang Musik und hatte sogar mein altes Märchenbuch aus Kinderzeiten wieder ausgebuddelt.

Muttern und Henri gingen oft raus, um im kalten, harschen Schnee eine Runde zu drehen. Mehr als einmal war ich versucht, mich ihnen anzuschließen, kriegte aber immer die Kurve. Da draußen wäre man garantiert Leuten aus aus der Clique begegnet. An Weihnachten, das wusste ich, machten sie gern Spaziergänge mit Eltern und Verwandten durchs Dorf, ähnlich wie an Ostern. Und sie statteten sich gegenseitig Besuche ab.

Schade eigentlich, dass ich nicht dabei sein konnte. Schade auch, dass ich Maren nun nie im Winter sehen würde. Ich kannte sie bloß im Frühjahr und Sommer, leicht bekleidet und sonnengebräunt. Zu gern hätte ich gewusst, wie sie jetzt aussah, in der kalten, dunklen Jahreszeit.

Gerade waren Muttern und Henri wieder mal unterwegs. Ich saß in meinem Zimmer, im Hintergrund lief leise Musik, auf der Fensterbank brannte eine Kerze. Ich stellte mir vor, dass ich Maren einen Weihnachtsbesuch abstattete. Wir überreichten uns gegenseitig Geschenke, sahen uns mit klopfenden Herzen beim Auspacken zu. Dann gingen wir runter zu ihren Eltern. Es gab Kaffee, Kuchen und Süßigkeiten. In der Ecke leuchtete ein riesiger Weihnachtsbaum, es duftete intensiv nach Kerzen und frischen Tannenzweigen. Später kamen Jürgen und Silke dazu, auch Bernd und Kristina. Einträchtig saßen wir zusammen. Maren war ganz dicht bei mir, immer wieder strich ihre weiche, sehr warme Hand über meinen Arm. Ein tiefer Friede lag über allem, ein wunderbares, nie gekanntes Gefühl von Harmonie und Glück.

Je länger ich mir das alles ausmalte, desto mehr schienen meine Phantasiebilder Wirklichkeit zu werden. Wahrscheinlich waren sie schöner und perfekter, als die Realität je hätte sein können. Es gab keine Missverständnisse und Probleme, nichts störte das überbordende, geradezu euphorische Glücksgefühl.

Aber irgendwann wachte ich doch wieder auf. Die Kerze auf der Fensterbank war längst heruntergebrannt und erloschen, die Musik verklungen, auch die Heizung hatte sich ausgeschaltet. Ich saß allein in einem dunklen, stillen, kalten Raum.



***



Gerade kam ich zurück nach Schönhagen. Ich hatte den Jahreswechsel bei Hartmann in der Nordstadt verbracht. Eigentlich wollte ich nicht mehr dorthin, war aber zu feige gewesen, den lange versprochenen Besuch abzusagen. Auf der Silvesterparty bei Tom hatte ich mir schnell die Hucke zugesoffen, um das Gelaber der anderen nicht ertragen zu müssen. Zu allem Unglück war just vor Fahrtantritt auch noch das Thermometer auf Plusgrade geklettert, und ich konnte Tauwetter überhaupt nicht ab. Die ganzen Tage hatte ich mich wie krank gefühlt.

Aber heute Nacht war der Frost zurückgekehrt. Und gerade fing es auch wieder an zu schneien. Pünktlich mit meinem Eintreffen in Schönhagen schien sich alles zurechtzurücken.

Zu Hause angekommen wickelte ich mich in meine Winterkluft und marschierte gleich wieder wieder los. Die Raiffeisenstraße runter und vorbei an der Tankstelle. Als ich kurz vor der Auffahrt zur Bundesstraße das Eckhorster Bahngleis betrat, war alles längst wieder in weißes Leinen gehüllt. Unten im Tal erkannte man die Gartenkolonie, dahinter verlief der Mühlenbach. Vor ewigen Zeiten hatten wir dort unser Picknick gemacht.

Immer stärker, immer dichter fiel der Schnee. Irgendwann verließ ich das Bahngleis, ging einfach querfeldein über die steinhart gefrorenen Ackerfurchen. Weiße Schleier trieben über den Boden und ließen meine Füße verschwinden – es war, als würde ich langsam einsinken. Jenseits der Grenze, wo eigentlich das Grüne Meer begann, war jetzt alles weiß, der Blick verlor sich dort in einem undurchdringlichen Nebel aus Flocken. Und noch immer schüttete der Himmel unermüdlich sein Füllhorn über uns aus, es wollte nicht enden.

Bald hüllte ein weißes Nichts mich vollkommen ein. Eiskristalle wirbelten umher wie in einem Kaleidoskop, wurden jäh in die Höhe gerissen, bildeten Strudel, stürzten wieder ab und stoben auseinander. Je länger ich mich in die Bewegung dieses fahlen, unergründlichen Malstroms versenkte, umso deutlicher glaubte ich Strukturen darin zu erkennen, Muster. Ein Tunnel schien sich vor mir zu öffnen, ein gewundener Hohlweg durch tief-verschneiten Wald. An seinem Ende tauchten bald schwarze Schatten auf, die ich erst nach einer Weile als Krähen erkannte. In einem Pulk kamen sie heran, stürzten sich an mir vorbei ins Freie; ihr heiseres Gekrächze tönte weit über das winterliche Land. Hinter ihnen wurden die Umrisse einer Gestalt sichtbar…

Es war Maren.

Sie trug eine dunkle, wattierte Jacke und um den Hals eine Kaskade von Schals in unterschiedlichen Farben. Wind ging durch ihr Haar, wirbelte die Strähnen auf- und nieder, die wie Gold leuchteten, trotz des diffusen Tageslichts.

Etwas zog mich wie an einem unsichtbaren Band, bis wir einander gegenüberstanden. Ihr Gesicht war blass, fast weiß, und zeigte ein mildes, verständnisvolles Lächeln. Vorsichtig streckte ich meine Hand aus, berührte ihre Lippen… die Eiseskälte ließ mich fast erstarren. Ich strich ihr über die Stirn, wischte ein paar Schneeflocken fort. Dann umschlang ich sie, presste sie verzweifelt an mich. Die Kälte ließ meine Kräfte schwinden, und schließlich fiel ich, fielen wir, erleichtert, geradezu befreit. Die Schneeschicht unter uns wurde dick und weich, der Wind legte sich, auch das Rufen der Krähen verstummte. Allmählich deckten die Flocken uns zu, wir verschmolzen mit der Welt in Weiß.

Und endlich begriff ich, dass es sinnlos war, sie vergessen, sie hinter mir lassen zu wollen. Für den Rest meines Lebens würde sie um mich sein, würde alles begleiten, was ich tat, es durchdringen und prägen. Ich würde sie immer lieben.

Und warum sollte ich mich dagegen wehren? Warum sollte ich mich losreißen und den Blick nach vorn wenden, zu neuen Ufern aufbrechen, wenn ich doch einfach nur hier stehenbleiben und mich erinnern wollte? Und wo keine Erinnerung mehr war, wollte ich träumen, nichts als träumen.



***



Ich stand am Küchenfenster. Längst war es dunkel, aber das Schneetreiben da draußen hatte keinen Deut abgenommen. Die Straßenbeleuchtung färbte den Schnee rötlich, gab ihm etwas Warmes, Weiches.

In den Nachrichten wurde dringend vom Autofahren abgeraten, die Räumdienste hatten mittlerweile vor den Schneemassen kapituliert. „Los Hauke, komm mit raus“, quengelte Henri. Schließlich gab ich klein bei. Es musste Ewigkeiten her sein, dass wir zuletzt gemeinsam durch die Straßen gezogen waren.

Auf der Bahnhofstraße ließen sich Fußweg und Fahrbahn längst nicht mehr unterscheiden, alles lag unter einer dicken, weißen Schicht begraben. An einigen Stellen hatten sich sogar Verwehungen gebildet. Die Motorgeräusche der wenigen Autos, die noch vorbeifuhren, klangen gedämpft. Auf den Wagendächern lagen immer weiße Polster.

Am Ortsausgang Richtung Norderby kämpfte sich ein Sportwagen an uns vorbei. Er verschwand regelrecht unter seiner Schneelast, trotzdem passierte er mutig das Ortsschild und fuhr in die Dunkelheit hinaus. Henri und ich schauten uns an und dachten dasselbe: Der wird nicht weit kommen.

Tatsächlich: In der langgezogenen Kurve hinter dem Ort brach prompt das Heck aus, der Wagen trudelte, rutschte seitlich von der Fahrbahn weg in eine Schneewehe. Abrupt verschwanden die Lichtfinger der Scheinwerfer, nur die Rückleuchten blieben sichtbar. Irgendwann gingen auch die aus.

Wir warteten, aber nichts tat sich. „Vielleicht sollte man mal gucken“, überlegte ich. Henri nickte und marschierte schnurstracks los – wahrscheinlich sorgte er sich vor allem wegen des tollen Schlittens. Ich folgte ihm. An den Straßenrändern türmten sich die Verwehungen mittlerweile so hoch auf, dass man in der Fahrbahnmitte laufen musste. Aber es kamen eh keine Autos mehr. Die Reifenspuren des Unglückswagens waren fast schon wieder verschwunden unter neuem Schnee. Der Wind pustete mittlerweile mit Sturmstärke – ein Glück, dass er von hinten kam.

Der Sportflitzer steckte ziemlich tief in einer Schneewehe. Henri ging zur Fahrertür, wischte die Scheibe ab, schlug mit der behandschuhten Faust dagegen. In seiner Zielstrebigkeit wirkte er fast wie ein Polizeibeamter. Nach einiger Zeit ging die Scheibe runter. Ein Typ schaute uns an, der im ersten Moment dem Höllenfahrer im schwarzen Golf GTI ähnelte: Schnauzbart, lockige Haare, Stufenschnitt, vorne kurz, hinten lang. Er wirkte leicht weggetreten. Hatte er sich verletzt? Oder war er einfach nur blau? Etwas Trauriges, Resigniertes ging von ihm aus; fast schien es, als hätte er geweint.

„Können wir helfen?“, fragte Henri. „Sollen wir Sie anschieben?“

Es dauerte einen Moment, bis die Worte bei ihm ankamen. Sein Gesicht hellte sich auf, sein Blick zeigte neue Hoffnung: „Würdet ihr das machen?“ Er schaute uns an, als wären wir ihm vom Himmel geschickt worden.

Henri übernahm das Kommando. Wir gingen rechts und links neben dem Auto in Position und begannen, den Schnee wegzuräumen. Bald hatten wir schon ein gutes Stück freigelegt. „Los“, rief Henri, und wir stemmten uns gegen die Kühlerhaube, so fest wir konnten. Der Motor heulte, die Hinterräder drehten durch, das Blech vibrierte unter unseren Händen. Immer wieder rutschten wir im glatten Schnee weg, aber wir ließen uns nicht entmutigen, schoben, was das Zeug hielt. Schließlich konnten wir den Wagen zurück auf die Straße bugsieren.

Der Kopf des Fahrers schob sich aus dem Seitenfenster. „Tausend Dank, Jungs! Ihr seid spitze, einfach spitze!“ Es klang fast wie ein Jubilieren. Dann fuhr der Sportwagen davon.

Henri und ich grinsten uns an. „Ob er's schafft?“, fragte er. Ich zuckte die Schultern.

Auf dem Rückweg mussten wir gegen Wind und Schnee ankämpfen. Henri drehte sich bald um und lief rückwärts. Ich versuchte bloß, mein Gesicht mit der Hand vor den Flocken zu schützen, die einen wie kleine Eisgeschosse traktierten.

Ich wollte nicht zurückschauen. Und womöglich feststellen, dass der Typ schon wieder im Graben gelandet war. Er sollte sein Ziel jetzt wohlbehalten erreichen, dank uns. Wir waren seine rettenden Engel gewesen.

12. Natur

Im Sportunterricht scheuchte Wahlstedt uns heute nach draußen auf die Aschenbahn – mitten im Januar! Wobei die Temperaturen mittlerweile deutlich geklettert waren, auf fast 10 Grad. Von den Schneemassen, die wir noch zu Jahresbeginn gehabt hatten, sah man nirgends mehr eine Spur.

Schon nach einer jämmerlichen Runde Joggen ging mir die Puste aus. Üble Sache! Dass meine Kondition dermaßen am Boden lag, hatte ich nicht gewusst.

Es kam aber noch besser: Nach dem Joggen mussten wir zum 100-Meter-Lauf antreten. Wildes Gezänk unter den anderen, wer wohl der Schnellste sein würde. Diese Babys!, dachte ich und war auf die langen Gesichter gespannt, wenn gleich alle bloß noch meine Hacken sahen. Denn viel konnte ich ja nicht, aber eins hatte ich wirklich drauf: rennen. Am Wilhelm-Gymnasium wusste allerdings noch niemand von meiner wundersamen Gabe. Innerlich lachte ich mir schon ins Fäustchen.

Wahlstedt übernahm selbst das Kommando: „Auf die Plätze – fertig – los!“ Und wir wetzten davon. Anfangs blieb ich völlig entspannt, wartete in aller Seelenruhe, dass die gewohnte Leichtigkeit sich einstellte, quasi der Turbo ansprang – aber nichts passierte. Ich biss die Zähne zusammen. Zwei, drei Leute waren schon ziemlich weit vorn – jetzt musste ich mich wirklich ranhalten! Leider wollte der Abstand partout nicht kleiner werden. Ich versuchte die letzten Reserven zu mobilisieren, wollte alles geben – und spürte mit Schrecken, dass da nichts mehr war. Immer weiter fiel ich zurück, bald drohten mich selbst die Lahmsten einzuholen. Erst kurz vorm Ziel begriff ich: Das würde nix mehr werden – und trudelte als Vorletzter ein. Nach mir kam bloß noch Ronald, aber der zählte nicht. Im Prinzip war ich also Schlusslicht.

Ich konnte es kaum fassen, war geschockt, deprimiert, am Boden zerstört. Wenigstens auf meine Schnelligkeit hatte ich mich immer verlassen können – und jetzt dieses Desaster! Mein einziger Trost war, dass niemand merkte, was in diesem Moment in mir vorging. Sie kannten mich ja alle bloß als Sportmuffel.

Es war ein Denkzettel gewesen, ganz klar! Den lieben, langen Tag hockte ich drinnen und bewegte mich null, rührte keinen Finger, qualmte bloß wie ein Heizkraftwerk in Sibirien. Und jetzt kam halt die Quittung. Ich war kaputt, am Ende, ein Wrack, anders konnte man es nicht nennen.

So durfte es auf keinen Fall weitergehen, ich musste dringend gegensteuern. Bloß wie? Sport machen, womöglich im Verein, mit buntem Trikot und so? Nur über meine Leiche! Schwimmen gehen? In der Halle? Die Teile mit ihrem Chlorgeruch und den verschwitzten Umkleidekabinen hatte ich schon immer inbrünstig gehasst. Vielleicht Radfahren? Sinnlos durch die Gegend kurven und sich abstrampeln? Ganz ehrlich: Das kam alles nicht infrage.

Aber was sonst?

***



Ausgabe der Zwischenzeugnisse – meins war mittelprächtig. Immerhin nicht katastrophal, aber zum Jubeln gab's trotzdem keinen Anlass: Einige der Vieren waren reine Glückssache gewesen; im nächsten Halbjahr konnten daraus verdammt schnell Fünfen werden.

Und dann? Dann war ich weg, ganz klar. Das Ruder herumzureißen, wie nach dem Desaster am KBZ, hatte ich nicht mehr die Kraft. Noch immer lebte ich von dem Schwung, den ich damals entwickelt hatte. Aber nun lief das Rad langsam aus, und neue Energie war nirgends in Sicht. Ich konnte nur hoffen, dass die Götter mir die Versetzung bescherten und damit ein weiteres Jahr Ruhe.

In der kleinen Pause kam Martin angestrunzt. Er war mittlerweile auf dem Friedens- und Umwelt-Trip. An seinem Wollpulli hingen Buttons mit weißen Tauben und Anti-AKW-Aufschriften. Noch letztes Jahr hatte er sich fast im Wochentakt auf dem Schulhof geprügelt. Oder besser: Er hatte gerauft. Richtig geprügelt, bis Blut floss, wurde hier nicht. Hier wurde gerauft. Man verkeilte sich ineinander und versuchte den Gegner zu Boden zu bringen, ihn bewegungsunfähig zu machen. Kinderkram halt. Trotzdem komisch, dass ausgerechnet Martin jetzt den Pazifisten gab.

Es war nicht das erste Mal, dass er versuchte, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Meistens ging es um Politik und Gesellschaft. Und ich ließ mich immer darauf ein, ich Trottel. Brachte es nie, ihm die kalte Schulter zu zeigen. Nur einmal hatte ich gestreikt, als ich abends in Eckhorst zu einer Politveranstaltung mitkommen sollte. Erstens mal hatte ich auf so was nun wirklich keinen Bock. Außerdem fuhr der letzte Bus nach Schönhagen um 20 Uhr – hätte ich etwa zu Fuß nach Hause laufen sollen?

Irgendwas hatte der Kerl im Sinn. Ich wurde den Verdacht nicht los, dass er mich „einbinden“ wollte. Natürlich wusste ich längst, welche Gerüchte über mich im Umlauf waren. Ich nahm angeblich Drogen, war auf dem absteigenden Ast und so. Wahrscheinlich wollte er mir signalisieren, das sie mich nicht aufgaben. Wollte mir ein „Hilfsangebot“ machen. Das hätte perfekt zu seiner Gutmenschen-Art gepasst.

„Du wohnst ja ziemlich weit draußen, da in Schönhagen“, stellte er fest und setzte sich vor mir auf die Tischkante.

Ich blieb lieber stumm.

„Wir würden dich gern mal besuchen.“

„Wer ist 'wir'?“ Allmählich wurde ich doch misstrauisch.

„Sibylle, Manuela und ich. Wir hatten die Idee, mal 'ne kleine Wanderung bei euch zu machen, vielleicht am Strand.“

Sibylle und Manuela – natürlich! Die beiden waren vor einiger Zeit unter die Naturkinder gegangen. Trugen immer Walleröcke und Batikblusen. Hoffentlich hatten sie sich nicht Schönhagen als neues Aktionsgebiet ausgeguckt.

„Es ist Ende Januar“, erinnerte ich ihn. Mittlerweile hatten wir wieder tiefsten Frost, wenn auch bislang ohne neuen Schnee. Dafür blies schon seit Tagen ein bitterkalter Ostwind, der einfach nicht aufhören wollte.

„Und? Eine Winterwanderung ist doch schön“, fand Martin. „Muss man sich eben warm anziehen.“

'Schön' – das war so typisch für den Kerl!

„Wie sieht's nächsten Mittwoch bei dir aus?“, wollte er wissen.

Ich überlegte ernsthaft, mich rauszureden. ihm irgendwas zu erzählen von einer wahren Flut an Verabredungen. Besser ein andermal, im Frühjahr oder Sommer. Oder lieber gleich am Sankt-Nimmerleins-Tag…

Aber dann willigte ich doch ein. Irgendetwas an seinem Angebot schmeichelte mir. Vielleicht tat es einfach nur gut, dass da überhaupt noch Leute waren, die Notiz von einem nahmen. Nächsten Mittwoch also. An diesem Tag sollten die letzten beiden Stunden ausfallen. Um zwei Uhr wollten sie bei mir aufkreuzen.

Wenig später zweifelte ich wieder, ob mein Okay wirklich so klug gewesen war. Jetzt hatte ich diese Eindringlinge am Hals; sie würden den gewohnten Gang der Dinge ziemlich durcheinanderwirbeln.

Hoffentlich kam hinterher alles schnell wieder ins Gleichgewicht.



***



Wie ungewohnt es war, wieder mit Leuten unterwegs zu sein, nach so langer Zeit! Neben mir ging Manuela, in einigem Abstand folgten Sibylle und Martin. Wir tippelten über die Holzschwellen des Bahngleises. Ich wollte mit den dreien zunächst zum Strand laufen, dann vorbei an Gut Neudorf, durch den Wald und schließlich wieder nach Schönhagen.

