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Nacht

Windböen fegen über die staubige, trockene Hochebene. Am Horizont leuchten Bergmassive fahl im Mondschein, einige Gipfel bohren sich wie Messerklingen in den Nachthimmel. Immer wieder verhüllen Wolken den Mond, und Schwärze fällt herab wie ein riesiges Leichentuch. Aber die Finsternis dauert nie lang, rasch ergießt sich neues, kaltes Licht über die Berglandschaft und lässt alles wieder in unwirklichem Glanz erstrahlen.

Er presst sich dicht gegen den Felshang. Seine Stirn ist schweißnass, sein Herz hämmert wie verrückt. Und da ist diese Angst in ihm, eine nagende, würgende Angst, die sich nicht bändigen lässt, die jederzeit zu explodieren droht.

Aufmerksam horcht er ins Dunkel – nichts ist zu hören außer dem Nachtwind und dem Knistern der wenigen, kargen Sträucher, die hier oben wachsen. Hat er es geschafft? Ist er entkommen? Oder wünscht er sich das bloß? Lauern sie in Wahrheit längst hinter den umliegenden Felsbrocken, gierig, bereit zum Töten?

Aber auf keinen Fall darf er jetzt die Nerven verlieren! Er muss besonnen bleiben, in Ruhe überlegen, was zu tun ist. Auf Dauer hält er diese Flucht nicht durch, so viel ist klar. Seine Kräfte werden irgendwann zu Ende sein, auch besteht immer die Gefahr, sich im Finstern zu verirren – hier im Hochland käme das einem Todesurteil gleich. Vielleicht ist es besser, sich einen Winkel zu suchen, um dort bis Sonnenaufgang auszuharren? Sie brauchen die Dunkelheit für ihr mörderisches Werk, wenn es hell wird, verschwinden sie. Nein, bis dahin dauert es noch ewig. Lieber vorwärts kommen, Abstand gewinnen.

Die Ebene ist offenbar von Felswänden vollständig umschlossen, bis auf die schmale Öffnung, die ihn hierher geführt hat. Aber dorthin kann er nicht mehr, er muss einen anderen Ausgang finden, möglichst weit entfernt, am besten auf der gegenüberliegenden Seite. Nur so entwischt er mit Glück seinen Verfolgern. Einem Schatten gleich pirscht er sich vor, immer wieder Deckung hinter Felsvorsprüngen suchend, in Nischen und Spalten. Und regelmäßig blickt er nach hinten – nichts ist zu erkennen. Gelingt es? Entkommt er doch noch?

Neue Wolken ziehen vor die Mondscheibe; schlagartig wird es dunkel – eine perfekte Gelegenheit! Er setzt nun alles auf eine Karte, rennt quer über die Felsebene, erreicht die andere Seite – geschafft! Jetzt noch irgendwo einen Durchgang finden und nichts wie raus aus diesem verdammten Kessel… aber schon wandern die Wolken weiter. Jäh flammt der Mond wieder auf wie ein riesiger, himmlischer Scheinwerfer, der die Ebene taghell erstrahlen lässt, den Umriss des Fliehenden gestochen scharf gegen den Felshang zeichnet. Er sucht panisch nach einer Möglichkeit, sich zu verbergen, aber vergeblich: Überall ist nur der Felsen, senkrecht, glatt, abweisend.

Und plötzlich begreift er, dass es vorbei ist. Er sitzt in der Falle, sie werden ihn kriegen.

Maßlose Angst zerwühlt, zerreißt ihm die Eingeweide. Gleich wird er sterben, es gibt keine Rettung mehr. Und endlich zeigt sich, was er so fürchtet: Der Hang gegenüber, am anderen Ende der Ebene, genau an der Stelle, wo er eine Minute zuvor noch gekauert hat – eine dunkle, schleimige Substanz kommt dort in langen Zungen herabgeflossen und breitet sich auf dem Boden aus.

Nun packt ihn endgültig das Grauen, kopflos rennt er los – weg, nur noch weg! Er strauchelt, greift in vertrocknete Sträucher, die Dornen zerschneiden ihm Hände und Arme. Er reißt sich wieder hoch, läuft weiter, holt das Letzte aus sich heraus – aber wohin soll er fliehen? Dieses schwarze Etwas ist rasend schnell, in kürzester Zeit hat es die Ebene unter sich begraben. Näher kommend beginnt die scheinbar kompakte, klebrige Masse zu zerbröckeln, in einzelne Klumpen zu zerfallen, dunkle, spinnenartige Schatten, die auf zahllosen Beinen über den Boden trippeln. Zielstrebig und mit gnadenloser Präzision jagen sie ihr Opfer, nichts hält sie auf.

Sie haben ihn fast schon erreicht – da entdeckt er doch noch den ersehnten Aufstieg! Er schlägt einen Haken, beginnt zu klettern, die Todesangst treibt ihn an. Oben öffnet sich ihm ein weiter, freier Blick übers zerklüftete Bergland, am Horizont sieht man das Meer. Reglos und friedlich liegt es da, übergossen mit silbrigem Mondlicht. Dorthin muss er gelangen, nur dort gibt es Sicherheit vor den Spinnentieren. Fast meint man das Wasser mit Händen berühren zu können, so dicht scheint es. Beflügelt durch diese neue Hoffnung läuft er weiter. Gleich wird er frei sein, bloß ein kurzes Wegstück trennt ihn noch von seiner Rettung.

Aber – sieht er nicht die gewaltige Schlucht, die zwischen ihm und der See liegt? Sein Ziel, so verlockend nah es scheinen mag, liegt doch in weiter Ferne; der Abgrund macht es unerreichbar! Nein, er bemerkt es nicht, er stürmt voran, euphorisiert, offenbar blind durch die trügerische Aussicht auf Erlösung. Halt!, will man rufen, kehr um, such dir einen anderen Weg, du machst einen furchtbaren Fehler! Aber man weiß, dass es vergeblich gewesen wäre – nichts kann die drohende Tragödie noch abwenden. Und schließlich ist es zu spät.

Der Tritt ins Leere… ein menschlicher Körper, der für Sekundenbruchteile in der Luft hängt. Hilflos rudernde Arme, Beine, die keinen Grund mehr finden, eine in maßloser Verwunderung erstarrte Miene.

Und wie in Zeitlupe setzt die Abwärtsbewegung ein.

Urlaubsparadies

Vom Hotelgelände führte ein schmales Treppchen hinunter zum Strand. Sonnencreme-Duft hüllte mich ein; im Rucksack klapperten die Wasserflaschen. Zwei Liter Flüssigkeit – trank man weniger, machte bald der Kreislauf schlapp. Zu drückend und feucht war die Luft, zu intensiv der südliche Sonnenschein. Und alles wäre noch schlimmer gewesen ohne den großen Becher Kaffee, den ich mir jeden Morgen nach dem Frühstück verabreichte.

Auf dem Treppenabsatz schlüpfte ich vorsorglich in die Flipflops – barfuß hätte man sich am Strand glatt die Sohlen verbrannt, so sehr heizte die Sonne den gelblichen, mit dunklen Schlieren durchzogenen Sand auf. Dann zog ich meine Baseballkappe tief ins Gesicht. Leider bot sie kaum Schutz gegen das grelle Licht, ich würde mir eine Sonnenbrille kaufen müssen. Die meisten Leute hier trugen eine, was ich zuerst für Angeberei gehalten hatte. Inzwischen wusste ich es besser.

Alles war längst wieder dicht bevölkert. Jeden Abend nahm ich mir vor, anderntags nicht so lange liegen zu bleiben, aber dann wurde es doch wieder neun Uhr oder später. Das Aufstehen war eine Qual in diesem Klima, dieser permanenten Schwüle, die selbst nachts kaum abnahm. Zwar besaß das Hotelzimmer einen Ventilator, aber der erzeugte schon auf unterster Stufe einen regelrechten Sturm, weshalb ich ihn nie nie einschaltete, stattdessen die Balkontür immer weit öffnete. Leider erreichte kaum ein Quäntchen Frischluft das Rauminnere; dementsprechend unerquicklich war der Schlaf.

Ich musste wie immer lange über den Strand laufen, ehe der Trubel sich etwas lichtete. Fast schon am Felshang angekommen besetzte ich eine der wenigen noch freien Liegen und klappte den zugehörigen Sonnenschirm aus. Letzterer hätte mir eigentlich genügt, zum Schutz gegen die pralle Mittelmeersonne, aber es gab ihn nur mit der Liege im Doppelpack – natürlich zu einem entsprechend höheren Preis. Ein braun gebrannter, noch ziemlich junger Strandboy in T-Shirt und Bermudashorts kassierte und kennzeichnete meine Liege mit einem Kreidekreuz.

Nachdem ich ausgepackt und mich eingerichtet hatte, überschaute ich kurz das Gewimmel: Badende, die sich übermütig in die Wellen stürzten, durchtrainierte Gestalten, die nach Frisbee-Scheiben oder Bällen hechteten, ölige, in der Sonne schmorende Leiber, Kinder, die mit Plastikwerkzeugen emsig im Sand buddelten. Dazwischen überall Afrikaner in bunten Kaftanen, ihren Tand feilbietend: Sonnenbrillen, Schmuck, Mützen. Einige trugen ganze Bauchläden mit Waren vor sich her. Landeinwärts ging der Blick gegen die steile Felswand, an der die Hotelbunker klebten und in der Hitze flimmerten. Eine Fernstraße wand sich aus den Höhen hinab ins Tal, passierte hier unten einen Kreisverkehr und stieg auf der anderen Seite wieder an, bis sie schließlich erneut zwischen den Felsen verschwand. Fahrzeuge glitten auf ihr entlang wie an einer Schnur aufgezogen: Autos, Motorräder, Busse und – vor allem – Baufahrzeuge.

Drei Wochen war ich bereits hier, und mittlerweile hatte sich ein fester Tagesablauf eingespielt. Nach dem Aufstehen und einer Katzenwäsche fuhr ich hinunter in den Speisesaal. Hier galt es, sich mit Essen zu versorgen, was stets aufs Neue eine sportliche Höchstleistung war: Das Gerangel, Geschiebe und Geschubste hätte jedem Schlussverkauf zur Ehre gereicht. Ich war immer völlig erschöpft, wenn ich alle Zutaten beisammen hatte. Und erleichtert, nun endlich mit der Mahlzeit beginnen zu dürfen.

Um halb elf öffnete die Poolbar. Nur hier bekam man frisch aufgebrühten, einigermaßen starken Kaffee. Die Plörre, die die Automaten im Speisesaal ausspuckten, ersparte man sich besser. Wenn die Rollläden der Bar hochfuhren, stand man idealerweise schon mit gezücktem Portemonnaie bereit. Nur wenig später war der Tresen regelrecht belagert von All-Inklusive-Gästen, meistens Russen und Engländer, die Caipirinha, Wodka-O-Saft und Cocktails in rauen Mengen bestellten. Dann konnte man ewig warten, bis man drankam.

Erst wenn das Koffein eines großen Milchkaffees mit doppeltem Espresso meine Kopfweh einigermaßen vertrieben hatte, konnten die weiteren Dinge angegangen werden. Zurück auf dem Zimmer packte ich den Rucksack, dann ging es hinunter an den Strand. Den Tag verbrachte ich nahezu komplett auf der Liege, schauend, lesend, dahindämmernd. Sehr selten raffte ich mich zum Baden auf. Falls nicht wieder eine Barriere aus fauligem, stinkendem Seegras den Zugang versperrte. Oder, wie so oft, großflächige Quallenteppiche durchs Wasser trieben, deren feuerrote Schweife man besser mied, wollte man nicht gefährliche Verbrennungen riskieren. Dass ich unter diesen gastlichen Umständen eher wenig Lust verspürte, ins kühle Nass zu springen, verstand sich vermutlich von selbst.

Spätnachmittags, wenn von der Felswand langsam Schatten herankam, machte ich mich auf den Rückweg. Das Areal war jetzt so gut wie menschenleer, die Strandboys sammelten überall Liegen und Schirme ein. Im hinteren Tal glommen bereits die ersten Lichter, von den Hotelterrassen hörte man das Klappern der Bestecke auf den Tellern.

Im Hotelzimmer empfingen mich Dunkelheit und drückende Luft. Die Putzfrauen schlossen auf ihrer täglichen Runde immer die Sonnenvorhänge, was gut gemeint war, aber kaum gegen die Mittagsglut half. Unter Mühen zog ich die schweren Tücher beiseite und öffnete die Balkontür, um frische Luft einzulassen. Draußen waren die Terrakotta-Fliesen immer noch stark erwärmt, obwohl dieser Teil des Hotels längst im Schatten lag. Nachdem ich Handtuch und Badehose auf dem Trockenständer drapiert hatte, ging ich unter die Dusche. Welch eine Wohltat, die Haut von Sand und Öl zu befreien, sich mit Body-Lotion einzucremen, frische Kleidung überzustreifen. Wenn ich wieder hinunterfuhr zum Essen, fühlte ich mich jedes Mal sehr entspannt. Selbst dem neuerlichen Gewühl im Speisesaal sah ich jetzt gelassen entgegen.



***



Das Abendessen war reichlich und schwer gewesen – wie meistens. Gerade unternahm ich meine obligatorische letzte Runde, um die Verdauung in Gang zu bringen. Es war jetzt nachtschwarz; überall blinkten die Lichter der Bars, der Spielautomaten und Fahrgeschäfte. Zahllose Souvenirläden präsentierten ihren Ramsch, aus jeder Ecke tönte Popmusik. Ein Schwimmbad lockte mit verschiedenfarbig beleuchteten Becken, auf einer Minigolf-Anlage sah man die Spieler unter Flutlicht ihre Schläger schwingen. In einem Vogelpark konnte man bunte Papageien bestaunen, die, gefangen in großen Volieren, traurig auf die Welt außerhalb der Gitterstäbe blickten. Panoramafenster wiesen in Hotelsäle, wo Showmaster in Frack und Zylinder gestikulierten, zauberten und Tombolagewinne überreichten, immer begleitet von frenetischem Applaus. Auf den Hotelterrassen ahmten Menschengruppen die Bewegungen laut kommandierender, meist noch sehr junger Animateure nach.

Der gesamte Süden dieser Urlaubsinsel sowie ein gutes Stück ihres Westens bestanden aus einem einzigen, massiven Granitplateau, das zu den Küsten hin steil abbrach. Felsspalten zogen sich vom Wasser bis weit ins Landesinnere und bildeten imposante Täler. Diese waren, wo immer es ging, nutzbar gemacht worden. Die Hänge hatte man mit Hotelblöcken aus Glas und Stahl regelrecht verkleidet, den Grund dazwischen in ausgedehnte Kirmesbetriebe verwandelt. Am Meer waren Wellenbrecher errichtet, künstliche Strände aufgeschüttet, Palmen gepflanzt. Mein Urlaubsdomizil lag im Südwesten des Eilands und hieß Plage d'Aiola. Aber das spielte eigentlich keine Rolle; ein Ferienort war hier wie der andere, die Namen dienten bloß zur Unterscheidung. Echte, gewachsene Dörfer oder Städte gab es in dieser Gegend kaum.

Erstaunlich, dass die Gäste sich an dieser Künstlichkeit nicht störten. Im Gegenteil: Die wahlweise sterilen oder kitschigen Bauten, die harmlosen bis albernen Vergnügungsangebote waren augenscheinlich genau das, was sie wollten. Auch in meinem Hotel gab es jeden Abend Animationen, Events und Highlife, so platt und billig, wie ich es niemals für möglich gehalten hatte. Unglücklicherweise lag die Bühne genau unterhalb meines Fensters; ich konnte kaum einschlafen bei all dem Lärm, der wummernden Musik, dem Krakeelen der DJs und Gäste. Vermutlich waren die Zimmer auf der entgegengesetztem Hotelseite ruhiger, allerdings hatten sie keinen Meerblick, deshalb zögerte ich, mich umquartieren zu lassen.

Ich kam zur Strandpromenade. Sie war nicht lang; rasch hatte man die letzten Boutiquen und Weinschänken passiert, auch die wenigen Spaziergänger zurückgelassen, die um diese Zeit noch hier flanierten. Ich blieb einen Moment stehen und schaute auf die nächtliche See hinaus. Am Horizont blinkten ein paar verlorene Lichter – vermutlich Leuchtfeuer oder Schiffe, die dort vor Anker lagen. Wellen rollten in regelmäßigen Abständen aus der Dunkelheit heran und schlugen auf den Sandstreifen unterhalb der Promenade. Möwen schrien, es roch nach Tang und salziger Luft.

Schließlich machte der Felshang ein Weiterkommen am Wasser unmöglich. Man konnte jetzt dieselbe Strecke zurücklaufen oder seinen Weg auf der anderen Talseite fortsetzen, entlang der dortigen Hotels – meistens entschied ich mich für letzteres. Obwohl auch auf dieser Seite die Gebäuderiegel dicht an dicht standen, wirkte hier alles gesetzter, ruhiger, distinguierter. Um diese Zeit waren so gut wie keine Leute mehr unterwegs, es gab nur wenige Läden und – vor allem – keinen Ferientrubel, keine Animationen. Die blinkenden Lichterketten der Fahrgeschäfte schienen weit entfernt, der Lärm der Vergnügungsmeile wehte nur noch abgeschwächt herüber, vermischte sich mit dem Wellenrauschen, dem Geschrei der Möwen.

Nach ein paar Gehminuten mündete die Hotelstraße in einen Kreisverkehr. Er war noch immer dicht befahren, selbst zu dieser späten Stunde. Der Grund war die Fernstraße, die an diesem Punkt den Ferienort passierte und auf der der Reiseverkehr Tag und Nacht nicht zur Ruhe kam. Es dauerte eine ganze Weile, ehe ich die Fahrbahn überqueren konnte. Hinter dem Kreisel wurde es rasch wieder ruhiger; hier begann die Siedlung mit Ferienapartments: helle, großzügige Bungalows, hinter deren erleuchteten Fenstern Menschen in trauter Runde zusammensaßen, Familien, Freunde, Abendgesellschaften, zwischen sich die gedeckte Tafel, die blitzenden Weingläser, die Karaffen, die Kerzenleuchter. Menschen, die dem Draußen ihr gediegenes Leben präsentierten, der Welt zeigten: Wir haben es geschafft, wir sind angekommen.

Immer wieder zog es mich in diese Siedlung. Die perfekt arrangierten Szenerien hinter Glas übten einen unwiderstehlichen Reiz auf mich aus. Allein durch intensives Schauen, so schien es mir, konnte ich Teil dieser Welt werden, wenigstens ein kleiner, unbedeutender. Es war wie zu Hause, wo ich nach der Arbeit vergleichbare Gänge gemacht hatte. Dort hatte sich hinter den erleuchteten Scheiben ein ganz ähnliches Bild von Wohlstand und Behaglichkeit geboten, hatte ebenfalls diese Makellosigkeit in die Nacht hinaus gestrahlt. Als Ansporn für diejenigen, die sich etablieren wollten, es aber noch nicht geschafft hatten. Und als Vorwurf an die anderen, die es nie schaffen würden. Weil ihnen etwas fehlte, eine bestimmte Eigenschaft oder Fähigkeit, um Teil des Ganzen zu sein…

Und stets war ich dort an einem bestimmten Haus vorbeigekommen, hatte dessen Bewohner beobachtet, die gleichfalls beim Essen saßen: Vater, Mutter und ein blondgelocktes Töchterchen. Das Kind, das Alexandra sich so sehr gewünscht hatte – dort war es. Allerdings saßen andere Eltern mit ihm am Tisch…

Ich verscheuchte diese Gedanken und setzte den Spaziergang fort. Das Grillengezirp war laut und allgegenwärtig, die drückende Schwüle der Luft hatte im Vergleich zum Tag kaum abgenommen. Im hinteren Teil des Tals wurde die Bebauung allmählich spärlicher, die Geräusche verebbten, die Atmosphäre von Geselligkeit verlor sich – bis die Siedlung schließlich endete. Merkwürdigerweise lief die Straße jedoch weiter: ein leuchtender Lindwurm, der sich in die Nacht hinaus wand, ein Boulevard ins Nichts.

Schon bei meinem allerersten Gang vor drei Wochen hatte sein Anblick mich fasziniert. An jenem Abend hatte ich eigentlich nur die Gegend ums Hotel erkunden wollen und dann diese sinnlose Straße entdeckt. Wie eigenartig es gewesen war, auf ihr entlangzulaufen: Statt Läden, Kneipen und Restaurants auf beiden Seiten nur Dunkelheit. Gras spross zwischen den Fugen der fabrikneuen Gehwegplatten empor, auf dem Grünstreifen am Rand vertrockneten Zierpalmen in ihren Holzkübeln. Die Mülleimer waren allesamt leer, bis auf verschrumpelte Palmblätter, die irgendein Reinigungsdienst offenbar regelmäßig zusammenkehrte und entsorgte.

Kein einziges Gebäude tauchte mehr auf, nicht mal eine Trafostation, ein Schuppen oder ähnliches. Der Zikadenlärm verstummte, dafür ertönten jetzt von überall quiekende Laute, die ich noch nie gehört hatte. Seltsame, fledermausartige Wesen stießen sie aus, die über mir durchs Dunkel kreisten. Manchmal gerieten sie in die Lichtkegel der Straßenlampen, dann konnte man sie sehen, ihre ledrigen Flügel erkennen, die scharfen Krallen. Ob sie gefährlich waren, diese Biester? Ihr Geschrei klang irgendwie aggressiv. Aber dann hätte der Reiseführer sie bestimmt erwähnt…

Nach einiger Zeit hörten Straße und Beleuchtung einfach auf. Nichts ließ darauf schließen, weshalb gerade hier das Ende kam; es schien, als wäre den Arbeitern schlicht das Baumaterial ausgegangen. Ich musste notgedrungen den Rückzug antreten.

Um bereits am folgenden Nachmittag wiederzukommen – jetzt wollte ich die Sache genauer unter die Lupe nehmen. Fledermäuse konnte ich heute keine ausmachen, vermutlich wurden sie erst im Dunkeln aktiv. Dafür sah man überall Planierraupen und Bagger; Tieflader fuhren Erde ab, kehrten mit Baumaterial und Gerät zurück, eine Wolke aus Sand und Staub hüllte alles ein. Das also hatte es mit der geheimnisvollen Straße auf sich: Sie war nichts weiter als der Zubringer in eine neue, noch im Bau befindliche Siedlung, die nach ihrer Fertigstellung vermutlich genau wie alle anderen aussehen würde. Mithin sollte das letzte freie Stückchen des Tals noch zugepflastert werden, verfüllt mit Hotels, Ferienappartements, Läden und allem, was Gäste und Geld brachte.

Meine Enttäuschung war grenzenlos. Das Bild des rätselhaften Boulevards hatte mich elektrisiert und zu neuen Ideen angeregt. Aus irgendeinem Grund war mir diese absurde Prachtstraße, die es eigentlich gar nicht geben durfte, wie ein Versprechen erschienen, eine unverhoffte Möglichkeit, die eigenen, engen Grenzen hinter sich zu lassen, neue Wege zu beschreiten, unbekanntes Terrain zu entdecken. Und jetzt das. Wie immer im Leben war die Auflösung brutal ernüchternd und zweckmäßig; jede Phantasie, jede kühne Idee wirkte vor der schalen Realität geradezu lächerlich. Zurück blieben Enttäuschung und ein Gefühl der Leere und Verlorenheit.

Ich wollte mich bereits in mein Schicksal fügen und kehrtmachen, als eine unscheinbare Sandspur mein Interesse weckte, ein schmaler, gewundener Pfad, der ein Stück hinter dem abrupten Straßenende begann. Pessimistisch verfolgte ich ihn mit Blicken, davon ausgehend, dass er sich rasch verlieren würde. Aber das geschah zu meiner Überraschung nicht – weit, sehr weit ließ der Trampelpfad sich ausmachen, mal mehr, mal weniger gut. Plötzlich spürte ich Aufregung. Hatte ich ihn doch noch gefunden, meinen gesuchten, so innig herbeigesehnten Weg? Würde er mich führen, wohin ich wollte?

Mit klopfendem Herzen setzte ich also meine Entdeckungsreise fort. Allmählich verschwand der Baulärm hinter mir, während die Felswände immer näher heranrückten. Was würde gleich kommen? Welche Erkenntnis wartete auf mich? Bald war ich vor innerer Spannung wie berauscht.

Aber mir sollte leider kein Glück beschert sein: Nach einiger Zeit endete der Pfad an einer steil abfallenden Wand. Vorsichtig lugte ich über den Rand in die Tiefe: Bauschutt war dort zu sehen, Abraum, Geröll. Der Anblick erinnerte an ein riesiges, aufgeplatztes Geschwür, eine krebsartige Wucherung. Und endlich fiel der Groschen: Was ich die ganze Zeit für den Talgrund gehalten hatte, war in Wirklichkeit eine aufgeschüttete Halde, die an dieser Stelle endete. Man hatte dem gesamten Areal zunächst eine neue, synthetische Schicht verpasst und erst dann mit dem Bau der Häuser und Straßen begonnen. Das Feriengebiet war bis tief in seinen Untergrund falsch, eine einzige Lüge.

Gut fünf Meter unterhalb der menschengemachten Klippe tauchte der eigentliche Boden auf. Ich meinte dort ebenfalls einen Pfad im Sand zu erkennen, gleich meinem hier oben. Er kam aus der Weite heran, wurde hier jedoch durch die Steilwand abgeschnitten, regelrecht amputiert. Nun fehlte sein Ende; er war nutzlos geworden. Keines Menschen Fuß würde ihn jemals mehr betreten.

Und wenn ich es tat? Wenn ich den Weg wieder in Betrieb nahm, ihm sozusagen zu seinem Recht verhalf? War dies nicht ein Akt des Aufbegehrens gegen die Grausamkeit, mit der man Landschaft und gewachsene Struktur geschändet hatte? Fieberhaft suchte ich nach einer Möglichkeit, hinabzuklettern. Aber am Ende musste ich einsehen, dass es unmöglich war; der Schutt konnte ins Rutschen kommen, mich unter sich begraben. Und schließlich: Wie hätte ich je wieder hier heraufkommen sollen? Nein, das Vorhaben war zum Scheitern verurteilt, das Tal blieb unerreichbar. Die Erbauer dieses elenden, verfluchten Feriengebietes hatten ganze Arbeit geleistet!

Auch an diesem Abend war der Boulevard wieder hell erleuchtet. Aber jetzt, da ich wusste, was es mit ihm auf sich hatte, da ich sein Geheimnis kannte, lockte er mich nicht mehr. Im Gegenteil: Sein Anblick löste nun jedes Mal Frust in mir aus, fast Verbitterung. Es war, als hätte jemand sich mein Vertrauen erschlichen und dann heimlich das Weite gesucht, mich im Stich gelassen. So war es auch heute wieder. Ich musste kurz schlucken, dann drehte ich mich abrupt weg und ging entschlossenen Schrittes zurück in Richtung Feriensiedlung.

Kurz vor Erreichen des Verkehrskreisels passierte man eine steile Auffahrt. Permanent bogen hier Reisebusse ab und quälten sich den Berg hinauf, selbst um diese Uhrzeit noch. Frisch eingetroffene Urlaubsgäste, die zu den Hoteltürmen oben auf der Felsklippe transportiert wurden.

Ausgerechnet diese Betonklötze, deren zitternde Lichter man abends weithin sehen konnte, hatten nach der Enttäuschung mit dem Boulevard neue Hoffnung in mir geweckt: Vom Strand aus wirkte es immer, als würde direkt hinter ihnen die Hochebene beginnen. Gab es dort oben möglicherweise einen Weg heraus aus diesem Tal mitsamt seiner elenden Retortenstadt zur echten, authentischen Insel?

Eines Nachmittags lief ich voller Optimismus die Zufahrtsstraße hoch. Nahm mich in Acht vor den zahllosen Bussen, die ihre Dieselschwaden in der Gegend verbreiteten, wich tapfer den PKW aus, die von oben auf mich zurasten, sichtlich verwirrt, sogar wütend über den Fußgänger, der ihrer Meinung nach hier nichts verloren hatte. Allen Widrigkeiten zum Trotz kam ich wohlbehalten an – und musste feststellen, dass ich offenbar wieder eine Niete gezogen hatte: Die Straße endete vor den im Halbkreis stehenden Hotels in einem Wendehammer.

Aber der Abzweig, der seitlich an den Gebäuden vorbeilief – war er das, mein Weg hinaus in die Natur, die Freiheit? Wieder folgte die Ernüchterung auf dem Fuße: Es handelte es sich schlicht um die Zufahrt zum Hotelparkplatz. Die Autos standen hier dicht an dicht, voluminöse Karossen brieten neben Kleinwagen unter südlicher Sonne, ein Teppich aus Blech und Chrom, der nahezu lückenlos den staubigen Grund bedeckte. Ganz hinten aber sah man steile, vollkommen glatte Felswände. Endlich begriff ich: Die Hotels standen mitnichten am oberen Klippenrand, sondern auf einer Art Zwischenplateau, das man extra für sie in den Hang geschlagen hatte. Dahinter ging es sicher noch zehn Meter aufwärts. Eine Treppe oder ein Aufgang jedoch war nirgends zu entdecken.

Als die Granitfelsen so schroff und unbezwingbar vor mir aufragten, überkam mich plötzlich ein Gefühl tiefster Verlorenheit. Es gab anscheinend keinen Weg heraus aus diesem Tal, abgesehen von der Fernstraße, die aber für Fußgänger lebensgefährlich war, nach dem zu schließen, was ich gerade auf der Hotelzufahrt erlebt hatte. Hieß: Man war hier eingesperrt wie ein Tier im Käfig, konnte nur im Kreis herumlaufen und warten. Warten, dass der Urlaub endlich vorbeiging und man wieder abgeholt, hier herausgeholt wurde.

Leider lagen die Dinge bei mir komplett anders: Kein Busshuttle der Welt würde jemals an meinem Hotel vorfahren, um mich zum Flughafen zurückzubringen. Meine Ferien endeten nicht einfach zu einem bestimmten Zeitpunkt, wie bei den anderen Gästen. Für mich gab es kein Zurück mehr, das war alles vorbei, definitiv zu Ende…

Lautes Röhren und Sägen zerriss plötzlich die abendliche Stille; eine Horde Jugendlicher auf altmodischen, klapprigen Motorrollern kam angebraust. Sämtliche Maschinen wurden von Jungen gesteuert, die Mädchen hockten auf dem Sozius und klammerten sich an ihren Fahrern fest. Laute Rufe in einer Sprache, die nicht nach Französisch klang, Lachen, Freude, Hupen. Alles dauerte nur ein paar Sekunden, dann war das Grüppchen zwischen den Häusern verschwunden, der Motorenlärm verhallt. Zurück blieb ein starker Geruch nach Zweitakter-Benzin.

Ich hatte noch keine Lust, wieder ins Hotel zu gehen. Sicher wurden auf dem Animationsgelände gerade die Gäste bespaßt, dann war es in meinem Zimmer vor Lärm eh nicht auszuhalten. Ich beschloss, den Spaziergang zu verlängern, eine weitere Runde durch die abendliche Siedlung zu drehen.

Abhauen, alles zurücklassen – wann war mir dieser Gedanke zum ersten Mal gekommen? Vermutlich in diesem Sommer, während des wochenlangen Starkregens, der für diverse Dammbrüche, Überflutungen und sogar Ertrunkene gesorgt hatte. Dieses bedrohliche und zugleich deprimierende Wetter war wie ein Spiegelbild meines inneren Zustandes gewesen. Ein Spiegelbild allerdings, von dem man sich nicht einfach wegdrehen konnte, das allgegenwärtig war mit seiner Nässe, seiner Dunkelheit, seiner zerstörerischen Wucht. Irgendwann hatte ich den permanent regengrauen Himmel, die endlos heranziehenden Unwetterwände, die Katastrophenmeldungen nicht länger ertragen. Bilder waren vor meinem inneren Auge entstanden, von blauen Fluten, leeren Sandstränden, Palmen, die sich im Passatwind wiegten. Ich sah mich durch leuchtende Weiten gehen, die Füße umspült von milder See. Die Luft strich mir angenehm über die Haut, eine nie gekannte Ruhe erfüllte mich…

Eine Reise in den Süden, ohne Wiederkehr. Raus aus diesem verfluchten Nicht-Leben, dem bloßen Funktionieren. Die alte Existenz abstreifen wie eine tote Haut. Nicht länger bloß ein Kollege sein, ein Kunde, Klient, Vorgang, sondern endlich den Menschen in sich zum Vorschein bringen – die Idee ließ mich nicht mehr los. Und als ich überlegte, wohin ich fahren sollte, kam mir sofort diese Insel in den Sinn. Weshalb ausgerechnet dieses unwichtige Eiland im Mittelmeer, irgendwo zwischen den Balearen und Korsika gelegen?

Der einzige Grund, der mir einfiel, war Lennards Karte. Die Urlaubskarte, die er mir damals von hier geschrieben hatte. Sie war sein letztes Lebenszeichen gewesen, anschließend hatte ich nie wieder von ihm gehört. Irgendetwas an dieser Insel hatte ihn zutiefst fasziniert, und seinerzeit war ich drauf und dran gewesen, ihm nachzureisen. Daraus war nichts geworden, aber weshalb nicht jetzt nachholen, was ich einstmals versäumt hatte? Schauen, was an dieser Insel so Besonderes war?

Letztlich spielte das genaue Motiv für meine Wahl aber auch keine Rolle. Entscheidend war das Gefühl von Aufbruchsstimmung; dieses musste genutzt werden, und zwar schnellstmöglich, ehe es wieder verpuffte. Ich beschloss, das Undenkbare zu wagen: Kündigung zum 30. September, Aufgabe der sicheren Beamtenlaufbahn. Niemand außerhalb des Kollegenkreises erfuhr von meiner Entscheidung. Freunde hatte ich keine mehr, der Kontakt zu meinen Eltern war ebenfalls kaum noch existent, beschränkte sich auf pflichtschuldige Telefonate an Geburtstagen und zu Weihnachten. Nachdem dieser wichtigste Schritt vollzogen war, machte ich mich an die Planung der Reise. Anfangs wollte ich nur einen Flug buchen und mir vor Ort eine Unterkunft suchen, aber das erschien mir schlussendlich zu risikoreich. Ich war nie der große Urlauber gewesen, vor allem aus Umweltgründen; deshalb kannte ich das Herumreisen auf eigene Faust nicht, das selbständige Zurechtkommen in fremden Ländern. Also ließ ich mir ein Rundum-Sorglos-Paket zusammenstellen: Flug, Bustransfer zum Hotel, drei Wochen Halbpension, Verlängerung möglich. Eine Umweltsauerei, gewiss, aber da es hoffentlich die einzige bleiben würde, fügte ich mich in die Gegebenheiten. Und noch ein weiteres, völlig unerwartetes Problem ergab sich in meinem Szenario: den Hin- ohne den Rückflug zu buchen. Das hätte bislang nie ein Kunde verlangt, grummelte die Dame im Reisebüro kopfschüttelnd. Am Ende kam mich diese Variante deutlich teurer, aber auch das nahm ich notgedrungen in Kauf.

Das Hotel lag an der Südküste; nur hier herrschte laut meinem Reiseführer ewiger Sonnenschein. Zwar wurden auch andere Regionen als reizvoll beschrieben: So prägten im Norden wohl karge, ursprüngliche Landschaften das Bild, während im Zentrum Gipfel von über 2000 Metern Höhe aufragten. Allerdings sollte das Wetter dort überall kühl und regnerisch sein, ich aber wollte Strand und Sonne satt. Die Südküste also, Massentourismus hin oder her. So schlimm würde es schon nicht werden. Alles in allem fand ich, dass es ein gutes Arrangement war, um sich zunächst an die neue, fremdartige Situation zu gewöhnen. Später konnte ich immer noch weitersehen.

Der Morgen der Abreise brach an. Meine Maschine startete um 06:30 Uhr in Fuhlsbüttel, in Paris-Charles-de-Gaulle hatte ich geschlagene fünf Stunden Aufenthalt. Erst gegen vier Uhr nachmittags setzte der A320 bei böigem Wind mit einem hässlichen Ruck auf dem Inselflughafen auf. Während der Shuttle-Fahrt über das Rollfeld sah ich weiter hinten frei wachsende Palmen – ein verheißungsvolles Signal, wie mir schien. In der Ankunftshalle fischte ich den Koffer vom Gepäckband, verließ das Flughafengebäude – und draußen traf mich fast der Schlag: Selbst jetzt noch, Anfang September, brannte die südliche Sonne stark, geradezu brutal herab. Mein Optimismus schwand dahin, verdampfte regelrecht wie Wasser in der Wüste; zurück blieb eine äußerst ungute Vorahnung…

Die ersten Tage schlug ich mich wacker. Zugegebenermaßen war ich geschockt von den Hotelsilos, dem Touristenrummel, dem allgegenwärtigen Geplärre und Gelärme. Aber ich ignorierte das alles nach Möglichkeit und spulte mein festgelegtes Programm ab. Verbrachte die Tage am Strand oder erkundete die Gegend, drehte meine abendlichen Runden durch den Ferienort. Neben der frustrierenden Umgebung setzten mir bald auch die hohen Temperaturen und vor allem die ungewohnt schwüle, drückende Luft zu. Trotzdem blieb ich eisern, machte mit zusammengebissenen Zähnen weiter. Lief über den nächtlichen Boulevard, entdeckte die künstliche Klippe an seinem Ende. Und stand schließlich oben an den Hotels vor der nahezu senkrechten Steilwand.

Dieses Bild war von ultimativer Eindringlichkeit: Sackgasse, Schluss, Endstation. Ich kam definitiv nicht mehr weiter. Erst jetzt kapitulierte ich, oder vielmehr: Ich brach regelrecht zusammen. Eine heftige Migräneattacke streckte mich nieder; zwei Tage lag ich flach, dämmerte bei geschlossenen Vorhängen und voll aufgedrehter Klimaanlage vor mich hin. Üble Gedanken peinigten mich in dieser Zeit, endlose Selbstvorwürfe zermarterten mir Hirn und Gemüt. Was hatte ich mir nicht alles erhofft von dieser Reise? Sie sollte der Schritt in ein neues, besseres Leben werden, und jetzt fühlte ich mich so schlecht wie noch nie. Mutterseelenallein, von aller Welt verlassen. Dabei war alles so perfekt geplant gewesen. Jede Kleinigkeit hatte ich mir vorher überlegt, jedes Detail sorgfältig erwogen. Nur was innerlich mit einem passieren mochte, wenn man sämtliche Brücken hinter sich abbrach, das alte Leben komplett zurückließ, darüber hatte ich nie nachgedacht. Vielleicht hatte mir schlicht die Vorstellungskraft gefehlt.

Und weshalb war ich ausgerechnet hierher gekommen? Hätte ich mir ein ruhigeres, weniger überlaufenes Reiseziel aussuchen müssen? Ja, vermutlich. Aber so war es am bequemsten gewesen, auch hatte ich nicht damit gerechnet, dass es derart heftig sein würde, derart einfältig und dumpf. Nervtötender Betrieb von morgens bis in die Nacht. Dichtes Menschengewimmel, ob im Hotel, am Strand oder im Ort. Die Leute noch egoistischer, noch ruppiger und rücksichtsloser als zu Hause. Rabiat drängelten sie sich dazwischen, wenn man an der Poolbar wartete. Wie selbstverständlich nahmen sie beim Frühstück alles mit, was an Brot oder Beilagen noch übrig war, ohne sich um diejenigen zu scheren, die hinter ihnen in der Schlange standen. Immer musste man seinen Platz verteidigen, seine Ansprüche geltend machen. Man durfte sich nicht entspannen, sich nicht gehen lassen, sonst wurde man überrannt, fortgespült von dieser Welle aus Konsumwut und Vergnügungsgier um jeden Preis…

Aber ich erholte mich rascher als befürchtet. Bereits nach einigen Tagen waren die Kopfschmerzen verschwunden, auch innerlich fühlte ich mich jetzt ruhiger, ausgeglichener, gelassener. Trotz allem, dessen war ich mir nun wieder sicher, hatte ich recht daran getan, herzukommen. Ich hatte mich abgenabelt vom Alten und auf die fremde Situation eingelassen. Bald würde ich zu neuen Taten aufbrechen. Zwar wusste ich nach wie vor nicht, welche das sein konnten, aber ich spürte, dass eine entscheidende Veränderung bevorstand. Ich war endlich bereit.

Nach meiner vollständigen Genesung ordnete ich mich zunächst wieder in den täglichen Ferienbetrieb ein – und hatte bald erste Erfolgserlebnisse zu verzeichnen. So ging meine Neurodermitis spürbar zurück, vermutlich durch die Dauersonne. Auch die Reizdarm-Symptome, die mich permanent quälten, nahmen erstmals seit langem ab. Das lag sicher am frisch zubereiteten Hotelessen; vorher hatte ich mich ja hauptsächlich von Junkfood ernährt.

Das abendliche Grillengezirp war kaum leiser geworden, als ich wieder zum Verkehrskreisel kam. Ein Windstoß fegte heran und schüttelte das Blechschild der Bushaltestelle. Um diese Zeit war hier längst alles verwaist, aber tagsüber sah man immer ganze Menschentrauben unter dem Sonnendach stehen und auf den Bus warten. In meinem Kopf begann sich vage ein Gedanke zu entwickeln, eine neue Idee…

Zum ersten Mal seit meiner Ankunft warf ich einen Blick auf den Busfahrplan: Die Linie endete in Porto d'Arreccio, die Busse fuhren stündlich. Porto d'Arreccio – laut Reiseführer ein gemütliches Fischerstädtchen am südwestlichen Zipfel der Insel und ein touristischer Anziehungspunkt, vor allem wegen seines liebevoll restaurierten Zentrums. Das also war der Grund für die vielen Ausflügler, die des Tags immer hier ausharrten.

Und wenn ich es ihnen gleichtat? Mich wie sie in einen der alten, klapprigen Linienbusse setzte, die ich bereits so oft von hier hatte abfahren sehen? Aus dem Tal herauskommen, ins Freie gelangen – das erschien auf einmal so simpel; eine Fahrt mit dem Bus würde genügen.

Aber ich blieb skeptisch. Weshalb sollte ich in Porto d'Arreccio auf einmal finden, wonach ich hier in Plage d'Aiola so lange vergeblich gesucht hatte? Konnte die Lösung wirklich derart einfach sein?

Ich verscheuchte die Bedenken – einen Versuch lohnte es allemal! Rasch war ein passender Bus für den nächsten Tag herausgesucht und die Abfahrtszeit im Handy gespeichert. Als ich zum Hotel zurückging, spürte ich erneut diese Aufbruchstimmung, wie bereits nach meiner Genesung. Aber inzwischen war sie noch stärker geworden.

Bald, sehr bald schon würde ich den Weg fortsetzen, den ich mit meiner Reise auf diese Insel begonnen hatte.

Auf die andere Seite

Plötzlich ein Aufschlagen, Zusammenzucken, wie bei einem starken Stromschlag – und ich war wach.

Ringsherum drückende Finsternis, nur unter der Zimmertür ein schmaler Lichtspalt. Von draußen hörte man das Wellenrauschen, der Vorhang bewegte sich leicht im Luftzug. Über mir der Schattenriss des Ventilators – er stand still, ich hatte das Gerät vorm Schlafengehen ausgeschaltet, wie gewohnt.

Ich schob das Laken beiseite, wollte aufstehen – und sank erschöpft auf die Matratze zurück. Hinter meiner Stirn pochte es dumpf, alles drehte sich. Wieder der Traum! Seit ich hier war, kam er fast jede Nacht, es wurde immer schlimmer…

Die nächtliche Hochebene, die Berggipfel, der Vollmond, immer wieder hinter Wolken verschwindend. Dann der Unbekannte, verfolgt von den schwarzen Schatten. Am Horizont die See, silbrig glänzend, verheißungsvoll. Davor liegt die Schlucht, man erkennt sie, wenn auch bloß schemenhaft. Der Flüchtende aber sieht sie nicht…

Ich griff nach der Wasserflasche und trank sie komplett leer. Als es mir endlich besser ging, erhob ich mich zaghaft und wankte zur Balkontür. Draußen war die Luft kaum weniger dumpf und feucht als im Zimmer. Über der nächtlichen See flimmerten ein paar Sterne. Das Animationsgelände war um diese Zeit längst verwaist, die Showbühne abgeräumt und dunkel. Leere Plastikbecher rollten über die Terrakotta-Fliesen, ein auflandiger Wind ließ im Pool kleine Wellen entstehen, die nervös gegen die steinerne Umfassung klatschten.

Dieser verdammte Albtraum – was mochte er bedeuten? Weshalb verfolgte er mich so hartnäckig? Und der Flüchtende – wer war das? Ich musste ihm begegnet sein, vor langer Zeit. Ein quälendes Schuldgefühl lastete auf mir, sobald ich erwachte. Die unerträgliche Gewissheit, ihm wieder nicht geholfen, ihn ein weiteres Mal den Spinnenwesen überlassen zu haben. Aber welchen Sinn hatte das alles? Für was standen diese widerwärtigen Kreaturen? Und vor allem: Um wen handelte es sich bei dem Unbekannten?

Wie auf einer Leinwand sah ich ihn in Todesangst davonhetzen, hinter sich die dunkle, wimmelnde Meute. Musste ohnmächtig beobachten, wie er dem Abgrund entgegenlief. Ich konnte nichts tun, das Unglück nicht verhindern. Schließlich der Sturz…

Und am Ende war ich es plötzlich selbst, der aufprallte.



***



Die Straße schlängelte sich an der senkrecht ins Meer abfallenden Felswand entlang. Blickte man aus dem Busfenster, sah man tief unter sich Wellen gegen den blank gewaschenen Stein schlagen. Das Wasser der Bucht leuchtete in reinstem Türkis.

Weiter draußen allerdings lag ein kompakter Dunstvorhang bleischwer auf der See. Das Gebilde erinnerte an ein gigantisches Nachtgespenst, das sich aus dem Meer erhoben hatte – mitten am Tag. Immer wieder verschwand während der kurvenreichen Fahrt die Sonne darin, mutierte zu einem diffusen Lichtfleck, der von Brechungen in allen Regenbogenfarben umringt war.

Meine Mitreisenden schienen das Phänomen nicht weiter zu beachten, ich war offenbar der Einzige, den es beunruhigte. Obwohl ich eigentlich wusste, dass es von der besonderen Wetterlage herrührte. Der Hotelportier hatte es mir vorhin erklärt, auch im Reiseführer konnte man darüber lesen: Eine spezielle, bloß temporär auftretende Luftströmung, die Sandmassen aus der Sahara übers Mittelmeer bis hierher transportierte. Mit dem Sand kam die Hitze Afrikas, und tatsächlich zeigte das Thermometer bereits jetzt, am Vormittag, fast 40 Grad Celsius. Schlimmstenfalls hielt dieses schwülheiße Wetter mehrere Wochen an, aber wir würden wohl glimpflich davonkommen: Laut Vorhersage stand ein Gewitter bevor, bereits morgen sollten die Temperaturen wieder auf das gewohnte Maß absinken. Was immer noch mehr als genug war.

Pausenlos kamen uns auf der engen Küstenstraße Baufahrzeuge entgegen, Betonmischer, Tieflader, Sattelschlepper. Sie schienen sämtlichen Platz zu beanspruchen, die Kolosse, aber der Busfahrer ließ sich durch ihren Anblick nie aus der Ruhe bringen. Stoisch setzte er zurück, fuhr wieder vor, kurbelte das Lenkrad wie ein Schiffsruder und versuchte, sein Vehikel am anderen Fahrzeug vorbei zu bugsieren. Obwohl diese Manöver uns manchmal gefährlich nah an den Abgrund führten, wollte einfach keine Angst aufkommen, weder bei mir noch bei den anderen Fahrgästen: Zu abgeklärt und südländisch entspannt wirkte dieses kleine, runde, stoppelbärtige Männchen da vorn am Steuer, mit ihm konnte einfach nichts schiefgehen.

Nach gut zwanzigminütiger Fahrt öffnete sich hinter einer Kurve der Blick aufs Nachbartal. Es war noch weitläufiger als das von Plage d'Aiola, trotzdem hatte man auch hier alles mit Ferienarchitektur zugepflastert, regelrecht verfüllt. Bis weit ins Landesinnere folgte Hotelbunker auf Hotelbunker, reihte sich Ferienvilla an Ferienvilla. Ungefähr in der Mitte dieses Häuserteppichs prangte die Kuppel einer Kirche im Renaissance-Stil – wohl ein Versuch, dem Ganzen ein bisschen Authentizität zu verleihen, der leider in Disney-World geendet hatte. Der Gipfel an Künstlichkeit war aber ein Golfplatz, dessen leuchtendes, vor Frische strotzendes Grün der brutalen Sonne Hohn sprach. Es bedurfte diverser Wasserfontänen, um das absurde Gebilde am Leben zu erhalten. Und noch immer wurde überall eifrig gewerkelt, man sah offene Gruben, Bagger, Planierraupen. Ein Wald von Kränen ragte in den Himmel, Baufahrzeuge verließen in endloser Folge den Ort und quälten sich die Küstenstraße hoch – daher also der lebhafte Gegenverkehr während der Fahrt.

Wenn man sehr konzentriert suchte, fand man schließlich auch das ursprüngliche Porto d'Arreccio, zusammengedrängt auf einem Flecken zwischen Meer und Steilwand. Ganz hinten schoben sich die traditionellen, weiß getünchten Fischerhäuser ein Stück den Fels hoch. Zwischen dem alten Städtchen und dem Neubauareal griff eine Steinmole weit ins Meer hinaus und ließ ein Hafenbecken entstehen. Schneeweiße Segelboote dümpelten dort im seichten Wasser, neben protzigen Motoryachten. Fischkutter hingegen sah man bloß wenige; überhaupt trat der alte Ort kaum in Erscheinung neben den sterilen Neubauten, die sich wie eine großflächige, pilzartige Wucherung über das Tal breiteten.

Je näher man ihr kam, desto stärker erinnerte diese neu errichtete Siedlung an eine Filmkulisse oder ein zu groß geratenes Modell aus Pappmaché. Gerade dieses Artifizielle, Trostlose jedoch erschien mir merkwürdig vertraut, wie ich plötzlich mit Unbehagen feststellte. Es fühlte sich ein bisschen so an, als würde ich nach Hause zurückkehren…

Die Bremsen quietschten jammervoll, als der Bus ins Tal hinabrollte. Zum Lärm gesellte sich bald ein Geruch nach verbranntem Gummi. Wir passierten die ersten, in der Sonne glühenden Häuser, erreichten schließlich eine zentrale Station. Der Bus hielt, die Türen öffneten sich zischend. Beim Aussteigen hatte ich das Gefühl, vom Luftstrom eines gigantischen Föns erfasst zu werden, so brüllend heiß und stickig war es inzwischen geworden. Ich rettete mich unter eine Gruppe Dattelpalmen, holte die Wasserflasche aus dem Rucksack und trank. Währenddessen lenkte unser Fahrer sein Vehikel auf einen benachbarten Parkplatz und stellte es neben einer Gruppe weiterer Busse ab, die ähnlich hinfällig aussahen wie seiner. Dann trottete er zu seinen Kollegen, die im Schatten eines Kiosks zusammenstanden und palaverten.

Ich studierte den Rückfahrplan: Der letzte Bus fuhr erst um Mitternacht nach Plage d'Aiola zurück, also konnte ich mir Zeit lassen mit meiner Besichtigungstour. Auf dem Weg hinunter zum Wasser versuchte ich mich im Schatten zu halten, was nicht so einfach war, denn inzwischen stand die Sonne fast genau im Zenit. Wenn sie mich traf, schien meine Haut unter ihrer Hitze regelrecht zu versengen.

Endlich kam ich zum Hafen. Pittoreske, blumengeschmückte Arkaden säumten die Piers; überall gab es Weinlokale, Restaurants, kleine Hotels. Zwischen den alten Fischerhäusern öffneten sich malerische, gepflasterte Gassen, die allesamt zum historischen Ortskern hochliefen, wie man den Wegweisern ringsum entnehmen konnte. An der Grenze zur neu errichteten Siedlung endete das Idyll schlagartig: Eine schmucklos graue Betonpromenade begann, auf einmal war man umgeben von Souvenirläden, Ramschboutiquen und Schnellimbissen, aus allen Richtungen schallte einem der übliche Ferienpop entgegen. Trotz der Hitze schoben sich wahre Menschenmassen über den Asphalt, drängelnd, quasselnd, gierig in den Auslagen der Geschäfte wühlend, auf der Suche nach Schnäppchen, Zerstreuung, Amüsement.

Schon wollte ich kehrt machen, wieder in die Altstadt fliehen, als ich weiter hinten auf der Promenade eine freie Bank entdeckte, die zufällig auch noch im Schatten der Ladenmarkisen stand. Weshalb nicht dort warten, bis die Hitze etwas abgenommen hatte, derweil den Proviant vertilgen und ein bisschen gucken? Anschließend blieb noch immer genügend Zeit, um den Ort zu erkunden und – vor allem – der Aussichtsplattform einen Besuch abzustatten. Diese war gemäß dem Reiseführer oberhalb der Altstadt in die Felswand geschlagen und sollte einen imposanten Blick über die Bucht bieten. Vermutlich würde es dort oben brechend voll sein, aber wenn man schon mal hier war…

Ich schnallte den Rucksack ab, ließ mich erleichtert auf die Sitzfläche fallen und holte den Proviant hervor. Während ich Brotzeit machte, ging das hektische Treiben ringsumher unvermindert weiter, aber davon ließ ich mich nicht beirren – meine Bank schien mir wie ein Ruhepol, eine Oase inmitten trostloser Wüste.

Unterhalb der Promenade war ein schmaler Sandstreifen aufgeschüttet, den man kaum Strand nennen konnte. Kleine Wellen spülten kraftlos heran, im flachen Wasser plantschten Kinder. Menschliche Körper auf Handtüchern boten sich der Sonnenglut dar. Manche Teints zeigten intensive Brauntöne, andere leuchteten in Krebsrot. Auch ein paar Weißlinge waren dabei, deren Urlaub wahrscheinlich gerade erst begonnen hatte. Weiter draußen sah man die Steinmole aufragen, die den Hafen vor der offenen See schützte.

Einige der Sonnenanbeter lagen so reglos dort, dass man sich unwillkürlich fragte, ob sie noch lebten. Warum taten die Leute sich diese Qualen an? Wurden sie durch eine Art Konditionierung gesteuert, die da hieß: Urlaub gleich Strand gleich Sonnenbaden, egal bei welchen Temperaturen? Und weshalb kamen sie ausgerechnet hierher? Wir befanden uns auf einer Insel, die Küste war endlos und sicherlich gab es diverse natürliche Badestellen. Sie aber zogen diese künstliche Bucht vor, die das Meer beleidigte, es zu einem Swimmingpool, einem armseligen Salzwassertümpel degradierte. Wozu verbrachten überhaupt Touristen ihren Urlaub an Orten wie Plage d'Aiola oder Porto d'Arreccio, wenn sie doch die Welt haben konnten in all ihrer Schönheit und Ursprünglichkeit?

Und ich selbst? Warum war ich hier? Ich hatte mein altes Leben komplett aufgegeben, um neu anzufangen – und jetzt saß ich auf dieser Bank. War ich denn besser als die anderen Feriengäste? Auch mich zog es doch in die Touristensiedlungen vom Reißbrett, die garantiert überall gleich aussahen – und es ja auch sollten. Was unterschied mich von all den normierten Gestalten ringsum, deren Urlaub auf billigen Promenaden und an künstlichen Stränden stattfand? Die niemals jene obligatorischen Bahnen verließen, die andere für sie vorgestanzt hatten?

Die Einsicht traf mich wie ein Stoß in die Magengrube; plötzlich lag mir ein galliger Geschmack auf der Zunge. Ich dachte an die Busfahrt zurück, jenes irritierende Gefühl von Vertrautheit, als das Tal von Porto d'Arreccio mitsamt seinen sterilen Kästen aufgetaucht war. Dieser monotone, seelenlose Ort – ähnelte er nicht auf erschreckende Weise meiner Heimatstadt? Spiegelte er nicht meine eigene Vergangenheit wider, meine Kindheit und Jugend?

Ich hatte sehr lange nicht an diesen Teil meines Lebens zurückgedacht, dessen Trostlosigkeit mir inzwischen als zutiefst fremd erschien, als nicht mehr wirklich zu mir gehörend. Aber nun kehrten sie zurück, die alten Bilder, stiegen unvermittelt empor aus dem Dunkel des Vergessens, Erinnerungen an Familie und Schule, die ehemaligen Freunde… immer stärker wurde der Strom, sogartiger, zwingender. Als wäre auf einmal ein innerer Damm gebrochen, den ich vor langer Zeit errichtet hatte, in der irrigen Annahme, er hielte ewig…

„Stadt“ konnte man es im Grunde gar nicht nennen, das Gebilde, in dem ich aufgewachsen war. Vielmehr handelte es sich um ein Konglomerat aus diversen Siedlungen, Dörfern und sonstigen Gebäudeansammlungen, die man unter einem Kunstnamen zusammengefasst hatte. Als zusätzlicher Klebstoff diente ein rasch hochgezogenes, gesichtsloses, rein funktionales Zentrum – und fertig war die Stadt aus der Retorte. Weshalb verbrachte man an einem verlorenen Flecken wie diesem freiwillig sein Leben? Man arbeitete in einem der großen regionalen Industriebetriebe, dem Stahlwerk, dem Autobauer, dem Hersteller für Schienenfahrzeuge, oder einem der Zulieferer. Hatte eine ordentlich bezahlte Anstellung, von der man nach Lage der Dinge hoffen durfte, sie bis zur Pensionierung zu behalten. Sich stets gut versorgt zu wissen, den Wohlstand laufend mehren und derweil die Zeit mit Konsum totschlagen – dies war das allgemeine Lebensmodell. Also kaufte man. Häuser, schwere Familienkutschen, hochpreisige Fernseher und andere, vermeintlich unverzichtbare Elektrogeräte. Machte Urlaub in fernen Weltgegenden, widmete sich mitunter kostspieligen Hobbys, trieb aufwändigen Sport, hielt sich Haustiere. Und bekam Kinder.

Mir hatte es damals an nichts gemangelt. Als kleiner Junge besaß ich alles Spielzeug, das eine Kinderseele sich nur wünschen konnte. Für den Fußballverein wurde mir jedes Jahr eine neue, teure Torwart-Ausstattung gekauft. Wenn ich in der Schule den Anschluss zu verlieren drohte, erhielt ich umgehend private Nachhilfestunden. Mein Vater war Prokurist in einer Maschinenbau-Firma, meine Mutter hatte früher ebenfalls dort gearbeitet, als Sekretärin, aber seit meiner Geburt blieb sie zu Hause. Als Einzelkind durfte ich mir der steten Aufmerksamkeit meiner Eltern sicher sein, im Gegenzug wurde lediglich verlangt, dass ich funktionierte. Mich einordnete und die geforderte Leistung ablieferte, in der Schule, beim Sport, im täglichen Leben. Es war derselbe unausgesprochene Deal wie in allen Familien: Die Kinder mussten ihren Anteil beisteuern zum positiven Gesamteindruck, den man der Außenwelt bieten wollte, dafür ließen die Eltern uns jede notwendige Förderung zukommen.

Irgendetwas Wesentliches schien in diesem Konstrukt jedoch zu fehlen; immer blieb diese seltsame Lücke, dieses Schwarze Loch…

Im Fernsehen hatten die Familienväter strahlende Gesichter, wenn sie von der Arbeit nach Hause kamen. Sie umarmten glückliche, hingebungsvolle Gattinnen, mit den Kindern wurde nach Kräften getobt und gerauft, das Abendessen verlief lebhaft und herzlich. Meine Wirklichkeit sah komplett anders aus. Wenn mein Vater abends die Haustür aufschloss, lag in seiner Miene etwas Starres, Gezeichnetes. Der Begrüßungskuss zwischen ihm und meiner Mutter wirkte mechanisch, eine reine Gewohnheitshandlung. Ihre pflichtschuldige Frage nach seinem „Tag“ beantwortete er stets mit einem knappen, leicht mürrischen „Muss ja“. Sie gab sich alle Mühe, als gute Ehe- und Hausfrau zu erscheinen, aber wenn man genau hinsah, merkte man, dass diese Rolle sie nicht ausfüllte, der lange, einsam verbrachte Tag sie unglücklich machte. Allerdings wollte niemand genau hinsehen, weder bei uns noch in den anderen Häusern der Siedlung, wo es ähnlich lief.

Beim Essen war, abgesehen vom Klappern der Teller und Bestecke, kein Geräusch zu hören. Erst der Fernseher beendete die lähmende Stille, wenn mein Vater um 19 Uhr die „heute“-Sendung einschaltete. Früher hatten wir abends manchmal noch Karten gespielt oder eine Partie Mensch-Ärgere-Dich-Nicht. An den Wochenenden waren wir in den Zoo gefahren, hatten Ausflüge in die Umgebung gemacht. Aber all das lag lange zurück. Inzwischen blieb mein Vater den Rest des Abends und einen Großteil des Wochenendes vor dem Gerät sitzen; ohne Kraft für Aktivitäten mit der Familie, mit mir.