Krähenschwärme zogen mit monotonem Gekreisch über uns hinweg. Der Himmel war dunstig und grau; trotz der frühen Nachmittagsstunde schien es bereits zu dämmern. Zwar hatte sich der eisige Ostwind mittlerweile gelegt, aber die Temperaturen lagen nach wie vor weit im Minusbereich. Auch schneien sollte es wieder, aber erst in ein paar Tagen. Die Felder ringsherum waren dennoch weiß – vom Raureif, der wie eine dicke Kruste das Land überzog. Von Henri wusste ich, dass am Mühlenteich jetzt immer großes Treffen war, mit Schlittschuhlaufen und Glühweintrinken, aber davon erzählte ich meinen Gästen lieber nichts. Womöglich hätten sie hingewollt, dann wäre ich in ernstliche Erklärungsnöte gekommen.

Nach gut anderthalb Stunden Weg erreichten wir den Schönhagener Strand. Der Wellengang war nicht der Rede wert, aber das Wasser stand so hoch, wie ich es noch nie gesehen hatte: Nur ein schmaler Sandstreifen lag noch frei. Das mussten die Nachwirkungen des Oststurmes sein. Die Strandkörbe hatte man komplett weggeräumt, einsam ragten die Wachtürme der DLRG aus dem Sand empor, manchmal wurden sie von Wellenausläufern umspült.

Auf der Strandpromenade sah man keine Menschenseele, sämtliche Geschäfte und Lokale hatten geschlossen. Wir liefen jetzt oben auf dem Deich weiter. Rasch endete der Ort, um uns erstreckte sich wieder die weite, winterlich leere Küstenlandschaft. Am Mittelstrand dann die Bescherung: Deichbauarbeiten. Die Grasnarbe war abgetragen, alles hatte sich in eine mit Pfützen übersäte Schlammfläche verwandelt. Arbeiter und Maschinen sah man nirgends, aber das mochte mit dem neuerlichen Wintereinbruch zu tun haben. Jedenfalls: Ohne Gummistiefel kam man hier nicht weiter.

Was jetzt? Auf den Strand konnten wir nicht ausweichen: Das Hochwasser hatte den Dünengürtel glatt überspült, leckte bereits am Deichfuß, beziehungsweise an dem, was irgendwann mal wieder ein Deichfuß werden sollte. Auch die Wiesen auf der Landseite sahen nicht vertrauenerweckend aus; sie schienen völlig aufgeweicht, wohl durch die Regengüsse zu Jahresbeginn. Eigentlich blieb uns nichts als umzudrehen und den Rückweg wieder über die Schiene machen. Aber das erschien mir wie eine Kapitulation. Gab es nicht doch eine andere Möglichkeit?

Mit dem Mut der Verzweiflung setzte ich einen Fuß auf den vermeintlichen Morast – und spürte unter mir Boden, der hart wie Stahlbeton war! Eiseskälte und Oststurm hatten den Baugrund sozusagen schockgefroren, er ließ sich auch ohne Gummistiefel gefahrlos überqueren. Hieß: Wir konnten unseren Weg fortsetzen wie geplant!

Meine Erleichterung war unbeschreiblich; eine Euphorie packte mich, die rasch auf die anderen übersprang. Wir begannen rumzualbern, ignorierten die trostlose, an eine Mondlandschaft erinnernde Umgebung, lachten uns lieber halb schlapp über unsere rot gefrorenen Nasen und Ohren. Vielleicht war es eine Reaktion aufs inzwischen mehr als zweistündige Wandern in klirrendem Frost und völliger Einsamkeit. Sibylle wurde übermütig: Sie fing an, in die gefrorenen Pfützen des Baugrundes zu hüpfen, ließ sie zerbrechen wie Glasscheiben. Gerade vollführte sie den nächsten Sprung, Risse breiteten sich sternförmig unter ihren Sohlen aus – aber plötzlich sackte sie weg und stand sie bis zu den Knöcheln in brauner Brühe. Mist, so tief reichte der Frost dann doch nicht!

Rasch kletterte sie aus der Senke, betrachtete verdattert ihre triefenden Schuhe. Sie schaute uns an, guckte wieder nach unten – und lachte los, immer lauter, wollte sich gar nicht wieder einkriegen. Und wir, noch erschrocken über ihr Missgeschick, ließen uns anstecken. Schließlich lachten wir alle im Chor, bis uns die Tränen kamen.

„Jetzt müssen wir schnell gehen“, meinte Sibylle, noch immer schniefend und prustend vor Lachen. „Sonst sind meine Füße gleich Eiswürfel.“ Tatsächlich blieb uns nichts anderes übrig – an trockene Schuhe und Strümpfe zu kommen war hier draußen schlicht unmöglich.

Hinter dem Mittelstrand verließen wir den Deich und nahmen einen der Wanderwege durch die Salzwiesen. Weite Teile des Areals standen unter Wasser, regelrechte Seen hatten sich gebildet, die nach dem neuerlichen Kälteeinbruch jetzt spiegelglatt gefroren waren. In der langsam einsetzenden Dämmerung begannen die Eisflächen geheimnisvoll zu schimmern. Die erstarrte Winterlandschaft wirkte auf einmal wie ein Bildnis, ein altes Ölgemälde, dessen einst leuchtende Farben einem düsteren Sepiaton gewichen waren.

Nicht immer hatten die Überschwemmungen an den Wegrändern halt gemacht, dann wichen wir einfach auf die gefrorenen Wiesen ringsherum aus. Leider endete unser Glück, als ein gigantisches Binnenmeer, das definitiv nicht hierher gehörte, die Umgebung weitläufig unter sich begrub. Nun mussten wir doch ein gutes Stück zurücklaufen und einen anderen Weg nehmen. Immerhin brachte der uns trocken bis zum Waldrand.

Allerdings hatte die Aktion viel Zeit gekostet, bedeutend mehr, als ich eingeplant hatte. In der Zwischenzeit war es nahezu dunkel geworden, und ausgerechnet jetzt mussten wir quer durch den Wald. Konnte man das wagen? Wuselte da drinnen möglicherweise irgendwelches Getier herum, das uns nicht mochte, Wildschweine vielleicht? Und natürlich dachte ich auch ans Geisterhaus: Was, wenn diese Geräusche wiederkamen, das schauderhafte Flüstern und Zischeln? Aber es gab keine Alternative.

Einmal tief Luft geholt und hinein in die Schwärze. Tatsächlich sah man jetzt rein gar nicht mehr; es kostete uns einige Mühe, auf dem Weg zu bleiben, nicht in die Irre zu gehen. Aber merkwürdig: Ich hatte null Angst, fühlte mich im Gegenteil zusammen mit den dreien sicher und geborgen. Eine Leichtigkeit war in mir, als hätte ich ein paar Bier getrunken. Als sich irgendwann der Wegweiser nach Neuschönhagen schwach im Dunkel abzeichnete, wusste ich, dass wir es geschafft hatten. Jetzt konnte uns nichts mehr passieren.

Kurz darauf kamen wir ins Freie, vor uns glommen die Lichter des Dorfes. In Schönhagen lag überall der Geruch von Kaminholz in der Luft. Hinter zahlreichen Fenstern saßen Leute beim Abendbrot, meist Familien mit Kindern. Bei Martin, Sibylle und Manuela sah es zu Hause vermutlich nicht anders aus. Ebenso bei Jürgen und den anderen aus der alten Clique.

Obwohl wir inzwischen alle durchgefroren und müde waren, lief ich wieder den Umweg über die Bahnhofstraße und vorbei an der Tankstelle. Es half nichts: Das Dorfinnere wollte ich unbedingt meiden. Zum Glück kannten die drei sich hier nicht aus und merkten nichts. Zu Hause dann großes Auftauen, unsere Gesichter glühten. Mehr als drei Stunden waren wir unterwegs gewesen. Sibylle meinte, ihre Füße wären tatsächlich die ganze Zeit warm geblieben. Ich suchte ein Paar Wollstrümpfe raus, die ihr natürlich viel zu groß waren. Muttern schaute herein und fragte, ob sie Tee für uns kochen solle. Es schien sie richtig zu freuen, dass ich Besuch hatte. Wir nahmen ihr Angebot dankbar an.

Meine drei Gäste gerieten ins Schwärmen: „Toll wohnst du hier draußen“, „Wahnsinnslandschaft“, „super Spaziergang“ und ähnliches. Schließlich fiel der entscheidende Satz: „Müssen wir öfter mal machen“.

Da war er, der befürchtete Integrationsversuch. Sie wollten wiederkommen – und am Ende womöglich regelmäßig hier antanzen. Aber meine Miene, die plötzlich wie versteinert war, schien Bände zu sprechen: Betretenes Schweigen machte sich breit. Zum Glück kam in diesem Moment Muttern mit dem Tablett herein und rettete die Situation.

Während des Teetrinkens quatschten wir über alles Mögliche. Nur den einen, fraglichen Punkt sprach niemand mehr an.

Nachdem ich die drei zum Bus gebracht hatte, ließ ich den Tag noch einmal Revue passieren. Es hatte gut getan, mal wieder außerhalb der Schule mit Leuten zusammen zu sein. Aber nun, da sie weg waren, fehlte mir eigentlich nichts. Unser Treffen war in ganz anderer Hinsicht nützlich für mich gewesen: Endlich hatte ich eine Aktivität gefunden, die zu mir passte – Wandern. Dessen Langsamkeit spiegelte meine eigene Wahrnehmung wieder, die einfach total träge war. Viel träger als bei allen, die ich kannte, das hatte ich mittlerweile begriffen. Wie in Zeitlupe lief bei mir alles ab. Aber das konnte ich nicht ändern.

Jedenfalls: Solche Spaziergänge wie heute würde ich von nun an öfters machen.

Blöd nur, dass ich fast sämtliche Routen vergessen hatte, die ich letztes Jahr mit der Clique gelaufen oder gefahren war. Den Weg nach Steenbarg hätte ich vielleicht noch wiedergefunden. Aber schon beim Geisterhaus verließ mich die Orientierung. Nicht dass es mich dort hinzog, aber seltsam war es schon, dass ich die Strecke nicht mehr zusammenbekam. Man musste kurz vor dem Strand von der Bahnlinie nach links abbiegen. Aber wie ging es dann weiter? Ich hatte nicht die leiseste Idee.

Rächte es sich nun, dass ich immer bloß hinterhergelaufen war, anstatt selbst auf die Wege zu achten? Oder gab es noch einen anderen Grund für diese merkwürdigen Erinnerungslücken?

Tatsächlich hatte ich mittlerweile eine Art Gedächtnisschwund bei allem, was mit der Clique zusammenhing. Er ähnelte der Amnesie, die mich überkam, wenn ich an meinen Vater denken wollte.



***



Ein kristallklarer Sonntag im Februar. Muttern und Henri wollten einen Ausflug zu einem See machen und dort Eislaufen. Ich ließ mich breitschlagen, mitzukommen, dabei hatte ich nicht mal Schlittschuhe. Aber das Wetter war einfach zu verlockend.

Wir fuhren mit dem Auto ins Landesinnere, viel weiter als ich mit Maren und der Clique jemals gekommen war. Schließlich erreichten wir den See, dessen Fläche gewaltig wirkte, zumal bei dieser Fernsicht. Und niemand außer uns schien hier zu sein – einsam glänzte das Eis in der rötlichen Wintersonne.

Muttern und Henri stiegen in ihre Schlittschuhe und und begannen die ersten Runden zu drehen. Zaghaft tasteten sie sich vor, immer darauf bedacht, in Ufernähe zu bleiben. Bald verschwanden sie hinter einer Landzunge. Als sie wieder auftauchten, waren sie bereits weit entfernt, bloß noch zwei winzige Gestalten am Horizont.

Endlich allein. Ich schaute über den See, tief berührt von dieser nie zuvor erlebten Leere und Weite. Die Eisdecke schien bis zur Mitte zu reichen, oder täuschte das? War dort draußen offenes Wasser, so still und glatt, dass es wie gefroren aussah? Etwas drängte mich, es selbst herauszufinden.

In Ufernähe war das Eis überall zerkratzt und zerschrammt von den Kufen der Schlittschuhe. Das mit Raureif überzogene Schilf wirkte wie der schimmernde Pelz eines Tieres aus arktischen Regionen. Einen halben Meter unter mir breitete sich ein Teppich aus Gras und krautartigen Gewächsen. Einige Pflanzen durchstießen die Oberfläche und waren vom Eis eingeschlossen.

Aber rasch lichteten sich die Spuren der Schlittschuhe, schrumpfte auch der Schilfgürtel zu einem seidig-weißen Band zusammen. Der Seegrund verschwand, kein struppig-grüner Grasteppich leuchtete mehr unter der Oberfläche, keine Pflanzen reckten sich mehr herauf. Unter mir war jetzt alles tiefschwarz.

Weiter und weiter ging es hinaus. Die Eisfläche wurde klar wie Glas und schien bei jeden Schritt leise zu erzittern. Auch spürte ich nun ein regelmäßiges Heben und Senken, als würden Wellen unter mir hinweglaufen. Und wenn ich genau schaute, meinte ich in der Tiefe manchmal Bewegungen zu erkennen, wie von geheimnisvollen Wesen, die dort unten lebten. Aber wahrscheinlich war es bloß mein eigener Schatten.

Schließlich erreichte ich einen Punkt, von dem aus die Uferregionen nur noch schmale Linien am Horizont waren. Unter meinen Füßen gähnte Finsternis, nur eine hauchdünne Schicht trennte mich von ihr. Und über mir war der leere, flirrende Himmel.

Ich schwebte im Nichts.

Ein geheimnisvolles, unendlich fragiles Singen und Sirren erfüllte den Äther. Die Vibrationen durchdrangen alles, ließen die Landschaft erklingen in einer Art Sphärenmusik. Ich war ganz und gar erfüllt davon, schier unbändige Euphorie durchströmte mich. Es war, als hätten wir bereits Frühling, lichtblauen, kristallenen Frühling, aller Kälte zum Trotz.

Und auf einmal wusste ich, dass sich bald ein Kreis schließen und etwas von Neuem beginnen würde…

Erst beim Zurücklaufen erwachte ich allmählich aus meiner Verzauberung. Obwohl die Sonne bereits unterging, trübte kein Dunsthauch die Sicht, gestochen scharf stand die Landschaft vor dem roten Glutball. Immer wieder lief jetzt eine Art Beben über den See, in der Ferne donnerte und krachte es, wie bei Gewitter. Meine Lippen fühlten sich in der trockenen Luft spröde und gesprungen an.

Henri und Muttern warteten bereits am Ufer. Beide trugen wieder ihre normalen Winterschuhe. „Im Radio kam vorhin die Warnung, dass man nicht so weit rausgehen soll“, schnaubte Muttern und sah mich wütend an. „Das Eis trägt teilweise noch nicht.“

Ich blickte zum Wasser zurück. Wie weit entfernt die Seemitte von hier aus erschien! Und dort draußen war ich gewesen? Mir fuhr ein gehöriger Schrecken in die Glieder.

„Wolltest du Schluss machen?“ Henri grinste, als könne er es kaum abwarten.

Ich zeigte ihm einen Vogel. Das hätte er wohl gern gesehen, der Scherzkeks!



***



Am Wochenende darauf besuchten mich Hartmann und Piet. Eigentlich hatte ich überhaupt keinen Bock auf die beiden, aber sie noch länger zu vertrösten hätte dumme Bemerkungen provoziert, von wegen, was für ein mieser Kumpel ich wäre und so weiter. Dann lieber ein paar Stunden die Zähne zusammenbeißen.

Wie befürchtet war die Stimmung ziemlich beklommen, als wir in meinem Zimmer saßen. Alle bemühten sich eifrig, zu reden, irgendwas zu erzählen, mochte es auch noch so belanglos sein. Hauptsache es trat kein Schweigen ein.

Die beiden waren seit nunmehr einem halben Jahr in der Lehre, Hartmann als Kfz-Elektriker, Piet als Zimmerer. Groß und breit berichteten sie über ihren Arbeitsalltag, versuchten, wie erfahrene Malocher zu wirken, betonten ständig ihre Verachtung für alle, die noch immer in der Schule saßen und sich von Lehrern drangsalieren ließen.

Ihre Anekdoten aus dem Arbeitsleben klangen sehr seltsam, um nicht zu sagen: unsympathisch. Zum Beispiel musste Hartmann jeden Morgen Zigaretten und Bier für seinen Meister holen. „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“, bekam er als Begründung zu hören. Gleichzeitig versuchte er bei jeder Gelegenheit Vorteile für sich rauszuschinden: Er zog die Pausen in die Länge, rechnete zu viele Stunden ab, ließ auch mal Werkzeug mitgehen. Ich verstand nicht, wie man bei dieser schrägen Mischung aus aus Duckmäusertum und Rücksichtslosigkeit freiwillig mitmachen und auch noch stolz darüber berichten konnte.

Dann kramten wir alte Geschichten raus, über die ehemalige Bunker-Clique, die Weiber, die Treffen bei Tom. Schönhagen erwähnten wir nicht mit einer Silbe. Es existierte nicht, wir taten einfach, als hockten wir auf meiner alten Bude in der Nordstadt. Und ich spielte das schlechte Spiel die ganze Zeit mit, präsentierte ihnen einen Hauke, den es längst nicht mehr gab. Was blieb mir auch anderes übrig?

Aber es strengte unglaublich an. Als die beiden am frühen Abend endlich die Biege machten, war ich wie erschlagen.



***



Tatsächlich unternahm ich jetzt häufiger Wanderungen, wie geplant. Die Wirkung zeigte sich bereits: Neulich war ich im Sport volle sechs Runden um den Platz gejoggt, ohne hinterher klinisch tot zu sein.

Meine Route war allerdings immer dieselbe: über die Bahnlinie zum Strand, ein Stück am Deich entlang, schließlich durch die Salzwiesen und den Wald zurück nach Schönhagen. Genauso war ich mit Martin, Sibylle und Manuela gelaufen. Manchmal überlegte ich, den Weg zu variieren, Neues auszuprobieren. Aber dann entschied ich mich doch wieder für das Vertraute. Wozu unnötige Wagnisse eingehen, sich möglicherweise in der Wildnis verlaufen? Nein, ich zog die permanente, kreislaufartige Wiederholung vor, sie gab mir ein Gefühl von Ruhe und Sicherheit. Mittlerweile war die Wanderstrecke fast ein zweites Zuhause für mich geworden.

Und so gingen die Wochen ins Land. Alle erwarteten sehnsüchtig den Frühling, aber bisher war er noch nicht zum Zuge gekommen.

An einem Nachmittag Ende März wachte ich von meinem üblichen Nickerchen auf – und blickte in einen wolkenlosen Himmel. Die Uhr zeigte gerade mal halb vier, dabei pennte ich normalerweise bis mindestens fünf. Leicht benommen ging ich runter in die Küche: Hier vorn schien die Sonne gleißend hell. Als ich die Haustür öffnete, spürte ich, wie mild es geworden war. Vogelgezwitscher und das Geschrei spielender Kinder erfüllten die Luft.

Nichts hielt mich mehr drinnen. Ich griff nach der Jacke und brach zu meinem gewohnten Spaziergang auf. Die Bahnhofstraße war ungewöhnlich belebt, während man hier sonst kaum eine Menschenseele sah. Gesenkten Blickes ging ich Richtung Strandstraße, in der Hoffnung, dass niemand mich entdeckte und anquatschte. Aber ich erreichte den Bahnübergang unbehelligt.

Ein Gefühl von Leichtigkeit und Euphorie ergriff mich, während ich über die Schwellen des Bahngleises tippelte. Wie weit hier draußen der Himmel war, wie frisch und klar die Luft! Das Licht, der frühlingshafte Geruch, die Geräusche der Natur – all das löste einen Schwall verworrener Erinnerungen in mir aus. Dazu kam wieder dieses Gefühl einer starken inneren Spannung.

Der Wald begann, kurz darauf passierte ich den Bahnübergang. Gleich würde das Gleis sich verzweigen und dahinter der Wagenpark der Museumseisenbahn auftauchen. Wie immer würde ich dort auf den schmalen Pfad ausweichen, der parallel zu den Schienen verlief. Im Geiste sah ich bereits die alten Waggons und Dampfloks vor mir…

Und auf einmal wusste ich wieder, wie man zum Geisterhaus kam. Die ganze Zeit hatte ich mich nicht mehr an die Strecke erinnern können, aber jetzt erschien mir alles sonnenklar. Ich machte kehrt, ging zum Bahnübergang zurück und verließ dort das Gleis. Bald kam ich an eine Straße und erinnerte mich sofort, dass man ihr ein Stück folgen musste, um jenen unscheinbaren Pfad zu erreichen, der noch tiefer in den Wald hineinführte.

Weshalb war mein Gedächtnisschwund plötzlich vorbei? Es musste mit der aufgewühlten Stimmung zu tun haben, den Erinnerungen, die in ihrer Intensität fast wie Gegenwart erschienen. Und obwohl es mich schauderte, mutterseelenallein zum Geisterhaus zu gehen, wollte ich trotzdem hin, unbedingt. Etwas wartete dort, etwas immens Wichtiges.

Eine weitere Abzweigung folgte, und wieder war ich keine Sekunde unsicher, welche Richtung ich einzuschlagen hatte. Immer stiller wurde es, immer dichter wuchsen die Bäume auf beiden Seiten. Nur noch spärliches Licht drang bis hierher vor. Endlich kam der Wegstein mit seiner Inschrift, die nahezu unleserlich war: „A. D. 1810 Stein-Söhren“.

Moos und Gras überwucherten nun den Weg. Die Bäume am Rand hatten auf einmal eine merkwürdige Form: In Richtung des Waldes zogen sich die Stämme nahezu glatt in die Höhe, zu den Wegseiten aber bildeten sie lange Äste, die weit ausgriffen und sich über mir zu einem regelrechten Dach vereinigten. Letztes Jahr hatte ich diese krasse Asymmetrie nicht bemerkt, aber jetzt, wo alles noch fast kahl war, fiel sie sofort ins Auge.

Schließlich trat ich auf die Lichtung. Da war es, das Geisterhaus. Beim Anblick der verwitterten Backsteinmauern, der windschiefen Erker und Türme, der leeren Fenster schien plötzlich eine Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit zurückzukehren. Ein längst vergangener Morgen nach einer Sturmnacht kam mir wieder in den Sinn, die Todesangst von damals flammte erneut in mir auf…

Dann aber war etwas anderes doch stärker. Etwas, das getragen wurde vom Duft des Neuen, Frischen, den alles um mich herum atmete. Über mir leuchtete der blaue, wolkenlose Himmel. Die Bäume warteten sehnsüchtig darauf, wieder auszuschlagen. Alles hier lebte, wuchs, gedieh; die dunkle Vergangenheit war vorbei und versunken.

Beim Eintreten erwartete ich, das Geräusch zu hören. Dieses unheimliche Flüstern und Raunen… aber es blieb aus. Und statt eisiger Kälte, wie insgeheim befürchtet, spürte man dieselbe milde Luft wie auf der Lichtung – als wäre mir der Frühling ins Innere des Gebäudes gefolgt. Überall berührte einen dieser warme Luftstrom, an Treppenaufgängen und Türfüllungen, in den zahlreichen sonnenbeschienenen Winkeln. Eine Aura des Friedlichen, Sanften herrschte, alles lag lichtdurchflutet da.

Ich erreichte das Terrassenzimmer. Noch immer war deutlich erkennbar, dass hier vor längerer Zeit eine Party stattgefunden hatte: In der Nähe des Kamins lagen alte Matratzen, Wein- und Bierflaschen standen herum, weiter hinten steckten abgebrannte Fackeln im rissigen Steinboden. An den Wänden prangten überall die Inschriften, gepinselt, gesprüht oder mit Filzstift gekritzelt. Draußen hörte man die Bäume im Wind rauschen. Sonnenstrahlen fielen durch ihr Geäst und überzogen die Wände des Saals mit flirrendem Licht.

Dann sah ich die Einmeißelungen, tief in den Mörtel gearbeitete Lettern: „HARTMANN“ las ich, es folgte ein „JÜRGEN + SILKE“. Und endlich, endlich fand ich, wonach ich gesucht hatte: „HAUKE + MAREN“, eingeschrieben in ein Herz, das von einem Pfeil durchstochen wurde.

Es war, als würde sich ein Fenster öffnen, das in die Vergangenheit zurückführte. Die Nebel hatten sich plötzlich gelichtet und gaben den Weg frei, den Weg zu allem, was längst versunken war. Auf einmal konnte es wieder erreicht werden.

Ich setzte mich auf eine der Matratzen und betrachtete nur noch wie gebannt das Herz. Alles, alles war mir zurückgegeben, erneut geschenkt worden von einer unbekannten, guten Macht, die Vergangenheit war wieder Gegenwart. Die Stunden verrannen, aber das spürte ich nicht. Zeitfluss spielte keine Rolle mehr, nicht hier, wo alles eins war, Gegenwart, Zukunft und – vor allem – die Vergangenheit. Meine Vergangenheit.

Schließlich trat ich den Rückweg an. Die Strecke bis zum Waldrand lag rasch hinter mir. Mittlerweile war die Sonne untergegangen, hatte über dem Dorf den Himmel in Brand gesetzt. Alles leuchtete dort glutrot. Von den Feldern kroch allmählich die Kälte heran, aber hier auf dem Weg spürte man noch immer die Wärme des Tages.

Alles war genauso wie letztes Jahr, auf unserer Pfingstwanderung. Ich konnte die Anwesenheit der anderen förmlich spüren. Sie schienen ganz nah zu sein, fast glaubte ich sie zu sehen: Weit voraus, das mussten Bernd, Jürgen und Hartmann sein. Ein Stück hinter ihnen liefen Kristina, Silke und Micha. Die aufsteigende Wärme ließ ihre Umrisse immer wieder verschwimmen; manchmal schien es, als würden sie verschwinden, sich auflösen.

Aber ich wusste nun, dass ich sie nicht mehr verlieren würde. Das unsichtbare Band – es existierte nach wie vor, daran würde sich niemals mehr etwas ändern.



***



Schon seit Beginn der Osterferien vor einer Woche hatten wir sonniges Frühlingswetter. Tagsüber kletterte das Thermometer jetzt auf 20 Grad und höher, nachts dagegen herrschte noch Frost. Überall begannen die Bäume und Knicks allmählich zu ergrünen.

Ich lief jeden Tag bis Sonnenuntergang in den Feldern herum; mein Aktionsradius war nach und nach immer größer geworden. Inzwischen hatte ich sämtliche Strecken des letzten Frühjahrs und Sommers wieder ausfindig gemacht. Mein Lieblingsweg war der zum Steenbarger Strand. Aber ich ging auch gern zum Ferienzentrum und dahinter durch den Kurpark oder die Salzwiesen weiter zum Mittelstrand. Auf dem Rückweg machte ich häufig noch einen Schlenker an Gut Neudorf vorbei. Demnächst wollte ich anfangen, die landeinwärts gelegenen Regionen zu erkunden, das Grüne Meer.

Am Geisterhaus war ich seit dem Tag der Wiederentdeckung nicht mehr gewesen. Diesen Ort wollte ich mir aufsparen für besondere Momente. Irgendwann würde es wieder so weit sein.

Ich war mir sicherer denn je, ein Fenster gefunden zu haben, das in die Vergangenheit zurückführte. Glück, Verzauberung und Harmonie füllten mich ganz aus. Gesellschaft brauchte ich nicht, mied sie sogar. Nur wenn ich allein war, empfand ich auf meinen Wanderungen diese vollkommene Geborgenheit. Nur dann konnte ich wirklich in meinem Traum leben.

Vorm Aufbrechen öffnete ich das Fenster immer weit. Wenn ich abends nach Hause zurückkehrte, war der Raum erfüllt vom frischen, klaren Arom des Frühlings.



***



Wir waren zu unserer Klassenfahrt an den Rhein aufgebrochen. Sie sollte eine letzte gemeinsame Unternehmung sein, bevor nach den Sommerferien die Kursphase begann. Jeden Tag gab es Ausflüge, zu Denkmälern, Bauwerken, historischen Plätzen. Vor Ort waren Referate zu halten, die sich mit der jeweiligen Stätte beschäftigten.

Mein Thema hieß „Die Loreley“. In der Schulbibliothek hatten sie mich mit entsprechender Literatur regelrecht zugemüllt. Geschichtsbücher waren darunter gewesen, Lexika, sogar Gedichtbände. Dass die Materialfülle derart gewaltig war, hatte ich mir nicht träumen lassen. Wieder einmal wurde mir mein eklatanter Mangel an Bildung bewusst. Mein Referat baute schlussendlich auf einen Lexikon-Eintrag auf. Ich hatte ihn leicht abgewandelt, hier Teile weggelassen, dort etwas angehängt. Ich hoffte, damit durchzukommen.

Eine Zeitlang war ich ernsthaft versucht gewesen, mich vor der Fahrt zu drücken, eine Krankheit vorzutäuschen oder mir tatsächlich etwas zuzuziehen, einen Armbruch zum Beispiel. Der Gedanke, permanent den Blicken der anderen ausgesetzt zu sein, ihnen einen normalen, durchschnittlichen Menschen vorspielen zu müssen, war der reinste Horror. Nur ein kleiner Fehler, nur ein Sekündchen der Unachtsamkeit – und alles würde auffliegen. Sie würden sehen, was für eine erbärmliche Gestalt ich in Wirklichkeit war, und mich fortan als Irren betrachten, als jemanden, den man nicht für voll zu nehmen brauchte. Dann konnte ich einpacken. Sie würden mich quälen und fertigmachen, mir nichts mehr gönnen. Die Schule, bisher ein Ort der Sicherheit und des Rückzugs, würde für mich zur Hölle auf Erden werden. Und wo sollte ich dann hin?

Aber nun war ich doch mitgefahren. Wahrscheinlich war es glatter Selbstmord. Kamikaze, Absturz, Vorbei. Mir blieb nichts als zu beten.

Die Jugendherberge, in der wir die nächsten zehn Tage verbringen würden, lag mitten im Wald, an einem Hang über dem Fluss. Ich konnte es gerade noch verhindern, mit Martin und Christopher auf ein Zimmer zu kommen. Diese Politniks mit ihren ständigen Diskussionen und Gesinnungsprüfungen hätten mich sofort durchschaut; das wäre das definitive, vorzeitige Aus gewesen. Stattdessen teilte ich mir nun eine Bude mit Ronald und Kai. Bei ihnen brauchte ich keine komplizierten Gespräche über Stamokap und historischen Materialismus zu befürchten. Kai interessierte sich für nichts außer Fußball, Ronald quatschte momentan nur über sein neues Mofa, eine Puch Maxi Zweigang.

Nach der Zimmerverteilung passierte nicht mehr viel. Es gab noch eine kurze Besprechung im Gemeinschaftssaal, dann war Freizeit. Juliane und ich unternahmen einen Spaziergang durch den Wald. Zum ersten Mal in diesem Jahr blieb es auch abends mild. Die Bäume waren bereits dicht belaubt, das Grün der Blätter war jung und frisch. Manchmal öffnete sich die Sicht über das Tal, und man konnte das breite, glitzernde Flussband verfolgen, das sich wie ein Wurm durch die Landschaft schlängelte.



***



Per Bus wurden wir nach Trier an der Mosel gekarrt. Die Innenstadt war eine einzige Fußgängerzone. Autos mussten draußen bleiben, nur Linienbusse hatten freie Fahrt. Wenn sie vorbei wollten, hupten sie nicht etwa, sondern ließen ein Glöckchen ertönen, das über dem Fenster des Fahrers angebracht war. Und überall waren Straßencafés, in denen Leute saßen, schauten, sämtliche Zeit der Welt zu haben schienen. Diese Gemächlichkeit und Ruhe – es fühlte sich überhaupt nicht wie Stadt an. Dazu die vielen alten Gebäude. Sie erschienen mir unecht, wie Attrappen, die eine Filmproduktion hier als Kulissen aufgestellt und dann vergessen hatte.

Am seltsamsten war es, als wir die Bauwerke der Römerzeit besichtigten. Ich ertappte mich dabei, wie ich misstrauisch mit der Faust gegen die alten Mauern klopfte und insgeheim erwartete, dass sie hohl klangen. Römer – das waren für mich immer Figuren aus Filmen und Comics gewesen. Aber nun ragten ihre steinernen Relikte vor mir auf. Offenbar hatte diese Epoche wirklich stattgefunden. Und ebenso die nachfolgenden, wie die Trierer Altstadt bewies.

Geschichte war anscheinend nicht bloß ein Schulfach. Es hatte Zeiten vor der unseren gegeben.



***



Heute sollte es zu einer Burg gehen, die angeblich echt war.

Mitten im tiefsten Wald mussten wir aussteigen und zu Fuß weiterlaufen. Der Pfad wand sich in Serpentinen abwärts. Schließlich konnten wir zwischen den Bäumen den Talgrund erkennen, in dessen Mitte wirklich und wahrhaftig eine Burg aufragte, mit Türmen, Zinnen und einer Burgmauer! Ich mochte meinen Augen nicht trauen, glaubte erneut an an etwas Nachgestelltes, eine Kulisse.

Aber je näher wir dem Bauwerk kamen, desto echter wirkte es. Wir liefen über eine hölzerne Zugbrücke, durchschritten ein mächtiges Tor, unter dessen Bogen die Spitzen eines Fallgitters zu sehen waren, betraten schließlich einen Burghof, wie er in keinem Film authentischer hätte aussehen können.

Dann nahmen wir an einer Führung teil. Es ging durch Rittersäle, Schlafgemächer, Jagd- und Speisezimmer, vorbei an Schwertern, Hellebarden und klobigen Rüstungen. Bald war mir schwindelig von so viel Vergangenheit. Als wir schließlich erfuhren, dass die Burg noch bewohnt und nur teilweise der Öffentlichkeit zugänglich war, ging endgültig die Phantasie mit mir durch. Ich sah mich durch meine Burg laufen. In der Bibliothek reichten die Regale bis unter die hohe Kassettendecke. Ich blätterte in alten Bänden aus speckigem Leder, unter meinen Füßen knarzten die Dielen. Gegessen wurde an einem riesigen Tisch aus schwerem Massivholz. Über einen mit Fackeln ausgeleuchteten Gang erreichte ich das Schlafzimmer, in dem ein riesiges Himmelbett stand. Ich konnte Türen öffnen, die den Besuchern verborgen blieben, und in vollkommen abgelegene Teile der Burg gelangen. Hier war es nicht geheuer, des nachts sah man die Geister längst Verstorbener umherwandern.

Mir lief ein wohliger Schauer über den Rücken – Burgbewohner hätte man sein müssen! Wie es wohl war, einem uralten Adelsgeschlecht anzugehören? Ob man dadurch eine Identität bekam, ein anderer, irgendwie vollständigerer Mensch wurde?

Als nächstes fuhren wir in ein Kloster, das noch älter war als die Burg. Überall liefen waschechte Mönche herum. Sie trugen tatsächlich Kutten mit Kapuzen, ganz wie man es insgeheim erwartet hatte. Allerdings fehlten die seilartigen Kordeln um den Bauch. Sie würden von einem anderen Orden verwendet, erklärte der Mönchsbrüder, der uns durch die Anlage führte. Er sprach in altertümlichen, geschraubten Sätzen, mit einer gesalbten Stimme, die wie Singsang anmutete. Als er mir einmal sehr nahe kam, hatte ich plötzlich das Gefühl, ein Mensch wäre aus einer längst vergangenen Epoche zu uns in die Gegenwart gesprungen – es war direkt unheimlich.

Unsere Klassenfahrt verlief völlig anders, als ich es erwartet hatte. Ich war regelrecht berauscht von den vielen historischen Zeugnissen, die wir bereits gesehen hatten. Gleichzeitig fühlte ich mich in meinem eigenen Leben bestärkt. Ähnelte mein Schwelgen in Erinnerungen nicht dem, was hier überall geschah? Bewahrte ich nicht ebenfalls eine wichtige Vergangenheit?



***



Wir schauten von der Loreley hinab in die Tiefe. Der Fluss zog sich in einer engen Schleife um die zerklüfteten Felsen, die Schiffe waren klein wie Spielzeuge. Ein Stück entfernt sah man den Ort, St. Goarshausen. Über ihm thronte eine Burg mit einem hohen, runden Turm, auf dem eine Flagge wehte. Auch diesmal hatte der Anblick für mich etwas Kulissenhaftes, Unechtes. Als sei alles bloß aus Pappmaché, wie bei einer Modelleisenbahn.

Dann war es soweit: Referat Hauke! Während ich laberte, wurde es ringsherum immer voller. Ausflügler und Touristen gesellten sich zu uns und lauschten ebenfalls meinem Vortrag. Als ich fertig war, bekam ich offenen Szenenapplaus. Es war war mir peinlich, aber ich spürte auch ein bisschen Stolz.

Anschließend wanderten wir in den Ort hinab. Auf dem Weg sprach mich Herr Bode an, unser Mathe- und Physiklehrer.

„Guter Vortrag, Hauke“, meinte er anerkennend.

In seinen Fächern galt er als Koryphäe. Neben der Schule arbeitete er an der Uni in einem wichtigen Forschungsprojekt mit. Dabei war er noch so jung, wirkte mit seinem lausbubenhaften Gesicht selbst fast wie ein Schüler.

Erstaunlich war auch, dass er trotz all seiner Verpflichtungen noch Zeit und Lust hatte, sich mit uns zu beschäftigen. Viele betrachteten ihn als unseren eigentlichen Klassenlehrer, nicht Dr. Wahlstedt, dem unsere Angelegenheiten ziemlich schnurz waren. Auch diese Reise ging auf seine Initiative zurück. Trotzdem würde es nicht zuletzt an Herrn Bode liegen, ob ich dieses Jahr sitzen blieb oder nicht. Seine Fächer waren für mich der blanke Horror.

„Wie gefällt dir die Klassenfahrt?“, fragte er.

„Bisher ganz interessant.“ Ich wollte jetzt nicht so gern mit ihm quatschen. Seine Klugheit war immer anstrengend.

„Interessierst du dich eigentlich für Kunst?“

Kunst? Ich wusste nicht mal, was dieser Begriff genau meinte. Er schien alles und nichts zu bedeuten. Aber er hörte sich gut an, irgendwie cool.

„Ja, teilweise.“ Eine innere Stimme warnte mich, nicht zu sehr auf seine Fragen einzusteigen. Das konnte auch nach hinten losgehen.

„Eher für Malerei, Musik oder Literatur?“

„Äh, Musik.“

„Wenn du ein Musikstück komponieren müsstest über einen Ort, den du besonders magst – wie würde das klingen?“

Oje, jetzt wurde es kompliziert, wie immer bei Herrn Bode. Ich begann rumzuschwallern, mir irgendwelches Zeugs aus der Nase zu ziehen, von schmetternden Orchestern, brausenden Orgeln, schwellenden Chören. Zu Hause hätte ich mir solche Musik niemals angehört, aber das brauchte er ja nicht zu wissen.

Musik, Gefühle – dazu hätte ich eigentlich so viel sagen können. Wie oft glaubte ich Musik zu hören, wenn ich durch die Felder wanderte. Wenn ich Plätze und Orte aufsuchte, mit denen ich eine Erinnerung verband. Wenn ich die Ereignisse des letzten Jahres heraufbeschwor und jenes magische sich Fenster öffnete, das mich in die Vergangenheit zurückführte

Aber mit einem Kopftyp wie Herrn Bode ließ sich über so was ganz sicher nicht reden. Dinge wie Schönheit und Gefühle, die sich nicht zählen und objektiv beschreiben ließen, passten einfach nicht zu ihm. Er hätte mich nicht verstanden.

Unvermittelt wechselte er das Thema: „Und – wird's bei dir mit der Versetzung klappen?“

Ich hatte längst geahnt, dass es ihm um etwas ganz anderes ging. Und prompt war ich in seine Falle getappt. Denn in meinem System, so perfekt es ansonsten auch sein mochte, gab es einen einzigen schwachen Punkt: die Schule. Wenn ich das Jahr nicht schaffte, brach alles in sich zusammen. Und die Wahrscheinlichkeit dafür war hoch, verdammt hoch!

„Weiß nicht“, sagte ich leise.