Meine Altersgenossen beklagten sich nie, für sie schien das der normale Gang der Dinge zu sein. Für mich dagegen fühlte das Leben sich künstlich an, schematisch. Als würde es auf Gleisen verlaufen. Die Dinge wurden verrichtet, erledigt, abgespult, abgehakt; jede Aktion, jedes Ereignis war von vornherein festgelegt und geplant. Je älter ich wurde, desto stärker empfand ich es so. Die Menschen schienen nur Rädchen in einer Maschinerie zu sein, einem gigantischem Uhrwerk. Fortwährend drehten alle sich im Kreis, liefen ihre Runden im Hamsterrad, verausgabten sich und bewegten sich doch nicht von der Stelle. Darüber stellte sich dann allmählich dieses Gefühl von Sinnlosigkeit ein, diese innere Leere, die mit Dingen gefüllt werden musste, mit Gütern, technischen Geräten, bunten TV-Bildern, Events, Reisen. Alles, was irgendwie betäubte, war recht. Und auch diese Betäubung gehörte dazu, war Teil des großen Ganzen, befeuerte es stets von Neuem. Es war wie ein sich selbst erhaltendes System, ein ausgeklügelter Algorithmus – perfekt, aber leblos.

Dachte ich als Einziger so oder gab es noch andere meiner Sorte? Diese Frage blieb unbeantwortet, denn niemals wagte ich, mit jemandem über dieses Thema zu sprechen. Und so musste ich selbst einen Ausweg finden, irgendeine Möglichkeit, nicht allmählich von dieser trostlosen, reduzierten und reduzierenden Welt vereinnahmt zu werden, wie es mit allen anderen geschah.

Das Lesen war meine Rettung. Schon früh, ungefähr mit zehn, hatte ich irgendwelche Hefte in die Hände bekommen, Gruselromane, Horrorgeschichten. Die Storys waren simpel gestrickt, sie trennten jederzeit Gut von Böse und endeten in der Regel versöhnlich. Aber gerade diese schlichte Struktur ermöglichte schnelles Abtauchen. Und immer stand das Irrationale im Mittelpunkt, das Unerklärliche, Geheimnisvolle. Übersinnliche Mächte waren am Werk, denen mit Vernunft und Technik nicht beizukommen war. Alles war möglich, keine Idee zu absurd, um von den Autoren nicht aufgegriffen zu werden.

Natürlich verkörperten derartige Machwerke das komplette Gegenteil dessen, was gemeinhin als „gute Literatur“ gepriesen wurde. Spannung und Gefühle waren verpönt, Genres wie Horror oder Sciencefiction galten als Schund. Bücher hatten vernünftig zu sein, eine Botschaft zu vermitteln, man sollte etwas aus ihnen lernen. Kurzum: Sie sollten exakt jene Künstlichkeit widerspiegeln, die mich umgab und deren Ausgang ich verzweifelt suchte.

Meine Heftchen lieferten ihn mir, diesen Ausgang; durch sie entdeckte ich eine neue, aufregende, fantastische Welt. Besonders gut gefielen mir Storys, in denen das übliche, vorhersehbare Grundmuster durchbrochen wurde. Dies kam durchaus vor, wenn auch selten. Der Plot meines Lieblingsheftes zum Beispiel war im Italien der Gegenwart angesiedelt, auf einem historischen Schloss im Hochgebirge. Hier geriet der Protagonist, ein junger, moderner Amerikaner, in den Bann eines Fluchs, der auf dem Gemäuer und seinen Bewohnern lastete. Anfangs noch der klassische, männlich-souveräne Held, der stets Ruhe und Überblick bewahrte, entglitt ihm die Situation zusehends, bis er schließlich Hals über Kopf fliehen, sein nacktes Leben retten musste. Am Ende wollte niemand ihm seine Erlebnisse glauben; der Verdacht stand unausgesprochen im Raum, dass er seinen Verstand verloren habe. Zumal die Polizeibeamten bei ihren Recherchen nur eine Ruine vorfanden – das Schloss war mehr als 150 Jahre zuvor von seinen Bewohnern aufgegeben worden.

Häuser, in denen es spukte, rätselhafte Phänomene, Geister aus der Vergangenheit – wie sehr ich mir wünschte, dass dergleichen existierte, aller Gelehrtenweisheit zum Trotz! Dass eines Tages in Erscheinung trat, wovon meine Hefte nur erzählten. Dass die vermeintliche Realität in ihren Grundfesten erschüttert wurde und all die traurigen, rationalen Figuren, die jetzt noch mein Leben bestimmten, endlich einpacken konnten!

Zu den Büchern gesellten sich mit Erreichen des zwölften Lebensjahres auch Filme: Nun durfte ich mir endlich die Horror- und Sciencefiction-B-Movies anschauen, die jeden Sonntagnachmittag in unserem lokalen Kino liefen. Mein Pandämonium aus wandelnden Skeletten, zum Leben erweckten Mumien und fliegenden Schrumpfköpfen wurde jetzt ergänzt um Marsmenschen und andere Außerirdische, um aus dem Tiefschlaf erweckte urzeitliche Reptilien und Insekten, die infolge von Atomunfällen ins Riesenhafte gewachsen waren. Im Lauf der Zeit entwickelte ich mein Phantasie-Universum weiter, vertiefte und verfeinerte es. Ich entdeckte die englischsprachigen Horror- und Sciencefiction-Klassiker: Blackwood, Lovecraft, Edgar Allan Poe, H.G. Wells. Die Bücher besorgte ich mir auf Flohmärkten oder bestellte sie antiquarisch per Mailorder.

Zwischen anderen Menschen hingegen, egal ob Erwachsene oder Altersgenossen, ob in der Schule, im Verein oder nachmittags im Viertel, fühlte ich mich immer unwohler und deplatzierter. Vor allem eine Situation blieb mir fortan im Gedächtnis, die diesen Entfremdungsprozess besonders veranschaulichte. Sie trug sich in der Umkleidekabine unseres Fußballvereins zu, vor einem wichtigen Punktspiel. Zwei Mannschaftskameraden waren in einen erbitterten Streit darüber geraten, wessen Vater das schnellere Auto fuhr: der mit dem Mercedes oder der mit dem BMW. Der BMW würde schneller beschleunigen, behauptete der eine. „Aber der Mercedes“, erwiderte der andere, „ist besser in der Endgeschwindigkeit.“

Keiner der beiden wollte zurückstecken, es ging hin und her. Immer mehr Umstehende beteiligten sich an der Diskussion, schlugen sich auf die eine oder andere Seite. Auch ich wollte erst mitmachen, aber auf einmal merkte ich, dass ich keine Meinung hatte. Mehr noch: Die ganze Sache war mir eigentlich ziemlich schnuppe. Und so saß ich bloß stumm zwischen den Parteien und schüttelte innerlich den Kopf, dass man sich wegen so einer Nichtigkeit derart ereifern konnte. Schließlich riss mir der Geduldsfaden. „Ist doch egal, welche Karre schneller ist!“, rief ich dazwischen. „Dreck machen beide, und zwar mehr als genug.“ In der Schule hatten wir kurz zuvor über Umweltverschmutzung gesprochen, mit Schwerpunkt auf dem zunehmenden Autoverkehr.

Schlagartig wurde es still, man hätte die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören. Alle glotzten mich an, in den Gesichtern Erstaunen, Irritation, Unmut.

„Was hat das jetzt damit zu tun?“, kam es aus der einen Ecke.

„Kaufst du dir später etwa kein Auto?“, scholl es aus der anderen.

„Doch, klar“, stotterte ich überrascht. Kein Auto – das wäre ja gewesen wie kein Fernseher oder kein Dach über dem Kopf. „Aber muss es gleich so eine dicke Karre sein?“, verteidigte ich mich.

„Was denn sonst? Ein R4? Oder ne Ente?“, fauchte der Reservetorhüter. Er hatte es nie verwunden, dass er statt meiner auf der Bank saß. „Bist du n Mädchen? Hast du keine Eier?“

Offene Feindseligkeit schlug mir plötzlich entgegen, Wut, Aggression. Aber nun wollte ich erst recht nicht zurückstecken. „Leute, überlegt doch mal: Wenn alle nur noch solche Autos kaufen, und noch dazu immer mehr – wie soll man die Umweltverschmutzung…“

„Jetzt sei endlich still, Marc!“, bellte der Trainer plötzlich los, „die anderen reden hier über Autos, und du kommst mit Umweltverschmutzung. Geht's noch? Konzentrier dich lieber aufs Spiel, du hast schon mal besser gehalten.“

Was sollte das jetzt? Er war doch mit meiner Leistung immer zufrieden gewesen. Hatte ich irgendwas nicht mitbekommen? Als wir hinausgingen, herrschte eisiges Schweigen. Alle ließen mich spüren, dass ich eine rote Linie überschritten, eine Art Tabu gebrochen hatte. Für sie war ich jetzt ein Spalter, jemand, der sich bloß wichtig machen wollte. Die Partie verloren wir klar mit 0:2, und bei beiden Treffern sah ich nicht gut aus. Wobei ich die ganze Zeit das Gefühl hatte, 21 Gegenspieler zu haben anstatt 11, wie sonst. Einige Tage später eröffnete mir der Trainer, dass er für den Rest der Saison auf den Reservetorwart setzen würde.

Ich entschloss mich, den Verein ganz zu verlassen. Darüber gab es Streit mit meinem Vater; zum ersten Mal seit langem zeigte er Engagement, jedenfalls ein bisschen. Es reichte nicht; am Ende setzte ich mich durch. Die Szene in der Umkleide hatte mir eine Sache unmissverständlich klar gemacht, die insgeheim schon seit längerem in mir arbeitete: Man durfte nicht ausscheren, nicht von der vorgegebenen Linie abweichen. Und erst recht durfte man nicht am allgemeinen Weltbild rütteln, nicht dieses permanente Immer-Mehr, Immer-größer, Immer-schneller infrage stellen, ansonsten riskierte man, massiv angefeindet und fertiggemacht zu werden.

Aber nicht nur den Sport gab ich in der Folge auf, sondern nach und nach auch alle anderen Aktivitäten, AG's in der Schule, Treffen mit Freunden. Stattdessen zog es mich nun, sobald die Hausaufgaben erledigt waren, ins Freie. Ich unternahm Wanderungen oder Radtouren zu interessanten Zielen in der Umgebung, einer leerstehenden Villa, einer historischen Wasserburg, die sorgfältig erhalten und sogar noch bewohnt war. Als ich 18 wurde und mein erstes Auto bekam – einen gebrauchten Polo –, erweiterte sich der Aktionsradius für meine Exkursionen beträchtlich. Vor allem erkundete ich nun die großen Wälder der Region, schlug manchmal irgendwo in der Einsamkeit mein Zelt auf und verbrachte ein ganzes Wochenende dort.

Ungefähr in dieser Zeit begannen auch meine abendlichen Rundgänge: Mit dem neuen Vehikel fuhr ich in Orte, deren Altstadt gut erhalten war, und lief dort in den Straßen herum. Betrachtete die Bilder in den erleuchteten Fenstern der historischen Häuser und interpretierte sie auf meine Weise. Malte mir eine Gemeinschaft aus, in der es Wärme gab, Intensität. Stellte mir ein Leben vor, das sich „echt“ anfühlte, obwohl ich nur schwerlich hätte erklären können, was ich damit meinte. Jedenfalls hätte in ihm diese Leere nicht existiert, die meine Wirklichkeit prägte, sie beherrschte wie ein ehernes, unüberwindliches Gesetz. Das Miteinander hätte im Fokus gestanden, nicht das glatte, fehlerfreie Funktionieren in einem System. Nähe und Verlässlichkeit wären wichtiger gewesen als das Besitzen von Dingen und das Streben nach immer mehr – Güter, Status, Geld.

Ziemlich sicher gab ich mich einer Illusion hin, unterschied das Geschehen dort hinter den Fenstern sich in nichts von meiner eigenen Lebenswirklichkeit. Trotzdem wollte ich nicht ablassen von den abendlichen Wanderungen, wollte die inneren Bilder mithilfe der äußeren immer wieder befeuern, auf dass meiner Traumwelt nicht die Puste ausging. Ansonsten kam früher oder später unweigerlich das Erwachen – und das war stets ein Jammertal…

Eine Veränderung des Lichtes schreckte mich aus meinen Gedanken, eine minimale Verdunkelung. 'Wolken', war mein erster Gedanke. Prüfend ließ ich den Blick über den Himmel wandern, bis zu den Bergketten am hinteren Ende des Tals – nein, es war noch so klar wie bei meiner Ankunft gegen Mittag. Erst nach einigen Sekunden sah ich es: Die Nebelbank über der Bucht – sie hatte sich ein gutes Stück auf die Küste zu geschoben. Auch eine kühle Brise ließ sich jetzt wahrnehmen, die nur von dort kommen konnte. Der Strand indes hatte sich weitestgehend geleert, auch der Trubel hier auf der Promenade war merklich abgeflaut.

Ich beschloss, nicht mehr bis Sonnenuntergang mit meiner Tour zu warten. Kurzerhand packte ich zusammen, nahm den Rucksack auf die Schultern und marschierte los. In der Altstadt fand ich ohne Probleme die kopfsteingepflasterte Gasse, die laut Reiseführer zur Aussichtsplattform führte. Niemand war hier mehr unterwegs. Saßen bereits alle beim Abendbrot? Oder hing es womöglich mit dem Phänomen draußen in der Bucht zusammen, diesem ungewöhnlich dichten Nebel, dem kühlen Luftstrom, den er aussandte? Die leicht beängstigende Vorstellung überkam mich, dass die Leute etwas wussten, das ich nicht wusste, und sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatten. War ich der einzige Ahnungslose, der noch im Freien herumlief? Aber das konnte bloß Unfug sein.

Ringsum zeigten sich die Häuser liebevoll restauriert. Trotz ihrer schlichten Bauweise wirkten sie mondän, aber auf eine entspannte, fast lässige Art. Große, farbig lackierte Tonvasen zierten die Vorderfronten, weit geöffnete Haustüren erlaubten den Blick in helle Flure, wo sauber abgeschliffene Holztreppen in die oberen Etagen führen. Auch hier sah man nirgends Menschen, alles wirkte wie ausgestorben.

Die Gasse begann anzusteigen, wurde nun manchmal zur Treppe. Katzen lagen auf den Stufen und dösten in der Sonne; erst im letzten Augenblick huschten sie unwillig zur Seite. Bald ließ sich ein Großteil der Altstadt überschauen; weit ging der Blick über Häuser und Meeresbucht, bis ihm die kompakte Nebelbank dort draußen ein jähes Ende setzte. Viele Dächer waren zu Gärten ausgebaut, grünen, üppigen Oasen hoch über der Stadt. Auf einer dieser Dachterrassen feierte man gerade eine Party: Musik erklang, Menschen lehnten entspannt an der Steinbrüstung, standen an der Bar. Die Männer trugen helle, leichte Sommeranzüge, die Frauen knappe Kleider mit tiefem Rückenausschnitt. Es wurde an Cocktails genippt, mit Sektkelchen angestoßen.

Dann endeten Häuser und Gasse. Ein in die Steilwand geschlagenes Treppchen schloss sich an, das in Serpentinen nach oben lief und bald hinter einer Felsnase verschwand. Der Aufstieg wurde jetzt zur Qual; ich begann zu keuchen wie bei einem Dauerlauf, dazu packte mich immer wieder starker Schwindel. Permanent musste ich anhalten und warten, dass ich im Kopf wieder klar wurde. Was fehlte mir auf einmal? Lag es wirklich bloß am Klima, der schwülen Luft? Nein, da war noch etwas anderes im Spiel, eine ungute Vorahnung oder Erinnerung, irgendein Déjà Vu – ich konnte es nicht genau sagen. Die unregelmäßigen, schlecht gepflasterten Treppenstufen wirkten plötzlich absurd steil; der Aufstieg mutete fast wie Klettern an. Und keinesfalls durfte ich mich nach hinten drehen – der Anblick des Abgrundes, dessen war ich mir sicher, hätte meinen Gleichgewichtssinn endgültig überfordert…

Unter großen Mühen erreichte ich schließlich mein Ziel: Die Aussichtsplattform war ein mit Terrakotta-Fliesen bedecktes Viereck von wenigen Quadratmetern Größe. Am hinteren Ende luden zwei Sandsteinbänke zum Verweilen ein, die stilvoll gearbeitete Steinbrüstung ließ den Eindruck einer südländischen Terrasse entstehen. Sogar Straßenlaternen gab es. Man hatte alles perfekt arrangiert und vorbereitet für den großen Touristenansturm, der aber bislang wohl ausblieb: Die Plattform war verwaist, die Fliesen glänzten wie soeben gewischt, im Papierkorb befand sich nicht das kleinste Stückchen Abfall.

Sicher ahnten potentielle Besucher, dass die aktuelle Wetterlage dem Panorama nicht zuträglich war: Wo sonst ein weiter Meereshorizont azurblau leuchten mochte, waberten heute nur eisig-graue Dunstschwaden – das große Frösteln überkam einen bei diesem Anblick. Auch das Areal direkt unterhalb der Plattform bot ein eher unschönes Bild: bröckelnde, von Wind und Wetter gezeichnete Fischerhütten mit blinden, teils zerbrochenen oder durch Pappe ersetzten Fensterscheiben. In den fleckigen, mit Schimmel überzogenen Wänden klafften tiefe Risse. Die Hausdächer waren allesamt kahl, Gärten suchte man vergebens auf ihnen.

Wo mochte plötzlich diese halb verfallene Siedlung hergekommen sein? Und wo waren die schneeweißen, perfekt restaurierten Domizile abgeblieben, die meinen Weg hierher gesäumt hatten? Es musste mit dem Verlauf der Treppe zusammenhängen, ihrem Bogen um die Steilwand herum und dem Perspektivenwechsel, der sich dadurch ergab. Diese altersschwachen Häuser… wie sie mich anstarrten, regelrecht fixierten aus ihren düsteren, blinden Scheiben. Etwas Deprimierendes ging von ihnen aus, ein Gefühl unsagbarer Traurigkeit und Resignation. Nur mit letzter Kraft schienen die schwächlichen Bauwerke sich noch an den Felsen zu klammern, jeden Augenblick drohten sie den Halt zu verlieren und endgültig in die Tiefe zu stürzen. Und konnte ich nicht Hilferufe hören, leise, weit entfernt, aber trotzdem deutlich? Es klang zutiefst verzweifelt und zugleich vorwurfsvoll, sogar anklagend…

Unterdessen war der Nebel noch näher herangerückt; ein himmelhoher, finsterer Vorhang, der, je länger man ihn betrachte, allmählich transparent wurde, ein Spiel aus Formen und Bewegung, ein unablässiges Strömen und Kreisen. Gebilde mit menschlichen Umrissen entstanden, schemenhafte Gestalten, die aus dem Grau heraustraten, der Küste zustrebten – und unvermittelt wieder verschwanden. Auch einen fauligen Geruch glaubte ich nun wahrzunehmen, der mit den Geistwesen herankam. Er ließ an Tod denken, an Verwesung, Verfall… das Pochen in den Schläfen wurde jetzt so stark, dass ich mich wegdrehen und die Augen schließen musste. Einen Moment lang hatte ich ernsthaft das Gefühl, ohnmächtig zu werden.

Nur ganz allmählich klarte sich mein Blickfeld wieder auf… unter mir waren Terrakotta-Fliesen; sie liefen auf Sandsteinbänke zu, dahinter stieg der Felshang in die Höhe. Aber – diese Vertiefung in ihm, diese mit Unkraut überwucherte Mulde… schlagartig wurde ich wieder wach: eine Tür! Dort war in den Fels eingelassene Tür!

Ein starkes Zittern durchlief mich – wie hatte ich die vorhin übersehen können? Dann schoss mir ein neuer, elektrisierender Gedanke durch den Kopf, mehr eine Hoffnung als ein begründeter Verdacht: Setzte sich hinter jenem unscheinbaren Türchen vielleicht – die Treppe fort? Ich nahm meine direkte Umgebung in Augenschein: Die Felswand bildete auf dieser Höhe einen Vorsprung, den man für die Aussichtsplattform genutzt hatte, darüber jedoch zog sie sich nahezu senkrecht in die Höhe. Konzentriert begann ich den Hang abzusuchen, dessen Granit in der nachmittäglichen Sonne nahezu weiß leuchtete – und fand endlich den Einschnitt darin: eine hauchdünne Linie, die im Zickzack aufwärts lief. Ganz an der Oberkante der Klippe, sicher 50 Meter über mir, flimmerte undeutlich ein Gipfelkreuz im Dunst, das man gut übersehen konnte – zumal, wenn man nichts von ihm wusste.

Hastig wischte ich das Gesträuch beiseite, das die Tür überwucherte, und griff nach der Klinke. Es bedurfte nur eines kurzen Drückens – und der Flügel sprang auf! Vernehmlich knarrend glitt er nach hinten, schickte mir einen Schwall kühler Luft entgegen. Ich starrte fassungslos auf einen dämmrigen Tunnel im Fels, hinter dem Steinstufen aufwärts führten!

Meine Finger zitterten, als ich den Stadtplan von Porto d'Arreccio ausklappte, den der Reiseführer im Anhang bereithielt. Sofort fand ich die Strecke vom Hafen bis hierher. Aber sie endete an der Plattform; eine Treppe, die weiter nach oben führte, war nicht eingezeichnet. Und doch stand ich davor!

Ein Blick auf die Armbanduhr: Noch anderthalb Stunden bis Sonnenuntergang – genug Zeit also für eine Erkundungstour. Dann kam mir ein anderer Gedanke: Ob hier abends abgeschlossen wurde, von irgendeinem Hausmeister oder Wärter? Aber welchen Sinn hätte das gehabt? Das dichte Gestrüpp ließ eher darauf schließen, dass diese Tür seit Ewigkeiten nicht benutzt worden war.

Die Entscheidung war gefallen – ich betrat den engen, kühlen Felsspalt. Abrupt verschwanden die Geräusche der Umgebung, das Meeresrauschen, das leise Heulen des Windes. Ein Geruch nach Feuchtigkeit stieg mir in die Nase, unter meinen Füßen knirschte feiner, unberührter Sand. Hier war ziemlich sicher schon lange niemand mehr gewesen. Die Treppe glich exakt meinem Weg vom Ort bis zur Plattform; allerdings fehlte nun das Holzgeländer, auch war der feine, knochentrockene Sand etwas tückisch: Wie Puder bedeckte er die Stufen, türmte sich manchmal zu kleinen Verwehungen. Aber notfalls konnte man sich an den Seiten abstützen, um Halt zu finden.

Mein Schwindelgefühl hatte sich auf einmal verflüchtigt. Leichtfüßig wie eine Gämse stieg ich aufwärts, und mit jedem zurückgelegten Höhenmeter wuchs meine Neugier. Die Altstadt von Porto d'Arreccio schnurrte unter mir zu einem kompakten Häuserklumpen zusammen; deutlich ließen sich jetzt deren beide Teile erkennen: Zum Hafen hin machte alles einen hellen, freundlichen Eindruck; Ausflügler flanierten durch die Straßen, man saß in Cafés, an den Piers, genoss die Aussicht. Weiter hinten jedoch lag es wie ein finsterer Schleier über den Häusern; lichtlose Gassen bildeten hier ein verworrenes Knäuel, ein schwärzlich wucherndes Geäder. Als würde die aufgehübschte, glasierte Fassade allmählich von innen her aufplatzen und den ursprünglichen, wahren Ort enthüllen, der nichts Touristisches hatte, sondern dunkel war, mysteriös, fast unheimlich. Zugleich hatte der Anblick etwas merkwürdig Anziehendes…

Ich riss mich von dem Bild los und lief weiter bergan. Bald breitete sich das komplette Tal zu meinen Füßen – grandios weit ging der Blick über das Neubaugebiet, den Golfplatz mit seinen Wasserfontänen, den Wald aus Baukränen bis zur rückwärtigen, im Hitzedunst flimmernden Steilwand. Auf der dortigen Serpentinenstraße kämpfte sich gerade der Linienbus empor, winzig wie ein Spielzeug. Gut möglich, dass es derselbe war, der mich hergebracht hatte. Mit letzter Kraft oben angekommen manövrierte er zwischen einer Handvoll Findlingen hindurch, die drüben ausgestreut lagen wie Murmeln, und entschwand schließlich meinem Blick.

Hinter diesen Felsbrocken, die in Wahrheit gigantisch sein mussten, sah man beim Weitersteigen allmählich Antennenmasten emporwachsen. Es folgten spiegelnde Fensterfronten und Balkone, dann protzige Eingangsportale, eine Zufahrtsstraße mit Wendehammer, auch ein Parkplatz, der von einem Steilhang begrenzt war. Erst nach einer Weile wurde mir klar: Ich schaute auf das Kliff über Plage d'Aiola mit seinen Hotelbunkern, wo ich seinerzeit die Segel hatte streichen und umkehren müssen. Ganz anders jetzt: Wie im freien Fall trudelte das Ensemble in die Tiefe, schrumpfte immer weiter in sich zusammen, bis es schließlich nur noch ein Haufen unbedeutender Klötze irgendwo da unten war. Meine Treppe hingegen lief weiter aufwärts. Mittlerweile blies der Seewind ungehindert, einige Böen fegten geradezu mit Sturmstärke heran – welch ein Labsal nach der drückenden Hitze am Strand!

Schließlich empfing mich das weiße, verwitterte Holzkreuz. Es war ein besonderer Moment: Ich hatte es geschafft, war wirklich oben angekommen!

Der Blick über die See war atemberaubend, fast meinte man die Erdwölbung auf der weiten, wellengekräuselten Wasserfläche zu erkennen. Die Bucht von Porto d'Arreccio dagegen, von der Plattform aus noch so imposant, wurde hier oben zu einer Art natürlichen Badewanne degradiert, eingeklemmt zwischen Steilwänden von geradezu zyklopischer Höhe. Das Nachbartal war jetzt vollends aufgetaucht: Gebäude, die Promenade, der Strand, sogar mein Hotel – obwohl eigentlich weit entfernt, wirkte alles zum Greifen nahe. Jenseits davon folgten weitere Einschnitte in die Felsenküste, Bucht reihte sich an Bucht, überall gesäumt vom weißen Band der Meeresbrandung, das sich ins schier Unendliche zog.

Direkt unter mir, in Porto d'Arreccio, fand offenbar gerade ein Straßenfest statt: Bruchstücke altmodisch klingender Jazzmusik wehten herauf, am Hafen waren die Piers bedeckt mit wimmelnden Punkten – Menschen, klein wie Ameisen. Möglicherweise bestaunte gerade jemand die Klippe und fragte sich, ob es wohl einen Weg nach oben gab. Ein kleiner Junge vielleicht, an der Hand seines Vaters? „Ja, gibt es!“, hätte ich den beiden am liebsten zugerufen, „schaut, ich bin hier!“ Aber der Vater hatte wenig Lust, sich über Derartiges den Kopf zu zerbrechen. Er wollte am liebsten gar nicht nachdenken, sich lieber treiben lassen. Wenn er denn schon hier sein musste, anstatt zu Hause vorm Fernseher zu sitzen und sich zu betäuben. Unwillig zog er den Kleinen zurück ins Gedränge, und schon hatte der träge, dumpfe Menschenstrom die beiden wieder verschluckt.

Ein Pfad, der hinter dem Gipfelkreuz begann, führte mich auf eine mit Geröll übersäte Ebene. Nach kurzem Wegstück verschwand die See hinter dem Horizont; auch der Wind flaute wieder merklich ab. Es wurde sehr still; die tiefstehende Sonne tauchte alles in abendliche Röte. Nirgends waren Häuser oder Wege zu sehen, von Menschen ganz zu schweigen.

Vielleicht musste man die ausgetretenen Pfade verlassen, um Orte wie diesen zu finden. Musste Türen ausprobieren, die verschlossen schienen, Treppen hinaufsteigen, deren Stufen unter dem Staub der Jahre verschwanden. Aber niemand tat es. Niemand machte sich die Mühe, aus der Masse auszuscheren, der Enge des Tals zu entfliehen. Und so breitete sich diese wunderschöne, ursprüngliche Ebene völlig einsam vor mir, als gehörte sie mir ganz allein.

An zahlreichen Stellen türmte das Geröll sich zu kleinen Hügeln auf. Sie wirkten in ihrer Regelmäßigkeit wie von Menschenhand geformt – unwillkürlich musste ich an Grabstätten denken. Ich erklomm eines der fragilen Gebilde und fühlte mich dem abendlichen Himmel noch ein Stückchen näher. Alles fiel jetzt von mir ab; das kräftezehrende, hoffnungslose Anrennen gegen Wände, das meinen Aufenthalt hier und überhaupt mein ganzes Leben geprägt hatte – es schien vorüber. Ich fühlte mich unendlich leicht und frei.

Auch das Meer war von meinem erhöhten Standpunkt aus wieder zu sehen. Das Felsplateau ringsherum schien direkt ins Wasser übergehen; kein Abbruch war zu erkennen, nichts wies auf das 50 Meter tiefe Gefälle hin, das mich hier oben von der See trennte, es gab weder einen Zaun noch Warnschilder. Ein Selbstmörder hätte es problemlos wie einen Unfall aussehen lassen können. Möglicherweise wurde man hinterher nicht einmal gefunden, blieb verschwunden, verschluckt von der endlosen See. Als wäre man nie dagewesen… dieser Gedanke hatte etwas ungemein Beruhigendes, Tröstliches. Als würde ein Zustand wieder hergestellt, wie er eigentlich hätte sein sollen. Verschwinden, sich auflösen – hier war meine Chance! Ein einziger Schritt genügte…

Draußen in der Bucht berührte die Sonne gerade den Dunstvorhang, der über der See hing. Dessen Ränder begannen zu glühen, als wären sie in Brand gesetzt worden. Das Innere dagegen schien auf einmal massiv, wie Lavagestein, das an der Oberfläche bereits erkaltet war, im Innern aber noch brodelte und kochte. Eine neue, unbekannte Insel hatte sich offenbar über Nacht aus dem Meer erhoben. Man konnte steile Hänge sehen, zerklüftete Küstenlinien, Schluchten, tiefe Täler. Und auf dem höchsten Berggipfel – thronte dort nicht eine Burg oder ein Schloss? Mauern mit Schießscharten zeichneten sich ab, Turmhelme, Dächer und Kamine. In der Mitte aber reckte sich ein schlanker, sehr hoher Turm in den Himmel, wie der Hauptmast eines Seglers, eines Geisterschiffs. Alles war so gestochen scharf zu erkennen, so real…

… und verschwand mit einem Schlag, als das Abendrot erlosch. Zurück blieb grauer, undurchsichtiger Nebel, der in Schwaden übers Wasser zog. Natürlich war dort hinten rein gar nichts. In diesem Teil des Mittelmeeres gab es, wie ich sehr wohl wusste, weit und breit nur eine Insel: nämlich meine.