Auf einmal fühlte ich mich müde und niedergeschlagen. Ich spürte, dass ich den täglichen Angriffen von außen, durch die Lehrer, durch all diese praktischen, tüchtigen, dem Leben zugewandten Menschen um mich herum, nicht mehr lange standhalten würde. Ich war mürbe, sturmreif geschossen. Meine Kapitulation stand unmittelbar bevor.

„Was, wenn du's nicht schaffst?“

Er hatte den Finger in die Wunde gelegt. Es ergab keinen Sinn mehr, ihm oder mir selbst länger etwas vorzugaukeln. Hier war die Chance, reinen Tisch zu machen, mein Herz auszuschütten, mich endlich mal jemandem anzuvertrauen, wie ich es mir – wenn ich ehrlich war – schon so lange wünschte.

Aber wenn ich jetzt weich wurde, ihn in mein Leben hineinschauen ließ, war alles vorbei. Sie konnten nicht ermessen, wie wichtig es für mich war, in meiner eigenen Welt zu leben. Sie würden alles zerstören, plattmachen, mit Stumpf und Stiel ausreißen!

„Keine Ahnung.“ Meine Stimme war noch leiser geworden. Hoffentlich hörte er die Bitte darin. Mein Flehen, mich auch diesmal davonkommen zu lassen, wie bereits im Zwischenzeugnis. Und keine weiteren Fragen mehr zu stellen

Unverwandt schaute er mich an, als versuche er, etwas zu verstehen. Schließlich nickte er kurz und ging nach vorn zu Dr. Wahlstedt, der mal wieder nicht wusste, welchen Abzweig wir nehmen mussten.



***



Genug all der Busausflüge und Besichtigungen! Heute stand eine Wanderung auf dem Programm. Martin, Christopher und Timo hatten sie ausgearbeitet.

Wir setzten mit der Fähre auf die andere Rheinseite über. Dort erwartete uns eine hübsche Berg- und Tallandschaft mit weiten, blumenübersäten Wiesen, dichten Wäldern und abgelegenen Dörfern. Es war sonnig und geradezu sommerlich warm. Bald zog ich die Jacke aus und band sie mir um die Hüften.

Ich fühlte mich sauwohl. Meine Niedergeschlagenheit nach dem Gespräch mit Herrn Bode war Schnee von gestern. Pausenlos quatschte ich mit Leuten. Ich hörte mir an, was Ronald übers Frisieren von Mofas wusste und erzählte selbst einige entsprechende Anekdoten aus der Nordstadt. Ließ mir von Timo unsere geplante Route auf der Wanderkarte zeigen. Beteiligte mich sogar kurz an einer Diskussion zwischen Martin, Christopher und ein paar anderen über Rüstungsexporte.

Warum ich die ganze Zeit Panik vor der Reise gehabt hatte, konnte ich jetzt überhaupt nicht mehr nachvollziehen. Ich verstand mich super mit den Leuten in meiner Klasse, es war toll, sie um sich zu haben. Fast noch besser als allein zu sein.

Eigentlich hätte man auch mal nach der Schule mit ihnen etwas unternehmen können. Nicht alle waren solche Stresstypen wie Martin und Christopher. Ich wusste, dass einige sich abends in einer Eckhorster Kneipe trafen, einer ehemaligen Fischräucherei. Nach allem, was ich gehört hatte, war es dort ein bisschen wie in der Alten Mühle: Man quatschte, trank, spielte Kicker und Darts. Manchmal gab es Konzerte, am Wochenende war Disco. Aber mit ihnen dort hinzugehen war schlicht utopisch – wie hätte ich anschließend wohl nach Hause kommen sollen? Der letzte Bus fuhr schon um acht, und mit dem Rad war es definitiv zu weit, erst recht im Winter, in Dunkelheit und Kälte. Eigentlich wohnte ich ziemlich ungünstig in Schönhagen. Man war dort draußen regelrecht vom Leben abgeschnitten.

Unsere Stimmung wurde immer ausgelassener. Juliane hatte sich ein Band aus Blumen geflochten und um die Stirn gelegt. Völlig losgelöst tanzte sie damit über die Wiesen. Ich hatte das Gefühl, als suchte sie meine Aufmerksamkeit. War sie nicht ständig in meiner Nähe? Oder täuschte das?



***



Wie jeden Abend versammelten wir uns nach dem Essen auf dem Festplatz hinter der Jugendherberge. Morgen sollte zum Abschied hier draußen gegrillt werden. Das Abendbrot im Speisesaal würde dann ausfallen.

Ich saß rittlings auf einem der halbierten Baumstämme, die einen Kreis um die Feuerstelle bildeten. Christopher und Herr Bode hatten ein Lagerfeuer angezündet. Es knisterte und prasselte, ein Duft nach verbranntem Holz zog durch die Luft. Angenehme Wärme begann sich auszubreiten.

Am Getränketisch füllte Juliane gerade zwei Plastikbecher mit Cola. Sie erschien mir mittlerweile reifer und erwachsener denn je. Überhaupt hatten alle in der Klasse mich inzwischen eingeholt und teilweise sogar hinter sich gelassen. Kindlich und zurückgeblieben wirkte keiner mehr von ihnen, selbst Ronald nicht.

Nun kam Juliane mit den Bechern an. Ungefragt drückte sie mir einen in die Hand und setzte sich mit dem Rücken zu mir auf die Bank. Erst war zwischen uns noch ein Stückchen Abstand, aber irgendwann rückte sie heran und lehnte sich an mich.

Die ungewohnte Nähe zu einem Mädchen war im ersten Moment wie ein Rausch. Tausend Gedanken jagten mir durch den Kopf. Warum hatte ich nie etwas gemerkt? Wie lange das bei ihr wohl schon ging? In der Nordstadt wäre sie tipptopp gewesen: super Body, dicke Titten, hübsches Gesicht. Sie hätte alle Jungen kriegen können. Aber sie wollte mich!

Störte es sie nicht, wie runtergekommen ich mittlerweile war? Oder hatte sie bloß noch nichts davon gemerkt? Es musste bald eine Woche her sein, dass ich zuletzt geduscht hatte. Selbst nach unserer heutigen Wanderung in Sonne und Hitze war kein Tropfen Wasser an meine Haut gekommen, ich hatte vorhin bloß das T-Shirt gewechselt. Wahrscheinlich stank ich regelrecht, nach Schweiß und diversen anderen Ausscheidungen. Juliane würde es sicher gleich merken und abhauen.

Sie selbst wirkte sehr gepflegt, sehr fraulich. Es war schön, ihren Körper zu spüren. Wir hatten uns vom ersten Tag an gut verstanden. Sie war die einzige Person, mit der ich noch regelmäßigen Kontakt hatte. Eigentlich passten wir gut zusammen.

So simpel war es also, die Vergangenheit abzuschließen, das Kapitel „Maren“ zu beenden? So banal? Wollte ich das wirklich? Stellte das nicht alles infrage, was ich mir mühsam aufgebaut hatte?

Das Lagerfeuer strahlte mittlerweile eine ziemliche Hitze ab. Ich hatte bereits die Ärmel hochgekrempelt. Wie zufällig streifte Julianes Hand jetzt meinen Unterarm. Die Berührung durchlief mich heiß und kalt.

Das war ein unmissverständliches Signal gewesen! Ich musste nun irgendetwas tun, ihr antworten. Sie ebenfalls berühren, ihr übers Haar streichen, sie in die Arme nehmen und küssen…

Aber ich saß nur stocksteif da, verharrte wie gelähmt in derselben Position, bis mir alle Knochen wehtaten. Eine Rückmeldung auf ihre eindeutige Geste? Fehlanzeige.

Nach einer Weile rückte sie wieder ein Stück von mir weg. Schließlich stand sie auf, ging zum Getränketisch, füllte sich Cola nach. Anschließend setzte sie sich zu Christopher, Timo und Herrn Bode ans Feuer.

Hatte ich gerade die Chance meines Lebens verpasst? Andererseits: Was wäre dann gekommen? Lange, romantische Spaziergänge mit Juliane durch die Schönhagener Felder? Lächerlich! Es half nichts – andere Leute waren in meinem Leben einfach nicht unterzubringen, am allerwenigsten Mädchen. Das war nun mal die traurige Wahrheit, Punkt.

Ich schaute zum Feuer. Juliane saß noch immer dort und stocherte gedankenverloren mit einem Stock in den Flammen herum.



***



Nachts träumte ich von Maren. Sie nahm mich in den Arm, flüsterte mir liebe Worte ins Ohr, küsste mich sanft. Ich hatte mich so sehr nach dieser Berührung gesehnt, aber zum Schluss die Hoffnung fast schon aufgegeben. Und nun geschah es endlich wieder. Wie stark meine Liebe zu ihr noch immer war, wie überwältigend! Sie loderte und wütete in mir wie eine Feuersbrunst.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte ich derbe Halsweh. Und der Schädel dröhnte mir wie nach einem Besäufnis, dabei war ich absolut trocken geblieben, hatte bloß Cola getrunken.

Der letzte Tag war zur freien Verfügung, bevor abends auf dem Festplatz die große Party stieg. Eigentlich hatte ich mit Sibylle und Martin in den Ort runtergehen wollen, aber nun sagte ich den beiden ab. Ich fühlte mich einfach zu benebelt für Gesellschaft. Stattdessen lief ich nach dem Frühstück allein los. Ich nahm den Wanderpfad, der direkt hinter der Jugendherberge begann. Wohin er führte, wusste ich nicht, aber das war mir egal.

Ich wollte nur an den wunderschönen Traum der letzten Nacht denken, wollte das süße Glück von neuem spüren, das mich bei Marens Berührung durchströmt hatte, und mich ganz meiner Sehnsucht hingeben, meiner Melancholie. Was gestern am Lagerfeuer passiert war, erschien mir jetzt völlig belanglos. Zum Glück war ich nicht auf Julianes Angebot eingestiegen – das hätte ein böses Erwachen gegeben!

Der Pfad führte über weite Wiesen und Äcker. Einmal kam ich an einem blühenden Rapsfeld vorüber, dessen leuchtendes Gelb mich wie einen guten, alten Freund zu begrüßen schien. Wären in der Ferne nicht die bewaldeten Höhen gewesen, hätte ich mir einreden können, zu Hause zu sein. Wie sehr ich meine Wege vermisste, die vertraute Landschaft, den Anblick der See.

Marens Bild stand gestochen scharf vor mir. Es war mein stiller Begleiter, wies mir den Weg durch dieses unbekannte Terrain. Mir fiel ein, dass sie mal von Verwandten im Rheinland erzählt hatte. Vielleicht stattete sie ihrer Sippschaft gerade einen Besuch ab, lief just in diesem Moment mit ihnen hier durch die Gegend und befand sich ganz in der Nähe? Es konnte doch sein, verflucht! Im Leben passierten manchmal die verrücktesten Dinge.

Eine Gruppe Wanderer tauchte vor mir auf. Im ersten Moment glaubte ich Marens blondes Haar zwischen ihnen zu entdecken. Aber als die Leute näherkamen, stellten sie sich allesamt als Unbekannte heraus. Egal! Wenn ich die Augen offenhielt, würde ich ihr sicher begegnen. Ich brauchte nur loszulassen, mich einfach durch die Gegend treiben zu lassen, dann würde es früher oder später bestimmt klappen. Es musste einfach!

Aufregung packte mich, mein Herz begann zu rasen. Je länger ich über die ganze Sache nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien sie mir. Ich nahm einige Abzweigungen, durchquerte einen kleinen Wald. Die Gewissheit ihrer Nähe wurde immer intensiver. Dann schlug ich offenbar eine falsche Richtung ein, denn das Gefühl schwächte sich wieder ab. Als ich mich korrigierte, kehrte es zurück, stärker als zuvor. Es war wie ein innerer Kompass, der mich am Ende unweigerlich zu Maren führen würde. Es konnte nichts schiefgehen.

Die Anspannung war bald kaum noch zu ertragen. Längst hielt ich mich nicht mehr an die vorgegebenen Wege, lief querfeldein über Wiesen und Koppeln, dennoch schaffte ich es nicht, mich ihr zu nähern. Immer wenn ich sicher zu spüren meinte, wo sie war und den fraglichen Punkt endlich erreichte, war sie fort. Als ob sie vor mir fliehen, ein übles Spiel mit mir treiben wollte.

Schließlich stand ich mitten im Wald, völlig erschöpft, ohne jede Orientierung. Längst war es dunkel, und ich fror erbärmlich, weil ich natürlich keine Jacke dabei hatte. Dornen und Brennnesseln hatten mir die Waden übel zugerichtet, mein Schädel brummte schlimmer denn je.

Nur sehr langsam gewöhnte ich mich an den Gedanken, dass Maren nicht mehr auftauchen würde, mehr noch: dass sie niemals in der Nähe gewesen war. Was für eine idiotische Idee! Ich war einem Phantom hinterhergejagt, nichts weiter. Wer hatte mir bloß diesen Floh ins Ohr gesetzt?

Ich ging einfach in irgendeine Richtung, bis ich an einen Weg kam. Riesige Erleichterung, als ich das Rauschen von Autos hörte! Bald stieß ich auf eine Landstraße. Ich überlegte, zu trampen, aber in dieser Dunkelheit und noch dazu im Wald hätte sicher niemand angehalten. Zum Glück kam gerade ein Radfahrer vorbei, ein älterer Mann, den ich nach dem Weg fragen konnte. Er kratzte sich am Kopf und riet mir, im nächsten Ort besser den Zug zu nehmen.

Aber ich hatte natürlich keinen müden Heller dabei und musste laufen. Nach geschlagenen zwei Stunden kam ich endlich wieder zur Jugendherberge. Dort herrschte längst große Aufregung wegen meines Verschwindens, die Lehrer hatten bereits erwogen, die Polizei zu verständigen. Ich durfte mir eine Standpauke von Wahlstedt anhören, und auch Herr Bode warf mir missbilligende Blicke zu.

Die Abschiedsparty war längst vorbei, das Feuer heruntergebrannt. Zu essen gab es auch nichts mehr, außer einem letzten Stück Meterbrot. Ich schlang es in großen Happen mit Barbecue-Soße herunter. Die anderen standen schweigend herum und glotzten mich mit großen Augen an.

Am Ende hatte ich mich also doch noch verraten. Nun wussten sie, dass ich nicht normal war, einen Hau weg hatte. Zum Glück war die Reise morgen vorbei. Und diese Klasse würde bald nicht mehr existieren.



***



Ich war endlich zurück, hatte meine Wege wieder, meine Natur! Überall leuchtete noch der Raps. Es war, als hätte er meine Heimkehr abgewartet, bevor er seine gelben Blätter abwarf und weiter heranreifte.

Eines Abends, als ich von meiner obligatorischen Wanderung zurückkam, quatschte Muttern mich an: „Vorhin hab ich Bernd getroffen. Sie arbeiten jetzt wieder alle auf diesem Bauernhof, dieser Landkommune, du weißt schon.“

Ich nickte.

„Machst du dieses Jahr gar nicht mit?“

Es dauerte einen Augenblick, bis ihre Worte bei mir ankamen. Ich brachte keinen Ton heraus.

„Ich dachte nur, weil's dir letztes Jahr doch so gut gefallen hat.“ Sie sprach ganz arglos, schaute mich treuherzig an. Anscheinend meinte sie es ernst.

In meinem Kopf ging es drunter und drüber. Hatte sie denn gar nichts mitbekommen? War sie schon wieder so weit weg von mir? Diese naive, blöde Kuh! Plötzlich hatte ich Lust, ihr ordentlich gegen's Schienbein zu treten, damit sie aufwachte, endlich was merkte.

Aber ich konnte mich im letzten Moment zusammenreißen. „Nö!“, zischte ich bloß und haute ab, ließ sie einfach dort stehen.



***



Langsam zog der Sommer ein. Die Badesaison hatte bereits begonnen, und wie zufällig führten meine Wanderungen jetzt oft ein Stück am Wasser entlang. Allerdings beschränkte ich mich auf den Schönhagener und den Mittelstrand. Steenbarg mied ich. Dort waren zu viele Leute aus dem Dorf, die mich hätten sehen können.

Ich liebte es, auf dem Deich entlangzulaufen und das unbeschwerte Treiben am Strand zu beobachten, die Ferienstimmung zu spüren, die wie ein Zauber über allem lag. Gerade kamen zwei bildhübsche Mädchen aus dem Wasser zurück. Sie streiften ihre Badeanzüge ab und legten sich splitternackt auf ihre Handtücher – dass die Spaziergänger sie begafften, schien ihnen egal zu sein. Hatte ich wirklich auch mal zu diesem leichtlebigen Volk gehört? War ich wagemutig in die Fluten gesprungen und hatte mich danach stundenlang in der Sonne rösten lassen? War ich genauso braun gewesen wie all die schmucken Strandboys und Badenixen da unten?

Ich schaute an mir herab: verschwitztes T-Shirt, fleckige Jeans, rissige Turnschuhe. Es war meine Minimalbekleidung, weniger ging nicht, aller Hitze zum Trotz. Nie und nimmer hätte ich mir einfach die Klamotten vom Leibe reißen können, wie ich es gerade gesehen hatte. Obwohl meine Haut verzweifelt nach Sonne und Wärme rief und ich längst am ganzen Körper Pickeln hatte, wahrscheinlich vom Lichtmangel. Ich traute mich kaum noch, in den Spiegel zu gucken, so käsig und streuselkuchen-mäßig, wie ich inzwischen aussah. Sogar Jürgens Anblick im letzten Jahr musste angenehmer gewesen sein als meiner jetzt.

Zur gruseligen Haut kamen die Haare: Fettig und zottelig hingen sie mir ins Gesicht. Beim Friseur ließ ich mir jetzt immer den biedersten Pisspott-Mittelscheitel-Schnitt verpassen, den man sich vorstellen konnte. Das Nasenfahrrad von Brille, das ich zudem seit einiger Zeit trug, machte die Kombination perfekt. Ich sah so unscheinbar, langweilig und scheiße aus, dass man mich einfach übersehen musste. Es schien tatsächlich zu funktionieren: In Schönhagen unternahm ich manchmal testweise Exkursionen Richtung Dorfkern, und nie erlebte ich es, dass Passanten sich nach mir umdrehten. Kein Mensch erkannte mich mehr als den Nachbarjungen der Stützers und Rönnfelds.

Nur eines konnte meine neu gewonnene Unsichtbarkeit ernsthaft in Gefahr bringen: Der innere Sog, dieser verzweifelte Drang, bis zur Grünen Insel zu gehen. Bestimmt waren sie abends wieder alle dort, wie letztes Jahr. Ich hätte mir zu gern das bunte Treiben vor der Eisdiele und am Mühlenteich angesehen, wenigstens ein einziges Mal. Aber es ging nicht; dort wäre meine Tarnung am Ende wohl aufgeflogen.

Schließlich wischte ich alle Bedenken beiseite. Einem Schatten gleich, den Kopf tief zwischen den Schultern, schlich ich durch den Papenwisch, entschlossen, mich so nah wie möglich heranzuwagen. Ich achtete höllisch darauf, niemandem aus der Clique zu begegnen, war jederzeit darauf gefasst, zu verschwinden, in einen der Durchgänge zu flüchten, die auf Hinterhöfe oder zur Rückseite des Mühlenteichs führen. Selbst auf die Gefahr hin, dort von irgendeinem fiesen Kläffer angefallen zu werden.

Nun kam ich in die winzige Gasse mit dem Namen „Knüll“. Dies war das brenzligste Wegstück. Man konnte nirgendwohin mehr ausweichen; wenn sie mir hier begegneten, war ich verloren. Meine Schritte wurden immer zögerlicher, immer kleiner. Allmählich tauchten die ersten Flecken des Menschengewimmels an der Eisdiele auf. Ein kleines bisschen wollte ich noch weitergehen, wenigstens, bis ich ihre Stimmen hören konnte. Mir wurde vor Angst und Aufregung schwindelig; mein Blick begann sich zu trüben, vor meinen Augen entstanden grüne Kreise.