Auf einmal merkte ich, wie rasch es dunkelte. Nicht mehr lang, und ich würde hier oben im kompletter Finsternis herumlaufen – keine erfreuliche Aussicht! Während des Rückwegs musste ich wieder an das Bild denken, das sich mir gerade geboten hatte. Ob es eine Luftspiegelung gewesen sein konnte, eine Fata Morgana? Berggipfel, Hochebenen, Schluchten – all das existierte ja auf dieser Insel, im Innern. Gut möglich, dass es irgendwo auch ein altes Schloss gab. Hatte ich gerade einem seltenen Naturschauspiel beigewohnt? So viel jedenfalls schien klar: Ich war nicht zum letzten Mal hier oben gewesen. Mit diesem Ort hatte es etwas Besonderes auf sich; wenn es an der Zeit war, würde ich zurückkehren.

Ein Donnern lief über die Hochebene. Mit Schrecken gewahrte ich, dass der Nebel über der Bucht mittlerweile dunkelgrau geworden war, fast schwarz. Er wälzte sich direkt auf die Küste zu, zielstrebig und verdammt schnell! Ich begann zu laufen.

Erneutes Donnern, diesmal bereits heftiger. Ein Blick zurück: Der Hügel, auf dem ich gerade noch gestanden hatte, war schon nicht mehr zu erkennen. Ich rannte nun, so schnell ich konnte, und zum Glück tauchten bald Gipfelkreuz und Treppe auf. Meine Erleichterung währte allerdings bloß kurz: Der feine Sand auf den Treppenstufen erwies sich nun, da es an den Abstieg ging, als äußerst tückisch – immer wieder rutschte ich weg und drohte hinzuschlagen. Ein Geländer zum Festhalten wäre jetzt Gold wert gewesen!

In der Tiefe hatten sich mittlerweile die Laternen der Aussichtsplattform eingeschaltet. Weit leuchteten sie übers Tal, um Touristen anzulocken – angesichts des nahenden Unwetters ein etwas skurriler Anblick. Auch über Porto d'Arreccio spannte sich nun ein Geflecht aus Lichtpunkten – im Zentrum allerdings blieb ein dunkles Loch. Das Bild einer Spinne kam mir in den Sinn, die in ihrem Netz hockte und auf Beute lauerte…

Die ganze Zeit schon hatte ich das unbehagliche Gefühl, nicht allein hier oben zu sein. Jemand oder etwas schien sich permanent in meiner Nähe aufzuhalten, jeden meiner Schritte argwöhnisch zu beäugen. Ich schaute mich um: Nichts war zu sehen, nirgends. Aber die innere Unruhe blieb.

Ich riss mich zusammen und setzte den Abstieg fort, stets den Lichtfleck der Plattform im Auge behaltend, während über mir das Grummeln weiterging. Leises Rauschen gesellte sich bald dazu – die aufgewühlte See? Oder regnete es oben auf dem Plateau bereits? Endlich erreichte ich das untere Ende der Treppe, tauchte in den Tunnel, der zwischen den Felsen entlanglief. Mit ausgestreckten Händen tastete ich mich durchs Dunkel, um schließlich am Holz der Tür anzuschlagen – welch ein Glück! Ich fand die Klinke, drückte sie herab und wollte das Türblatt nach hinten ziehen – aber es ließ sich nicht bewegen. Ein zweiter Versuch, energischer – nichts rührte sich.

Allmächtiger, was wurde das jetzt?

Unterdessen kam das Donnergrollen immer näher, erstes Wetterleuchten setzte ein. Ich rüttelte an der Tür, zerrte und schob, trat schließlich gegen das Holz, wollte mir gewaltsam einen Weg bahnen – aber das Türchen, das vorhin noch so altersschwach gewirkt hatte, erwies sich plötzlich als äußerst stabil. Nur sehr langsam begriff ich, dass meine schlimmste Befürchtung Wirklichkeit geworden war: Irgendjemand hatte tatsächlich abgeschlossen; ich saß fest.

In diesem Moment zuckte ein Blitz grell über den nächtlichen Himmel, unmittelbar gefolgt von einem heftigen Donnerschlag. In meinem Kopf raste alles durcheinander, fieberhaft suchte ich nach einer Möglichkeit, hier herauszukommen. Schon erhellte der nächste Blitz für Sekundenbruchteile mein Gefängnis: War dort eine Öffnung im Fels zu erkennen gewesen? Ich arbeitete mich durch den engen Tunnel zurück bis zur fraglichen Stelle, und tatsächlich: Groß und deutlich klaffte ein Spalt vor mir, offenbar der Eingang in eine Höhle. Wie hatte ich den zweimal übersehen können? Es wirkte fast, als wäre er soeben erst entstanden. Durfte man sich dort hineinwagen?

Eine schattenhafte Bewegung, hinten auf der Treppe! Ich spähte ins Dunkel: Etwas Seltsames ging dort vor sich: die Stufen – sie verschwanden, eine nach der anderen. Als würden sie zugedeckt, begraben unter etwas Dunklem, das von oben herabkam. Regenwasser? Nein, dafür war es zu klebrig und zäh; es erinnerte eher an eine riesige, langsam herableckende Zunge. Oder einen Fühler, der sich behutsam vorarbeitete, alles genau abtastend und prüfend. Was immer das sein mochte – es schien absichtsvoll zu handeln, zielstrebig. Als wollte es etwas aufspüren, das nicht mehr weit weg war…

Ohne noch länger zu zögern stürzte ich mich in die Felsöffnung. Spürte unebenen, rutschigen Boden unter mir, berührte feuchte Wände. Und griff immer wieder in Vorhänge aus Spinnweben, musste richtig Kraft aufwenden, um freizukommen. Manchmal schien es gar, als wollten die elastischen, knisternden Fäden gar nicht mehr loslassen, mich vollständig einweben. Schließlich holte ich das Handy aus der Tasche: Im fahlen Lichtschein des Displays enthüllten sich riesige Netze – ein einziger, endloser Kokon, durch den mein Weg sich wie ein Tunnel schlängelte. Und wenn man genau hinsah, entdeckte man inmitten der Gazeschleier überall schwarze Knäuel, groß wie Walnüsse. Auf pelzigen Beinen trippelten sie umher und sonderten neue Spinnfäden ab; wohin man auch schaute, zuckte und wimmelte es.

Instinktiv wollte ich umkehren… aber dieses dunkle, fließende Etwas auf den Treppenstufen – es musste längst unten angekommen sein! Hatte es ebenfalls den Eingang in diese Höhle gefunden? Tauchte es gleich hinter mir auf?

Weiter, bloß weiter! Ich ließ das Handy von nun ab eingeschaltet. Zu allem Unglück wurde jetzt auch noch der Boden abschüssig; ich beugte mich vor, verlagerte das Gewicht auf die Fußspitzen, um nicht mit den Hacken wegzurutschen. Nach einer Weile war ein frischer Luftzug zu spüren! Hoffnung keimte auf – sollte ich es schaffen, dieser verfluchten Spinnenhöhle zu entrinnen?

Und wirklich kam ich kurz darauf ins Freie. Aber die Gefahr war nicht vorüber, im Gegenteil: Permanent rasten jetzt Blitze über den Himmel. Ihr Lichtschein enthüllte einen schmalen Pfad, der offenbar an der Felswand entlanglief. Behutsam ging ich weiter, breitete die Arme wie ein Seiltänzer, der nicht die Balance verlieren wollte. Unter meinen Füßen knirschte fortwährend dieser feine, staubtrockene Sand. Ein unbedachter Schritt nur, ein einziger Ausrutscher, und es war vorbei. Manchmal verengte der Weg sich dramatisch. Was, wenn er einfach aufhörte und mich in der Bergwildnis zurückließ, umgeben von schroffen, kahlen Felswänden, mit einem Unwetter, das sich über mir entlud? Eigentlich grenzte es an Wahnsinn, was ich hier trieb. Aber umkehren kam nicht infrage: Das dunkle, mysteriöse Wesen vorhin auf der Treppe – war es hinter mir? Verfolgte es mich? Ich wagte nicht, mich umzudrehen…

Offenbar ging es in weitem Bogen abwärts: Die Lichter der Plattform, am Anfang noch schräg hinter mir, verschoben sich allmählich zur Seite, bis ich fast wieder darauf zulief; allerdings befanden sie sich nun ein gutes Stück oberhalb. Dann verbreiterte der Pfad sich zu einer Schotterstraße, der Felsabbruch verschwand hinter einer hüfthohen Mauer. Als kurz darauf Häuser sichtbar wurden, atmete ich vernehmlich auf: Anscheinend war ich zurück im Städtchen. Ich hatte mein Abenteuer tatsächlich überstanden, kaum zu glauben!

Beim Näherkommen merkte ich, dass etwas nicht stimmte:Die Häuser wirkten verfallen, kaum ein Fenster war beleuchtet; teilweise fehlten die Scheiben, Pappe füllte die splittrigen Rahmen. Und überall kamen unter dem abblätternden Putz die hellen Mauersteine zum Vorschein – wie Knochen eines verwesenden Körpers…

Es musste dieses andere, fremde Porto d'Arreccio sein, das ich bereits von der Plattform aus gesehen hatte!

Auf einmal sträubte sich alles in mir, weiterzugehen. Vorhin, aus der Ferne, mochte der Ort ja eine morbide Faszination ausgestrahlt haben, aber jetzt lag er direkt vor mir. Die seltsamsten Gedanken jagten mir plötzlich durch den Kopf, geradezu kindliche Ängste schossen mir durch alle Nervenbahnen: Durfte man dieses finstere Labyrinth ungestraft betreten? Würde es einen jemals wieder freigeben, wenn man erst in seine Fänge geraten war, einen zurückkehren lassen in die normale Welt? Oder verlor ich dort meinen letzten inneren Halt und stürzte ab, in grundlose, pechschwarze Tiefen?

Wind kam nun auf, ein regelrechter Sturm. Er peitschte die Sträucher, trieb Staubfontänen in die Höhe, schob und drückte vorwärts. Ich wollte dagegenhalten, aber die Kräfte versagten mir – und dann war es zu spät: Die Dunkelheit zwischen den verwitterten Hausmauern sog mich ein…

Kühle, feuchte Luft ließ mich frösteln. Fremdartige Gerüche wanderten durch die Straßen, nach Gewürzen, exotischen Speisen. Immer neue Gassen und Treppen tauchten auf, schmal, glitschig-feucht, ins Ungewisse führend. Kinder spielten in den Hinterhöfen, rannten umher, riefen sich Sätze in einer unbekannten Sprache zu. Kehlig und abgehackt klangen die Laute, als würden sie nur aus Konsonanten bestehen. Vor den Häusern saßen alte Männer stumm in Grüppchen zusammen und blickten mir aus sonnengegerbten Gesichtern nach. Katzen huschten über Treppen und Mauersimse, kletterten auf Balkone, verschwanden in offenen Fenstern.

Eine Aufschrift über einem Laden weckte mein Interesse: Die Buchstaben wirkten weder kyrillisch noch griechisch, erinnerten eher an eine Art Keilschrift. Mein Reiseführer hatte die alte Inselsprache erwähnt, aber von einem eigenen Alphabet war, soweit ich es erinnerte, nirgends die Rede gewesen. Und nun sprangen sie mir überall ins Auge, die fremdartigen, archaischen Lettern: auf Straßenschildern, in Schaufenstern, über Ladentüren.

Vor einem Kiosk entdeckte ich einen hölzernen Aufsteller mit Ansichtskarten. Sie zeigten unberührte Berglandschaften, einsame, zerklüftete Küstenlinien, idyllische Fischerdörfchen. Die Häfen gehörten noch den einheimischen Fischerbooten anstatt protzigen Segel- und Motorjachten, wie ich deren vorhin zuhauf hatte. Nirgends fanden sich die üblichen, gesichtslosen Hotelbunker; auch die von Menschenmassen bedeckten Strände suchte man vergeblich. Seltsam unnatürlich und grell wirkten die Farben der Motive, ein bisschen wie auf alten, händisch nachkolorierten Filmplakaten. Wer so etwas wohl kaufte? Außer mir schienen sich keine Touristen in diesen Teil des Ortes verirrt zu haben. Die wenigen Menschen ringsherum wirkten wie Einheimische: dunkelhäutig, einfach gekleidet, ihr kryptischen Kauderwelsch miteinander redend.

Das Merkwürdigste aber war, dass mir diese antiquierten Postkarten bekannt erschienen. Wo und wann ich so etwas bereits gesehen? Es wollte mir nicht einfallen.

Eine Sturmbö fegte durch die Straßen; am Himmel leuchtete es erneut grell auf. In welcher Richtung konnte der Hafen liegen? Nichts war auszumachen, das ich vom Hinweg kannte, kein Gebäude, kein Platz, kein Straßenzug. Selbst die Aussichtsplattform, vorhin noch ein zuverlässiger Orientierungspunkt, war verschwunden. Völlig planlos rannte ich durchs Wirrwarr der Gassen, stolperte über dunkle Treppen, kam in Hinterhöfe, wo aufgehängte Wäsche geisterhaft im Wind flatterte.

Dann stand ich auf einmal in gleißender Helligkeit; das Summen zahlloser Stimmen erfüllte die Luft, man spürte eine starke Anspannung. Erst nach einer Weile erkannte ich, dass ringsherum die Ränge eines Amphitheaters in die Höhe stiegen, überall dicht besetzt mit Menschen. Alle starrten gebannt in den Himmel, es schien, als wolle man gemeinsam das nahende Unwetter beobachten. Dann aber begriff ich, was die Leute so fesselte: Dort oben schwebte eine Gestalt durchs Nichts.

Das Seil unter den Füßen des Wagemutigen war nahezu unsichtbar, ein Spinnfaden bloß, eine hauchdünne Fiber. Immer wieder peitschten Windstöße heran und wollten den Akrobaten mit sich reißen, aber er wandelte weiter über den Abgrund, zögernd, tastend, schwankend. Der Anblick war faszinierend – und gespenstisch, denn mir schien, als würde ich den Menschen kennen, der da oben Wetter und Schwerkraft trotzte. Obwohl die Entfernung eigentlich viel zu groß war. Und doch…

Die ersten Regentropfen weckten mich aus meiner Trance. Mochten all diese Leute auch stoisch das Wetter ignorieren – ich wollte nicht bis auf die Haut durchnässt werden. Erneut begann das Herumirren. Meine Güte – so groß konnte dieser Ort doch unmöglich sein, dass man partout nicht zum Hafen zurückfand!

Plötzlich rannte ich fast in jemanden hinein; nur äußerst knapp ließ sich ein Aufprall verhindern. Eine Frau schaute mich an, offenbar genauso erschrocken wie ich selbst. Dann aber entspannte sich ihr Gesichtsausdruck, ein Lächeln wurde sichtbar. „Puis-je vous aider?“ fragte sie.

Als ich sie französisch sprechen hörte, löste sich meine innere Anspannung mit einem Schlag. Es war, als sei ich plötzlich in die normale Welt zurückgekehrt.

„May I help you?“, wiederholte sie ihre Frage auf Englisch. „Are you okay?“

„I'm fine, thank you“, antwortete ich schnell und versuchte ebenfalls zu lächeln. Noch immer befand ich mich im anderen, unbekannten Porto d'Arreccio, wie der Anblick der verwitterten Häuser und der fremdartigen Lettern auf den Ladenschildern bewies. „Ich bin nur gerade etwas überfordert“, sprach ich auf Englisch weiter. „Ich finde einfach den Weg zum Hafen nicht.“

Neue Blitze flammten auf, heftiges Donnerkrachen folgte, und dann öffneten sich die Schleusen des Himmels. Ein wahrer Monsun ging nieder, in Sekundenschnelle bildeten sich auf dem abschüssigen Pflaster Sturzbäche aus Regenwasser.

„Schnell, da hinein!“ Sie wies auf eine Gastwirtschaft direkt neben uns und zog mich hinter sich her durch die Tür. Ein bogenförmiger, mit Troddeln verhängter Durchgang führte in den Schankraum. Hinter der mit roter Ölfarbe gestrichenen Theke war ein Wirt dabei, Gläser zu putzen, ein ungewöhnlich großer, athletisch gebauter Mittdreißiger mit dunklen, kurz geschnittenen Locken und einer höckrigen Nase. Schwarze Augen unter buschigen Brauen funkelten uns misstrauisch entgegen. Die knochigen, sorgfältig rasierten Wangen schimmerten matt, unter einem lässig gebundenen Tuch lugte ein sehniger Hals hervor. Es fiel kein Wort der Begrüßung.

An einem Ecktisch saß ein Grüppchen alter Männer. Gerade noch in ihr Gespräch vertieft, erstarrten sie auf einmal. Es schien mir sogar, als würden sie beim Anblick meiner Begleiterin erschrocken zusammenfahren. Wir setzten uns an einen der Nachbartische. Die Wachstuchdecke fühlte sich klebrig an, eine altertümliche Stehlampe in der Ecke verbreitete schummriges Zwielicht. Der geöffnete Flügel eines Sprossenfensters bewegte sich im Luftzug hin und her, draußen hörte man den Regen rauschen.

Die Frau trocknete ihre große, etwas unmodern wirkende Brille mit einem Tuch ab und setzte sie wieder auf. Als sie die Unterarme vor sich verschränkte, erkannte ich dunklen Flaum darauf, wie oft bei Frauen südländischen Typs. Ich fand es zu herb, zu wenig weiblich – aber vielleicht war das eine sehr nordeuropäische Wahrnehmung.

„Glück gehabt“, sagte sie, wieder ins Französische wechselnd. Sie war schlank und musste ungefähr in meinem Alter sein. Ihr dunkles Haar trug sie kurz geschnitten, allerdings wirkte die Frisur etwas altbacken und langweilig, zumal in Kombination mit der unmodernen Brille. „Am besten warten wir hier, bis der Regen aufhört. Dann begleite ich Sie zum Hafen. Sie waren eigentlich schon ganz nahe dran.“

Das überraschte mich. Hätte ich dann nicht Musik und Lärm hören, die Lichter des Festes sehen müssen?

Der Wirt kam mit einem Tablett, auf dem eine Flasche Wein und zwei Gläser standen. Wortlos stellte er die Sachen auf unseren Tisch und schlurfte wieder davon. Dabei hatten wir noch gar nicht bestellt. Möglicherweise gab es den Wein hier gratis, wie anderswo Wasser. Sie nahm den Krug und goss uns ein. Bei den Gläsern handelte es sich um normale Haushaltsgläser; immerhin schienen sie sauber zu sein. Wir prosteten uns zu. Als ich fühlte, wie die Flüssigkeit sich warm in mir ausbreitete, wurde ich etwas ruhiger.

„Sind Sie von hier?“, fragte ich in meinem holprigen Französisch.

Sie nickte. „Zwar lebe ich inzwischen in Paris, aber ich komme so oft wie möglich auf die Insel zurück.“

Ihr Name war Vivienne. Den Nachnamen verstand ich nicht richtig, nur dass er mit „Mont" begann. Noch immer fühlte ich mich äußerst benommen nach dieser Kette von Erlebnissen und konnte mich nur schlecht konzentrieren. Trotzdem wollte ich, dass ein Gespräch zwischen uns zustande kam.

„Marc“, stellte ich mich vor, „Marc Simon.“

Sie wiederholte die Worte mit französischem Akzent, sprach das „Marc“ mit verstärktem „r“ aus und betonte im „Simon“ die zweite Silbe, ließ sie in jenem Nasallaut enden, der so typisch für das Französische ist und den Deutschen in der Regel nur schlecht gelingt. Es war ungewohnt, den eigenen Namen in dieser Aussprache zu hören. Aber sehr sympathisch.

Sie war Juristin, an der Pariser Sciènes Po. Erst nach einer Weile begriff ich, dass sie die berühmte École des Sciènes Politiques meinte. Wenn sie dort arbeitete, musste sie eine Koryphäe ihres Fachs sein. „Aber nein!“ Sie winkte ab. „Ich war einfach bloß im richtigen Moment zur Stelle, als Leute für ein Forschungsprojekt gesucht wurden.“

Dass ihre Position eine solche Ehrfurcht bei mir hervorrief, schien Vivienne unangenehm zu sein. Rasch wechselte sie das Thema: „Sie machen sicher Urlaub hier, oder? Deutscher?“

„Woran merkt man das?“, fragte ich neugierig.

„Man hört es am Akzent. Aber die meisten Deutschen erkennt man schnell. Sie schauen permanent in ihre Pläne und Reiseführer, wirken immer etwas unbeholfen. So wie Sie gerade eben.“ Wieder lächelte sie mich an.

Ich spürte, wie ich verlegen wurde. Mein Kopf leerte sich, und sicher würde mir wieder nur eine langweilige, unpassende Antwort einfallen, wie stes in solchen Situationen… dann aber spürte ich eine merkwürdige, ungewohnte Entspanntheit. Ich sah mich selbst durch den Ort stolpern, suchend, irritiert, hilflos – und musste unwillkürlich lachen. Lag es am Wein?

Die Flasche war schnell leer; kurzerhand ließen wir eine neue kommen. Wir gingen bald zum „Du“ über. Als meine französischen Vokabeln rar wurden, sprach ich einfach auf Englisch weiter. Schließlich stellte auch Vivienne die unvermeidliche Frage nach meinem Job. Ich druckste herum. Referent in einer Bibliothek… verglichen mit ihrem erschien mir mein eigener beruflicher Werdegang völlig belanglos. Aber als ich mit der bitteren Wahrheit herausrückte, zeigte sie überraschenderweise keine Spur von Geringschätzung, im Gegenteil: Sie wirkte interessiert, gestand, dass sie kaum etwas über die Abläufe in Fachbibliotheken wisse. Richtig lebhaft wurde sie, als ich mein Studium erwähnte, „Political Sciences“. Sie fragte nach Studienschwerpunkten, Professoren, dem Thema meiner Abschlussarbeit und dergleichen mehr. Je hartnäckiger sie bohrte, desto mehr löste sich meine Zunge. Ich hatte seit Ewigkeiten nicht mehr über mein Studium gesprochen; auf einmal erschien mir das damals Gelernte und Erarbeitete in einem anderen, interessanteren Licht.

Immer wieder gingen mir während des Gesprächs die heutigen Ereignisse durch den Kopf, vor allem der Aufstieg zum Felsplateau und die anschließende Flucht, schließlich mein Herumirren in diesem fremden Porto d'Arreccio. Und jetzt saß ich hier mit einer Frau, zum ersten Mal seit Ewigkeiten. An einem einzigen Tag war so viel geschehen wie vorher in langen Jahren nicht. Weshalb nur hatte ich solche Furcht vorm Betreten dieses Ortes gehabt?

„Wenn Du von hier bist“, fragte ich Vivienne, „sprichst Du dann eigentlich die alte Inselsprache?“

Sie schwieg, wirkte überrascht. Plötzlich gab sie einige dunkle, kehlige Laute von sich, die immer wieder in Zischen übergingen, manchmal fast knurrend klangen. Mir lief unwillkürlich ein Schauer über den Rücken.

Einen Augenblick war es fast vollkommen still im Raum. Dann brach sie den Bann, indem sie mit normaler Stimme auf Englisch weitersprach: „Jeder, der von hier kommt, spricht die Sprache der Insel. Was hast Du gedacht?“ Sie lachte, schaute mich aufmunternd an.

„Der Regen hat aufgehört“, sagte sie. „Wir sollten zum Hafen hinuntergehen.“

Ihr Tonfall war nicht bestimmend gewesen und ließ dennoch keinen Gedanken an Widerrede aufkommen. Auf dem Weg zur Tür bemerkte ich wieder die alten Männer an ihrem Ecktisch. Die ganze Zeit hatten sie kein Wort gesprochen, auch jetzt hielten sie ihre Blicke gesenkt – es wirkte fast demütig.

„Die Luft ist rein“, verkündete Vivienne von draußen. Ich wollte ihr folgen, aber dann fiel mir ein, dass die Zeche noch offen war. Unschlüssig schaute ich zum Wirt: Er war wieder ins Putzen seiner Gläser vertieft und schenkte mir keinerlei Beachtung. Rechnete er nicht damit, bezahlt zu werden?

„Worauf wartest du?“, hörte ich Viviennes Stimme.

Es schien wohl seine Richtigkeit zu haben. Ich wandte mich um und verließ das Lokal. Draußen schlug mir überraschend kühle, angenehme Luft entgegen. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen. Das spärliche Licht schien ausschließlich aus den wenigen beleuchteten Fenstern zu kommen; Straßenlaternen konnte ich nirgends entdecken. Noch immer fegten einzelne Böen durch die Straßen, aber der Sturm hatte sich gelegt.

Wir waren gerade ein paar Minuten gegangen, als man zwischen den Hauswänden das Wasser funkeln sah. „Et voilà.“, meinte Vivienne. „Findest du den Weg jetzt allein?“

Wir sahen uns etwas unschlüssig an. Erneut fiel mir auf, wie schlecht ihr die altmodische Brille und der Haarschnitt zu Gesicht standen. Dennoch war etwas Anziehendes an ihr.

„Vielleicht trifft man sich noch mal auf der Insel“, begann ich unsicher.

„Ja, vielleicht.“

Alles würde gleich zu Ende sein. Sollte ich sie nach ihrer Telefonnummer fragen? Oder war das zu dreist? Und wenn ich ihr meine gab? Ich zögerte, brachte es einfach nicht heraus.

Dann war die Chance vorüber. „See you“, sagte ich mit fester Stimme und reichte ihr die Hand. Sie drückte sie kurz. „Au révoir“, erwiderte sie.

Eilig drehte ich mich um, ging zwischen den Häusern hindurch und stand plötzlich im Licht des Hafenpiers. Einen Augenblick war ich wie geblendet von der Helligkeit. Ich schaute zurück, sah Vivienne noch immer im Halbdunkel des Torbogens stehen. Sie winkte ein letztes Mal, drehte sich um und verschwand.

Kurz überlegte ich, umzukehren und ihr zu folgen. Und bezweifelte plötzlich, dass das möglich war. Würde ich sie jemals erreichen? Existierten die verwitterten Häuser, die ich dort zu sehen glaubte, überhaupt? Immer blasser und verschwommener wurde das Bild der fleckigen Mauern, der engen, unbeleuchteten Gassen, der finsteren Treppen – bis fast nichts mehr zu erkennen war. Schließlich wandte ich mich ab, verwirrt und mit dem unangenehmen Gefühl, gerade eine wichtige Chance verpasst zu haben…

Das Hafenfest musste lange vorbei sein. Auf den Terrassen der Lokale waren die Möbel zusammengestellt, die Tischplatten nass vom Regen. Piers und Strandpromenade lagen verwaist da, sämtliche Läden hatten geschlossen. Wasserlachen zierten den Asphalt, Wellen schlugen in rascher Folge gegen die Kaimauer, man hörte das Tacktack der Schiffstakelagen.

Auf dem Weg zum Busbahnhof begegneten mir fast keine Leute. Wie hell hier überall die Straßenbeleuchtung strahlte – kein Vergleich zum Dämmerlicht in jenem anderen Porto d'Arreccio! Ich suchte nach Aufschriften in den fremden Buchstaben, aber vergeblich: Man sah überall nur französisch, englisch, manchmal deutsch.

Kaum erreichte ich die Haltestelle, da schnaufte auch schon der klapprige Bus heran, pünktlich auf die Minute. Ich war der einzige Fahrgast, der um diese Zeit noch zurückwollte nach Plage d'Aiola.



***



Im Hotelzimmer empfing mich noch der zähe, klebrige Dunst des dahingegangenen Hitzetages. Ich öffnete die Balkontür, und der Sturmwind fegte herein, wirbelte die Vorhänge hoch, verblätterte die Seiten des Buches auf dem Nachttisch. Die Schwüle war im Nu vertrieben.

Während des Duschens gingen mir erneut die Szenen der letzten Stunden durch den Kopf; vor allem sah ich immer wieder Vivienne vor mir, wie sie im Halbdunkel der engen Gassen verschwand. Das Bild erschien mir inzwischen wie der Blick in eine andere Welt – deren Eingang sich just in jenem Augenblick wieder verschloss.

Mit tropfenden Haaren, das Handtuch um die Hüften gebunden, setzte ich mich aufs Bett und griff nach dem Reiseführer. Nein, im Stadtplan von Porto d'Arreccio war definitiv keine Treppe eingezeichnet, die hinter der Aussichtsplattform weiter nach oben lief. Und ein derart großflächiger Platz wie der mit dem Amphitheater ließ sich genauso wenig finden. Wirklich seltsam, das Ganze. Ich durchblätterte den Teil mit den Landkarten. Ziemlich genau in der Inselmitte gab es offenbar eine Burgruine, wie ein entsprechendes Piktogramm mitteilte. Eine Zufahrtsstraße existierte allerdings nicht – oder nicht mehr? Die Besitzerfamilie, so erfuhr man im zugehörigen Artikel, war während der 1848er-Revolution vertrieben worden; seitdem stand das Gemäuer leer und verfiel. Besonders wichtig konnte die Episode nicht gewesen sein, sonst hätte der Reiseführer sich bestimmt genauer damit befasst. Wie hieß das Adelsgeschlecht? Wohin waren seine Angehörigen nach ihrer Vertreibung gegangen? Aber selbst wenn man all dies erfahren hätte – das Schloss draußen auf dem Meer war definitiv keine Ruine gewesen. Es hatte intaktes Mauerwerk besessen, sorgfältig instandgehaltene Dächer und sogar Fensterscheiben, die das rötliche Licht der untergehenden Sonne widerspiegelten.

Etwas fiel aus dem Buch heraus auf den Boden. Im ersten Moment dachte ich, eine Seite hätte sich gelöst, aber beim Aufheben stockte mir der Atem: Es war eine dieser merkwürdigen Postkarten, die ich vorhin gesehen hatte, im anderen, dunklen Porto d'Arreccio: Historisch anmutende Fotografien, handkoloriert, mit Bildunterschriften in unbekannten Lettern… wie kam eine solche Karte in den Reiseführer? Seit meiner Ankunft hatte ich das Buch unzählige Male zur Hand genommen, ohne irgendetwas zu bemerken. Hatte Vivienne sie heimlich hineingeschoben, während wir in der Gastwirtschaft saßen?

Eines der Bildmotive zeigte ein altes Fischerdorf an einem Berghang. Es schien sich um Porto d'Arreccio zu handeln; allerdings war die Mole noch deutlich kleiner als jetzt, auch fehlten die protzigen Yachten und die neu erbaute Promenade mit ihren Touristenläden. Vor allem aber gab es diese endlose, monotone Feriensiedlung nicht; das Tal hinter dem Ort war vollkommen unberührt. Auf einem anderen Foto war ein Sandstrand zu erkennen, menschenleer, so weit man schauen konnte. Ein drittes Bild zeigte ein freistehendes Bergmassiv, dessen Gipfel in einem Knäuel dicker Wolken verschwand. Die letzte Fotografie war die interessanteste: eine Hochebene, umgeben von äußerst bizarren Felsformationen. Eine Art Grauschleier lag über der Szenerie, als hätte man das Bild zunächst koloriert, dann aber versucht, die Farbe wieder abzuwaschen. Die leuchtende Scheibe am Himmel konnte die Sonne sein, aber ebenso gut der Mond.

Ich wendete die Karte und sah zu meiner Überraschung, dass sie beschrieben war: „Mache einige Zeit auf dieser Insel Station, habe das Gefühl, hier möglicherweise zu finden, wonach ich schon so lange suche. Alles Gute, Lennard“.

Auf einmal schien etwas nach mir zu greifen, etwas aus einem anderen, weit zurückliegenden Leben. Wie vom Donner gerührt erkannte ich die Handschrift des Absenders, diesen eigenwilligen Mix aus Schreib- und Druckbuchstaben, der plakativ und dennoch zerbrechlich wirkte. Und endlich wurde mir klar, dass ich Lennards alten, verschwunden geglaubten Urlaubsgruß in der Hand hielt, der mich hierher geführt hatte, auf diese Insel!

Der wellige, vergilbte Karton der Karte sandte einen muffigen Geruch aus. Den Geruch einer fernen Vergangenheit, einer längst entschwundenen Epoche. Lennard und ein paar seiner Kommilitonen hatten gemeinsam einen Europatrip unternommen, so viel wusste ich noch. Überraschend war er auf eigene Faust weitergereist, hatte sich von der Gruppe getrennt. Diese Karte war sein letztes Lebenszeichen gewesen; anschließend verlor sich seine Spur.

Wie lange mochte das alles her sein? Zehn Jahre? Fünfzehn? Leider ließ sich die Anschrift auf der Karte, meine alte Adresse zu Studentenzeiten, nicht mehr entziffern: Wasser oder sonst eine Flüssigkeit hatte die Buchstaben komplett verwischt.

Mehr und mehr kehrte jetzt die Erinnerung zurück, schmerzend, bohrend, quälend. Die Bilder auf der Vorderseite hatte ich seinerzeit kaum wahrgenommen, hatte nur den Text gelesen, immer wieder von Neuem. Die Zeilen waren damals wie ein Paukenschlag gewesen, sie hatten mich aus einem Tiefschlaf geweckt, endlich den lähmenden Bann gelöst, der zu jener Zeit auf mir lag. Ich hatte Lennard nachreisen, ihn in seinem Exil überraschen wollen. Endlich wieder Kontakt zu ihm haben, nachdem wir uns zuletzt so sehr auseinandergelebt hatten – das war mein sehnlichster Wunsch gewesen. Schon hatte ich begonnen, mich nach Flugverbindungen zu erkundigen, mir auch einen Reiseführer besorgt, diesen Reiseführer. Dann war der Brief aus Hamburg gekommen…

Ich sah die Situation vor mir, als hätte sie gestern stattgefunden: Alexandra, aufgelöst vor Glück, in der Hand die zerknitterten Briefseiten: hochdotierter Job an der Hamburger Uni… juristisches Forschungsprojekt… großartiges Angebot, Chance des Lebens…

Auf einmal spürte ich eine würgende Enge im Hals, wie von einem dicken Kloß – oder einer Schlinge, die sich langsam zuzieht. Ich sprang auf, versuchte die Beklemmung abzuschütteln. Warum hatte ich damals meine Reisepläne wieder verworfen, war stattdessen mit Alexandra aus Berlin weggezogen? Was hatte mich in jener Zeit so gelähmt, so unfähig gemacht zu eigenständigem Handeln?

Nach dem Neustart in Hamburg hatte ich nie wieder etwas von Lennard gehört. Auch seine Karte war seitdem wie vom Erdboden verschwunden gewesen. Überall hatte ich sie gesucht, in Schränken und Kisten, im Keller, auf dem Dachboden – vergeblich. Und jetzt flatterte sie mir einfach so entgegen. Wie oft hatte ich seit meiner Ankunft auf der Insel den Reiseführer benutzt, wie oft hätte die Karte herausfallen können… und ausgerechnet heute fand ich sie, am Ende dieses besonderen Tages.

Ich schaltete das Licht aus und trat an die geöffnete Balkontür. Ein frischer, kräftiger Wind ging, unablässig eilten Wolken über den nächtlichen Himmel. Die See war aufgewühlt, wie ich sie hier noch nie gesehen hatte. In der Hand hielt ich eine uralte, vergilbte Ansichtskarte, mit der, so schien es, ein Stück verloren geglaubtes Leben zu mir zurückgekehrt war.



***



Als ich die Augen aufschlug, war es noch dunkel. Die schwere Brandung hatte sich gelegt. Man hörte die Wellen gemächlich heranrollen, auf den Strand schlagen und ins Meer zurückfließen – es klang wie ruhiges, regelmäßiges Atmen. Die Wolkendecke war aufgerissen, eine Handvoll Sterne glitzerte am Himmel.

Meine Erinnerungen an Lennard waren jetzt intensiver denn je. Vor allem die erste Begegnung mit ihm ging mir immer wieder durch den Kopf, zu Beginn des Studiums, in Münster. Dieses Zusammentreffen war denkbar unauffällig gewesen; nie hätte ich seinerzeit geglaubt, dass etwas so Wichtiges daraus entstehen würde, etwas derart Essentielles…

Münster – hierhin hatte es mich nach dem Abitur verschlagen, zum Ableisten meines Zivildienstes. Bis zum Wehrerfassungsbescheid hatte ich mir keinerlei Gedanken über ein Leben nach der Schule gemacht. Erst als dieses offiziell wirkende Schreiben zu Hause eintrudelte, mit meinem Namen im Briefkopf, dämmerte mir, dass sich demnächst vieles ändern würde. Schließlich rang ich mich zur Verweigerung durch, denn auf Wehrdienst hatte ich erst recht keine Lust. Fürs Finden einer Zivildienst-Stelle reichte meine Energie dann leider nicht mehr. Am Ende wurde mir ein Platz zugewiesen, in einer Münsteraner Altenhilfe-Einrichtung. Auch für Unterkunft war gesorgt, im angeschlossenen Personalwohnheim, wo ich ein Zimmerchen erhielt.

Der Start war äußerst mühsam, aber allmählich gewöhnte ich mich an die neue Situation, das regelmäßige Arbeiten, die Kollegen, das Teamwork. Die krasse Veränderung hatte sogar etwas Positives; sie befreite mich endlich aus der Paralyse der letzten Schuljahre. Ich begann wieder Leute zu treffen, ging gemeinsam mit anderen Zivis in die Kneipen der Umgebung, wir entdeckten die Münsteraner Studentenszene für uns. Es tat unendlich gut, wieder Menschen um sich zu haben, nicht mehr allein zu sein. Das Einzelgängertum entsprach eigentlich nicht meinem Naturell, in Wirklichkeit war ich immer ein Gesellschaftstyp gewesen, ein Teamplayer. Nur dieses Gefühl einer zunehmenden Entfremdung hatte mich so komplett in die Isolation getrieben. Davon war jetzt nicht mehr viel zu spüren, vermutlich weil die Leute hier anders waren als zu Hause, viel neugieriger, offener.

Nach dem Zivildienst blieb ich in Münster, begann an der dortigen Uni ein BWL-Studium. Ich plante, es mir komplett selbst zu finanzieren, über eine Tätigkeit als Honorarkraft in der Altenhilfe-Einrichtung und, falls der Verdienst nicht ausreichte, mithilfe weiterer Jobs. Von meinen Eltern wollte ich kein Geld mehr nehmen. Überhaupt hatte ich vor, sämtliche Verbindungen zur alten Heimat endgültig zu kappen. Wäre ich dort geblieben, das erkannte ich jetzt, hätte ich früher oder später resigniert und mich angepasst, aller Perspektivlosigkeit zum Trotz. Ich hätte wie die anderen Leute Sicherheit über alles gestellt und die Zeit damit verbracht, Gegenstände anzuhäufen, mich mit Konsum zu betäuben. Und schließlich selbst auf alle eingehackt, die es wagten, diese eintönige, sterile Lebensweise zu kritisieren. Aber nun hatte ich den Absprung geschafft – welch ein Segen!

Um die Lebenshaltungskosten niedrig zu halten, zog ich in ein Studentenwohnheim. Eine gute Entscheidung, auch jenseits des Finanziellen, wie sich bald herausstellte: Hier herrschte dieselbe Aufbruchsstimmung wie vorher mit den Zivis der Altenhilfe-Einrichtung. Man traf sich, ging zusammen aus, knüpfte Kontakte. Auch eine Hobby-Fußballgruppe gab es, an der ich mich beteiligte.

Eines Abends sprach mich in der Gemeinschaftsküche ein Typ an, Lennard. Er wohnte auf demselben Flur wie ich und studierte ebenfalls BWL. Schon jetzt, da das Semester gerade mal einige Wochen alt war, galten er und seine Leute als Instanzen des studentischen Nachtlebens. Auch auf verschiedenen Demos hatten sie sich bereits hervorgetan, durch auffällige Verkleidungen und Dekorationen. So waren sie, als es kürzlich gegen Rüstungsexporte ging, mit Gasmasken, Raketen aus Pappe und blutverschmierten Kreuzen aufgelaufen.

Dieser umtriebige Lennard suchte also das Gespräch mit mir. Tagsüber hatte ich mir in der VWL-Vorlesung einen Schlagabtausch mit dem Dozenten geliefert, zum Thema Schlanker Staat. Er, ein junger, reichlich schnöselhafter Strebertyp, war unbedingt dafür gewesen, ich vehement dagegen. Meine Hartnäckigkeit und die Stichhaltigkeit meiner Argumente hatten Lennard durchaus beeindruckt, wie er mir ohne Umschweife gestand. Ich fühlte mich natürlich geschmeichelt. Und war froh, dass man mir offenbar nicht angemerkt hatte, wie ich während des Disputs ins Schwitzen gekommen war. Denn natürlich hatte der Dozent viel mehr über das Thema gewusst als ich kleiner Erstsemester. Aber ich hatte nicht zurückstecken, mir keine Blöße geben wollen – und einen Erfolg in ganz anderer Hinsicht eingefahren, wie sich nun herausstellte.

An diesem ersten Abend wechselten Lennard und ich nur ein paar allgemeine Sätze, aber in der Folge kreuzten sich unsere Wege vermehrt. So saßen wir in der besagten Vorlesung jetzt oft nebeneinander, und irgendwann tauchte er sogar in meiner Übungsgruppe auf – er hatte mit einem Kommilitonen die Plätze getauscht. Auch in der Gemeinschaftsküche begegneten wir uns häufig, und jedes Mal entspann sich ein angeregtes Gespräch.

BWL studierte er, um später die Firma seiner Eltern zu übernehmen. Hierzu hatte er zwar nicht die geringste Lust, aber „der Alte“ bezahlte nun mal, und das wollte er so lange wie möglich ausnutzen. Was anschließend kam, wussten die Götter. Auskosten, mitnehmen, in vollen Zügen genießen – so wollte Lennard vor den anderen erscheinen. Der Leitwolf, der immer vorneweg ging. Keine wichtige Party, die ohne ihn stieg, kein angesagter Club, in dem er nicht Stammgast war, keine schöne Frau, die seinen Verführungskünsten widerstand. Und alle nahmen ihm dieses Bild ab, ließen sich einlullen von seiner natürlichen Begabung zur Selbstvermarktung, seinem Charme, seinem Witz.

Wozu gab sich ein solcher Star ausgerechnet mit mir ab? In der studentischen Szene war mein Marktwert eher gering. Ich kleidete mich unauffällig, verließ Partys meist zu früher Stunde, trank wenig und kiffte nie. Kurz: Ein Gesehen werden mit mir brachte Lennard schlicht nichts ein, keine gesteigerte Aufmerksamkeit, keinen zusätzlichen Respekt. Was also wollte er von mir?

Es lag wohl an dem, was er meine „philosophische Ader“ nannte. Unsere Treffen in der Wohnheimküche dauerten inzwischen oft bis nachts; unermüdlich diskutierten wir über gesellschaftliche, politische, kulturelle Themen. Wir wollten beide die Zusammenhänge verstehen, in denen unser Leben stattfand, wollten unseren Platz darin erkennen, unsere Determination. Auch schien ihm meine Unabhängigkeit von den Eltern einen gewissen Respekt abzunötigen. Eigentlich hätte er lieber Philosophie studiert, aber das wagte er nicht, weil ihm dann sofort der Geldhahn zugedreht worden wäre. Dergleichen brauchte mich nicht zu kümmern, bei Bedarf hätte ich jederzeit die Fächer wechseln können.

Eine Bemerkung, von Lennard während einer unserer nächtlichen Diskussionen beiläufig gemacht, beschrieb wohl am besten, worin er die Verbindung zwischen uns sah: „Wir beide“, hatte er gesagt und dabei die nächste Rotweinflasche entkorkt, „sind im Grunde Inseln. Isoliert, ohne Verbindung zur Außenwelt. Diesen Zustand können die meisten Menschen nicht aushalten, sie wollen sich lieber am Herdfeuer der Masse wärmen.“

Eine Insel… mich selbst konnte ich in diesem Bild durchaus wiedererkennen. Aber Lennard, der stets im Mittelpunkt des Geschehens stand, bei dem immer alle Fäden zusammenliefen, was sollte an ihm inselhaft sein? Trotzdem empfand ich seine Worte als Kompliment, besagten sie doch nichts anderes, als dass er uns auf einer Stufe sah, dass er nichts gab auf die studentische Rangordnung, in der wir so krass unterschiedliche Positionen belegten.

Das zweite Semester neigte sich dem Ende zu. Inzwischen überlegte ich tatsächlich, die Fächer zu wechseln. BWL – in dieser Wahl hatte unbewusst noch das Bestreben gesteckt, den Wünschen und Vorstellungen meiner Eltern zu genügen, mich in ihre Welt einzuordnen. Davon jedoch hatte ich mich längst freigemacht. Ich bewarb mich für den Magister-Studiengang in Politologie, mit Geschichte und Soziologie als Nebenfächer, und erhielt prompt einen Studienplatz zum kommenden Wintersemester. Als nach den Ferien die Vorlesungen wieder begannen, zeigte sich rasch, wie richtig auch diese Entscheidung gewesen war: Die neuen Fächer entsprachen viel eher dem, was mich interessierte und bewegte.

Währenddessen kündigte Lennard an, nach West-Berlin gehen zu wollen. In der Mauerstadt spielte zu jener Zeit die Musik: Demos, politische Aktionen, Hausbesetzungen, außerdem jede Menge Kultur. Ich nahm die Nachricht gelassen auf; sicher würden seine Eltern ihn wieder zurückpfeifen. Die aber schienen keine Einwände zu haben, solange ihr Stammhalter weiterhin brav BWL studierte. Als die ZVS Lennard auch noch den erhofften Platz an der Berliner TU zuwies, wurde mir unversehens flau. Erst jetzt realisierte ich, was sein Weggang für mich bedeuten würde. Unsere nächtlichen Küchengespräche waren mittlerweile ein Fixpunkt in meinem Leben, es gab weit und breit nichts, das sie hätte ersetzen können. Ein Gefühl eisiger Leere packte mich, das schlimmer war als alle Trostlosigkeit früherer Zeiten.

Umso größer war meine Verblüffung, als Lennard mich drängte, mitzukommen. Mehr noch: Er schlug vor, wir sollten in Berlin zusammen eine WG gründen. Dann hätten wir unsere eigene Küche zum Diskutieren, meinte er. Natürlich glaubte ich an einen Scherz. Der große Lennard und ich – in ein und derselben WG? Trotzdem fing ich zaghaft an, mich über die Studienmöglichkeiten in Berlin zu informieren – und stellte fest, dass vor allem an der FU das Lehrangebot schlicht ein Traum war. Und es gab keine Zulassungsbeschränkungen; ich konnte mich einfach einschreiben. Nach langem Zögern entschloss ich mich, das Undenkbare zu wagen.

Es ging also wirklich und wahrhaftig nach Berlin. Wir bezogen eine Zweizimmerwohnung in Kreuzberg, in der Nähe des Kottbusser Tors. Sie hatte bloß Ofenheizung und alte, einfach verglaste Sprossenfenster, die im Winter zentimeterdick zufroren. Dafür war sie unfassbar günstig, was Nachteile wie Kälte oder Durchzug aufwog. Auch in Sachen Job hatte ich Glück: Ich ergatterte eine recht gut bezahlte, unbefristete Hiwi-Stelle im Archiv der FU.

Wie von Lennard angekündigt setzten wir in Berlin unsere Diskussionsrunden fort, bei denen häufig auch andere Kommilitonen dabei waren. Umgekehrt ging ich mit zu Demos, Film- und Theaterveranstaltungen, nahm auch an diversen Kneipenabenden teil. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, wirklich dazuzugehören, in echter Verbindung zu stehen mit den Menschen um mich herum. Und das alles nur dank Lennard; ohne ihn hätte sich mir diese neue, aufregende Welt nie und nimmer erschlossen.

Auf der Einweihungsparty eines Kommilitonen traf ich Alexandra zum ersten Mal. Ich fand es sympathisch, dass sie offenbar nicht bloß „abcheckte“, wie die meisten anderen, sondern tatsächlich eine Unterhaltung mit mir führen, mich kennen lernen wollte. Sie studierte Jura, ebenfalls an der FU, und war der jüngste Spross einer alteingesessenen Hamburger Reeder-Dynastie, den von Fehrens. Aber Alexandra wollte so gar nicht in dieses großbürgerliche Milieu passen: Sie engagierte sich leidenschaftlich bei der Roten Hilfe und belegte nebenbei Seminare im Bereich Frauen- und Geschlechterforschung.

Rasch entwickelte sich zwischen uns eine rege Bekanntschaft. Wir hatten viele gemeinsame Interessen, lasen dieselben Bücher, fühlten uns beide als Außenseiter; die Übereinstimmungen waren teilweise frappant. Alexandra gegenüber konnte ich ungezwungen meine Meinung äußern, selbst wenn diese von den gängigen, linken Standards abwich, was durchaus vorkam. Normalerweise gab es in solchen Fällen großes Geschrei, Verratsvorwürfe, Ermahnungen zu politischer Korrektheit. Nicht so bei Alexandra – ihr Interesse wurde gerade durch das Nicht-Konforme, Unangepasste geweckt und angestachelt. Zwar stellte sie während unserer Diskussionen viele Fragen, erhob Einwände, entwickelte Gegenthesen, aber alles blieb sachlich, immer war sie neugierig auf meine Antworten, auf ungehörte Argumente. Und für mich stand umgekehrt am Ende oft eine Erkenntnis, ein Revidieren vermeintlich feststehender Ansichten, eine Weiterentwicklung von Ideen.

Äußerlich hatte Alexandra rein gar nichts Anziehendes. Die unvorteilhaften Klamotten – lange, sackartige T-Shirts, wallende Batik-Röcke oder Bundeswehrhosen mit ausladenden Seitentaschen –, verdeckten ihre Körperformen zur Gänze. Ihr spitznasiges, hohlwangiges Gesicht wirkte ziemlich streng; manchmal blitzte gar etwas Oberlehrerhaftes darin auf. Einzig ihr langes, blondes Haar war klassisch weiblich. Es mochte ein Klischee sein, dass langweilige, unattraktive Frauen es am ehesten schafften, aus dem traditionellen Rollenmodell auszubrechen – auf Alexandra jedenfalls traf es zu. Mir war es nur recht; umso sicherer konnte ich sein, dass der Kontakt zwischen uns nicht übers Platonische hinausging.

Denn ich wollte lieber allein bleiben. In dieser Hinsicht war ich das genaue Gegenteil aller Leute in meinem Bekanntenkreis. Vor allem Lennard konnte in Sachen Frauen einen geradezu manischen Ehrgeiz entwickeln. Seine Eroberungen waren allesamt vom Typ modebewusster, ehrgeiziger Vamp. Girls, die sogar noch stylish aussahen, wenn sie morgens zerknautscht und notdürftig in irgendwelche Plünnen gehüllt in der WG-Küche hockten. Dementsprechend wenig wusste er mit Alexandra anzufangen; er fand sie schlicht „abtörnend“. Aber natürlich betrachtete er die Sache in erster Linie von der erotischen Seite.

Die Dinge entwickelten sich also gut für mich in Berlin. Leider flaute ausgerechnet in dieser Phase die Euphorie ab, die mich bislang getragen und alle Hürden hatte nehmen lassen. Stattdessen kehrte ein alter Mechanismus aus Schulzeiten zurück: Ich fühlte mich in Gesellschaft zusehends unwohl, fremd, fehl am Platze, empfand das soziale Leben immer mehr als Belastung.

Am meisten nervten mich ausgerechnet die politischen Diskussionen, ob in unserer WG-Küche, auf Demos oder abends in den Kneipen. Vor allem, wenn es mal wieder gegen die bösen Kapitalisten ging, die für ihren Profit die Umwelt zerstörten. Nicht, dass ich nicht derselben Meinung gewesen wäre, aber: Weshalb eigentlich immer bloß die anderen? Was machte uns so sicher, dass wir nicht auch Teil dieses Systems waren? Okay, wir lebten in WG's, sahen weniger fern, viele von uns hatten kein Auto, jedenfalls noch nicht, ein paar versuchten, sich anders zu ernähren, vegetarisch, biologisch – aber reichte das? Basierten die Gegenkulturen hier in Kreuzberg und anderswo mit ihren betont unkonventionellen Lebensentwürfen, all der krassen Selbstfixierung und -optimierung nicht genauso oder noch mehr auf Wachstum und Überfluss wie die kleinbürgerliche Konsumgesellschaft?

Das Ganz ließ sich noch weitertreiben: War unser Tun nicht sogar kontraproduktiv? Letztlich sonderten wir uns ja ab, fühlten uns als Avantgarde, separierten uns vom Rest der Gesellschaft. Und das ausgerechnet in einer Zeit, da die Probleme sich himmelhoch auftürmten – alle, die Augen im Kopf hatten, sahen doch, dass es so nicht weitergehen konnte, dass fundamentale Änderungen notwendig waren. Wurde jetzt nicht weniger eine neue Elite gebraucht als eher eine starke Gemeinschaft, ein Kollektiv? Hatte sich der Fokus auf Selbstverwirklichung nicht längst überlebt? War mittlerweile nicht eher Selbstlosigkeit angezeigt, um die exzeptionellen Herausforderungen zu bewältigen, vor denen wir standen?

Und schließlich: Weshalb durfte man in unseren angeblich so offenen Diskussionsrunden derartige Fragen auf keinen Fall stellen, ohne großes Geschrei auf sich zu ziehen? Kritische Reflexion des eigenen Tuns, unvoreingenommenes Sich-Ehrlich-Machen? Fehlanzeige! Immer stärker überkam mich das Gefühl, als wäre unsere alternative Lebensweise vor allem eines: eine neue, zeitgemäße Verpackung, hinter der sich in Wahrheit dieselbe Anspruchshaltung und Spießigkeit auftat, wie ich es von zu Hause kannte. Darauf konnte ich, ehrlich gesagt, gut verzichten.

Und so geriet meine vermeintliche Zugehörigkeit immer mehr zur Simulation. Ich tat, als läge ich mit meinem Umfeld auf einer Wellenlänge, und tickte längst völlig anders. Aber wäre die Wahrheit ans Licht gekommen, hätte es einen Sturm der Entrüstung gegeben, und das wollte ich vermeiden. Leider erforderte es immer mehr Energie, besagte Simulation aufrechtzuerhalten.

Irgendwann waren sämtliche Reserven erschöpft. Ich sehnte mich verzweifelt nach Ruhe und Entspannung, wollte einfach nur noch loslassen. Als ich Lennard meine Lage vorsichtig eröffnete, zeigte der sich überraschend verständnisvoll. Er ermunterte, drängte mich geradezu, möglichst schnell eigene Wege zu gehen. „Bist und bleibst halt eingefleischter Individualist“, sagte er in wohlwollendem Ton. Und so mietete ich eine kleine Dachgeschosswohnung in einem Hinterhaus der Moabiter Turmstraße. Es gab keine Dusche, nicht mal warmes Wasser. Das Klo lag auf halber Treppe, und erneut würde ich mich im Winter mit einer Ofenheizung herumschlagen dürfen. Aber alles andere konnte ich mir nicht leisten.

Am Tag des Umzugs wurde ich plötzlich wieder unsicher. Unser Gemeinschaftsprojekt, so hoffnungsvoll begonnen, endete also bereits wieder; ich trug es kurzerhand zu Grabe. War das nicht etwas voreilig? Ein fundamentaler Fehler sogar, der sich später bloß schwer würde korrigieren lassen? War mein angebliches Bedürfnis nach Rückzug und Ruhe wirklich derart groß? Oder ging es doch eher darum, sich komplett einzuigeln, vor anderen Menschen und ihren Eigenheiten abgeschirmt zu sein? Aber für solche Erörterungen war es jetzt natürlich zu spät. Das Geschehen nahm seinen Lauf, ich bezog meine neue Wohnung.

Zunächst fühlte die neue Situation sich unbestreitbar gut an. In der Freizeit unternahm ich ab sofort nur noch, wonach mir wirklich der Sinn stand: abends mal einen Kino- oder Theaterbesuch, am Wochenende den einen oder anderen Spaziergang, im Grunewald oder am Wannsee. Meine Gruppenaktivitäten stellte ich nach und nach ein; ich beteiligte mich nicht länger an Demos und Aktionen, erst recht ging ich nicht mehr mit auf nächtliche Streifzüge durch irgendwelche Kneipen oder gar Clubs. All das passte nicht mehr zu mir, hatte es eigentlich nie getan. In Wahrheit war ich immer bloß Statist gewesen, ein Zählkandidat, der für Masse sorgte, ansonsten aber nicht in Erscheinung trat. Damit sollte jetzt Schluss sein.

Mein WG-Zimmer wurde umgehend von Lennards neuer Flamme übernommen. Also deshalb hatte er mir nicht ins Gewissen geredet, als ich plötzlich ausziehen wollte, mich im Gegenteil noch ermuntert: Er brauchte meine Bude. Diesmal sei es wirklich was Ernstes, beteuerte er. Diese Beziehung sei angeblich besonders und total anders als die zahllosen davor, er wolle sich ihr ganz widmen, sprich: so viel Zeit wie möglich mit seiner Freundin verbringen. Tatsächlich sahen wir uns fortan bloß noch selten.

Dafür intensivierte sich meine Bekanntschaft mit Alexandra umso mehr. Kaum eine freie Stunde, die ich ohne sie verbrachte. Egal, wann ich bei ihr anrief – immer passte es, hatte sie Zeit für ein Gespräch oder ein Treffen. Das war äußerst praktisch, weil ich ansonsten wohl allein zu Hause gehockt hätte. Aber wir verstanden uns ja tatsächlich, waren uns im geistigen Sinne nahe; die unterschiedlichen Geschlechter spielten hierbei keine Rolle. Dachte ich jedenfalls die ganze Zeit.

Dass Alexandra eine gänzlich andere Wahrnehmung hatte, was unseren Kontakt anging, wurde eines schönen Sommerabends deutlich, als wir uns bei mir trafen. Meine Wohnung, so kärglich sie auch sein mochte, besaß einen entscheidenden Vorteil: Man konnte aus dem Küchenfenster aufs Flachdach des Seitenflügels hinaussteigen und es sich dort gemütlich machen. Zwar waren das fehlende Geländer und die Möglichkeit, abzustürzen, etwas beängstigend, aber wenn man in der Dachmitte blieb, konnte eigentlich nichts passieren. Am besagten Abend war es angenehm mild, und so zog es uns auf meine improvisierte Terrasse. Beim Blick übers nächtliche Häusermeer tranken wir Wein, aßen Snacks, die Alexandra zubereitet hatte, und führten, wie unzählige Male zuvor, ein spannendes Gespräch. Alexandra rückte dabei ungewohnt nahe heran, was mich aber in meiner zusehends angeheiterten Verfassung nicht störte.

Irgendwann verschwand sie durchs Fenster in die Wohnung und kehrte nicht zurück. Ich wurde ungeduldig, erwog bereits, nachzuschauen, als sie endlich wieder aufs Dach hinauskam. Sehr langsam schritt sie auf mich zu, die ganz Zeit seltsam lächelnd. Plötzlich sah ich, dass sie, anders als vorhin, offenbar keinen BH mehr trug; deutlich zeichneten sich unter dem T-Shirt ihre ziemlich vollen Brüste ab. Zum ersten Mal verspürte ich in Alexandras Gegenwart etwas wie erotische Neugier, Erregung. Den Rest des Abends starrte ich, wie sollte es anders sein, permanent auf ihren Oberkörper, der mir plötzlich sehr spannend erschien. Irgendwann nahm sie meine Hand und zog mich hinter sich her ins Zimmer. Ich leistete keinen Widerstand, wozu möglicherweise die Wirkung des Alkohols beitrug. Nur tief im Unterbewusstsein registrierte ich, dass etwas grundfalsch lief.

Es blieb nicht bei der einen Nacht, weitere folgten. Und doch bestand ich innerlich darauf, dass Alexandra und ich eine platonische Beziehung führten, mit gelegentlichem Sex zwischendurch. Als jedoch immer mehr eindeutige Insignien hinzukamen, wie Begrüßungs- und Abschiedsküsschen, Händchenhalten und so weiter, musste ich schließlich einsehen: Das war nichts Unverbindliches, Zufälliges mehr. Unser Verhältnis war unbemerkt zu dem geworden, was die anderen meinten, wenn sie von „zusammen sein“ sprachen. Schließlich galten wir auch offiziell als Paar. Niemand im Bekanntenkreis schien ernsthaft überrascht; außer mir hatten offenbar alle gewusst, was da lief und wie es enden würde.