Eine Bewegung hinter mir – Leute kamen durch den Knüll genau auf mich zu! Ein Pärchen. Beide trugen Sonnenhüte und knallbunte Bermudashorts, vor seiner Plauze baumelte eine teuer aussehende Kamera. Ich quetschte mich gegen die Wand, machte mich flach wie ein Blatt Papier. „Durchgang verboten, oder wie?“, fragte der Typ grinsend. Die beiden schoben sich an mir vorbei und traten auf die Grüne Insel hinaus, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres. Ich blieb im Halbdunkel der Gasse zurück. Mein Herz raste, Schweißperlen standen mir auf der Stirn.

Ein paar Tage später hatte ich eine neue Idee. Ich wartete, bis die Straßenbeleuchtung sich abschaltete. Dann ging ich hinaus, wagte mich in den kleinen Stichweg, der von der Brentanostraße abzweigte. Der Anblick der Reihenhausblöcke ohne Zäune und Vorgärten erschien mir seltsam vertraut, obwohl alles so lange her war. Als ich zum Haus der Sührings kam, wurde die Spannung unerträglich.

Die Vorhänge des Fensters im ersten Stock rechts waren nicht zugezogen. Das fand ich merkwürdig, denn sie hatte mir erzählt, dass sie bei offenen Vorhängen nicht gut schlief. War sie verreist? Aber der Mann im Mond mit seiner Pfeife hing dort wie eh und je. Sein Gesicht zeigte das altvertraute, milde Lächeln. „Auch mal wieder hier?“, schien er zu fragen.

Plötzlich wurde im Nebenhaus das Küchenfenster aufgeklappt! Ich machte auf dem Absatz kehrt und wetzte den Stichweg hinab, als wäre eine Meute bissiger Hunde hinter mir her. Erst in meinem Zimmer wurde ich wieder ruhiger. Das war sicher Frau Wiedemann gewesen, die Nachbarin der Sührings. Sie litt an Schlafstörungen und rannte manchmal nachts im Haus herum. Gesehen hatte sie mich bestimmt nicht, dazu war es einfach zu dunkel gewesen.

Trotzdem hatte mir der Zwischenfall gezeigt, wie gefährlich solche Aktionen waren. Seitdem verkniff ich mir Ausflüge zur Grünen Insel und in die Brentanostraße lieber.



***



Mit Ach und Krach war ich in die Oberstufe versetzt worden. Am Ende hatte es doch bloß eine Fünf gegeben, in Chemie. Herr Bode hatte mich in seinen Fächern jeweils mit einer Vier davonkommen lassen. Ich wusste, dass es ein Akt der Gnade gewesen war. Mein stilles Flehen bei unserem Gespräch auf der Klassenfahrt hatte anscheinend gewirkt.

Aber konnte man es überhaupt „Flehen“ nennen? War es nicht eher eine verkappte Drohung gewesen? Hatte ich ihm nicht zu verstehen gegeben, dass es in seiner Hand lag, wie es mit mir weiterging? Dass er mich über die Klinge springen ließ, wenn er… auf einmal hatte ich das Gefühl, ihn regelrecht erpresst zu haben.

Dabei wäre ein harter Schnitt, ein schnelles Ende vielleicht sogar besser gewesen. Was sollte das ganze Herumwursteln noch? Wozu sich weiterhin gegen das Unvermeidliche stemmen? Im nächsten Jahr würde ich die Versetzung doch nicht mehr schaffen. Mein Akku war leer, die gespeicherte Energie verbraucht. Das Rad stand endgültig still. Ich war müde, wollte mich einfach nur fallen lassen.

Gleichzeitig war meine Panik größer als jemals zuvor. Jeden Tag konnten sie merken, was abging, und dann war ich fertig. Verständnis durfte ich mir von niemandem mehr erhoffen, auch von Herrn Bode nicht. Er hatte mir mit seiner milden Benotung eine letzte Chance geben wollen, erwartete aber eine Gegenleistung in Form von Bemühen, Anstrengen und so weiter, das übliche Zeugs halt. Wenn das nicht passierte, womit zu rechnen war, würde er handeln wie jeder andere Pauker auch: Dann war Sense. Bei ihm wäre es doppelt bitter gewesen. Womöglich hätte er sich von mir hintergangen gefühlt.

Aber vermutlich würde ich nach den Sommerferien eh einen anderen Mathe- und Physiklehrer bekommen. Man munkelte, dass Bode im nächsten Schuljahr Leistungskurse in seinen beiden Fächern anbieten wollte; Christopher und Timo waren schon ganz gierig darauf. Diese Bekloppten!

Meine Wanderungen hatten in der Zwischenzeit einen andächtigen, geradezu religiösen Charakter angenommen. Sie glichen mittlerweile Wallfahrten an heilige Stätten, Orte und Plätze, mit denen sich ein Mysterium verband. Die Analogie traf es sehr gut. Zum Beispiel die Stelle am Mühlenbach hinter den Kleingärten: Dort begann das Grüne Meer, dessen geheimnisvolle Symbolik mir noch immer ein Rätsel war. Oder das Hünengrab, das ich mittlerweile wiedergefunden hatte: Weshalb waren die uralten Inschriften an den Bäumen, diese greifbaren Verbindungen zu längst vergangenen Zeiten, so merkwürdig elektrisierend? Mit jedem meiner Plätze hatte es eine besondere Bewandtnis, die ich mir nie wirklich erklären konnte. Genau das aber, das Unerklärliche, Mystische, machte die Faszination aus, gab mir Halt und Stärkung.



***



Endlich Sommerferien!

Muttern hatte sich für vier Wochen zur Kur verabschiedet. Sie war „ausgebrannt“, wie Klaus uns erklärte, und angeblich von ihre Chefin zu diesem Schritt genötigt worden. Das konnte ich mir gut vorstellen. Freiwillig wäre sie ihrer geliebten Arbeit niemals so lange ferngeblieben.

Henri würde in dieser Zeit in Neuschönhagen wohnen, bei Klaus, dessen Frau und Kinder inzwischen ausgezogen waren. Angeblich sollte er diverse Sachen am Bungalow reparieren und sich auf diese Weise ein hübsches Taschengeld verdienen. In Wirklichkeit wollte Muttern ihn während ihrer Abwesenheit aus dem Haus haben. Sie traute Henris neuen Kumpels nicht über den Weg. Die hätten alle was auf dem Kerbholz, meinte sie, solche wie die würde man aus der Nordstadt zur Genüge kennen. Wahrscheinlich lag sie mit dieser Einschätzung gar nicht so falsch. Die Typen sahen wirklich zwielichtig aus.

Henri hatte sich seit dem letzten Jahr stark verändert. Er war regelrecht in die Höhe geschossen, von Pummeligkeit konnte bei ihm absolut keine Rede mehr sein. Seine Stimme war dunkel geworden, und auch bei ihm hatte mittlerweile der Bartflaum zu sprießen begonnen. Plötzlich war etwas Unberechenbares, Unkontrollierbares an ihm, das mich ein bisschen an Hartmann erinnerte. Ich konnte verstehen, dass Muttern ihn zu Hause nicht einfach schalten und walten lassen wollte.

Und es war mir nur recht. Vier Wochen leben wie ein Eremit! Weit und breit keine Lehrer, die Leistung einforderten. Keine Mitschüler, vor denen man eine Fassade aufrecht erhalten musste. Nichts, das nervte und das eigene Tun infrage stellte. Ich konnte mich ganz meinen Bildern und Träumen hingeben. Es war fast zu schön um wahr zu sein.



***



In der ersten Zeit war das Wetter feucht und schwül. Regenschauer und Gewitter zogen in endloser Folge über uns hinweg. Ich hatte starken Heuschnupfen und heftige Anfälle von Atemnot. Fast jede Nacht wachte ich auf und musste mir Nasentropfen oder Asthmaspray verabreichen.

Anschließend wollte der Schlaf meist nicht zurückkehren. Dann saß ich im Dunkeln auf der Treppe und lauschte den Naturgewalten. Blitze zuckten auf und zerrissen mit ihrem bläulich-kalten Licht für Sekundenbruchteile die Finsternis. Donnerschläge ließen das leere Haus in seinen Grundmauern erbeben. Der Monsun rauschte so laut, dass ich unwillkürlich das Gefühl hatte, auf hoher See zu sein, einsam auf endlosem Wasser dahinzutreiben ins Nirgendwo.

Schließlich verhallte das Donnern, erstarb das Wetterleuchten. Nur der Regen rauschte weiter vor sich hin. Ich saß noch immer auf der Treppe und starrte ins Leere, nichts sehend und nichts suchend. Es war, als hätte ich mich dort vergessen.



***



Aber bald gewann stabiles Hochdruckwetter die Oberhand. Die Sonne schien jetzt endlos, es herrschte flirrende Hitze, das Thermometer zeigte 30 Grad und darüber. Tagsüber verließ ich das Haus nun nicht mehr, außer zum Einkaufen im nahen Minimarkt. Ich weilte lieber auf der Terrasse unter der Markise, hörte Musik, las, rauchte. Ab und zu nahm ich eine kalte Dusche, um wieder frisch zu werden.

Erst nach Einbruch der Dunkelheit, wenn es kühler geworden war, stahl ich mich hinaus, ging auf meiner geliebten Bahnstrecke Richtung Strand. Stille hatte sich über die Felder gesenkt, nur die Grillen zirpten unablässig. Es duftete nach Kornstaub und Heu.

Nach und nach schärfte die Dunkelheit meine Sinne. Das Schwarz des Himmels wurde transparent, verwandelte sich in einen samtig glitzernden Teppich aus Lichtpunkten. Einige pulsierten, andere wechselten fortwährend zwischen Rot und Grün. Und immer wieder zogen Sternschnuppen wie silbrig-glänzende Pfeile über die nächtliche Kuppel. Sterne wie Staub, wie Wolken und Nebelschwaden. Das Glitzern und Flirren über mir schien unermesslich.

Schließlich konnte ich auch wieder jenes zerbrechliche Singen wahrnehmen, wie schon im Februar auf dem Eis. Die Klänge schienen all mein Fühlen und Wünschen auszudrücken; mein Innerstes wollte sich auflösen, zerfließen in dieser geheimnisvollen, mystischen Sphärenmusik.

In einer dieser Nächte wagte ich zum ersten Mal wieder, zum Steenbarger Strand zu gehen. Der Mond schien so hell, dass man kilometerweit über die Felder schauen konnte. Jeden Augenblick rechnete ich damit, dass die Clique auftauchte, unterwegs zu einem ihrer heimlichen Strandbesuche. Aber außer mir trieb sich zu dieser nächtlichen Stunde kein Mensch hier draußen herum. Auch am Steenbarger Strand war alles leer. Ich setzte mich in die Dünen und schaute über die See, betrachtete das Leuchten der Mitternachtssonne.

Auf dem Rückweg wurde mir plötzlich klar, dass ich zum Geisterhaus gehen musste. Den Grund hätte ich nicht nennen können. Ich wusste einfach, dass es so war.

Statt nach Schönhagen lief ich einen Bogen zum Steenbarger Bahnhof. Dort ging ich wieder aufs Gleis. Bald kam ich in den Wald, erreichte den Bahnübergang mit dem Weg zum Haus. Letztes Jahr, in der Nacht des Kurparkfestes, hatte an dieser Stelle bereits starkes Wetterleuchten eingesetzt, aber in einer klaren Nacht wie dieser war kein Gewitter zu befürchten.

Seit Ende März war ich nicht mehr am Geisterhaus gewesen, seit jenem besonderen Tag, als sich das Fenster in die Vergangenheit geöffnet hatte. Je näher ich der Lichtung im Wald kam, desto klarer wurde die Sphärenmusik. Sie schien von hier auszugehen und wieder hierhin zurückzufließen, wie in einem allumfassenden, kosmischen Kreislauf. Das Geisterhaus war eine Art Kraftzentrum, deutlich konnte ich die Macht spüren, die über diesem Ort lag.

Ich geriet in Trance, taumelte fast willenlos durch die Dunkelheit. Endlich stand ich vor dem pechschwarzen Eingangsportal. Aus dem Innern des Hauses strömte mir der Eishauch entgegen. Die Sphärenmusik war verschwunden, statt ihrer erfüllte jetzt ein Geräusch die Luft, das mir wohlvertraut war: unablässiges Wispern und Raunen, verschwommen und dennoch schneidend klar, lockend und zugleich sehr unheimlich. Angst und Entsetzen stiegen in mir hoch, füllten mich ganz aus. Ich wollte fliehen, aber etwas hatte mich mit scharfen Klauen gepackt, gab mich nicht mehr frei.

Geradezu hypnotisiert starrte ich in den weit aufgerissenen Schlund vor mir. Wie gern hätte ich mich in dieses Geflüster geworfen, um endgültig zu vergehen, eins zu werden mit dem Nichts. Längst hatte sich die Finsternis in mir ausgebreitet wie Gift, eine Seuche, eine Todeswolke. Es rief mich, zog mich. Sich zu wehren war sinnlos.



***



Als ich wieder klar wurde, lag über den Baumwipfeln am Rand der Lichtung bereits rötlicher Lichtschein. Ruhig und gefasst trat ich den Heimweg an. Es war, als kehrte ich von einer Andacht, einer Schwarzen Messe zurück.

Während meines Wegs durch die Felder stieg am Horizont der Sonnenball auf. Nach wie vor zeigte sich kein einziges Wölkchen am Himmel. Ein weiterer glühend heißer, lichtdurchfluteter Tag nahm seinen Anfang.

Ich wusste, dass ich in der nächsten Nacht wieder losgehen würde. Sobald die Dunkelheit sich herabsenkte und über den Feldern die Sphärenmusik zu erklingen begann, wollte ich mein nächtliches Wandern fortsetzen, die Suche von Neuem aufnehmen.

Und irgendwann sie mich wieder zum Geisterhaus führen.



***



Die Schule hatte wieder begonnen. Die Klassen waren aufgelöst, nun galt es sich durch den Dschungel des Kurssystems zu schlagen. Wie anonym es im bisher so übersichtlichen Wilhelm-Gymnasium plötzlich zuging! Woher kamen all die fremden Menschen? Waren sie schon immer da gewesen? Schlagartig wurde mir bewusst, wie wenig ich früher das Geschehen außerhalb meiner eigenen Klasse wahrgenommen hatte.

Viele schöne Mädchen waren unter den neuen Gesichtern. Durch sie bekamen meine Kurse einen besonderen Reiz. Der Unterricht interessierte mich natürlich nicht die Bohne, aber es war geradezu ein Fest, all die Schönheiten zu betrachten, mit denen ich den Raum teilte, die manchmal bloß eine Bank von mir entfernt saßen.

Ein Mädchen fiel mir besonders auf. Sie hatte blondes, volles Haar, wie Maren. Aber ihre Augen waren nicht grün, sondern meerblau. Sie leuchteten groß und rund, wie der Glücksstein, den Maren mir einst geschenkt hatte. Leider hatten wir nur den Deutsch-Grundkurs zusammen, sodass ich sie gerade mal drei Stunden in der Woche sah. Ihr Name war Anna.



***



Derweil wurden meine Wanderungen durch die Natur immer ausgedehnter. Ich hatte inzwischen die gesamte Schönhagener Umgebung lückenlos in meinem Kopf kartographiert. Was mir anfangs endlos weit und geheimnisvoll erschienen war, hatte sich verkleinert, war vertraut und übersichtlich geworden. Das Grüne Meer hatte aufgehört, ein Meer zu sein.

Fast zwangsläufig gingen mir bald die Routen aus. Mir blieb nichts, als die bekannten erneut zu laufen. Aber ähnlich wie zu Beginn des Jahres, als ich immer dieselbe Wanderung gemacht hatte, störten mich die Wiederholungen nicht, im Gegenteil: Gerade sie machten den Reiz aus. Nur so konnte ich die langsamen Veränderungen beobachten, denen das Land unterworfen war, ein Gefühl für den Kreislauf der Natur bekommen.

Die Tage wurden kühler und kürzer, der Herbst hielt seinen Einzug. Morgens lag nun oft Nebel über den Feldern. Nahezu alle waren neu bestellt und zeigten wieder gleichmäßiges Grün. Nur der Mais stand noch mannshoch, auch Kohl und Salat waren bislang nicht geerntet.

In der Schule hatte ich mich mittlerweile ganz auf Anna fixiert. Still und leise beobachtete ich sie, wo immer ich konnte, während des Unterrichts, im Oberstufenraum, auf den Fluren des Gebäudes. Ich hatte einiges über sie in Erfahrung gebracht. So wusste ich zum Beispiel, dass sie in einem kleinen Dorf zwischen Eckhorst und Schmölln wohnte. Einer ihrer Leistungskurse war Sport. Eigentlich mein absolutes Hassfach, aber Anna wurde dadurch für mich nur noch attraktiver. Man sah sofort, wie durchtrainiert und agil sie war. Und vermutlich lag es nicht zuletzt am Sport, dass sie diese Unbeschwertheit ausstrahlte, die sie so anziehend machte. Tennis und Leichtathletik waren angeblich ihre Lieblingsdisziplinen – wahrscheinlich spielte sie einfach ein Match, wenn es ihr schlecht ging.

Mit ihr reden tat ich nie. Sie sollte ein schönes Gemälde für mich bleiben, an dem ich mich erfreuen konnte, sollte mich ablenken von meiner anderen, meiner wahren Liebe, die noch immer in mir brannte und einfach nicht verlöschen wollte. Die mich lähmte, mir jede Kraft nahm, und von der ich doch nicht lassen konnte.

Es war jetzt über ein Jahr her, seit ich Maren zuletzt gesehen hatte, und ich schaffte es kaum noch, mir ihr Gesicht zu vergegenwärtigen. Welch ein Unglück, dass ich kein einziges Foto von ihr besaß! Meinen Gefühlen drohte allmählich das Ziel abhanden zu kommen, sie liefen immer mehr ins Leere. Und ich spürte kein Echo mehr, wusste nicht mehr sicher, ob Maren mich noch genauso liebte wie ich sie. Das Band hatte sich unbemerkt gelöst. Das Band zu ihr und auch zum Rest der Clique. Ich war abgeschnitten.

Und so stellte ich einerseits in der Schule Anna nach, ohne sie jemals wirklich kennen lernen zu wollen, und überließ mich andererseits am Nachmittag meinen Schmerzen. Ich beobachtete, wie sich mein Inneres langsam zerfraß und aushöhlte, und genoss dieses Gefühl auch noch.

 

 

***



Muttern und Klaus planten, zum Ende des Jahres zusammenzuziehen. Ich hatte es längst geahnt. Was sollte Klaus allein in einem leeren Bungalow? Trotzdem war meine Überraschung groß, als ich erfuhr, dass nicht er zu uns, sondern wir zu ihm nach Neuschönhagen ziehen würden. Was sollte diese verkehrte Welt? Er war einer, wir waren drei. Er hatte so gut wie keine Möbel mehr, wir dagegen waren komplett ausgestattet.

Angeblich gab es gewichtige finanzielle Gründe. Klaus erläuterte sie mir lang und geduldig, aber ich verstand bloß Bahnhof. Im Grunde interessierte es mich auch nicht. Ich wusste nur, dass ich unser Haus nicht verlieren wollte. Es war meine Zuflucht, mein Vertrauter, mein Freund. Und ich wollte in Schönhagen bleiben.

Neuschönhagen war ein Dorf vom Reißbrett, eigens aus dem Boden gestampft für Leute, die von der Stadt aufs Land zogen. Der Ort bestand komplett aus Bungalows und anderen, ähnlich sterilen Kästen. Alles war neu und künstlich. Einen historischen Dorfkern gab es nicht.

Aber mein Protestgeschrei verhallte wirkungslos. Muttern hatte sich mal wieder was in ihren dicken Schädel gesetzt und zog es durch, ohne Rücksicht auf uns. Oder besser: auf mich. Henri war geschmiert worden, wie schon beim Wegzug aus der Nordstadt. Angeblich gab es bei Klaus noch immer endlos viel zu tun. Er würde es richten und sich nebenbei eine goldene Nase verdienen. Mal wieder geschickt eingefädelt, das Ganze.

Was sollte ich machen? Ausziehen? Gerade war ich volljährig geworden, niemand hätte es mir verbieten können. Wahrscheinlich hätte Muttern mir sogar Wohnung und Essen bezahlt. Aber ich hätte in jedem Fall etwas dazuverdienen müssen, und genau hier begann das Problem. Ich konnte mich zu nichts mehr aufraffen, war schlicht bewegungsunfähig, schachmatt.