Alexandra war im siebten Himmel. Glückstrahlend gestand sie mir, dass es für sie Liebe auf den ersten Blick gewesen wäre. Mir dagegen schwirrte der Kopf – war sie doch nicht besser als die anderen? Hatte auch sie von Anfang an nur das Eine gewollt? Und weshalb hatte ich ihre wahren Gefühle nie bemerkt? Überhaupt – wie stand ich eigentlich zu der ganzen Angelegenheit? Was empfand ich? Klar, ich schätzte Alexandra, als Gesprächspartner, als Freund, und wollte sie nur ungern verlieren. Aber Liebe? Früher, in meinen Heftchen, war dieser Begriff ständig gefallen. Ich hatte immer gedacht, etwas Großartiges müsse damit gemeint sein, das Wichtigste überhaupt. Aber dies hier war die Realität, kein Heftroman. Lag vielleicht ein Missverständnis vor? Handelte es sich bei der vermeintlich so tollen Liebe eher um etwas wie Sympathie und Wertschätzung? Also exakt um die Gefühle, die ich für Alexandra hegte?

Wie dem auch sein mochte, die Situation hatte eindeutig ihre Vorteile: Endlich war das permanente Gefühl von Isolation weg, hatte ich stets jemanden in Reichweite, egal ob zum Quatschen oder für Sex. Das bisschen Händchenhalten konnte ich im Gegenzug leidlich ertragen. Auch wenn ich Alexandra zugegebenermaßen nie wirklich erotisch fand.

Es kam schließlich, wie es in solchen Situationen früher oder später meistens kam: Wir zogen zusammen. Bislang hatte Alexandra in Wilmersdorf gewohnt, in einem von den Eltern finanzierten Appartement. Nun trafen wir uns sozusagen in der Mitte, in Schöneberg, wo sie eine gemütliche Zweizimmerwohnung für uns gefunden hatte. Beim Einrichten verzichteten wir bewusst auf die übliche Einteilung in Wohn- und Schlafzimmer. „Fehlt nur noch die Schrankwand mit beleuchteter Glasvitrine“, scherzte Alexandra. Jeder bezog einen Raum, die Küche wurde gemeinschaftlich genutzt. Überhaupt nahmen wir uns vor, alles zu vermeiden, was irgendwie nach Spießigkeit roch.

Bereits vorher hatte man uns fast nur noch zu zweit gesehen, aber seit wir zusammenwohnten, hingen wir definitiv wie Kletten aneinander. Alles machten wir jetzt gemeinsam: Einkäufe, Kochen, Putzen, Treffen mit Freunden, abendliches Weggehen. Und immer stärker gab Alexandra den Ton an. Sie fällte die Entscheidung für oder wider eine Sache, definierte Richtung und Tempo. Ich registrierte dies durchaus, sah es sogar überdeutlich, und wehrte mich dennoch nicht. Ihrer Dynamik hatte ich wenig entgegenzusetzen. Gelegentlich wallte in mir ein diffuses Gefühl von Unfreiheit auf, aber es wurde immer stärker überlagert von Resignation und Müdigkeit. Schließlich war mir, als könne ich gar nicht mehr allein sein, als würde ich ohne Alexandras Stütze schlicht umkippen.

In der Zwischenzeit war Lennards Beziehung wieder in die Brüche gegangen. Seine nunmehrige Ex hatte bereits das Weite gesucht, er lebte nun allein in der großen Wohnung, saß nach eigenem Bekunden oft einsam in der Küche, wusste nichts mit sich anzufangen. Tatsächlich wirkte er seit einiger Zeit verzagt und sichtbar angegriffen – so kannte man ihn gar nicht. „Mann, wie ich unsere Sessions vermisse“, gestand er mir bei einem unserer rar gewordenen Treffen.

Mir fehlten sie auch, die Diskussionen mit ihm, sehr sogar, aber das behielt ich für mich. Überhaupt wollte ich nicht mehr zu viel Vertraulichkeit zwischen uns aufkommen lassen. Der Grund waren seine ständigen Fragen über die Beziehung zwischen Alexandra und mir. Was genau mich an ihr reizte, wollte er beispielsweise wissen, ob ich sie wirklich erotisch fand und ähnliches mehr. Er meinte es nicht böse, versuchte lediglich meine Motivation in Sachen Frauen zu verstehen, die sich so völlig von seiner eigenen unterschied. Aber sein Wissensdurst brachte mich jedes Mal in äußerste Not; ab einem bestimmten Punkt fühlte ich mich stets festgenagelt, ertappt. Einmal fragte er mich rundheraus, ob ich Alexandra lieben würde. Beim Wort „Liebe“ im Kontext mit Alexandra zuckte ich innerlich zusammen, dann begann ich zu stottern und zu eiern, um den heißen Brei herumzureden, endlose Satzhülsen auszustoßen – es war peinlich, geradezu unwürdig. Wenn ich später an diese Situation zurückdachte, trieb es mir jedes Mal die Schamröte ins Gesicht.

Hätte ich Lennard doch nur mein Herz ausschütten, ihm gestehen können, wie eingeengt ich mich durch Alexandra fühlte! Allerdings wäre bei dieser Art Geständnis auch deutlich geworden, welch jämmerliche Figur ich selbst in dem Spiel abgab: Für ein bisschen Sicherheit verzichtete er auf jegliche Freiheit. Deshalb verkniff ich mir meine Beichte jedes Mal.

Immer mehr verschwand Lennard aus meinem Gesichtskreis. Am ehesten begegnete ich ihm jetzt noch in der Cafeteria Garystraße; einige seiner Seminare wurden an der FU durchgeführt, deren Fachbereich Wirtschaftswissenschaften in der Nähe lag. Meistens saß er allein an einem der Bistrotische, zusammengesunken, den Blick nach unten gerichtet. Wenn wir sprachen, hörte er kaum zu, antwortete nur in kurzen, knappen Sätzen. Er wirkte, als hätte er sich am liebsten verkrochen, versteckt vor der Welt. Konnte das angehen? Er, der immer so gern im Rampenlicht gestanden hatte?

Aber es ließ sich nicht leugnen: Vom selbstbewussten Sonnyboy der Anfangszeit, der überall mitmischte, dem die Frauen zu Füßen lagen, war nicht mehr viel übrig. Mittlerweile dachte ich bei Lennards Anblick – es tat weh, sich das einzugestehen – an einen Schauspieler nach Ende der Vorstellung: Das Licht war erloschen, die Maske gefallen, das einnehmende, verführerische Lächeln des Helden verschwunden. Stattdessen kam eine erschöpfte, von Frust und Zynismus gezeichnete Visage zum Vorschein.

Woher rührte diese drastische Veränderung? Lag es wirklich nur an seiner Freundin, die ihn verlassen hatte? Konnte ein solches Ereignis jemanden derart erschüttern? Noch dazu jemanden wie Lennard? Oder war da mehr im Spiel?

Eines Nachmittags wurde er in der Cafeteria ungewohnt deutlich. Alexandra, meinte er, würde mich total vereinnahmen. Ich solle, verdammt noch mal, den Arsch hoch kriegen und endlich wieder auf eigenen Füßen stehen! Ein Gefühl der Bloßstellung, der totalen Demütigung breitete sich quälend in mir aus. Und sofort kam der Abwehrreflex, wollte ich alles leugnen, in ein anderes Licht stellen – bis ich kapierte: Er hatte schlicht und ergreifend recht. Ich musste endlich selbst wieder aktiv werden, anstatt Alexandra permanent die Initiative zu überlassen. Erst recht jetzt, da es Lennard so dreckig ging. Offenbar belastete ihn seine Trennung ziemlich, da war es doch geradezu meine Pflicht, ihn zu unterstützen, ihm zur Seite zu stehen. Schlagartig wurde mir einiges klar in diesem Augenblick. Nein, ich durfte mich nicht länger meiner Bequemlichkeit überlassen, meiner Angst vor dem Draußen. Der Zeitpunkt war gekommen, Alexandra endlich Kontra zu geben!

Aber was, wenn sie dann Schluss machte? Was kam nach ihr? Sollte ich wieder in meine alte Rolle schlüpfen und den anderen Leuten jemanden vorspielen, der ich nicht war? Geriet ich womöglich in völlige Isolation, wie zu Schulzeiten? Heftiges Frösteln überkam mich bei diesem Gedanken. War es nicht doch klüger, den Mund zu halten, anstatt das Gegebene zu gefährden, es möglicherweise ganz zu verspielen durch Launenhaftigkeit und Eigensinn? Sicher, die Situation hatte ihre Nachteile, aber im Großen und Ganzen…

Lennard schien meine Gedanken zu erraten: Plötzlich sprang er auf, der Stuhl kippte laut polternd hinter ihm um. „Mensch, wie kann man seine Seele verkaufen, bloß um 's warm und gemütlich zu haben?“, brüllte er und starrte mich aus großen, seltsam traurigen Augen an. Seine Lippen zitterten leicht. Dass die Leute an den umliegenden Tischen zu uns herüberschauten, interessierte ihn nicht.

Mir war der Schrecken in die Glieder gefahren. Zusammengefaltet wie ein Schuljunge saß ich dort, stammelnd, nach Worten suchend. Aber sein Gesicht entspannte sich bereits wieder. Ein Mundwinkel zog sich in die Höhe, das altbekannte, überlegene, fast verächtliche Lächeln kehrte zurück. „Wir sehen uns“, meinte er, stellte den Stuhl wieder hin und ging. Sein Tablett mit dem halbvollen Getränk und dem angenagten Snack stand noch auf dem Tisch. Ich dachte, er würde sich vielleicht einen Kaffee holen. Aber er kam nicht mehr zurück.

Natürlich blieben Alexandra und ich zusammen, lebten weiterhin in unserem Schöneberger Refugium, während draußen die Monate hinschwanden. Irgendwann hatten wir unsere Abschlüsse in der Tasche: sie ihr Staatsexamen, ich meinen Magister. Und jetzt? Seit Münsteraner Zeiten hatte ich mich nicht mehr mit Themen wie Karriere und Lebensplanung befasst. Die wenigen Semester BWL zu Beginn des Studiums waren noch ganz auf die berufliche Sphäre ausgerichtet gewesen, aber seit dem Wechsel zur Politologie ging es mir vor allem um Selbstverwirklichung. Und so hatte ich, anders als die meisten meiner Kommilitonen, während der ganzen Studienzeit kein einziges Firmenpraktikum absolviert, kein Volontariat bei irgendeinem Medium, einer Zeitung oder einem Sender. Mit anderen Worten: Ich konnte null Arbeitserfahrung vorweisen, abgesehen von meinem Zivildienst und dem Archiv-Job. Letzterer war übrigens an meinen Studentenstatus geknüpft; mit der Exmatrikulation würden sich dort für mich die Tore schließen. Dementsprechend düster waren die Aussichten. Pflege-Hilfskraft, Taxischein oder Sozialamt – so lauteten meine Optionen.

Lennard hatte ich seit der Szene in der Cafeteria nicht mehr gesehen. Ich vermutete, dass er in seine Diplomarbeit vertieft war und für die Abschlussprüfungen paukte. Umso erstaunter war ich, als eines Tages seine Urlaubskarte eintrudelte. Ein gemeinsamer Bekannter, den ich zufällig traf, erzählte mir von dem Europa-Trip. Sie waren zu fünft durch den Kontinent getourt, hatten auf verschiedenen Mittelmeerinseln Station gemacht und eine entspannte Zeit gehabt. Dann war Lennard völlig unerwartet auf eigene Faust weitergereist. Angeblich hatte ihn eine bestimmte Insel magisch angezogen. Er wollte dort „unentdecktes Land erforschen“ – das waren nach Aussage des Bekannten seine Worte zum Abschied gewesen.

Die nächste Überraschung kam beim Versuch, ihn telefonisch zu erreichen: Seinen Anschluss gab es nicht mehr; die Auskunft konnte mir keine neue Nummer nennen. Seine Ex, die ich auf dem TU-Campus traf, hatte Lennard seit Monaten nicht gesehen, auch sonst wusste niemand, wo er steckte. Was war mit ihm geschehen? „Zu finden, wonach ich schon so lange suche“ – hatte wirklich er das geschrieben? Dazu Wendungen wie „unentdecktes Land erforschen“ – der coole, selbstsichere Lennard und solch gefühliges, fast esoterisches Geschwurbel? Auf einmal wurde mir klar, wie fremd wir uns zuletzt geworden waren. Im Grunde wusste ich nicht mehr viel über ihn. Und daran war ich selbst schuld, hatte ich doch im Lauf der Zeit jegliche Initiative abgegeben und anderen Leuten das Kommando überlassen. Bald würde alles Wichtige, Eigene aus meinem Leben verschwunden sein; die Luft wurde immer dünner.

Und wenn ich selbst auf diese ominöse Insel reiste und versuchte, Lennard aufzustöbern? Die Idee faszinierte mich. Wenn ich ihn erst gefunden hatte, würde vielleicht das alte Gefühl der Zusammengehörigkeit wieder aufleben. Ich musste vergessen, wie es zuletzt zwischen uns gelaufen war, die wachsende Entfremdung, seine Vorwürfe, die Tatsache, dass ich ihm in seiner Krise nicht geholfen hatte. Je länger ich über alles nachdachte, desto größer wurde meine Entschlossenheit. Ich würde ihn um Entschuldigung bitten, alles konnte noch gut werden. Erst jetzt spürte ich, wie sehr mein Gewissen mich quälte, die ganze Zeit schon. Wie bedrückend dieses Gefühl war, ihn in schweren Zeiten allein gelassen zu haben.

Ich ging ins Reisebüro und erkundigte mich nach Flügen, machte mich ernsthaft an die Planung. Warum sollte ich es nicht einfach wagen? Was gab es zu verlieren? Alexandra konnte hier in Berlin gut einige Zeit ohne mich auskommen. Und falls ihr meine Pläne nicht passten, falls sie irgendetwas daran auszusetzen hatte, dann…

Dann kam der Brief aus Hamburg, abgesendet von Alexandras Vater. Dessen Bekannter leitete an der dortigen Universität ein juristisches Forschungsprojekt, hochdotiert und für großes Aufsehen in der internationalen Fachwelt sorgend. Zurzeit suchte er händeringend einen tüchtigen Assistenten oder zur Not auch eine Assistentin.

Als sie mir den Brief zeigte, brachte Alexandra kaum einen zusammenhängenden Satz heraus, so aufgewühlt war sie. Natürlich riet ich ihr, sofort zuzusagen: Diese Super-Gelegenheit dürfe sie keinesfalls ausschlagen, auf mich solle sie dabei keine Rücksicht nehmen, ich käme schon irgendwie zurecht. Insgeheim spekulierte ich darauf, dass sie allein nach Hamburg zog und dadurch gezwungen war, mir meine Freiheit zurückzugeben.

Alexandra, sichtlich bewegt von meiner scheinbaren Selbstlosigkeit, gestand, dass sie das Angebot bereits angenommen hatte. Ich jubelte innerlich schon auf, da erwähnte sie, quasi wie eine Petitesse, dass ihr Vater auch in meiner Sache tätig geworden war: Anstellung als Referent in der Hamburger Staatsbibliothek, Zweijahresvertrag, höherer Dienst, Aussicht auf Entfristung und spätere Verbeamtung. Für sie war es klar, dass wir in jedem Fall zusammenbleiben würden, so oder so.

Welch perfide Situation! Zum ersten Mal seit langem plante ich eine eigene Unternehmung, entwickelte wieder etwas wie Eigeninitiative. Und plötzlich bot sich diese reelle berufliche Perspektive, nach all den Jahren der Ziellosigkeit. Endlich „richtig“ angestellt sein, den Status der ewigen Hilfskraft ablegen, sicheres Gehalt, konkrete Aufstiegschancen…

Während ich die nächste Zeit damit zubrachte, das Für und Wider beider Möglichkeiten abzuwägen, schuf Alexandra eifrig Fakten. Sie beauftragte in Hamburg einen Makler mit der Wohnungssuche, einen Freund der Familie. Für den Möbeltransport engagierte sie ein Umzugskollektiv, das sie über die Rote Hilfe kannte. Ich grübelte und hing fixen Ideen an, sie dagegen studierte Wohnungsexposés und faltete Umzugskartons. Es war, als stünde ich auf einer Eisscholle, die immer weiter schmolz, während Alexandra nebenan im Rettungsboot saß und geduldig wartete, bis ich einsichtig wurde. Schließlich hatten sich meine Argumente verflüchtigt, war die Eisscholle komplett weg. Ich sprang zu ihr ins Boot, das in diesem Fall der Zug nach Hamburg war, und ab ging die Fahrt.

Die Sterne waren verblasst, über der See hellte es sich zusehends auf. Ein weiterer Tag brach an – der 22. meiner Reise. Ich griff erneut nach der vergilbten Karte. Mittlerweile war ich mir sicher, dass sie nicht unter denen gewesen war, die ich gestern in Porto d'Arreccio gesehen hatte. Es musste also noch andere Orte geben, wo man solche Ansichtskarten kaufen konnte…

Dann hatte ich eine gewagte Idee: Konnte Lennard vielleicht noch immer auf der Insel sein? Komplett unsinnig war das nicht: Falls er damals je wieder nach Berlin zurückgekehrt wäre, hätte er mich garantiert angerufen, auch nach meinem Wegzug. Sämtlichen Bekannten hatte ich unsere neue Hamburger Nummer dagelassen, hatte sie ihnen förmlich aufgedrängt. Aber das Telefon war all die Jahre still geblieben. Möglicherweise hatte Lennard sich dauerhaft hier niedergelassen und lebte ein ruhiges, zufriedenes Leben, scherte sich nicht mehr um die Welt dort draußen.

Was sprach dagegen, sich mal ein bisschen genauer umzuschauen? Doch noch jenes Projekt zu starten, das ich damals stillschweigend zu den Akten gelegt hatte? Vielleicht fand ich ja irgendwelche Hinweise oder Spuren…

Und wo sollte ich beginnen? An der Küste bestimmt nicht, so viel schien klar. Ferienorte wie Plage d'Aiola oder Porto d'Arreccio waren wohl kaum gemeint, wenn man verkündete, man wolle „unentdecktes Land erforschen“. Vermutlich hatte Lennard die Touristengebiete verlassen, war ins Innere aufgebrochen.

Dort musste ich nach ihm suchen.

Nest in den Gipfeln

Der Hotelangestellte schob mir die Rechnung über den Tresen. Obwohl erst Dienstag war, musste ich noch bis zum Wochenende bezahlen. So kurzfristig hatten sich keine neuen Gäste mehr finden lassen, jetzt, da die Saison zu Ende ging. Der unnötige Geldabfluss schmerzte, aber von meinem Vorhaben würde er mich nicht mehr abbringen.

Vormittags hatte ich an einem der Hotel-Münzrechner im Internet recherchiert. Einige deutschsprachige Seiten bestätigten die Aussagen meines Reiseführers: Das Innere dieser Insel entvölkerte sich zusehends, vor allem die jungen Leute wanderten ab, in die Touristenzentren der Küste oder ganz aufs Festland, wo es Arbeit gab. Die Inselkarten schienen diese Darstellung zusätzlich zu untermauern: Je weiter von der Küste entfernt, desto geringer wurde die Dichte der Straßen und Ortschaften, bis in der Mitte schließlich grüne und graue Leerflächen das Bild dominierten – eine Art neuer Terra Ingognita bildete sich heraus. Mit dem Exodus der Menschen geriet auch das traditionelle Idiom immer mehr in Vergessenheit; es wurde nur noch in abgelegenen Bergregionen gesprochen, während ansonsten das Französische überwog.

Hinweise auf eine eigenständige Schrift fand ich allerdings keine, weder im Reiseführer noch im Internet. Ich wollte bei anderer Gelegenheit erneut nachforschen, mich zur Not auch durch die fremdsprachigen Seiten kämpfen. Aber dazu brauchte ich mehr Zeit. Mein Französisch war nicht besonders, und ich würde sicher oft nach Vokabeln suchen müssen.

Nachdem ich in Plage d'Aiola meine komplette Schmutzwäsche in eine Expressreinigung gegeben hatte, lief ich zum Ortsausgang, wo sich die Niederlassungen der verschiedenen Autoverleiher befanden. Meine Wahl fiel auf den Anbieter mit dem – laut Eigenwerbung – dichtesten Filialnetz der Insel. Während ich den Mietvertrag für einen Renault Twingo unterschrieb, bestätigte mir der Angestellte mit großer Geste, dass es überall Rückgabe-Stationen gäbe. Dann korrigierte er sich: Überall an der Küste gäbe es welche, genauer gesagt an der Süd- und Westküste. Sie seien alle auf der Rückseite des Vertrages abgedruckt, erklärte er eifrig und hielt das gewendete Papier in den Höhe.

Mein erstes Ziel mit dem frisch erworbenen Fahrzeug war die Reinigung, um dort die Wäsche abzuholen. Dann fuhr ich in den Ortskern, stellte den Wagen in der Kurzparkzone ab und betrat einen der Touristenläden, die sich hier aneinanderreihten. Ich kaufte einen Straßenplan im Maßstab 1:100.000 – genauere gab es leider nicht. Auf dem Rückweg zum Auto überflog ich vor den Läden die Drehsäulen mit Ansichtskarten: Immer nur weiße Strände, imposante Segelyachten, Hotelbunker hinter blauem, bewegtem Meer. Aufnahmen vom Hinterland – Fehlanzeige. Gab es dort jene kahlen, menschenleeren Felslandschaften, wie Lennards Karte sie zeigte? Existierte er wirklich, der einsame, komplett in Wolken gehüllte Berggipfel? Man erfuhr es nicht.

Und nun stand ich am Hoteltresen, den Rucksack auf den Schultern, neben mir den Rollkoffer, und beglich meine Rechnung. In einer Eingebung zog ich Lennards Karte heraus und zeigte sie den Angestellten. Zunächst ratlose Gesichter, dann begannen die drei lautstark auf französisch zu diskutieren. Einer glaubte im ersten Motiv Porto d'Arreccio wiederzuerkennen. Ein anderer widersprach: Es müsse sich um einen Ort im Osten handeln, wo die Insel bislang kaum touristisch erschlossen war. Sie stammten alle vom Festland, arbeiteten nur während der Saison hier. Von einer alten Sprache hätten sie wohl gehört, aber keiner unter ihnen verstand sie.

„Jacques!“, rief einer der drei. Er verschwand im Hinterzimmer und kam mit einem älteren, stoppelbärtigen Arbeiter im Schlepptau zurück. Ich kannte ihn, hatte ihn oft während des morgendlichen Wartens an der Poolbar das Areal fegen sehen. „Jacques ist von hier“, erklärte der Angestellte und sprach in schnellem, für mich unverständlichem Französisch auf den Alten ein.

Der schaute mich an, unsicher lächelnd. Ja, er wäre gebürtiger Insulaner, bestätigte er. Dann murmelte er etwas von „schönen, alten Dörfern und hohen Bergen“, die sich im Innern der Insel befänden.

In meinem rudimentären, lückenhaften Französisch fragte ich ihn nach der alten Sprache.

Sein Blick wurde ernst, fast ein wenig traurig. Sie würde kaum noch gesprochen, erwiderte er leise.

„Und die Buchstaben? Die alte Schrift?“ fragte ich vorsichtig. Das Blut pochte mir in den Schläfen.

Stille. Der Mann schaute zu Boden, sprach nicht weiter.

Einer der Angestellten verlor verlor die Geduld und drückte Jacques die Karte in die Hand. „Kannst du die Texte lesen?“, fragte er und tippte unwirsch auf die Fotos.

Jacques zog eine Brille aus der Brusttasche seiner Arbeitshose, klappte sie umständlich auseinander, setzte sie auf. Als sein Blick wieder auf die Karte fiel, erschrak er deutlich sichtbar. „Woher haben Sie die?“ fragte er leise. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er mich an, die Karte begann zwischen seinen Fingern zu zittern.

„Ein Freund“, meinte ich verwirrt. „Ein Freund hat sie mir geschrieben.“

Er nahm die Brille ab, ohne den Blick von mir zu wenden. So mochte man einen Auserwählten anschauen, aber genauso gut jemanden, der im Begriff war, in sein Verderben zu laufen…

Plötzlich legte er die Karte wieder auf den Tresen und drehte sich weg, rieb sich die Augen. Erneut murmelte er etwas von „schönen Dörfern“ und „hohen Bergen“, dann ging er eilig zurück ins Hinterzimmer.

Die Angestellten schüttelten ihre Köpfe. „Er war schon immer etwas seltsam“, entschuldigte sich einer der drei.



***



Schnurgerade lief vor mir das Asphaltband mit seinen weißen Markierungen in die Ebene hinaus. Nichts verdeckte den Blick, man konnte bis zu den Bergketten am Horizont schauen, während im Rückspiegel die Hochhäuser von Plage d'Aiola allmählich verschwanden.

Aus dem Radio ertönte klassische Musik. Das Schiebedach und alle Seitenfenster waren geöffnet, ich genoss die frische, vom Gewitter gereinigte Luft. Himmel und See leuchteten so blau wie vor Beginn der Hitzeperiode, nichts war mehr zu erahnen von jenem seltsamen, unheilvollen Nebel, der bis gestern dort draußen gehangen hatte. Gestochen scharf zeichnete sich die Meereslinie ab; weiße Schönwetterwolken trieben vom Wasser kommend landeinwärts, als wollten sie mir den Weg weisen.

Ein Schauer durchlief mich, ein prickelndes Gefühl von Aufbruch und Abenteuerlust. Es war eine Fahrt ins Ungewisse, getragen nur von einer diffusen Idee. Irgendetwas wartete im Innern der Insel auf mich, aber ich hatte keine Ahnung, was es sein konnte…

Nach gut zwanzig Minuten Fahrt zeigten sich erste Erhebungen, sanft gerundete Felsbuckel, ähnlich denen, die ich am Vortag für Grabhügel gehalten hatte. Wenig später erschienen grüne Flecken in der ausgetrockneten, staubigen Landschaft – Büsche, Flechten, verkrüppelte Bäumchen. Ihr Wuchs verdichtete sich, Inseln aus Gesträuch entstanden, bildeten Archipele. Bis schließlich alles zu einem großen Pflanzenteppich verschmolz, der die Wüste unter sich zudeckte.

Immer höher warf das Land sich nun auf; die Felsbuckel wuchsen zu Hügelketten mit scharfen Kammlinien, deren bizarre Formen an urzeitliche Reptilien denken ließen. Die Straße wurde kurvig, ich musste das Tempo drosseln. Noch glitzerte das Türkis der See zwischen den Hängen, aber es wirkte bereits sehr fern.

Die Landkarte lag ausgebreitet auf dem Sozius, aber mittlerweile hatte ich es aufgegeben, meinen Weg mitzuverfolgen. Nur wenige Strecken führten zu dem zentralen Gipfelmassiv, das ich erreichen wollte, und mir schien, als hätte ich die Abzweigungen bisher richtig gewählt. Aber letztlich war es egal. Irgendwo würde ich schon ankommen, notfalls wieder an der Küste – immerhin war dies eine Insel.

Autos begegneten mir nur selten. In der Regel waren es alte, klapprige Kisten, deren Fabrikate ich nicht kannte und die mir in den Touristengegenden, hätte ich sie dort gesehen, bestimmt aufgefallen wären. Aber die meiste Zeit blieb es völlig einsam.

Schließlich ragte die Bergwelt des Innern wie eine massive, grün überwucherte Wand vor mir auf. Der Bewuchs entpuppte sich irgendwann als Wald: Nadelbäume standen dort dicht und kompakt, wie in den Mittelgebirgen meiner Heimatregion. Aber sie wollten partout nicht näherrücken, die bewaldeten Höhen. Ich fuhr und fuhr, sah die Straßenmarkierungen endlos vorbeiziehen, passierte Myriaden von Kurven – und hatte dennoch das Gefühl, mich kaum vom Fleck zu rühren. Unbewegt schienen die grünen Riesen, hochmütig, schroff, abweisend. Sie ließen mich nicht herankommen.

Meine Gedanken begannen abzuschweifen; Assoziationsketten bildeten und verzweigten sich. Szenerien erschienen vor meinem inneren Auge, Momentaufnahmen von früher, alte, verblasste Schnappschüsse, verwackelte Clips meines Lebens, meiner Vergangenheit… Alexandra und ich, unser Wegzug aus Berlin… das Ankommen in Hamburg. Wie war es damals mit uns weitergegangen?



***



Unsere neue Wohnung befand sich im mondänen Harvestehude. Trotz des allgegenwärtigen, unsympathischen Reichtums ein idealer Standort: Die juristische Fakultät lag gleich um die Ecke, bis zur Staatsbibliothek war es ebenfalls nicht weit. Alexandra ging in ihrer neuen Tätigkeit vollkommen auf; für sie gab es bald noch „das Institut“. Lang und ausschweifend erzählte sie mir abends von ihrer Arbeit, den vielen aufregenden Dingen, die sich tagsüber ereignet hatten. Ihr Forschungsprojekt wurde von den Stiftungen irgendwelcher Großunternehmen mitfinanziert, weshalb offenbar viel Geld zur Verfügung stand. Permanent waren internationale Koryphäen zu Gast, aus Forschung, Rechtsprechung und Politik. Einmal hielt sogar der Bundesjustizminister höchstselbst einen Vortrag.

Meine Arbeit war weniger spannend. Sie bestand überwiegend aus Verwaltungstätigkeiten, alles ging seinen trägen, sozialistischen Gang. Man machte Dienst nach Vorschrift, hangelte sich von Pause zu Pause. Es gab deren drei mit insgesamt gut 90 Minuten Länge, wobei nur die halbstündige Mittagspause offiziell war. Pünktlich zum Feierabend wurde der Stift fallengelassen. Kurz und gut: Es war der perfekte Job für Leute, die sich vorhersehbare, gleichförmige und vor allem stressfreie Tagesabläufe wünschten.

Für Leute wie mich also. Und doch spürte ich bereits nach einigen Monaten gähnende, klebrige Langeweile aufkommen. Beim Gedanken, mein Dasein bis zur Pension auf diese Weise fristen zu müssen, wurde mir zusehends unbehaglicher. Aber sobald am Monatsende der Kontoauszug kam und ich den sprunghaften Anstieg des Guthabens sah, schwanden alle Vorbehalte. Und ich hatte mich immer für nicht käuflich gehalten…

Auch im Privaten warfen Alexandra und ich unsere Maxime, unangepasst zu bleiben, jetzt über Bord. Da war zunächst diese absurd große Wohnung. Altbau, 150 qm, die Decken fast vier Meter hoch. Alexandra wollte sich nicht länger „einschränken“, sondern endlich leben, wie es ihrer Position zukam. Zumal ihr Vater einen Gutteil der horrenden Miete übernahm. Außerdem gab es ab sofort Wohn-, Ess- und Schlafzimmer. „Wenn schon bürgerlich, dann richtig“, scherzte Alexandra. Die Einrichtung war vom Feinsten und verschlang ein hübsches Sümmchen, natürlich ebenfalls berappt vom Familienpatriarchen. Diverse Dinge wären mir eingefallen, die man Sinnvolleres mit diesem Geld hätte anstellen können.

Ihre feministischen und politischen Aktivitäten hängte Alexandra in Hamburg komplett an den Nagel. Angeblich, weil ihr die Zeit fehlte. Aber irgendwann hörte ich, wie sie einer Freundin am Telefon erzählte, derartiges sei „nicht gut für die Karriere“ und „die Kollegen hätten dafür kein Verständnis“. Ich war geschockt. Sie, die aufrechte Linksaktivistin, die Sozialrevolutionärin – und solche Reden? Ich musste mich verhört oder etwas falsch verstanden haben. Leider traf weder das eine noch das andere zu, aber das sollte ich erst später erfahren.

Mein Wahrnehmungsvermögen war spätestens seit dem Umzug merkwürdig eingeschränkt und langsam: Ich brauchte Ewigkeiten, um Gesagtes oder Gelesenes zu verarbeiten und darauf zu reagieren, Entscheidungen zu fällen, aktiv zu werden. Die stumpfsinnige Atmosphäre im Job verschlimmerte die Situation noch. Wobei Lethargie und Desinteresse dort kein Problem darstellten, im Gegenteil: Wer im Büro durch Arbeitseifer oder sonstiges Engagement auffiel, vom Pausenschwatz abgesehen, zog sich schnell den Unmut der Kollegen zu. Aber auch nach Dienstschluss war mir längst jegliche jegliche geistige Regsamkeit abhanden gekommen – wozu abends noch die Zeitung durcharbeiten, sich durch komplizierte Sachbücher quälen, langatmige Romane lesen? Der Kopf war leer, allein Fernsehen versprach Abhilfe. Buntes, kurzweiliges, anspruchsloses TV-Futter wie Serien, Reisesendungen, vielleicht noch mal die Nachrichten oder irgendeine Talkshow – mehr ging nicht mehr.

Und so wurde das vierte Zimmer unserer Wohnung, eigentlich als gemeinsamer Arbeitsraum gedacht, schlussendlich nur von Alexandra genutzt. Irgendwo mussten die Berge von Literatur ja bleiben, die sich im Laufe ihrer Dissertation ansammelten. Ich hatte Angst, dort alles durcheinander zu bringen, und betrat den Raum bald gar nicht mehr, beschränkte mich auf Schlafzimmer, Küche und mein Fernsehplätzchen im Wohnzimmer. Auf diese Weise vermied ich unnötigen Ärger, hatte meine Ruhe.

Wenigstens schafften wir es in den ersten Monaten noch, einigermaßen aktiv zu bleiben. So gingen wir samstags immer zum Markt an der Isestraße, anschließend kochten wir gemeinsam. Auch zu kulturellen Veranstaltungen, Lesungen, Kino, Theater, rafften wir uns gelegentlich auf. Aber irgendwann war es mit alldem vorbei. An den Wochenenden ließen wir uns das Essen jetzt nach Hause liefern, abends fläzten wir uns auf die Sofa-Landschaft und griffen zur Fernbedienung.

Während der Kasten vor sich hinquakte, führten wir sinnlose Dispute, zum Beispiel darüber, ob Werbung Kunst sei. Alexandra bejahte dies zuerst mit Nachdruck, während ich energisch dagegen argumentierte; später war es dann genau umgekehrt. Aber im Grunde spielte das Diskussionsthema keine Rolle; es ging um das Reden an sich. Wir hatten beide instinktiv Angst davor, in Schweigen zu verfallen, uns in eines dieser typischen Paare zu verwandeln, die jegliche Kommunikation eingestellt hatten, nur noch stumm nebeneinander hockten und wie bleiche Zombies auf die Mattscheibe starrten. Natürlich waren wir von diesem Zustand nicht mehr allzu weit entfernt, da machte ich mir nichts vor. Alexandra vermutlich auch nicht. Aber wir vermieden es beide tunlichst, darüber zu reden, die traurige Wahrheit laut auszusprechen.

Als in Berlin die Mauer fiel, überlegten wir, unserer alten Heimat einen Besuch abzustatten und die Zeitenwende live mitzuerleben. Immerhin hatte ich mal Politologie und Geschichte studiert. Dann aber konnten wir uns doch nicht aufraffen. Diese Bierseligkeit!, sagten wir uns. Diese komischen Ossis in ihren billigen Jacken und schlecht sitzenden Hosen, dazu ihre Trabbis und Wartburgs, umwölkt von blauem Zweitakterqualm! In Wahrheit war das eine faule Ausrede. Was wir im Fernsehen sahen, erinnerte so gar nicht mehr an unser ruhiges, mauer-geschütztes Berlin. Da entstand gerade etwas Neues, Fremdes, das uns nichts mehr anging, oder vielmehr: das uns Angst machte. Und so zogen wir es vor, das Ende des Eisernen Vorhangs, des Kalten Krieges auf der heimischen Couch in der Glotze zu verfolgen.

Die von Fehrens feierten gern opulente Feste in ihrer stattlichen, an der Außenalster gelegenen Villa. Es gab Dinners an Geburtstagen, eine alljährliche Gartenparty sowie das große Familientreffen an jedem ersten Weihnachtstag. Zu Berliner Zeiten hatte Alexandra diese Feiern meistens geschwänzt, sich herausgeredet mit der Arbeit fürs Studium, der langen, umständlichen Fahrt. Nun, da wir gerade mal einige Minuten von der elterlichen Villa entfernt wohnten, ging das natürlich nicht mehr. Wir mussten das Spiel mitspielen und unseren Teil dazu beitragen, der Außenwelt das Bild einer intakten Großbürger-Familie zu liefern. Ich hatte Alexandra selbstverständlich zu begleiten, immerhin war ich ihr Lebensgefährte, fast so etwas wie der Verlobte. Nebenbei saß ich auf einem Posten, den mir Herr von Fehren verschafft hatte…

Diese Veranstaltungen waren für mich stets ein Graus. Verloren stand ich inmitten all der feinen Herrschaften und versuchte, einen guten Eindruck zu machen. Betete innerlich, die passenden Worte zu finden, wenn ich angesprochen wurde. Hoffte, dass man nicht merkte, wie unwohl ich mich im Anzug fühlte, wie fremd mir dieses Upperclass-Milieu mit seinem Gehabe war. Und atmete jedes Mal auf, wenn endlich alles hinter mir lag.

Sehr selten erwachte ich aus meinem Tiefschlaf, wurde mir plötzlich wie in einem Gedankenblitz die Fragwürdigkeit meiner jetzigen Lebensführung bewusst. Unsere riesige Wohnung, das teure, bürgerlich-spießige Viertel und die Familienfeiern, mein trostloser Beamtenjob – was unterschied mich eigentlich noch von jenen Leuten, die ich früher immer verachtet hatte? Und doch schaffte ich es nie, den Gang der Dinge zu verändern; es war, als würden die Umstände mich beherrschen. Stromschnellen hatten mich erfasst und taten mit mir, was sie wollten; ich war dem Spiel der Elemente ausgeliefert.

Anfangs war ich immer per Bus zur Arbeit gefahren, aber inzwischen hatte ich das Zu-Fuß-Gehen für mich entdeckt. Das Langsame dieser Fortbewegungsweise entsprach meiner inneren Wahrnehmung. Wenn ich abends auf dem Rückweg von der Staatsbibliothek meinen Gedanken nachhängen konnte, überkam mich immer ein Gefühl tiefen Friedens, das ich längst nicht mehr missen wollte. Ich gewöhnte mir an, auf Umwegen nach Hause zu laufen. Erst waren es scheinbar zufällige Schlenker, die sich aber immer mehr zu Spaziergängen ausdehnten, durch unser Viertel bis zur Krugkoppelbrücke, bei gutem Wetter weiter bis Winterhude oder Ohlsdorf. An solchen Tagen kehrte ich erst spät nach Hause zurück, manchmal sogar später als Alexandra. Dann musste ich mich mit unverhofften Überstunden herausreden, mit hoher Arbeitsbelastung und ähnlichem. Innerlich konnte ich mir dabei ein Lachen nicht verkneifen: Mein Job und hohes Arbeitsaufkommen – welch paradoxe, geradezu absurde Kombination!

Alexandra begann sich zu verändern; Eigenschaften traten zutage, die ich früher nie an ihr bemerkt hatte. So empfand sie inzwischen jede kleine Unstimmigkeit zwischen uns, jede Gegenrede, die ich zu tun wagte, als persönlichen Angriff. Schlagartig gefror ihr Gesicht zu einer wächsernen Maske, die Lippen wurden zu schmalen, harten Strichen, die Nase trat spitz hervor. Die Augen weiteten sich in scheinbar grenzenlosem Entsetzen, um kurz darauf in Tränen zu schwimmen. Schließlich drehte sie sich brüsk weg und suchte das Weite. In der Regel schloss sie sich in ihrem Arbeitszimmer ein, kam Ewigkeiten nicht heraus, sprach auch anschließend lange kein Wörtchen mit mir. Wenn sie endlich aus ihrer Erstarrung erwachte, fielen wir uns in die Arme und gelobten feierlich Frieden. Kurz darauf ging alles von Neuem los.

Ich versuchte alles zu vermeiden, was sie hätte reizen können. Meistens erfolglos; je mehr ich mich bemühte, desto empfindlicher wurde sie. Lag es am Stress im Institut? Tatsächlich arbeitete sie inzwischen wie eine Irre, trotzdem schien es nie genug zu sein, immer wollten sie noch mehr von ihr. So jedenfalls erzählte es Alexandra. Hinzu kam der Druck von ihren Eltern, die wiederholt durchblicken ließen, dass alles andere als eine Promotion „cum laude“ ein Affront für sie sein würde, ein Beschmutzen des Familiennamens.

Schließlich musste ich einsehen, Alexandra völlig falsch eingeschätzt zu haben. Sie war nie die selbstlose Aktivistin gewesen, als die sie in Berlin immer hatte erscheinen wollen. Jegliches Engagement, ob politisch-gesellschaftlich oder beruflich, diente ihr lediglich als Vehikel, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Beachtung, Zuwendung – daran litt sie verzweifelten, schier unstillbaren Mangel. Wenn die jeweilige Methode sich als ungeeignet herausstellte, ebendiesen Mangel zu beseitigen, wurde eine andere gewählt, zur Not auch eine Kehrtwende um 180 Grad vollzogen. In Berlin hatte Alexandra alle Energie und Leidenschaft in die Arbeit bei der Roten Hilfe gelegt. Jetzt stand die berufliche Etablierung im Fokus, und was hierfür nicht opportun war, wie zum Beispiel links-politisches Engagement, musste eliminiert werden, da durfte man nicht zimperlich sein oder gar sentimental. Ich hatte mich beim Belauschen des Telefonats mit ihrer Freundin also nicht verhört: Alexandra hatte alles genauso gesagt und gemeint.

Auch mein Albtraum begann in dieser Phase. Zunächst hatte ich ihn bloß selten und unregelmäßig, im Lauf der nächsten Monate aber verkürzten sich die Intervalle, bis er schließlich fast jede Nacht seine beklemmenden Bilder schickte: die leere, von bleichem Mondlicht erhellte Hochebene, der Flüchtende, die ekelhaften Spinnenwesen – es war entsetzlich. Was hatte es damit nur auf sich? Welchen Bezug gab es zwischen dem Fliehenden und meinem eigenen Leben?

Endlich kam der Zeitpunkt, da Alexandra ihre Promotion abschloss, gottlob „cum laude“. Das Ereignis wurde gebührend begangen, in einem der altehrwürdigen Ruderclubs an der Außenalster. Herr von Fehren hatte so ziemlich die gesamte feine Hamburger Gesellschaft eingeladen: erfolgreiche Unternehmer, Zeitungsverleger, bekannte Wissenschaftler – alles war vertreten. Im Laufe des Abends präsentierte er, sichtlich stolz, sein Geschenk für Alexandra: ein Haus im Familienbesitz, in dem sie auf unbegrenzte Zeit mietfrei wohnen durfte. Es lag in Elmshorn, einem Vorort nordwestlich von Hamburg. Alexandras Großtante, die bislang dort gelebt hatte, war kürzlich in ein Seniorenstift übergesiedelt.

Im ersten Moment glaubte ich an einen Scherz. Vorort – schon bei diesem Wort spürte ich Beklemmungen. Alexandras Reaktion jedoch löste einen regelrechten Schock bei mir aus: Sie fiel ihrem Vater glücklich um den Hals.

Geistesgegenwärtig schluckte ich meine Bestürzung hinunter, machte gute Miene zum bösen Spiel. Am nächsten Tag besprach ich das Thema in Ruhe mit Alexandra: Sie würde bereits seit längerem über Kinder nachdenken, eröffnete sie mir. Jetzt, nach erfolgreich abgeschlossener Promotion, sollte ihr Traum endlich Realität werden, da käme das Elmshorner Haus doch gerade recht. Sie zeigte sich aufrichtig überrascht, dass ich nicht längst ähnliche Gedanken gehabt hatte.

Nachwuchs – bislang für mich bloß ein Wort, ohne Bedeutung für mein eigenes Leben. Und nun nahm meine Partnerin es allen Ernstes in den Mund. Mehr noch: Sie wollte den Reden schnellstmöglich Taten folgen lassen.

Weiß der Teufel, was den Umschwung meiner Gefühle bewirkte. Vielleicht lag es an den Rückmeldungen, die ich im Dienst bekam. „Logische Konsequenz“, meinte mein Schreibtischnachbar, als ich ihm von Alexandras Wünschen erzählte. Die Neuigkeit machte per Flurfunk rasch die Runde. Unser Referatsleiter vertraute mir an, dass die Geburt seines Sohnes der zuletzt schwächelnden Ehe frischen Schwung verliehen habe. Eine Kollegin wollte entzückt wissen, wann denn geheiratet würde, und konnte mir sogleich eine fähige Hochzeitsplanerin empfehlen. „Da wird euer Fest zum echten Event“, versprach sie mir. Jedenfalls fand ich den Gedanken an Kinder bald nicht mehr ganz so grotesk. Warum sollten wir vom üblichen Muster abweichen? Und vielleicht war Nachwuchs ja wirklich das Mittel der Wahl, die Beziehung zwischen Alexandra und mir neu zu beleben?

Nach drei Jahren Harvestehude zogen wir also vor die Tore der Stadt. Das Haus war in den Zwanzigern erbaut worden, aber Herr von Fehren hatte es nach modernen Gesichtspunkten renovieren und einrichten lassen. Ergänzt mit unseren eigenen Möbeln kam ein gediegenes Anwesen zustande. Die Bahnanbindung war hervorragend; ich brauchte jetzt eine halbe Stunde zur Arbeit, Alexandra nur wenige Minuten mehr. Wir nahmen morgens gemeinsam den Zug, stiegen am Dammtor-Bahnhof aus und gingen nach einer kurzen Umarmung unserer Wege.

Abends fuhr ich in der Regel allein zurück. Ich verlegte meine Feierabendspaziergänge einfach in die neue Umgebung, stieg bereits vor Elmshorn aus, in Tornesch oder Prisdorf. Durchquerte die Vororte, marschierte durch die Feldmark, genoss Stille und Grün. Im Großen und Ganzen war ich zufrieden. Mit der Entfristung meiner Planstelle hatte es tatsächlich geklappt, seit einigen Monaten durfte ich mich 'Beamter' nennen. Angeblich hatte ich sogar Aussichten auf den Posten eines stellvertretenden Referatsleiters, nicht recht wissend, was mich dafür eigentlich qualifizierte.

Alexandra, nunmehr frisch gebackene Frau Dr. von Fehren, arbeitete weiterhin in ihrem alten Forschungsprojekt, strebte jetzt die Habilitation an. Für sie lief alles nach Plan: Ihre Karriere machte Fortschritte, die Einkünfte stimmten, ein fester Lebenspartner war vorhanden, genauso das repräsentative, kindertaugliche Eigenheim im Grünen. Und nach dem Mutterschaftsurlaub würde sie in ihrem Projekt weiterarbeiten können.

Bloß der Nachwuchs ließ auf sich warten. Wir taten alles dafür: Die Pille war seit längerem abgesetzt, und wir schliefen so oft miteinander wie seit Berlin nicht mehr – vergebens. Die Nachfragen von Alexandras Eltern häuften sich, wann es endlich so weit wäre mit dem Stammhalter; für den Anfang würde es auch ein Töchterchen tun. Natürlich war das scherzhaft gemeint, trotzdem fingen Alexandras Anfälle von Neuem an. Der kleinste Anlass genügte, ein Zwist, eine Meinungsverschiedenheit, und wieder erstarrte der Blick, wurde das Gesicht weiß, füllten die Augen sich mit Tränen. Oft kamen jetzt Weinkrämpfe hinzu, an besonders schlimmen Tagen Schreianfälle. Ich war jedes Mal erschüttert und versuchte nach Kräften, sie zu beruhigen, ihr alles recht zu machen, sie in Watte zu packen. Meine größte Sorge war, dass die Nachbarn etwas mitbekamen, womöglich die Polizei riefen.

Kurz darauf begannen ihre Verdächtigungen: Dass ich plante, sie zu verlassen, weil ich eine andere gefunden hätte. Dass ich mich hätte sterilisieren lassen, weil ich kein Kind mit ihr wolle. Einmal ertappte ich sie beim Durchwühlen meiner Papiere; offenbar suchte sie nach einem Liebesbrief oder einem anderen kompromittierenden Gegenstand.

Schließlich eskalierte die Situation. Nach einem ihrer üblichen Anfälle drehte Alexandra völlig durch; sie zitterte am ganzen Körper, schien kurz vor einer Ohnmacht. In meiner Ratlosigkeit rief ich ein Taxi und fuhr mit ihr in die Notaufnahme der Uni-Klinik Eppendorf. Dort ließ sie sich vom diensthabenden Arzt überzeugen, dass eine Einweisung in die Psychiatrie das Beste für sie wäre. Sie blieb dann gleich dort.

Die Phase ihrer Abwesenheit entwickelte sich – ich wagte kaum, es mir einzugestehen – zur angenehmsten Zeit seit langem. Ich belebte vergessene Aktivitäten neu: ins Kino gehen, nach Feierabend mal ein Bier trinken. Leider musste ich alles allein unternehmen. Einen Bekanntenkreis hatte ich mir in Hamburg nie aufgebaut, und die Kollegen waren mir in ihrer biederen Beamtenmentalität letztlich immer fremd geblieben. Dennoch genoss ich das Gefühl ungewohnter Freiheit. Auch mit dem Lesen begann ich wieder. Poe, Lovecraft, Meyrink, Kafka – wie hatte ich die ganze Zeit auf ihre Werke verzichten können? Es schien, als wären alte Freunde zu mir zurückgekehrt. Den gefürchteten Albtraum hatte ich während dieser Zeit nicht ein einziges Mal.

Die Besuche in der Klinik hingegen empfand ich stets als unangenehme Pflichtübungen. Aber Alexandra schien ihrerseits ungewohnt wortkarg und kühl. Ihre Freude, mich zu sehen, wirkte bloß gespielt. Ich hatte immer das starke Gefühl, sie zu stören, mit meiner Anwesenheit zu nerven, obwohl sie das, einmal von mir darauf angesprochen, vehement verneinte.

Eines Nachts lag ich lange wach. Es war sehr still, nur selten fuhr ein Auto die Straße entlang. Ich betrachtete die leere Hälfte des Doppelbettes, die Gedanken strömten ungewohnt klar auf mich ein. Und endlich wagte ich in Worte zu fassen, was ich eigentlich vom ersten Moment an gewusst hatte: Ich liebte Alexandra nicht. Jenes Gefühl von Respekt und Sympathie, das ich ihr stets entgegengebracht hatte, war genau das: ein Gefühl von Respekt und Sympathie, nicht weniger, aber eben auch nicht mehr. Von Liebe keine Spur. Ich wusste gar nicht, wie das ging – lieben. Alexandras Gefühle waren bei mir immer ins Leere gelaufen, in einem Schwarzen Loch verschwunden; nie hatte sie etwas zurückbekommen.

Aber war es Liebe, was sie ihrerseits empfand? Und war wirklich ich es, dem ihre Zuneigung galt?Oder hatte sie sich aus meiner Person ein Bild geformt, das ihren Bedürfnissen und Ansprüchen genügte? Irgendwann hatte sie mal gesagt, ich wäre so, wie sie sich ihren Vater immer gewünscht hätte: einfühlsam, nachdenklich, leise und dennoch eigensinnig. Stellte ich möglicherweise etwas wie einen Vaterersatz für sie dar?

„Zweck-Beziehung“ war wohl der passende Terminus für das, was wir führten. Wir benutzten einander, gaben uns gegenseitig das, was wir benötigten: Nähe, Austausch, Zärtlichkeit. Aber eigentlich lebte jeder von uns in seinem eigenen Kosmos. Vermutlich lief das in vielen Partnerschaften so. „Liebe“ – dieses Konzept passte überhaupt nicht mehr in die heutige Zeit, aller Verklärung in Filmen, Romanen, Serien zum Trotz. Das Ego war alles, während Zwischenmenschliches, Gemeinschaftliches immer unwichtiger wurde. Beziehungen, Freundschaften, ganze Gesellschaften und politische Systeme – all das löste sich ja zusehends auf.

Beklemmung packte mich, als ich dort lag und meinen Überlegungen nachhing. Von irgendwo kam plötzlich eisige Kälte heran, ich fror erbärmlich, mir klapperten die Zähne. Und doch wollte ich den Gedankengang jetzt zu Ende führen.

Wollte ich ewig weiterleben in dieser Scheinwelt, bloß weil ich Angst vorm Alleinsein hatte? Nein, der Zeitpunkt war gekommen, endlich reinen Tisch zu machen. Ich musste Alexandra verlassen, ganz neu anfangen. Aber was genau würde ich ihr sagen? Und vor allem: Was kam dann? Wo sollte ich hin? Bei dieser Frage spürte ich nur eine große Leere.

Obwohl ich mich fest in die Bettdecke gewickelt hatte, wurde mein Frieren immer stärker. Unerbittlich drang die Kälte zu mir vor – es war die Kälte des Weltraums. Irgendwann gab ich es auf, drehte mich erschöpft zur Seite und überließ mich dem Schlaf.

Nach ihrer Rückkehr stürzte Alexandra sich sofort wieder in die Arbeit. Sie brach morgens früh auf und kehrte oft erst mit der letzten Bahn zurück. Auch samstags fuhr sie jetzt häufig ins Institut. Sie sprach nur wenig, brachte mir nach wie vor jene Kühle und Reserviertheit entgegen, die ich bereits in der Klinik gespürt hatte. Waren auch ihr in der Zwischenzeit einige Dinge klargeworden? Ich ahnte, dass sie etwas im Schilde führte und zog mich innerlich zusammen, machte mich bereit für den tödlichen Schlag.

Mehrere Wochen verstrichen. Eines Sonntagmorgens, während des Frühstücks, eröffnete Alexandra mir in dürren Worten, dass sie nach Paris gehen würde. Ihr Mentor sollte dort die Leitung eines Forschungsprojektes bei der OECD übernehmen und hatte ihr angeboten, ihn als seine Assistentin zu begleiten. Ihre Habilitation würde sie dort abschließen können. Sie hatte bereits zugesagt; in anderthalb Monaten ging es los.

Da war sie, die erwartete Attacke. Und sie war erfolgreich, traf mich ins Mark. Die Art, wie Alexandra alles Gemeinsame kurzerhand für beendet erklärte, es mit einem Fingerschnippen einfach auflöste, ohne vorheriges Gespräch, ohne jegliche Behutsamkeit, erschütterte mich zutiefst. Und ich wurde den Eindruck nicht los, dass sie es genoss.

Wie ging es jetzt weiter? Sollte ich das Haus behalten? Finanziell wäre das sicher drin gewesen. Beim Einzug hatten wir nur wenig investiert, uns nicht verschuldet wie so viele andere angehende Familien. Die Miete, die wir pro forma an Alexandras Eltern zahlten, war lächerlich. Und mittlerweile war ich Beamter mit sicherem Einkommen bis zur Pension. Andererseits: Wollte ich nach Alexandras Weggang ernsthaft noch vom Wohlwollen der von Fehrens abhängig sein?

Also ausziehen. Und wohin? In Hamburg kannte ich nach wie vor niemanden, zudem löste die Stadt ungute Gefühle in mir aus; ich assoziierte damit vor allem Harvestehude, Außenalster, Reichtum. Sollte ich vielleicht wieder nach Berlin gehen? Andererseits hatte ich hier meinen Job, war versorgt… kurzum: Ich schaffte es nicht, zu einer Entscheidung zu gelangen, geschweige denn irgendeine Aktivität zu entwickeln. Die alte Lähmung, die ich schon so lange spürte, verhinderte wieder einmal jedes Handeln; hinzu kam jetzt noch der Schock durch Alexandras Eröffnung. Aber die Zeit drängte, ich stand mit dem Rücken zur Wand, irgendetwas musste geschehen. Schließlich nahm ich meine letzte Kraft zusammen und sah mich in der Nachbarschaft nach einer neuen Bleibe um. Prompt wurde ich fündig: eine Zweizimmerwohnung in einem unauffälligen 60er-Jahre-Bau, günstig in der Nähe des Elmshorner Bahnhofs gelegen, Miete erschwinglich. Und tatsächlich erhielt ich den Zuschlag.

Alexandra und ich wollten es jetzt zivilisiert zu Ende bringen. Sie half mir bei Renovierung und Umzug, auch die Aufteilung der Möbel verlief ohne Probleme. Wobei sie es sich nicht verkneifen konnte, immer wieder über meine neue Bleibe abzulästern: „Was für ein biederer Kasten. Und hier willst du wirklich wohnen? Du hättest lieber noch ein bisschen suchen sollen, anstatt gleich das nächstbeste Angebot anzunehmen.“ Verglichen mit unseren mondänen Behausungen der letzten Jahre war meine neue Wohnung wirklich unspektakulär, aber zu mehr langte es bei mir derzeit halt nicht.

Schließlich war es soweit: Nach zwei Jahren im Eigenheim bezog ich wieder eine Mietwohnung. Alexandra verbrachte die restliche Zeit bis zu ihrer Abreise in der elterlichen Villa. Eines Morgens standen wir zusammen am S-Bahn-Gleis des Dammtor-Bahnhofs. Mir wurde in diesen letzten Minuten flau im Bauch. Acht Jahre mit ihr gingen zu Ende, und allen Problemen zum Trotz: Es waren gemeinsame Jahre gewesen. Von nun an würde ich allein sein. Die Bahn Richtung Flughafen fuhr ein, ich half ihr mit dem Gepäck. Eine letzte Umarmung, die Türen schlossen sich, der Zug rauschte davon. Es war vorbei…



***



Der Motor des Twingo summte wie eine Nähmaschine, unaufhörlich zogen die Straßenmarkierungen vorüber. Ein kurzer Blick auf die Tankanzeige – fast keine Veränderung. Vermutlich würde die Füllung noch tagelang reichen.

Die grüne Bergwand schien nach wie vor weit weg zu sein. Aber das täuschte, wie ich kurze Zeit später feststellte: Hinter einer Kurve öffnete sich ein Tunnel, schlagartig wurde es finster, die Radiomusik erstarb. Als ich wieder ins Freie kam, war die Ebene verschwunden; ringsum krallten sich jetzt Nadelbäume in den steil abfallenden Waldboden. Ein Dach aus Tannenzweigen verbarg den Himmel, ließ nur einzelne Sonnenstrahlen durch. Die Musik kehrte zurück, aber deutlich schwächer als zuvor.

Ich hatte es geschafft, war endlich in den Bergen! Die Straße lief in Serpentinen nach oben, vom Absturz nur durch eine niedrige Steinmauer geschützt. Von Zeit zu Zeit öffnete sich der Blick auf einsame Täler, deren Grund tief unter mir lag. Meistens sah ich dort nur sonnenverbrannte, ausgedörrte Erde, aber dann und wann auch schattiges, frisches Grün mit einigen versprengten Häusern darin, kleinen Weilern, die man nicht Dorf nennen konnte.

Je höher ich kletterte, desto kümmerlicher und verkrüppelter wuchsen die Bäume. Als es kühler wurde, schloss ich Dach und Wagenfenster. Irgendwann ging der Wald endgültig in Grasland über. Aber auch dieses zeigte schnell Lücken, immer größere Flecken blanken Gesteins leuchteten in der Sonne. Schließlich erreichte ich eine Hochebene, die Straße wurde zum Pass. Eine öde Landschaft aus Sand und Geröll umgab mich, verkarstete, gleißend helle Flächen zogen langsam vorüber. Dann war die Höhe überwunden, und der Blick auf ein neues, noch entlegeneres Tal öffnete sich.

So ging das Stunde um Stunde. Mein Klassik-Sender war längst verschwunden; permanent stellte der automatische Suchlauf neue Stationen ein, verlor sie wieder, suchte von neuem. Schließlich verstummte die Musik, erstarben auch die Stimmen; nur eintöniges Rauschen kam noch aus den Lautsprechern – die Leere des Äthers. Bis ich das Radio ganz ausdrehte.

Vor meinem geistigen Auge begannen erneut Filme abzulaufen; Gedankenketten entstanden. Sie brachten das Gestern zurück, ließen es erneut Gegenwart werden… wieder sah ich Alexandra in den Zug steigen, hörte das Einrasten der Türen, das Quietschen der Räder, als die Bahn davonfuhr. Und ich sah mich selbst, allein in meiner Elmshorner Wohnung, voller Sehnsucht und zugleich unfähig zu irgendeiner Art von Aktivität…



***



Nach Alexandras Weggang blieb ich wie erstarrt. Leute kennenlernen, etwas unternehmen, neue Hobbys entwickeln – nichts von alldem geschah, die Paralyse wollte nicht weichen. Einzig die Bücher gaben mir noch ein Gefühl von Lebendigkeit und innerem Halt, ebenso meine Spaziergänge nach Dienstschluss.