Mir blieb also nur, mich in mein Schicksal zu fügen.



***



Wie nicht anders erwartet, gingen meine schulischen Leistungen mehr und mehr in den Keller. In den ersten Wochen nach den Ferien hatte ich noch versucht, aufzupassen, dem Geschehen einigermaßen zu folgen. Aber stets waren die Tagträumereien, die mich während des Unterrichts heimsuchten, stärker gewesen. Mittlerweile hatte ich die Waffen gestreckt: Ungehemmt dröhnte ich vor mich hin, von der ersten bis zur letzten Stunde.

Die Kurslehrer wurden nicht müde zu betonen, dass wir unsere Schulpflicht erfüllt hätten und jetzt freiwillig kämen. Die Oberstufe sei ausschließlich den fähigen, motivierten Leuten vorbehalten, meinten sie, Unbegabte und Bocklose würden nicht länger mit durchgeschleppt. Wenn diese Litaneien losgingen, hatte ich immer das unangenehme Gefühl, sie richteten sich konkret gegen mich. Subjekte wie du, Freundchen, wollten mir die Pauker wahrscheinlich zu verstehen geben, bekommen jetzt endlich, was sie verdienen: den Genickschuss.

Bald verging kaum noch ein Tag, an dem mich nicht irgendein Lehrer vor den anderen Kursteilnehmern bloßstellte. Ich kam dran, wenn ich gerade mal wieder pennte. Sollte Hausaufgaben vortragen, die ich nicht erledigt hatte. Konnte Wörter nicht ins Französische übersetzen, weil ich die Vokabeln nicht gelernt hatte. Musste in Physik passen, da ich vom Unterrichtsstoff rein gar nichts mehr kapierte.

Am schlimmsten war es in Mathe bei Herrn Vogt. Der Typ war ähnlich jung wie Herr Bode, aber im Gegensatz zu ihm ein ganz fieser Knochen. Ständig musste ich zum Vorrechnen an die Tafel – und stand jedes Mal nur schulterzuckend da. Er wollte einfach nicht einsehen, dass sein Fach zu hoch für mich war, ein Buch mit sieben Siegeln. Oder vielmehr: Er wusste es sehr gut und genoss es, mich vorzuführen. Bei Herrn Bode wäre so etwas undenkbar gewesen.

Ich spürte nur noch Angst, panische Angst. Nachts wachte ich jetzt oft schweißgebadet auf, und stets war es die Schule, von der ich geträumt hatte, irgendeine neue Erniedrigung, die nächste unwürdige Situation. Die Lage wurde zusehends bedrohlicher.

Im Sommer waren die Busfahrpläne geändert worden, und natürlich hatte man auf die Handvoll Schüler, die von Schönhagen nach Eckhorst mussten, keine Rücksicht genommen. Mit der Folge, dass ich jetzt immer eine Stunde vor Unterrichtsbeginn in der Penne ankam. Ich hätte auch mit Muttern fahren können, die ihre Überstunden mittlerweile wieder abends schob. Aber ich wollte nicht, dass sie mir dumme Fragen stellte, wie es mit den Zensuren stand und dergleichen. Dann lieber eine Stunde zu früh im Wilhelm-Gymnasiums aufkreuzen. Wenigstens waren die Türen schon aufgeschlossen und die Heizungen liefen – ein Hoch auf unseren Hausmeister!

Von ihm abgesehen war ich vermutlich die einzige Menschenseele, die sich um diese Zeit schon in den heiligen Hallen aufhielt – und im Oberstufenraum sowieso. Auf die Idee, die Zeit zu nutzen, Hausaufgaben zu machen oder mich auf Klausuren vorzubereiten, kam ich nicht einmal. Ich saß ich nur da, starrte gedankenverloren auf die summenden Leuchtstoffröhren und qualmte, was das Zeug hielt. Jede Kraftanstrengung, und wäre sie noch so klein gewesen, hätte Schmerz bedeutet, endlose Pein.

Eine Prügelei traute ich mir schon gar nicht mehr zu. Einmal geriet ich wegen irgendeiner Nichtigkeit mit Gunnar aneinander, einem Großmaul, das später Betriebswirtschaft studieren wollte. Unser Streit eskalierte, am Ende drohte er mir mit Schlägen. Es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, sich mal wieder richtig auszutoben, einem dieser BWL-Schweine ordentlich die Fresse zu polieren. Aber was tat ich stattdessen? Hielt die Schnauze, zog den Schwanz ein und gab klein bei. Ich kuschte vor dieser Memme.

Nur gut, dass ich nicht mehr in der Nordstadt wohnte. Dort wäre es mir schlecht ergangen, so lahm wie ich jetzt drauf war. Wahrscheinlich hätten sie mich früher oder später gelyncht.

13. Geisterhaus

Der Toaster klackte laut. Ich nahm das rauchende, verkohlte Etwas, das eben noch eine makellos weiße Toastscheibe gewesen war, vorsichtig zwischen die Finger und balancierte es auf den Teller. Eine dicke Schicht Butter erstickte den Qualm, der aus dem Brotkörper aufstieg. Nach Sekundenbruchteilen war sie geschmolzen und hatte das Toast in einen fettglänzenden Lappen verwandelt. Dieser wurde nun unter einer stattlichen Ladung Nutella begraben. So musste Frühstück sein, alles andere war Firlefanz.

Samstagmorgen – das Wochenende war in Sichtweite. Leider galt es zuvor noch eine unangenehme Hürde zu nehmen: die Matheklausur bei Herrn Vogt in den letzten beiden Stunden. Im Grunde hätte ich ein leeres Blatt abgegeben können. In Mathe kapierte ich definitiv nichts mehr, ich hatte alle Hoffnung fahren lassen. Integralrechnung – schon dieses komische Zeichen bekam ich kaum hin. Wenigstens wusste ich inzwischen, dass es ein stilisiertes „S“ darstellen sollte, für „Summe“. Was da summiert wurde, hatte sich mir bislang allerdings nicht erschlossen. In diesem Leben würde das bestimmt auch nicht mehr passieren.

Die Zeit drängte, ich musste zum Bus. Regnete es? Rasch warf ich einen Blick aus dem Fenster, aber draußen herrschte noch völlige Dunkelheit. Ich wollte das Radio anschalten, den Wetterbericht hören. Aber als ich ins Leere griff, fiel mir wieder ein, dass dort gar kein Radio mehr stand. Ich schaute mich um: Die Stühle waren weg, genauso der Küchentisch und auch die Holzbank. Ich saß auf einem übriggebliebenen Hocker, benutzte die Arbeitsfläche der Einbauküche als Tisch. Das Wohnzimmer und sämtliche oberen Räume – sie standen leer. Das Haus war längst ausgeräumt, überall hallten meine Schritte von nackten Wänden wider. Muttern und Henri wohnten seit einer Woche bei Klaus im Bungalow.

Mittlerweile war unser Haus vermietet, an irgendwelche fremden Leute. Im Januar würden sie einziehen. So lange wollte ich hier ausharren, mit Schlafsack und ein paar Klamotten. Es sollte ein Zeichen sein, dass ich nicht aufgab, nicht einfach schulterzuckend die Situation akzeptierte. Bis zum bitteren Ende würde ich mich an das Altbekannte, Vertraute klammern.

Verzweifelt stemmte ich mich gegen den Lauf der Zeit. Und hatte manchmal ernsthaft das Gefühl, ihn aufhalten zu können.



***



Wie immer war ich der Erste im Oberstufenraum. Ich saß auf einem der Tische entlang der Rückwand. Die Heizungswärme lullte mich angenehm ein, die Leuchtstoffröhren gaben ihr übliches Sirren und Summen von sich.

Wenigstens eine halbe Stunde musste ich nachher bei der Matheklausur durchhalten. Ein paar Zahlen hinkritzeln, einige Sätze, irgendwas. Sonst würde Vogt sich provoziert fühlen und zu Doose rennen, meinem Tutor. Doose wiederum würde meine anderen Lehrer ansprechen, um sich ein Bild von meinem Leistungsstand zu machen. Dann würde endgültig alles auffliegen.

Nach und nach füllte sich der Raum mit Leuten. Kaum jemand bemerkte meine Anwesenheit. Nur ganz selten wurde ich begrüßt, mit einem Kopfnicken oder einem knappen Winken.

Juliane saß mit ihrer neuen Clique in der gegenüberliegenden Ecke. Seit Neuestem war sie mit Olaf zusammen, einem unsympathischen Streber, dessen Haar sich über der Stirn bereits lichtete. Ich war völlig baff gewesen, als ich die beiden erstmals händchenhaltend gesehen hatte. Dass Juliane sich für einen solchen Schleimbeutel hergab, hätte ich von ihr nicht erwartet. Jetzt war ich doppelt froh, damals auf der Klassenfahrt nichts mit ihr angefangen zu haben. Unser Verhältnis hatte sich seitdem merklich abgekühlt. Mittlerweile redeten wir fast gar nicht mehr miteinander.

Anna kam herein. Sie hatte vor einigen Tagen Geburtstag gehabt, war siebzehn geworden. Einige gratulierten ihr nachträglich. Es wurde über die Party gesprochen, die heute Abend bei ihr steigen sollte. Wie neidisch ich insgeheim auf alle war, die dabei sein durften! Liebend gern hätte ich Mäuschen gespielt, Anna beim Feiern beobachtet. Wie sie wohl lebte? Wie mochte ihr Zimmer eingerichtet sein? Und was für Leute waren ihre Eltern? All das würde ich natürlich nie erfahren – leider!

Eigentlich hatte Anna ja bloß ein Ersatz sein sollen, um das zerstörerische Brennen in mir zu betäuben. Aber in der Zwischenzeit war mein inneres Bild von Maren endgültig verblasst und zwischen meinen Fingern zerronnen. Unmerklich hatte Anna ihren Platz eingenommen; sie war jetzt das Ziel meiner Sehnsucht, zu ihr zog es mich, sie wollte ich berühren.

Immer mehr Leute umringten sie. Sie war beliebt, stand oft im Mittelpunkt. Ihre blauen Augen leuchteten glücklich, verbreiteten selbst an einem dunklen Novembermorgen wie diesem einen Hauch von Sommer. Lebhaft strichen sie über die Menge hinweg, nahmen alles in sich auf, neugierig, offen. Nur mich sahen sie ganz sicher nicht.

Warum ging ich nicht rüber und gratulierte ihr, wie alle anderen? Sie stand gerade mal einige Meter von mir entfernt; ich konnte jedes Detail an ihr erkennen und bewundern. Was hinderte mich daran, zu ihr zu schlendern und ihr die Hand zu geben? Ihr direkt in die Augen zu schauen, mit einem Lächeln im Mundwinkel, dabei ihre Haut spüren und vor allem: von ihr gesehen, endlich wahrgenommen werden – das wär's gewesen. Warum tat ich es nicht?

Aber es war ja nicht bloß eine räumliche Entfernung, die ich hätte überwinden müssen. Anna befand sie sich in einer anderen Dimension. Ja, ich hätte loslaufen können, direkt auf sie zu – und wäre trotzdem niemals bei ihr angekommen. Dort, wo sie kurz vorher noch gewesen sein mochte, hätte ich nichts vorgefunden, es war wie beim Wettrennen zwischen Achilles und der Schildkröte. In 100 Jahren hätte ich Anna nicht erreicht, da brauchte ich mir keine Hoffnungen zu machen, stets wäre eine Rest-Distanz geblieben, immer kleiner werdend und doch unendlich groß. Es blieb mal wieder nichts, als hier zu hocken, in diesem stillen Winkel, und alles von außen zu betrachten. Wie immer.

Ich hatte es satt. So konnte es nicht mehr weitergehen. Und so würde es auch nicht mehr lange weitergehen.



***



In der ersten großen Pause hatte ich ein Date mit Walther, der allgemein nur der „Dealer“ genannt wurde. Feierlich überreichte er mir meine bestellte Ware: eine Charge Valium mit 30 Tabletten pro Packung. Und in der Pause vor der Klausur bekam ich von einem anderen Händler endlich auch das zweite Medikament ausgehändigt: Chloroquin, ein Präparat gegen Malaria.

Es war die sicherste Methode, ich hatte mich informiert. Man musste beide Mittel bloß entsprechend hoch dosieren, dann war der Weg frei. Nichts und niemand konnte mich jetzt noch daran hindern, die Kurve zu kratzen, Feierabend zu machen.



***



Endlich lag die verdammte Klausur hinter. Während der Rückfahrt nach Schönhagen malte ich mir die Wanderung aus, die für heute geplant war. Erst sollte es nach Steenbarg gehen, dann Richtung Gutshof und weiter zum Ferienzentrum, von dort schließlich sogar zum Bismarckturm. Wenn alles klappte wie vorgesehen, würde ich heute erstmals die 25-Kilometer-Marke überschreiten. Das letzte Stück musste ich wahrscheinlich im Dunkeln laufen – nicht zu ändern.

Zu Hause nahm ich die Schulsachen aus dem Rucksack und pfefferte alles in die nächstbeste Ecke. Keiner war hier, der sich hätte beschweren können. Ich füllte meine Wasserflasche bis zum Rand und packte sie ein. Die Jacke ließ ich gleich an. Dann mampfte ich hastig eine Stulle. Für warmes Essen hätte ich nach Neuschönhagen fahren müssen, aber darauf konnten sie lange warten!

Im Dorf begegnete mir niemand. Schon seit Tagen war es mild und knochentrocken wie im Spätsommer, kein Lüftchen regte sich. Auch heute stieg der Rauch aus den Schornsteinen wieder kerzengerade in den trüben Himmel. Man mochte kaum glauben, dass wir bereits Mitte November hatten. Die Berge von verwelktem Laub am Straßenrand waren aus schierer Ermattung von den Bäumen gefallen und warteten nun vergebens auf Feuchtigkeit, um endlich zersetzt zu werden. Es schien, als hätte irgendwer dort oben einen Bremsschalter betätigt und die große Maschine gestoppt, den Lauf der Dinge einfach angehalten.

Draußen in den Feldern war ebenfalls keinerlei Bewegung wahrzunehmen, alles wirkte erstarrt, wie unter Glas. Die Salatbeete waren noch immer nicht abgeerntet, aber mittlerweile hatten die Pflanzen sich gelblich verfärbt und verbreiteten einen unangenehmen, fauligen Geruch.

Auch in Steenbarg begegnete ich keiner Menschenseele. Die zwei, drei Lädchen im Dorfkern hatten längst geschlossen, ihre Scheiben waren dunkel. Eigentlich sah meine Route jetzt vor, dass ich den Abzweig nahm, der hinunter zur Bahnstation und dann weiter zum Gutshof führte. Aber auf einmal hatte ich eine andere Idee: warum nicht zum Steenbarger Strand gehen? Die Badesaison war lange vorbei, keiner würde sich mehr dort draußen herumtreiben.

Statt zur Bahnstrecke lief ich also geradeaus weiter. Hinter dem Ort begannen die Salzwiesen. Immer wieder schaute ich mich nach Menschen um, wollte auf Nummer sicher gehen, jedes Risiko ausschließen. Aber niemand tauchte auf, und allmählich entspannte ich mich.

Erst als sich am Horizont die grüne Wand des Seedeichs abzeichnete, wurde ich wieder nervös. Konnten nicht doch Menschen dahinter sein, Spaziergänger, Ausflügler… oder die Leute aus der Clique? Was, wenn sie ausgerechnet heute eine Tour zum Steenbarger Strand machten? Ich drosselte das Tempo, lauschte von nun ab auf jedes kleinste Geräusch, auf Stimmen, Fahrräder, Schritte…

Am Deichfuß waren nirgends Räder abgestellt – eigentlich ein gutes Zeichen, aber diese dunkle Vorahnung in mir wollte einfach nicht verschwinden. Sehr langsam ging, nein: schlich ich aufwärts. Allmählich wurde über der Deichkrone die See sichtbar, dann die Quermole; mir wurde schwindelig, Sterne begannen mir vor den Augen zu tanzen, ich musste den Blick senken…

Erst als ich oben angelangt war, zwang ich mich, wieder zu gucken, den Strand zu überblicken: Er war menschenleer. Wie ein schwerer Felsbrocken fiel jetzt die Angst von mir ab; Euphorie durchströmte und belebte mich, auf einmal war ich nur noch glücklich, hierhergekommen zu sein, es tatsächlich gewagt zu haben.

Endlich wurde mir bewusst, was heute fehlte: das Wellenrauschen – es schien wie aus der Luft geschnitten. Irritiert ließ ich den Blick dorthin schweifen, wo normalerweise die Wasserlinie war – aber von Wasser keine Spur mehr. Es hatte sich weit zurückgezogen, bis hinter die Quermole. Mit nach wie vor zitternden Knien ging ich hinab und bahnte mir einen Weg durch den Dünengürtel. Muschelbänke und Seetang lagen auf dem Trockenen und verfaulten allmählich. Beißender Verwesungsgeruch zog durch die Luft, die klagenden Laute eines einzelnen, verirrten Wasservogels ertönten. Ich stand am Rand eines Totengrundes. Der weite, helle Strand, an dem wir einst die Sommertage verbracht hatten – es gab ihn nicht mehr. Hier waren nur noch Moder und Verfall.

Es war soweit: Ich musste zum Geisterhaus gehen. Dort würde ich endlich die Antworten finden, die ich schon so lange suchte. Dort würde sich alles auflösen!

Abrupt drehte ich mich weg und verließ den Strand, ohne noch einmal zurückzuschauen. Das starke Gefühl packte mich, zum letzten Mal hiergewesen zu sein. Ich nahm dieselbe Strecke wie am Abend des Kurparkfestes, als ich mit der Clique zum Geisterhaus gefahren war. Mittlerweile hatte es zu dämmern begonnen, auf den Feldern bildeten sich überall dicke, weiße Kissen aus Nebel. Das Land schien langsam in einen tiefen Schlaf zu sinken, aus dem es kein Erwachen mehr gab.

Problemlos fand ich den Pfad durch den Wald wieder. Ich ließ den Wegstein hinter mir zurück, ohne Notiz von ihm zu nehmen, betrat den Tunnel aus Ästen und Gezweig, der zur Lichtung führte. Die Bäume waren kahl, wie im Frühling, als ich diesen Weg wiederentdeckt hatte. Allerdings lag das Laub, das damals gerade zu sprießen begonnen hatte, längst wieder braun und welk am Boden, Nebelschwaden strichen darüber hinweg. Ich begann zu laufen, schneller und immer schneller. Die asymmetrisch gewachsenen Bäume am Wegrand griffen wie riesige Knochenhände nach mir.

Endlich erreichte ich die Lichtung. Umgeben von Grabesstille lag das Haus vor mir. Als ich es betrat, blieb die erwartete Kälte aus. Vielleicht hing es mit den milden Temperaturen der letzten Tage zusammen. Über den Fluren lag eine seltsame Leere. Keine Geräusche, keine merkwürdigen Luftströmungen, nichts.

Ich kam ins Terrassenzimmer. Noch immer lagen dort die alten Matratzen, weiter hinten steckten ausgebrannte Fackeln im rissigen Boden. Mein Blick fiel auf die Gravuren, ich fand Marens Namen und meinen – aber nichts geschah. Da waren nur Buchstaben, ungelenk und lieblos in den Mörtel gearbeitet. Die Magie der Zeichen hatte sich verflüchtigt.

Erschöpft sackte ich an der Wand herab in die Knie, vergrub den Kopf in den Armen. Nichts von all dem, was mir so wichtig gewesen war, existierte noch. Meine Erinnerung an Maren – verflogen wie Staub im Wind. Der Strand – eine öde, stinkende Sandfläche. Unser Haus – leergeräumt und vermietet an Fremde. Und auch aus diesem Gemäuer waren die Geister ausgezogen. Dies war einfach nur eine alte, vergessene Ruine.

Ein Gefühl tiefster Einsamkeit überfiel mich. Ich wollte schlafen, für immer und ewig, wollte mich auflösen und verflüchtigen, wie mein inneres Bild von Maren, wie der Zauber, der früher über diesem Ort gelegen hatte und nun fort war. Unwillkürlich tastete ich nach meinen Rucksack, spürte die Wasserflasche, dann etwas Viereckiges. Die Medikamente! Vorm Losgehen hatte ich bloß die Schulsachen ausgepackt, die beiden Schachteln mit den Tabletten aber vergessen!

Ich holte einen Riegel Valium hervor, nahm die Kapseln in Augenschein. War das ein Zeichen? Sollte es hier und jetzt passieren? Mit einem Schlag wurde mir klar, dass ich den Gang der Dinge nicht länger aufhalten konnte. Meine Kräfte waren zu Ende. Es hatte definitiv keinen Sinn mehr, sich weiterhin zu sperren. Aus, vorbei.

Ich setzte mich auf eine der vergammelten Matratzen. Erneut schaute ich mich im Terrassenzimmer um, betrachtete alles ganz genau. Hier endete er also, mein Weg. Ein idealer Platz, fernab allen menschlichen Lebens, allen Lebens überhaupt. So schnell würde mich keiner finden.

Als ich die Tabletten aus der ersten Packung drücken wollte, fühlten sich meine Hände wie taub an. Ich versuchte mir vorzustellen, was gleich passieren würde, aber da war bloß ein schwarzes Loch in meinem Kopf. Dann spürte ichein Weinen in mir hochsteigen. Es wurde immer stärker, schüttelte mich regelrecht. Zurückkommen… nach Hause kommen… Warum durfte ich das nicht? Welche geheimnisvolle Macht hinderte mich daran? Warum konnten alle anderen leben, ich aber nicht? Warum war ich es, der gehen musste?

Ich krümmte mich auf der Matratze zusammen wie unter Schmerzen. Auf einmal spürte ich Müdigkeit, unendliche Müdigkeit. Dunkelheit senkte sich herab, meine Seele schien zu verschwinden, eins zu werden mit dem Verfall und der Verwesung ringsumher. Ich fühlte mich warm, wie in Watte gepackt, und leicht wie eine Feder.

Sehr lange schien das so zu gehen. Und schließlich kam das Licht.



***



Die Stimme drang aus weiter Ferne heran, wurde langsam klarer: „Können Sie mich hören?“ Ein Rütteln an der Schulter.

Ich blinzelte, wollte die Augen nicht aufmachen. Aber die Gedanken wurden klarer und klarer, sie rannten einfach los, diese drögen Gesellen, ließen sich nicht stoppen, holten mich zurück in die Wirklichkeit

„Der bewegt sich“, sagte die Stimme.

Ich fühlte festen Grund unter mir. Blut, das zaghaft durch Adern rauschte. Einen Körper, Glieder. Aber schwach, nur ganz schwach. Oder fühlte ich es gar nicht wirklich? War das bloß die Erinnerung?

„Kommen Sie mal hoch.“ Die Stimme wurde ungeduldig, schien keine Lust auf Versteckspiel zu haben. Ich spürte einen harten Griff, einen Zug in die Höhe. Ein eisiger Schreck, ein Anflug von Panik – dann saß ich. Schwindel packte meinen Schädel, plötzlich fuhr ich Achterbahn. Ein starkes Rauschen entstand in meinen Ohren, ich hörte mich atmen.

„Sei lieber vorsichtig“, sagte nun eine andere Stimme. Langsam entstanden Umrisse vor meinen Augen, die Schatten zweier Gestalten. Sie redeten miteinander, mit mir oder alles zugleich Ich erkannte Uniformen, Mützen…

Bullen! Wo war ich? Im Knast? Die wildesten Ideen schossen mir durchs Hirn, ich erinnerte mich an Erzählungen aus der Nordstadt von Erlebnissen mit Ordnungshütern, Nächten in Zellen, angeblichen Prügelverhören…

„Sind Sie in Ordnung?“, fragte einer der beiden.

Allmählich begriff ich, dass ich immer noch im Geisterhaus war. Die Nacht war längst vorbei, von draußen schien eine helle Sonne herein. Meine Hände waren bläulich verfärbt, fühlten sich wie abgestorben an. Mir dämmerte, dass ich wohl die Nacht hier verbracht haben musste. Aber was hatte die Bullen hierher verschlagen?

„Haben Sie davon welche genommen?“ Einer der Bullen hielt eine weiße Schachtel in der Hand, fischte einen Riegel Tabletten daraus hervor.

Langsam kam meine Erinnerung in Schwung. Sie hatten die Medikamente gefunden! Und nun dachten sie natürlich, dass ich…

„Nee“, murmelte ich und schüttelte den Kopf.



***



Sie brachten mich trotzdem ins Krankenhaus, oder vielmehr in die Nervenklinik nach Schmölln, auf die Offene Station. Dort konnte ich gerade noch verhindern, dass mir prophylaktisch der Magen leergepumpt wurde. Aber sie machten eine Blutuntersuchung. Natürlich war ich absolut clean. Ich hatte ja nicht mal Alkohol getrunken, war im Geisterhaus einfach bloß eingepennt. Aus Traurigkeit, Verzweiflung, Überdruss – ich konnte es nicht mehr genau sagen.

Der diensthabende Arzt entschied, mich einige Tage dazubehalten, zur Beobachtung und damit ich zur Ruhe kam, wie er zu mir sagte. Ich fühlte mich seltsam erleichtert und fand es dennoch äußerst merkwürdig und schräg, in einer Nervenklinik zu sein, einer „Klapse“.

Fahrradausflügler hatten mich im Geisterhaus entdeckt und die Polizei verständigt. Dass ich mir außer einer leichten Erkältung nichts weggeholt hatte, grenzte fast an ein Wunder. Immerhin war es bereits Mitte November, auch wenn wir zurzeit ungewöhnlich milde Temperaturen hatten. Beim ersten Gespräch mit dem Klapsmühlen-Doc erfuhr ich, dass die Bullen außer der einen Schachtel Valium nichts bei mir gefunden hatten. Ich konnte es kaum fassen: Wo war der Rest meiner Geheimapotheke abgeblieben? Hatte ich vorm Einpennen alles geistesgegenwärtig hinter der Matratze versteckt? Oder hatte irgendjemand die Sachen mitgenommen? Womöglich die Ausflügler?

Nach dieser Neuigkeit disponierte ich um: Eigentlich hatte ich vorgehabt, dem Doc alles zu erzählen, inklusive meines Plans mit dem Abgang, um sozusagen reinen Tisch zu machen. Dass die Bullen mich wegen unerlaubten Medikamentenbesitzes rannahmen, war für mich eh ausgemachte Sache gewesen. Aber nun entschied ich, lieber die Klappe zu halten. Wozu irgendwelche Vorwände liefern, wenn es eh keine Tabletten mehr gab? Stattdessen behauptete ich, die Valium-Schachtel irgendwann zu Hause gefunden und heimlich gebunkert zu haben, um bei Gelegenheit die Pillen mal „auszuprobieren“. Zum Glück wurde mir diese Version der Story abgekauft. So ganz aus der Luft gegriffen war sie übrigens nicht: Ich hatte vor einiger Zeit im heimischen Medizinschrank tatsächlich eine Packung Valium entdeckt – wahrscheinlich von Muttern. Durch diesen Fund war ich überhaupt erst auf die Idee gekommen, mithilfe von Tabletten die Reise ins Jenseits anzutreten.

Muttern und Klaus kamen vorbei, brachten Klamotten, Zigaretten und Naschkram. Sie wirkten ratlos und auch ein bisschen geschockt. Muttern hatte ein schlechtes Gewissen wegen des Valiums, das nun als Grund für meinen Breakdown herhalten musste. Es war tatsächlich ihres gewesen, wie sich herausstellte. Klaus verriet mir, dass er früher selbst mit verschiedenen Medikamenten herumexperimentiert hatte.

Der Doc wollte, dass ich eine Art Lebenslauf schrieb. Nicht für ihn, meinte er, sondern für mich selbst. So etwas sei gut, um Ordnung in die eigenen Gedanken zu bringen. Erst sträubte ich mich. Zurückblicken, resümieren – das erschien mir seltsam, irgendwie psycho. Schließlich raffte ich mich doch auf. Ich begann allerdings nicht am Anfang, sondern erst bei unserem Umzug nach Schönhagen. Alles, was vorher gewesen war, fügte ich als Erinnerung ein. Das klappte ganz gut, brachte wider Erwarten sogar Spaß.

Untergebracht war ich in einem Vierbett-Zimmer. Meine Mitpatienten hatten tatsächlich alle versucht, sich das Leben zu nehmen. Einer war aus dem zweiten Stock gesprungen und hatte sich mehrfach den Kiefer gebrochen. Ein anderer hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten und war nur entdeckt worden, weil die Nachbarn wegen der lauten Musik die Bullen geholt hatten. Es waren heftige Schicksale. Und sie waren reell, greifbar, anders als bei mir. Ich hatte ja gar nichts gemacht, war im Geisterhaus einfach nur eingepennt. Aus Traurigkeit, Verzweiflung, Überdruss – genau konnte ich es nicht sagen.

Nach einer Woche wurde ich entlassen. Muttern holte mich mit dem Auto ab, es ging direkt nach Neuschönhagen. Ins alte Haus durfte ich nicht zurück. Meine Klamotten hatte sie bereits zu Klaus in den Bungalow gekarrt.

Dort hatten sie mir das kleinste Zimmer von allen verpasst. Es gab kaum genug Platz für meine Möbel, geschweige denn für Menschen. Ich fühlte mich eingequetscht wie die sprichwörtliche Sardine in ihrer Büchse. Henri hingegen residierte in einer regelrechten Suite. Er hatte schon vor dem Umzug sichergestellt, dass er das große Zimmer bekam, und sich daraufhin eine komplette Wohnzimmergarnitur zugelegt, mit Schrankwand und Sofalandschaft.

In die Schule brauchte ich noch nicht gehen. Sie schickten mich in die verlängerten Weihnachtsferien, was mir nur recht sein sollte. Ich nutzte die Zeit, um an meinem Lebenslauf weiterzuarbeiten. In der Klapsmühle war ich nach und nach auf den Geschmack gekommen. Eigentlich hatte ich immer gern geschrieben, außer endlosem Geschwafel aber nie viel zustande bekommen. Mir hatte ein interessantes, wirklich gehaltvolles Thema gefehlt. Nun war da eines: ich selbst. Ich musste mir gar keine abenteuerlichen Plots aus der Nase ziehen. Ich musste bloß mein eigenes Leben Revue passieren lassen.



***



Nach einer weiteren Woche, die ich fast komplett am Schreibtisch verbracht hatte, setzte ich erstmals wieder einen Fuß vor die Tür. Der Anblick war deprimierend. Lange Reihen vollkommen identischer Bungalows zogen sich schnurgerade hin. Es war ein bisschen wie die Nordstadt in klein.

Ich überlegte, eine Radtour zum Geisterhaus zu machen, dort nach den verschwundenen Medikamenten zu suchen. Immerhin hatte der Stoff ein Heidengeld gekostet. Aber der Gedanke, mutterseelenallein auf den Feldwegen unterwegs zu sein, war mir auf einmal sehr unheimlich.

Stattdessen fuhr ich nach Schönhagen, allerdings nicht über die Wanderstrecke, sondern entlang der Hauptstraße, auf dem Radweg. Die wenigen vorbeikommenden Autos gaben mir ein Gefühl von Sicherheit. Noch immer war es mild und zugleich herbstlich trüb und neblig. Kein Lüftchen regte sich, kein Tropfen fiel. Dass um diese Jahreszeit normalerweise mit ersten Schneefällen zu rechnen war, konnte man sich nur schwer vorstellen.

Als ich in den Ort kam, dämmerte es bereits. Ich spürte feine Nebeltropfen im Gesicht, die Straßenlaternen waren von dunstigen Höfen umgeben. Am Bahnhof machte ich halt, um das Fahrrad abzustellen. Sämtliche Fenster des alten Bahnhofsgebäudes waren hell erleuchtet. Man sah eine Küche hinter den Scheiben, ein Kinderzimmer. Nach seiner Stilllegung hatte man den Bahnhof zu einem Wohnhaus umgebaut.

Ich wollte zu Fuß weitergehen, mich im Dunkeln ein bisschen durch die Gegend treiben lassen. Auf der Bahnhofstraße begann es plötzlich nach Kuhmist zu riechen, wie im Frühling. Einige Bauern hatten offenbar die milde Witterung genutzt, um ihre Felder zu bestellen. Kurz vor der Tankstelle sah jemanden aus dem Aubrook kommen. Die Gestalt schaute kurz in meine Richtung, dann nach vorn, dann wieder zurück. Schließlich blieb sie stehen, mitten auf dem Gehweg.

Es war Jürgen.

Mein erster Gedanke war: umdrehen, wieder zurückgehen. Aber natürlich hatte er mich längst entdeckt. Ich fluchte innerlich. Tausendmal war ich hier entlanggelaufen, ohne jemandem aus der Clique zu begegnen. Jetzt passte ich ein einziges Mal nicht auf – und prompt stand da dieser Typ!

Meine Schritte wurden unsicher. Ich begann leicht zu schwanken, die Knie zitterten mir vor Aufregung – es war, als ob mir etwas Unangenehmes bevorstände, eine Prüfung oder eine Klopperei. Jürgen blickte mich unverwandt an, und sein Gesicht zeigte das altbekannte Vertreterlächeln.

Dann standen wir einander gegenüber. „Dich hat man ja ewig nicht gesehen“, rief er. Er schien sich richtig zu freuen.

„Wo kommst du denn her?“ Ich konnte kaum einen normalen Ton herausbringen, so dick war der Kloß, der mir im Hals hing.

„Gehen wir 'n Stück zusammen?“ Anscheinend hatte er meine Frage nicht gehört.

Wir liefen nebeneinander her. Die Stimmung war beklommen. Krampfhaft versuchten wir ein Gespräch in Gang zu kriegen. Jürgen erzählte von der Feuerwehr, ich von der Penne. Laberte groß und breit übers Kurssystem, die Lehrer, meine Fächer und Ähnliches, und tat die ganze Zeit, als würde dort alles zum Besten stehen.

Jürgen hatte der Schule mittlerweile den Rücken gekehrt, machte seit dem Sommer eine Ausbildung zum Industriekaufmann, beim Großmarkt in Hoheneck. Ich erzählte, dass ich ebenfalls mit dem Gedanken spielte, mein eigenes Geld zu verdienen.

„Such dir doch auch 'ne Lehrstelle“, meinte er. „Ist 'ne gute Sache. Man hat einen geregelten Tag, macht sich nicht tot und liegt den Eltern nicht mehr auf der Tasche. Momentan bin ich gerade im Vertrieb, bei Herrn Sühring. Soll ich ein gutes Wort für dich einlegen?“

„Nee, lass mal“, erwiderte ich eilig. Trotzdem: Wie komisch es war, diesen Namen wiederzuhören, nach so langer Zeit…

Wir kamen in den Achterkamp, gingen weiter in die Brentanostraße. Ich erzählte, dass ich nach Neuschönhagen gezogen war, nicht mehr in der Eichendorffstraße wohnte.

„Weiß ich doch.“ Jürgen wirkte leicht verwundert.

Oben in seinem Zimmer sah man das Deckenlicht brennen, als hätte er vergessen, es auszuschalten. Die rote Lampe auf der Fensterbank war allerdings dunkel.

„Was machen die anderen denn so?“, fragte ich vorsichtig.

Er blickte mich einen Moment stirnrunzelnd an, bevor er antwortete: „Tja, das kann ich dir auch nicht so genau sagen. Silke und ich sind jetzt meistens für uns. Dass Kristina und Bernd nicht mehr zusammen sind, hast du gehört?“

Ich schüttelte den Kopf. Woher sollte ich das gehört haben?

Nun erkannte ich leichte Ungläubigkeit in seiner Miene. Und endlich verstand ich: Neuigkeiten wie eine geplatzte Beziehung oder auch unser Umzug verbreiteten sich in der kleinen, übersichtlichen Welt von Schönhagen natürlich wie Lauffeuer. Nichts davon mitzubekommen war eigentlich unmöglich.

„Kristina und ihre verdammte Fremdgeherei“, knurrte Jürgen wütend. „Bernd hat das ja lange mitgemacht. Wobei Silke fast noch mehr unter ihren Eskapaden gelitten hat. Sie bewundert ihre Schwester ja abgöttisch. Bekam jedes Mal einen regelrechten Nervenzusammenbruch, wenn Kristina mal wieder irgendwas am Laufen hatte. Um Silke hat sie sich dabei einen Dreck geschert, hat einfach immer weitergemacht. Diese egoistische Ziege! Mit der bin ich fertig, das kannst du mir glauben.“ Er hatte sich total in Rage geredet; das Ganze nahm ihn sichtlich mit.

Ich blickte ins Dunkel jenseits des Weges: Das Haus der Rönnfelds war nur schwach auszumachen, hinter keinem der Fenster brannte Licht. Nebenan erahnte man die Terrasse der Stützers; das zugehörige Haus war ebenfalls komplett dunkel. Allmählich gewöhnten meine Augen sich an die Lichtverhältnisse. Und schließlich erkannte ich hinten an der Ecke unser altes Haus, den Efeu an den Mauern, auf dem Dach. Erinnerte mich, wie wir ihn vor ewigen Zeiten geschnitten hatten. Auch mein altes Zimmerfenster sah ich – und bekam plötzlich starkes Heimweh.

„Bernd ist bloß noch mit den Leuten vom Motorradclub zusammen“, erzählte Jürgen weiter. „Und in der Alten Mühle ist ja eh seit langem Totentanz.“

Das klang alles so vollkommen anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Und was war mit Maren? Warum erwähnte er sie nicht?

„Wie sieht's aus?“, fragte er. „Hast du Bock, morgen zum Abendbrot vorbeizukommen? Meine Eltern sind gerade im Urlaub, ich hab sturmfreie Bude.“

Wie leicht das war: Eben mal kurz auf der Straße getroffen, und schon war eine Verabredung fällig. Und dafür hatte ich so lange gebraucht? Wie hatte ich es überhaupt geschafft, sämtlichen Leuten die ganze Zeit aus dem Weg zu gehen? Eigentlich war das eine logistische Meisterleistung, so nahe, wie ich bis vor kurzem bei ihnen allen gewohnt hatte…

„Dann können wir mal wieder ausführlicher quatschen.“ Jürgen wartete noch auf meine Antwort.

Vorsichtig nickte ich. „Aber ich muss anschließend vielleicht noch woanders hin“, kündigte ich vage an. Es war eine reine Vorsichtsmaßnahme, ein Hintertürchen, um mich verdünnisieren zu können, falls es zu anstrengend wurde.

Wieder betrachtete er mich mit forschendem Blick. „Na, für ein Gläschen mit Ole und mir wird's sicher reichen. Er wollte gegen neun auch rüberkommen.“

Ole wohnte in der Kleiststraße, im Reihenhausblock hinter den Garagen. Ich kannte ihn aus der Alten Mühle. Ein etwas nerviger Typ, laberte gern und viel, machte immer auf cool. Komisch, dass Jürgen sich ausgerechnet mit dem traf.

„Ja, mal sehen“ Der Gedanke, gleich mit zwei Leuten dort sitzen und quatschen zu müssen, behagte mir überhaupt nicht. Das ging alles viel zu schnell, fast wie im Zeitraffer.

Und es gab ein weiteres Problem: meine Aufmachung. Der Pisspott-Haarschnitt, mein Nasenfahrrad von Brille. Außerdem besaß ich nur noch Scheißklamotten. Um nicht aufzufallen, nicht gesehen zu werden, waren sie ideal. Aber zu einem Treffen konnte ich in diesem Aufzug definitiv nicht gehen.

Licht flammte nun bei Jürgen im Flur auf, jemand kam die Treppe herab. Dann öffnete sich die Haustür – und Silke stand vor uns.

„Ach, hier bist du“, sagte sie mit vorwurfsvoller Stimme zu Jürgen. „Ich warte schon die ganze Zeit.“

„Guck mal, wen ich unterwegs getroffen habe.“ Er trat zur Seite, schob mich nach vorn.

Sie hatte sich sehr verändert. Ihre Wimpern waren mit Tusche nachgezogen, ihr Mund glänzte rot vom Lippenstift. Sie trug modische, fast schicke Klamotten, die sie reif und erwachsen aussehen ließen. Ein schwacher Duft von Parfüm wehte mir entgegen. Sie sah toll aus, wie jemand vom Film.

Im ersten Moment schien sie mich nicht zu erkennen, betrachtete mich nur ratlos von oben bis unten. Aber dann hellte sich ihre Miene zaghaft auf. „Na so was, hallo!“, sagte sie leise. In ihrem Tonfall mischten sich Überraschung und Freude.

Ich stand dort, als müsse ich zum ersten Mal in meinem Leben mit einem Mädchen sprechen. „Hi“, presste ich aus mir heraus und versuchte zu lächeln. Wir schauten uns an, suchten nach Worten. Schließlich wurde es zu viel, abrupt drehte ich mich weg. „Ich will los“, sagte ich an Jürgen gewandt, „wir sehen uns.“

Dann ging ich schnell zur Straße zurück.



***



Bereits am nächsten Abend stand ich wieder vor seiner Tür. Auf ein Stündchen, hatte ich mir gesagt, das muss genügen. Ole wollte ich mir auf keinen Fall geben. Dafür hatte ich mir fest vorgenommen, Jürgen heute auf Maren anzusprechen. Zwar wusste ich noch nicht genau, wie, aber irgendwas würde mir schon einfallen.

Ich atmete durch, drückte den Klingelknopf. Sofort ging die Tür auf. „Hi!“ Jürgen hatte eine Schürze umgebunden und hielt einen Pfannenwender in der Hand. Anscheinend machte er gerade Rührei. Ich konnte den gedeckten Tisch in der Küche sehen. Berge von Aufschnitt standen dort bereit, dazu Käse, Salate.

Als wir einander gegenüber saßen, herrschte dieselbe beklommene Atmosphäre wie tags zuvor. Wir quatschten die ganz Zeit nur über belangloses Zeug. Nach dem Essen gingen wir hoch in sein Zimmer. Er hatte umgestellt, aber die Möbel waren noch dieselben wie früher. Es war komisch, nach so langer Zeit wieder hier zu sein.

Er machte Musik an, auf derselben alten Anlage, über die Bernd immer so gelästert hatte. Dann goss er mir Cola ein. „Schuss?“, fragte er und griff nach der Rumflasche. Erst wollte ich ablehnen, aber dann nickte ich. Vielleicht löste das die Zunge ein wenig. Wir prosteten uns zu und nippten an den Gläsern.

„Irgendwie schade, wie sich alles entwickelt hat, oder?“, meinte Jürgen. „Die Leute verlieren sich immer mehr aus den Augen.“

Jetzt wollte ich es wagen: „Triffst du denn Maren ab und zu noch mal?“ Es fühlte sich sehr seltsam an, diesen Namen vor einem anderen Menschen auszusprechen. Als würde ich zum ersten Mal seit Epochen wieder mit der echten Maren in Berührung kommen.

Gerade hatte Jürgen sein Glas zum Trinken angesetzt, aber nun hielt er inne. „Weißt du's noch gar nicht?“, fragte er. Er schien aufrichtig verwundert.

„Was?“ Mir war plötzlich sehr unbehaglich zumute. Mein Herz raste. Ich wurde noch roter, als ich eh schon war.

„Maren wohnt doch gar nicht mehr in Schönhagen.“

Im ersten Moment dachte ich, ich hätte mich verhört.

„Schon seit dem Frühjahr nicht mehr. Ist zu ihrer Tante nach Schmölln gezogen. Macht 'n Freiwilliges Soziales Jahr.“

In meinem Kopf schwirrte alles durcheinander. Maren – nicht mehr in Schönhagen? Und ihre Eltern? Und wieso Freiwilliges Soziales Jahr? Wollte sie nicht Jura studieren?

„Sie hatte sich mit ihrem Vater nur noch in der Wolle. Die beiden können irgendwie nicht mehr miteinander.“

Maren und ihr Vater? Die immer ein Herz und eine Seele gewesen waren?

„Na, so wie sie sich verändert hat, ist das auch kein Wunder, oder?“

Ich verstand überhaupt nichts mehr. Wovon redete er? Was war passiert?

In Jürgens Blick mischte sich nun Besorgnis. „Hast du das wirklich nicht mitbekommen? Mann, das kann doch gar nicht sein!“

Er seufzte, schüttelte den Kopf. Dann begann er zu erzählen: „Maren ist voll rebellisch geworden. Mit der stillen, zurückhaltenden Person von früher hat sie kaum noch Ähnlichkeit. Sie trägt jetzt immer schrille Klamotten, schminkt sich punkmäßig, hat die Haare hochtoupiert. Ich will ja nichts sagen, aber irgendwie kann ich verstehen, dass Herr Sühring Probleme mit ihr hat.“

Maren – auf Punk? Das konnte ich einfach nicht glauben.

„Und dann hat sie auch noch die Schule geschmissen. Meint, sie hätte die Schnauze voll davon, dass andere ihr ständig sagen, wie ihre Zukunft auszusehen hat. Sie spielte natürlich auf ihren Vater an. Dabei hat der es bestimmt nur gut mit ihr gemeint. Er kümmert sich halt. Macht er in der Firma auch so.“

Ich stürzte den Cola-Rum runter und gleich einen nächsten hinterher. Auf einmal wollte ich nicht, dass Jürgen noch weitererzählte.

„Eigentlich mag ich Maren echt gern. Wir haben uns immer gut verstanden. Aber mittlerweile kapier ich nicht mehr, was in ihr vorgeht. Manchmal treffe ich sie noch, wenn sie in Schönhagen ihre Mutter besucht. Sie ist mir richtig fremd geworden.“

Es klingelte. „Das ist Ole!“ Jürgen sprang auf und lief die Treppe runter. Verdammt, an den Typen hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht! Konnte ich mich noch irgendwie verpissen? Ich hörte, wie die Haustür ging, dann folgte eine lautstarke Begrüßung. Schuhe wurden abgetreten, der Reißverschluss einer Jacke geöffnet. Es war zu spät, ich saß in der Falle.

Ausgerechnet jetzt musste dieser Ole aufkreuzen! Mir schwirrten noch tausend Fragen im Kopf herum; ich musste alles wissen, jedes Detail, sonst würde ich nie kapieren, was eigentlich Sache war. Schnell goss ich mir einen weiteren Cola-Rum hinter die Binde. Wieso merkte ich heute den Alkohol nicht? Ich vertrug doch eigentlich gar nichts.

Die Zimmertür öffnete sich. Jürgen kam herein, dann folgte Oles blonde Lockenmähne. Sie erinnerte ein bisschen an Rusi.

„Hi“, grüßte er und stellte mit lautem Knall eine Flasche Bacardi auf den Tisch. Als nächstes ging er zur Anlage, würgte die Musik ab und legte ein neues Tape ein, das er aus der Hosentasche gefischt hatte. Dann schmiss er sich mit einem lauten Seufzer in den freien Sessel neben mir. Ich dachte: Das kann ja was werden!

Aber wider erwarten ließ es sich mit Ole ganz gut quatschen. Er sprang auf jedes Thema an und wusste etwas Schlaues dazu zu sagen. Außerdem war er ein wandelndes Musiklexikon. Keine Band, die er nicht kannte. Erneut wunderte ich mich, wie leicht es doch war, in Gesellschaft zu sein. Das Problem war eher, überhaupt reinzukommen, die Schwelle zu überwinden.

Wir saßen dort, redeten, hörten Musik, und der Cola-Rum floss in Strömen. Die Zungen wurden uns schwerer und schwerer, und bald waren wir total am Lallen. Ich dachte nicht mehr an das, was Jürgen vorhin erzählt hatte, schob es beiseite. Stattdessen genoss ich das Gefühl, mit Leuten zusammenzusitzen, nicht allein zu sein. Ich fühlte mich geradezu befreit.

Irgendwann wollte Ole los. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es inzwischen sein mochte, mir war sämtliches Zeitgefühl abhanden gekommen. Radebrechend lud er mich noch auf eine Party ein, die Anfang Januar steigen sollte, dann torkelten er und Jürgen aus dem Zimmer und die Treppe hinab. Ein Weilchen hörte ich die beiden noch unten labern, bevor schließlich die Haustür zuklappte.

Jürgen kam nicht wieder. Wahrscheinlich hatte er einen Zwischenstopp auf dem Klo im Erdgeschoss eingelegt. Die Musik war schon lange zu Ende, zum Schluss hatte niemand mehr daran gedacht, etwas Neues anzumachen. Ich war vollkommen benebelt, in meinem Kopf drehte sich alles.

Langsam kehrte die Erinnerung an Jürgens Bericht zurück, über die Clique, Maren… und aller Alkohol konnte nicht verhindern, dass ich mich in diesem Moment abgrundtief schämte. Was hatte ich da bloß für einen Film abgezogen? Warum war ich so lange vor den Leuten weggelaufen? Was hatte ich mit meinem Versteckspiel bezweckt? Das war alles so albern und peinlich! Immer stärker, immer beißender wurde das Gefühl.

Und auf einmal war ich nur noch traurig. Ich fühlte mich, als müsse ich bald auf eine weite Reise gehen. Es war ähnlich wie am Abend der Tombola, als mein Blick durch die Menge geschweift war. Damals hatte ich geahnt, dass ich all die Menschen, die ich liebgewonnen hatte, verlieren würde. Genauso war es dann gekommen. Und nun hieß es erneut Abschied nehmen, den Blick nach vorn wenden, sich endgültig trennen von alten Erinnerungen, Traumbildern und Illusionen.

Dann kam die Übelkeit. Zum Glück war das Bad gleich nebenan! Kaum hatte ich den Klodeckel hochgeklappt, da quoll es mir auch schon aus dem Rachen: braune Flüssigkeit mit einem chemischen, alkoholischen Geschmack, die mich regelrecht narkotisierte. Es war widerlich.

Irgendwann ebbte das Würgen ab. Vorsichtig richtete ich mich auf. Aus dem Spiegel schaute mir mein Gesicht gleich mehrfach entgegen, sanft kreisend und weiß wie ein Laken. Aber ich fühlte mich etwas besser.

Ich ging zurück in Jürgens Zimmer. Er war inzwischen wieder nach oben gekommen und saß dort, schaute mich mit besorgter Miene an. „Alles klar mit dir?“

Ich nickte und ließ mich in den Sessel fallen. Es lief wieder Musik. Ich schloss die Augen.

„Eins würde ich doch gern mal wissen“, hörte ich Jürgen mit schwerer Zunge sagen. „Wo bist du das ganze letzte Jahr abgeblieben?“

Ich schwieg.

„Ich meine, womit hast du dich so beschäftigt? In der Alten Mühle hat man dich nicht mehr gesehen, und auch sonst wusste niemand, was du treibst.“

„Ist Maren wieder mit Rusi zusammen?“ Eigentlich hatte ich vorsichtiger anfangen wollen, aber jetzt war eh alles egal

„Maren? Mit Rusi? Wieso sollte sie mit dem… Das ist doch lange vorbei… noch vor deiner Zeit…“ Jürgen kapierte offensichtlich gar nicht, worauf ich hinaus wollte.

„Mensch Hauke“, jetzt spürte ich seine Hand auf der Schulter. „Wir haben dich vermisst. Hättest dich mal sehen lassen können“

Nun konnte ich nicht mehr verhindern, dass meine Lippen zitterten. Ich kannte das schon. Irgendwann wurde ich in besoffenem Zustand immer sentimental. So eine Scheiße! Die ersten Tränen liefen mir über die Wangen, ich musste schniefen. Und dann heulte ich los. Mir war alles egal. Sollte Jürgen doch denken was er wollte

Irgendwann hatte ich mich etwas beruhigt. Jürgen war die ganze Zeit über still geblieben.

„Am besten, du pennst hier“, sagte er. „Ich mach das Gästezimmer fertig.“ Er konnte seine Sätze kaum noch artikulieren.

Es war mir ein Rätsel, wie er es schaffte, das Bett zu beziehen. Jedenfalls fiel ich irgendwann in weiche, nach Waschmittel duftende Kissen und Decken. In der Dunkelheit begann sich wieder alles zu drehen. Noch immer schniefte ich ein bisschen. Aber ich war erleichtert.



***



Als ich aufwachte, war es hell. Im ersten Moment wunderte ich mich, wo ich war. Der Raum kam mir unbekannt vor. Dann erinnerte ich mich, an Jürgen, den Abend bei ihm zu Hause.

Ich hatte mörderisches Schädelbrummen. Kein Wunder, nach so einem Besäufnis. Behutsam stand ich auf und ging runter ins Erdgeschoss. In der Küche war Jürgen bereits am Werkeln. Es roch nach Kaffee. Im Hintergrund rauschte der Geschirrspüler.

„Moin!“, rief Jürgen. „Und – fit?“

„Geht so.“ Meine Stimme klang ziemlich basslastig. Ich hatte den ganzen Abend gequalmt wie ein Schlot.

„Kaffee?“

Ich nickte. Er goss mir einen Becher ein.

„Hunger?“

Schnell schüttelte ich den Kopf.

„Ich auch nicht.“ Er grinste. „War heftig gestern, wie?“

„Hm.“, brummte ich und trank einen Schluck Kaffee. Er war heiß, aber gut.

Wir saßen am Küchentisch, nippten an unseren Bechern. Jeden Moment erwartete ich, dass die Fragerei losging. Warum ich geheult hatte. Wie ich auf die Idee kam, dass Maren und Rusi wieder zusammen waren. Ich suchte innerlich bereits nach Antworten, wollte gewappnet sein.

Aber Jürgen sagte nichts. Wie immer war er superdiskret. Der „ideale Bestattungsunternehmer“ hatte Muttern mal im Scherz über ihn gesagt. Da war was dran.

Schließlich machte ich mich auf den Weg. „Lass dich mal wieder blicken“, meinte Jürgen, als wir uns an der Haustür gegenüberstanden.

„Klar“, erwiderte ich und fragte mich im selben Moment, ob das wohl so einfach sein würde. Ihn einfach anrufen, eine Verabredung machen – konnte ich das überhaupt noch? Würde ich nicht immer das Gefühl haben, zu stören, mich aufzudrängen? Und nun wohnte ich nicht mal mehr im selben Ort.

Er schien zu ahnen, was in mir vorging: „Echt blöd, dass ihr wegezogen seid.“

„Mutterns Idee. Ich wär' auch lieber hier geblieben.“

„Okay, auf bald.“ Er klopfte mir leicht gegen die Schulter.

Als ich schon fast an der Straße war, drehte ich mich noch mal um. Er stand noch vorm Haus, winkte mir zu. Ich nickte, dann ging ich um die Ecke.



***



Nachmittags hatte ich mich einigermaßen berappelt. Wieder fuhr ich nach Schönhagen, in die Brentanostraße. Ich betrat den Stichweg zum Haus der Sührings, stand schließlich unter Marens Fenster. Obwohl es noch hell war, hatte ich keine Angst mehr, gesehen zu werden.

Nun erkannte ich, weshalb auf meinem nächtlichen Besuch im Sommer keine Vorhänge hinter der Scheibe gehangen hatten: Sie waren abgenommen. Und das Regal gleich neben dem Fenster, früher immer randvoll mit Büchern und Krimskrams, war leergeräumt. Die beiden Reisetaschen, die ganz oben gelegen hatten – ebenfalls weg. Und an der Stelle mit dem Kinderkopf-Poster erkannte man nun an der Wand eine hellen, rechteckigen Fleck.

Bloß der Mann im Mond hing nach wie vor im Fenster. Noch immer lächelte er, und doch wirkte er einsam und traurig. „Nun sind wir Leidensgenossen“, glaubte ich ihn sagen zu hören.

In der Zwischenzeit hatte es zu regnen angefangen. Eine Taube, die auf der Dachrinne über dem Fenster gesessen hatte, flatterte davon. Vor dem dunklen Himmel wirkte sie fast weiß. Dick und schwer fielen die Tropfen herab. Ich spürte die nassen Bahnen, die sie auf meinen Wangen zogen. Wie Tränen.

Sehr lange stand ich dort. Mittlerweile war es dunkel geworden, und es goss wie aus Eimern. Als ich mich schließlich umdrehte und zur Straße zurückging, war ich durchnässt bis auf die Haut.



***



Nun, da der Himmel endlich seine Schleusen geöffnet hatte, gab es kein Halten mehr: Ununterbrochen schüttete es. Anscheinend sollten die Zisternen dort oben vollständig geleert werden. Weihnachten ging vorüber, das neue Jahr begann. Und noch immer war kein Ende des Regenwetters in Sicht. In der Vorhersage hieß es immer nur lapidar: weitere Niederschläge, teils als Regen, teils als Schnee. Von letzterem war in unserer Region allerdings noch nichts angekommen.

Ich lief durch das nächtliche Neuschönhagen. Zwischen den Bungalows waren noch überall Baustellen. Ständig trat ich in Pfützen. Gehwege führten auf sandige Äcker und endeten dort im Nichts. Oft gab es noch keine Straßenbeleuchtung, und ich konnte kaum etwas erkennen. Der ganze Ort war noch im Wachsen und Werden.

Inzwischen hatte ich mich damit abgefunden, dass wir umgezogen waren. Ich war sogar ganz froh, nicht mehr in Schönhagen zu sein. Dieser Traum war ausgeträumt. Die echte Maren hatte wahrlich andere Probleme, als mir nachzuweinen. Noch immer konnte ich es nicht fassen, dass sie die Schule abgebrochen hatte und von zu Hause ausgezogen war. Und was war von der ach so tollen Clique übriggeblieben? Die Leute hatten sich nahezu aus den Augen verloren, einige redeten nicht mal mehr miteinander.

Auch dass ich in einer Besenkammer hausen musste, während Henri nebenan seine Suite bewohnte, fand ich mittlerweile in Ordnung. Er hatte sich reingehängt und am Ende bekommen, was er wollte. Ich dagegen hatte mich ins Exil zurückgezogen und alles einfach laufen lassen. Nun musste ich mit dem vorlieb nehmen, was übrig war.

Diesen Montag hatte der Unterricht wieder begonnen. Wie üblich war ich der Erste im Oberstufenraum gewesen und hatte beobachtet, wie nach und nach die Leute eintrudelten. Als Anja in den Raum kam, glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen: Ihr langes, blondes Haar war ab, kurz geschnitten! Und sie hatte sich eine Dauerwelle machen lassen. Auf einmal sah sie aus wie eine biedere Landpomeranze. Ihr ganzer Zauber – wie weggeblasen!

Dieser Anblick hatte das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht. Mit einem Schlag war ich aufgewacht und hatte festgestellt: Die Erde bewegte sich jederzeit, sie hielt nie an. Wer stehenblieb, dem zeigte das Leben eine lange Nase.

Ich musste endlich weitergehen, den Anschluss wiederfinden. Am Samstag stieg Oles Party. Da wollte ich hin. Viele Bekannte von früher würden dort sein. Zur Not kippte ich vorher ein paar Cola-Rum, um mir Mut anzutrinken. Maren jedenfalls würde nicht kommen, ich hatte mich bereits erkundigt.

Aber zuerst wollte ich mir neue Klamotten besorgen. Mein Pisspott-Haarschnitt war bereits weg. Ich trug die Haare nun sehr kurz, hatte sozusagen alte Zöpfe abgeschnitten. Es war ein gutes Gefühl. Das einzige, was noch störte, war die Brille. Ich würde sie zur Party einfach nicht aufsetzen.

In der Woche darauf hatte ich in Eckhorst einen Termin zur Berufsberatung. Ich plante, mir zum Sommer eine Lehrstelle zu suchen. Vielleicht im kaufmännischen Bereich, wie Jürgen. Dann aber bestimmt nicht im Großmarkt in Hoheneck. Und sobald ich einen Job hatte, eigenes Geld verdiente, würde ich mir eine Bude mieten. Dann konnten Klaus, Muttern und Henri mich mal.

Es war Zeit! Das Leben rief!

Impressum

Texte: Uwe Fuchs
Cover: Uwe Fuchs
Tag der Veröffentlichung: 25.02.2024

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Über Feedback und Anregungen würde ich mich freuen: vonausserhalb@uwefuchs.de

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