Statt draußen in der Natur wanderte ich jetzt lieber durch die Siedlungen rund um meine Wohnung. Abend für Abend schlich ich umher und starrte in die beleuchteten Fenster der Einfamilienhäuser, beobachtete, wie die Menschen in ihrem trauten Kreis agierten, erfreute mich an den makellosen, bis ins Detail arrangierten Wohnwelten. Vor allem ein bestimmtes Haus zog mich immer wieder an. Es hatte lange Zeit leer gestanden, aber bald nach Alexandras Abreise waren dort neue Leute eingezogen, ein junges Paar mit Töchterchen. Abends sah man die drei am Küchentisch sitzen, umgeben von Designermöbeln. So ungefähr hatte Alexandra es sich wohl ausgemalt, und ich musste zugeben, dass es toll aussah, harmonisch, fehlerfrei…

Die Jahre verstrichen. In jedem Frühling wurden die Sträucher der Vorgärten mit Osterschmuck behängt. Wenig später begannen überall die Rasenmäher zu knattern, es gab Grillpartys und Gartenfeste. Im Herbst hörte man allseits das Scharren der Rechen und, als Laubbläser in Mode kamen, das Heulen dieser nervtötenden Maschinen. Kaminduft erfüllte jetzt die Luft; bald darauf glitzerten die ersten Weihnachtsdekorationen in den Fenstern. Und schließlich war ein weiteres Jahr vorüber.

Arbeitskollegen heirateten, bekamen Nachwuchs, feierten Dienstjubiläen, wurden pensioniert. An der Pinnwand im Gemeinschaftsraum zeugten diverse Urlaubskarten von der Vielfalt des Planeten, wobei die Reiseziele mit der Zeit immer exotischer zu werden schienen. Meine Beförderung zum stellvertretenden Referatsleiter erfolgte tatsächlich. Ich schloss eine Lebensversicherung sowie einen Bausparvertrag ab und beobachtete, wie die Beträge langsam wuchsen. Auch die Summe auf dem Postsparbuch, das meine Eltern noch für mich angelegt hatten, wurde stetig höher. Da ich nicht viel zum Leben brauchte, wanderte der größte Teil meiner monatlichen Bezüge dorthin. Irgendwann konnte mir dieses Geld von Nutzen sein, wenn auch sicher nicht, wie bei den Kollegen, für Hausbau, Autokauf oder ähnliches.

Die Zeit zerrann, versickerte wie Sand, der durch ein Stundenglas rieselt. Das Internet kam, man legte sich Handys und Telefon-Flatrates zu. Die Fernseher wurden immer breiter und hochauflösender, die Sportübertragungen häuften sich. Bald waren die grünen Spielfelder auf den Mattscheiben ein vertrautes Bild für mich, wenn ich im Schutz der Dunkelheit meine Runden durch die Straßen drehte.

Im Grunde wusste ich, dass die strahlende Pracht hinter den Panoramascheiben nur Oberfläche war, Verpackung, schöner Schein. Die Zurschaustellung des Luxus wirkte geradezu beschwörend, als würden die Eigentümer selbst nicht an ihr Lebensmodell glauben, als liefen sie vor einer äußerst unschönen, verstörenden Erkenntnis davon. Um sich zu beruhigen, häuften sie noch mehr Zeugs an, verwandelten ihre Wohnungen in Möbelgalerien, verpassten ihren Häusern Veranden und Säulen nach amerikanischer Art. Die TV-Bildschirme wurden noch großflächiger, die Autos noch wuchtiger und zahlreicher, die Fernreisen noch spektakulärer, die Kinder noch leistungsfähiger, begabter, schöner, besser als die anderen. Irgendwie musste dieser nagende Zweifel doch wegzubekommen sein, dieses unbestimmte Gefühl einer inneren Leere, eines fehlenden Sinns. Alles wurde so zum Produkt, musste vermehrt, verbessert, optimiert werden – inklusive des eigenen Körpers und selbstverständlich auch des Nachwuchses. Es war ein Zustand der permanenten Unruhe und Getriebenheit, verborgen hinter einer Fassade, die das genaue Gegenteil suggerieren sollte, nämlich Solidität, das Angekommen-Sein in der bürgerlich-kultivierten, hochrespektablen Mitte der Gesellschaft, ihrem besten Teil.

All dies war mir klar, und doch verdrängte ich es, gleich meinen Zeitgenossen. Ich stahl mich aus der Realität fort, ließ mir von den schönen Bildern, die dort im Dunkeln auf mich einwirkten, eine strahlend helle, intakte Welt vorgaukeln. Was hätte ich sonst auch mit mir anfangen sollen? Nein, lieber immer von Neuem eintauchen ins abendliche Traumreich der erleuchteten Fenster.

Mein Leben steckte in einer Endlosschleife fest. Alte, längst überwunden geglaubte Krankheiten aus der Kindheit kehrten zurück. Die Neurodermitis verwandelte meinen Körper in eine unförmige Landschaft aus roten, juckenden Flecken und blutigen Kratern. Diverse Nahrungsmittelunverträglichkeiten blähten meinen Unterleib zu einer prall gefüllten Kugel auf; trotzdem wählte ich mittags in der Kantine immer die fettesten, ungesündesten Speisen, ignorierte konsequent vegetarische Gerichte und das Angebot der Salatbar. An den Wochenenden ernährte ich mich ausschließlich von Aufbackbrötchen und Fertigmahlzeiten. Weder konnte ich mich zum Kauf gesünderer Lebensmittel aufraffen noch zum Selbstkochen.

Derweil wurde mein Albtraum immer schlimmer. Eigentlich hatte ich gehofft, dass er nach Alexandras Weggang verschwinden würde, aber dem war leider nicht so, im Gegenteil: Ich hatte ihn jetzt ausnahmslos jede Nacht, manchmal kam er sogar mehrmals.

Als in diesem Sommer der Regen nicht enden wollte, hatte ich die Idee zu der Reise. Weg, nur noch weg. Und, anders als die Kollegen aus ihren Urlauben, niemals mehr zurückkehren. Kurz darauf kamen die Bedenken. War das Ganze nicht bloß ein Hirngespinst? Würden meine Phantasien von Sonne und Wärme, sobald sie auf die Wirklichkeit trafen, nicht verfliegen wie ein Dufthauch im Wind? Würde sich auch dieser Traum wieder bloß als Schaum erweisen?

Aber warum immer alles zerreden, zergliedern, in Frage stellen? Konnten Visionen nicht auch wahr werden? Jedenfalls wenn man fest und unerschütterlich an sie glaubte? Wenn man es wirklich wagte, sich ins Ungewisse zu stürzen? Wie satt ich diese vernünftige, rationale Attitüde hatte. Vielleicht bot sich jetzt endlich eine Chance, zu leben!

Und so hielt ich an meinem Vorhaben fest, arbeitete es Punkt für Punkt ab. Flug und Hotel wurden gebucht, Bausparvertrag sowie Lebensversicherung aufgelöst. Zwar konnte ich über die Gelder noch nicht verfügen, aber das würde sich in den nächsten Jahren ändern. Bis dahin wollte ich meinen Lebensunterhalt vom Postsparbuch bestreiten. Ich besorgte mir ein Prepaid-Handy, dessen Telefonnummer niemand außer mir kannte. Zugleich blieb der alte Mobilvertrag aktiv, aber das Telefon würde ich nicht mitnehmen. Außerdem richtete ich eine neue E-Mail-Adresse ein; anschließend änderte ich die Passwörter und Sicherheitsabfragen meiner bisherigen Online-Accounts, ohne mir die neuen Daten zu merken. Ich schnitt mich sozusagen von meiner alten digitalen Identität ab. Vielleicht hätte es Möglichkeiten gegeben, die Zugänge wieder herzustellen, aber von unterwegs wäre das vermutlich sehr kompliziert gewesen. Unwahrscheinlich, dass ich jemals Gebrauch davon machen würde.

Einige Tage nach meinem 40. Geburtstag erfolgte der krönende Abschluss all dieser Aktivitäten: die Kündigung. Die Kollegen waren ausnahmslos perplex bis entsetzt, aber was hatte ich von diesen Beamtennaturen erwartet? Was nicht auf Sicherheit und Bequemlichkeit angelegt war, entzog sich ihrem Verständnis.

Meinen letzten Arbeitstag hatte ich bereits Anfang September, wegen des Resturlaubs und einiger weniger Überstunden. Draußen bot sich dasselbe Bild, das schon den ganzen Sommer geprägt hatte: Starkregen, tiefhängende Wolken, gelbliches Dämmerlicht. Vormittags überreichte mir der stellvertretende Amtsleiter die Entlassungsurkunde. 14 Jahre Staatsbibliothek gingen zu Ende, davon 12 als Beamter. Nachmittags saß ich mit den Kollegen im Gemeinschaftsraum zusammen. Ich hatte bei einem Konditor mehrere Torten frisch zubereiten lassen, außerdem gab es Kuchen und Kekse. Alles war im Nu vertilgt, dabei lag die Mittagspause keine zwei Stunden zurück. In meiner Not rannte ich los und kaufte noch tütenweise Süßigkeiten und Chips. Als es definitiv nichts mehr zu essen gab, löste die Runde sich schnell auf. Reihum gaben mir die Kollegen die Hand und murmelten Floskeln wie „Alles Gute, Marc“ oder „Viel Glück, Herr Simon“. Unser Referatsleiter wünschte mir „Gutes Gelingen auf Ihrem weiteren Lebensweg“. Man hörte deutlich, dass ihm ein „Sie wissen hoffentlich, was Sie tun“ auf der Zunge lag. Und ich konnte nicht verhindern, dass mich in diesem Moment, auf den letzten Metern, doch noch ein ungutes Gefühl beschlich.

Nein, ich wusste nicht genau, was ich tat und wohin mein Weg mich führen würde. Aber genau darum ging es ja – etwas wagen, eine Aktion starten, deren Resultat nicht absehbar war. Das eigene Leben nicht länger verdümpeln, alles einer zum Selbstzweck mutierten Sicherheit unterordnen.

Der Morgen der Abreise brach an. Rucksack und Rollkoffer waren nur mit dem Nötigsten befüllt; Fehlendes oder Vergessenes konnte ich zur Not unterwegs nachkaufen. Ich stellte Wasser und Strom ab, warf auf der Türschwelle einen abschließenden Blick zurück in die Wohnung: Dies also war die letzten neun Jahre mein Heim gewesen. Wann es wohl auffallen würde, dass niemand mehr hier war? So lange Miete und Strom pünktlich bezahlt wurden, konnte das Ewigkeiten dauern; bis dahin war ich längst über alle Berge. Ich schloss zweimal ab, schulterte den Rucksack und stieg, den Koffer über die Stufen hebend, behutsam die Treppe hinab.

Draußen war es noch dunkel, weit und breit sah man keine Menschenseele. Der Griff meines Rollkoffers fühlte sich wie die Hand eines Gefährten an. Von jetzt an würde dieser Koffer mein Zuhause sein – ein Heim auf Rädern für einen Heimatlosen. Ich atmete tief durch, schaute mich ein letztes Mal um. Dann ging ich einfach davon…

Das leere Asphaltband, die kahle, felsige Ebene, Berggipfel, die das Rot der untergegangenen Sonne reflektierten – stundenlang war ich einfach nur gefahren. Allmählich wurde es dunkel; höchste Zeit, sich eine Unterkunft für die Nacht zu suchen. Auch eine Mahlzeit konnte nicht schaden, mein letzter Imbiss lag nunmehr einen halben Tag zurück. Ich lenkte den Wagen an den Straßenrand und bremste. Staub wirbelte hoch, der als weiße, kompakte Wolke davontrieb.

Beim Aussteigen erschrak ich fast über die Kälte – welch ein Gegensatz zur feuchtschwülen Suppe unten im Tal! Rasch öffnete ich auch die Beifahrertür, um für Durchzug zu sorgen, dann lief ich ein paar Schritte. Die klare Luft erfrischte und belebte wie ein Elixier; meine Sinne schienen plötzlich geschärft, trotz der hereinbrechenden Dämmerung nahm ich alles ungewohnt deutlich wahr. Die schmale Straße, die sich zwischen den Felsen hindurchwand. Die kargen Sträucher der Ebene, von Windböen geschüttelt. Die blutrot gefärbten Gipfel. Den kristallenen, unendlich hohen Himmel, an dem die ersten Sterne glommen. Und vor allem diese nahezu vollkommene Stille.

Wohin mochte es mich verschlagen haben? Ich ging zum Wagen zurück und griff nach der Straßenkarte. Leider fanden sich in der Landschaft keinerlei Orientierungspunkte, die man mit der Karte hätte zusammenbringen können, weder Häuser oder Ortschaften noch ein Fluss, See oder sonst eine geografische Auffälligkeit. Die letzte Abzweigung lag Ewigkeiten zurück, und Wegweiser hatte es während der gesamten Strecke kaum gegeben. Um mich waren nur Bergmassive, so weit man schauen konnte.

Notgedrungen stieg ich ins Auto und fuhr weiter. Das Abendrot über den Gipfeln war mittlerweile erloschen, das Tageslicht schwand rapide, würde bald ganz fort sein. Und noch immer ließ sich nirgends etwas ausmachen, was auf eine Herberge hindeutete. Vielleicht war es klüger, irgendwo zu parken, im Auto zu übernachten und die Fahrt morgen fortzusetzen?

Ich begann mich bereits mit dieser Idee anzufreunden, als in der Ferne etwas auftauchte, das mit gutem Willen eine Ansammlung von Häusern sein konnte. Und tatsächlich: Beim Näherkommen erkannte man ein Dorf, einen Weiler, der wie ein Adlerhorst zwischen den Felsen klebte. Ein quadratischer Kirchturm ragte wuchtig in den Abendhimmel, unterhalb der Häusergrenze verliefen Reste einer alten Wallanlage. Große Erleichterung! Und doch fragte ich mich insgeheim, wie es möglich war, so lange über diese Insel zu fahren, diese nicht sonderlich große Insel, ohne irgendwo anzukommen, ohne wenigstens ein einziges Mal die See zwischen den Bergen zu sehen…

Kurz vorm Dorfeingang wurde die Teerstraße zu Kopfsteinpflaster. Ich bremste ab, fuhr im Schritttempo weiter. Statt eines Ortsschildes gab es am Straßenrand einen klobigen Wegstein mit einem Schriftzug, den ich in der Dämmerung allerdings nicht lesen konnte. Die Hauswände waren allesamt unverputzt, sie zeigten die rohen Granitblöcke, aus denen sie gemauert waren. Altmodische Straßenlaternen verbreiteten gelbliches Schummerlicht. Auf einem kleinen, gepflasterten Platz saßen ein paar alte Männer zusammen. Stumm schauten sie mir nach, als ich an ihnen vorüberfuhr – sofort musste ich an eine ähnliche Szene in Porto d'Arreccio denken, im anderen Teil des Ortes. Die fremde Schrift war ebenfalls zurück, wie ich beim zufälligen Blick auf einen Wegweiser entdeckte.

Ein Gasthof, direkt an der Straße! Ohne zu bremsen lenkte ich den Wagen nach links auf einen kleinen Parkplatz neben dem Eingang und ließ ihn dort ausrollen. Beim Aussteigen hatte ich das unbestimmte Gefühl, aus allen Richtungen beobachtet zu werden – obwohl man nirgends Menschen sah. Neben der geöffneten Eingangstür standen ein paar rostige Bistromöbel, von drinnen kamen Stimmen und Gelächter, manchmal klirrten Gläser.

Ich musste ein Gefühl der Beklommenheit niederkämpfen, ehe ich den Vorraum betrat. Hinter einem mit Troddeln verhängten Durchgang kam ich in die Gaststube. Schummriges Licht, drei oder vier mit Wachstuch bespannte Tische, eine rot gestrichene Theke, hinter der ein Wirt Gläser putzte; ein großer, athletisch gebauter Mann mit höckriger Nase und buschigen Augenbrauen, die über der Nasenwurzel zusammenwuchsen… alles hier erinnerte bis ins Detail an die Gaststätte, die ich mit Vivienne besucht hatte! Einen Augenblick lang wusste ich nicht mehr, wo ich mich befand.

Sogar die alten Männer an ihrem Ecktisch gab es, nur ließen sie sich, anders als in Porto d'Arreccio, nicht stören durch den Neuankömmling. Sie schauten kurz auf, taxierten mich und wandten sich in aller Seelenruhe wieder ihrem Würfelspiel zu. Eine Wolke aus Qualm hing über ihren Köpfen, der Tisch war mit Gläsern und Weinkaraffen vollgestellt.

Auch bemerkte ich jetzt Bartstoppeln im Gesicht des Wirts; sein Doppelgänger hatte glattrasierte, glänzende Wangen gehabt. Dann diese fettigen, schulterlangen Haare anstelle der sorgfältig frisierten Locken vom Vortag. Und wo mich gestern wache Augen gründlich taxiert hatten, blickte mir nun eine uninteressierte, fast gelangweilte Miene entgegen. Nein, ich hatte mich getäuscht!

Die Würfelspieler palaverten in den kehligen, abgehakten Lauten, die ich bereits kannte. Die Sprache des Inselinnern… genau wie Jacques es gesagt hatte, der alte Mann im Hotel. Auf einmal kamen mir Zweifel, ob die Einheimischen mich wohl verstehen würden. Aber schon fragte der Wirt: „Chambre?“ Ich nickte ihm zu und schalt mich innerlich selbst: Natürlich wurde hier auch Französisch gesprochen. Ich war schließlich nicht in der Wildnis gelandet, wo alle nur ihr Stammesidiom beherrschten.

Der Wirt trocknete die Hände ab und griff nach dem Gästebuch, das neben ihm auf dem Tresen lag. „Für wie lange?“. Er drehte das Buch zu mir, wies stumm darauf. „Kann ich noch nicht sagen“, antwortete ich, ebenfalls auf Französisch. „14 Tage, vielleicht länger.“ Hatte ich überhaupt genug Bargeld dabei? Kartenzahlung war hier bestimmt nicht möglich, und dass es im Ort einen Automaten gab, bezweifelte ich. Aber erst mal unterkommen, etwas essen und dann ausgiebig schlafen. Das Geldthema konnte ich bei anderer Gelegenheit klären; notfalls musste ich mir halt unten im Tal irgendwo Cash besorgen.

Ich trug Namen, Adresse und das heutige Datum ein. Das Feld mit dem Abreisedatum ließ ich leer. Neugierig blätterte ich zurück, aber außer meinem fand sich kein einziger Eintrag in den welligen, vergilbten Seiten. Sehr eigenartig…

„Sie können sich ein Zimmer aussuchen. Die Schlüssel stecken in den Türen.“ Der Wirt wies auf die schmale, nach oben führende Treppe seitlich des Tresens, dann wandte er sich wieder seiner Arbeit zu. Als ich mit dem Gepäck vom Auto zurückkam, fragte ich ihn nach dem Namen des Ortes. Er stutze, und ich nahm bereits an, dass er die Frage nicht verstanden hatte, wegen meines Akzents. Dann murmelte er ein paar kehlige Laute in jener fremdartigen Sprache.

„Und auf französisch?“ Ich blieb hartnäckig. Auch dieses Dorf musste einen französischen Namen besitzen, der sich vielleicht auf der Karte finden ließ.

Erneut Stutzen, diesmal etwas länger. Dann kam dieselbe unverständliche Lautfolge wie eben, mit leicht verschnupftem Unterton. Duldete er in dieser Sache keine Zweideutigkeiten? War das jener Patriotismus, der in Gebieten mit ausgeprägter Regionalkultur gern gepflegt wurde? Ich ließ es fürs Erste bleiben – besser nicht schon zu Beginn unangenehm auffallen.

Gerade wollte ich die Treppe hochsteigen als mein Blick auf ein kleines Regal neben dem Tresen fiel, das mit Ansichtskarten bestückt war. Ich wunderte mich schon nicht mehr über die nostalgischen, nachträglich kolorierten Fotografien, die Bildunterschriften in den unbekannten Lettern, bis mir eine bestimmte Motiv-Kombination ins Auge sprang: Da war der Berg in den Wolken, der Ort mit dem alten Hafen, auch die Hochebene… mein Herzschlag beschleunigte sich. Lennards Karte, es gab keinen Zweifel! War er ebenfalls in diesem Gasthof abgestiegen? Hatte er von hier jene Urlaubskarte abgeschickt, die nun in meinem Koffer steckte? Da war es wieder, dieses unbestimmte und dennoch starke Gefühl, seine Spur gefunden zu haben!

Ob ich den Wirt nach ihm fragen sollte? Aber wie? Der Name würde ihm bestimmt nichts mehr sagen, nach so langer Zeit. Wirklich sehr ungünstig, dass ich kein Foto besaß, das ich ihm hätte zeigen können. Ihm und gegebenenfalls anderen Leuten im Ort.

Die Treppe hatte zur Gaststube hin kein Geländer. In Deutschland wäre dergleichen undenkbar gewesen; irgendein TÜV oder ähnliches hätte es garantiert verboten, aus Sicherheitsgründen. Aber solche Institutionen existierten hier vermutlich nicht; allein der Gedanke erschien mir lächerlich. Im ersten Stock war es ziemlich dunkel, trotzdem erkannte man, dass die Schlüssel tatsächlich in den Türen steckten. Genauer: in den beiden Türen. Weitere Räume schien es hier oben nicht zu geben. Nach kurzem Überlegen entschied ich mich für das hintere, weiter von der Treppe weg liegende Zimmer. Die zierliche, altersschwache Holztür knarrte beim Öffnen leise; abgestandene Luft schlug mir entgegen. Ein altmodisches Doppelbett mit hölzernen Nachttischen füllte zwei Drittel des Raums. Gegenüber gab es einen Kleiderschrank, außerdem eine Sitzgruppe mit zwei Sesseln und einem Tischchen. Ein niedriger Durchgang an der Seite führte ins Bad mit Toilette und Dusche. Der Duschvorhang wies am Saum Schimmelspuren auf. Die beiden Handtücher waren an mehreren Stellen eingerissen, rochen aber frisch gewaschen.

Als erstes öffnete ich beide Fensterflügel sperrangelweit. Direkt unter mir befand sich der Parkplatz mit meinem Wagen. Auf der anderen Straßenseite wuchsen hohe Bäume, deren Laub stellenweise bereits gelb wurde, dahinter stieg ein bewaldeter Hang in die Höhe. Zur Rechten konnte man ein Stück der Dorfstraße überblicken. An der Ecke gegenüber ragte eine der altertümlichen Laternen aus der Hauswand und sandte ihr schummriges Licht aufs Pflaster.

Und wie war es hier drinnen mit Strom? Suchend blickte ich mich um und entdeckte neben der Tür einen Drehschalter, von dem aus ein Kabel über Putz in die Höhe lief. Ein kurzes Drehen, ein Widerstand, dann ein Klacken, und eine stoffbespannte Deckenlampe schien auf.

Nach einer Weile hatte ich mich eingerichtet. Die Klamotten hingen im Schrank, das Waschzeug war im Bad ausgebreitet. Reiseführer und Straßenplan lagen griffbereit auf dem Tisch, Lennards Karte hatte ich wie ein Bild gegen die Nachttischlampe gestellt. Meine Brieftasche wollte ich jederzeit bei mir behalten, sie des Nachts unters Kopfkissen legen. Selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass es hier einen Hotelsafe gab: Der Wirt machte keinen vertrauenerweckenden Eindruck auf mich.

Schließlich ging ich wieder nach unten. Ich musste unbedingt etwas essen.



***



Das Abendbrot war einfach gewesen, aber erfrischend und stärkend. Schafskäse, vielleicht aus heimischer Produktion, dazu Brot, Oliven und Früchte, Rotwein und Wasser. Jetzt lag ich auf dem Bett, bei ausgeschaltetem Licht und nach wie vor offenem Fenster. Die frische Abendluft hatte mittlerweile jeden Winkel des Raums erreicht. Von draußen war nicht der geringste Laut zu hören.

Morgen wollte ich den Ort unter die Lupe nehmen, vielleicht ein paar Einheimische ansprechen. Aber es würde schwer werden. Mir fehlte definitiv ein Foto, hinzu kam das Sprachproblem. Und falls die Leute hier alle so mundfaul waren wie der Wirt, würde es einiger Hartnäckigkeit bedürfen, um an Informationen zu gelangen. Hartnäckigkeit, die ich womöglich nicht aufbrachte. Ich war einfach kein Investigativ-Typ.

Die Kirchturmuhr schlug: zehn mal. Ein Blick auf meine Armbanduhr: zehn vor acht. Komisch, die Uhr stellte sich normalerweise automatisch, per Funksignal. Dann sah ich, dass der Sekundenzeiger stillstand – offenbar war die Batterie leer. Mist, hier konnte man sicher keine neue kaufen. Ich band die Uhr ab und wollt sie auf den Nachttisch legen. Erneut betrachtete ich die eingefrorenen Zeiger: Zehn vor acht – war ich nicht um diese Zeit hier angekommen? Wirklich ein seltsamer Zufall…

Immerhin funktionierte mein guter, alter Wecker: Brav drehte der Sekundenzeiger seine Runden, leises, regelmäßiges Ticken war zu hören. Die Zeit allerdings machte mich stutzig: elf Uhr – hatte ich mich eben beim Zählen der Glockenschläge vertan?

Ich schloss das Fenster, schaltete die Nachttischlampe ein. Dann nahm ich die Straßenkarte vom Tisch und klappte den Ausschnitt mit dem zentralen Teil der Insel auf: Ein paar wenige Ortschaften waren eingezeichnet, aber nur mit ihren französischen Namen. Auch sonst ließ sich nichts finden, das Rückschluss auf meinen Standort hätte geben können. Resigniert packte ich die Karte zur Seite, legte mich wieder aufs quietschende Bett und schaute gedankenverloren nach oben.

Nach einer Weile hörte man von draußen erneut Glockenschläge: elf an der Zahl, Irrtum ausgeschlossen. Der Wecker aber zeigte Mitternacht. Welche Uhr ging falsch? Oder galt hier möglicherweise die Sommerzeit nicht? Pfiffen die Einheimischen vielleicht darauf? Bei der Abgelegenheit dieses Ortes erschien mir das durchaus denkbar. Zur Sicherheit stellte ich den Wecker eine Stunde zurück – ich wollte nicht der Einzige sein, der sich hier nach der Sommerzeit richtete.

Zufrieden knipste ich das Licht aus. Kaum hatte ich mich auf die Seite gedreht, war ich auch schon eingeschlafen.



***



Nach dem Aufwachen am nächsten Morgen glaubte ich, noch in Plage d'Aiola zu sein. Erst nach einigen Sekunden kam die Erinnerung. Ein Blick zum Wecker: halb zehn! Eilig stand ich auf – ich wollte die Zeit hier nicht im Bett verbringen. Mein Rücken schmerzte, vermutlich von der durchgelegenen Matratze.

Eine kühle Dusche weckte meine Lebensgeister wieder. Wie eng das Bad war und wie schmal die Tür! Als ob die Menschen hier kleiner wären als anderswo – was zumindest im Falle des Wirtes nicht zutraf. Guter Dinge ging ich hinunter in die Gaststube. Niemand war hier, aber auf einem der Tische lag ein Gedeck. Kaum hatte ich mich gesetzt, erschien eine Frau aus dem Raum hinter dem Tresen. Die Gattin des Wirtes? Oder eher seine Tochter, dem jugendlichen Alter nach zu schließen?

„Bonjour“, sagte sie leise. Ihre pechschwarzen Augen streiften mich kurz, dann blickten sie scheu zu Boden. Ich grüßte freundlich zurück. Das dunkle Haar war zu einem buschigen Zopf zurückgebunden, dessen lockige Enden ihr in den Nacken fielen. Trotz der kräftigen Statur und der fremdartigen, südländischen Herbheit des Gesichts mochte ich sie leiden. Vielleicht war es das Natürliche, Unarrangierte ihres Äußeren.

„Frühstück?“, fragte sie. Ich nickte.

Sie ging nach hinten und kam mit einem Tablett zurück, auf dem geröstete Baguettes, Butter, Marmelade und ein kleiner Käseteller angerichtet waren. Eine Wasserkaraffe sowie ein Kännchen Milch standen bereits auf dem Tisch. Als die Wirtin das Tablett vor mir abstellte, sah ich die dunklen Härchen auf ihren Unterarmen. Wie bei Vivienne.

„Café?“ Wieder richteten sich ihre schwarzen Augen auf mich.

„Ja, bitte.“ Unwillkürlich musste ich lächeln, worauf sie rasch wieder nach unten schaute und errötete. Sie brachte mir ein Metallkännchen mit Kaffee und verschwand wieder nach hinten.

Während ich frühstückte, ließ ich den Blick umherschweifen. Sonnenlicht fiel durchs geöffnete Fenster auf die brüchige Wachstuchtischdecke. Der hellrote, allmählich abblätternde Wandanstrich wirkte eigenartig dekorativ, als habe man ihn bewusst so gestaltet, um einen Ausdruck südländischer Lässigkeit zu erzeugen. Was sicher nicht stimmte. An der Theke klebte ein Schwarzweiß-Poster mit einem Fußballteam darauf. Neben meinem Tisch ragte ein Vorsprung aus der Wand, wie von einem zugemauerten Kamin. Auf dem Sims waren einige alte Tonvasen und ein rostiger, verbeulter Kessel drapiert; auch dieses scheinbar zufällige Arrangement hatte etwas sehr Effektvolles.

Rasch waren die drei, vier Brotscheiben verdrückt – hoffentlich gewöhnte ich mich an das karge Frühstück, das hier offenbar gereicht wurde. Die gefüllte Obstschale auf dem Nebentisch war zu verlockend: Kurzerhand nahm ich mir zwei Bananen und eine Apfelsine heraus und verstaute sie im Rucksack. Meine Wasserflasche füllte ich einfach aus der Karaffe auf dem Tisch. Dann brach ich zu einem Erkundungsgang auf.

Wie gestern zeigte der Himmel kein Wölkchen, gleichzeitig war die Luft frisch und angenehm. Der Reiseführer hatte behauptet, das Wetter im Inselinnern wäre wechselhaft und kühl. Davon merkte man hier nichts. Waren wir zu hoch, möglicherweise über den Wolken? Oder hing es mit der Jahreszeit zusammen? Ich würde die entsprechende Passage noch einmal lesen.

Am Dorfplatz hatte sich die Seniorenrunde bereits wieder auf ihrer Bank versammelt. Mein „Bonjour“ erwiderten die alten Männer mit stummem, aber freundlichem Nicken. Ich nahm eines der Gässchen, die von hier sternförmig ausgriffen, und lief nach Geratewohl herum. Der Ort schien weitestgehend in seiner ursprünglichen Form erhalten; nur selten störten Errungenschaften der Neuzeit den malerischen Eindruck der alten Häuser und Straßenzüge: hier eine Laterne, dort ein Stromkabel, das an einer Steinwand entlanglief. Antennen oder Satellitenschüsseln waren keine zu sehen, auch Autos parkten nirgends. Die wenigen Fahrzeuge, die über die holprige Dorfstraße tuckerten, waren allesamt alt und von mir unbekanntem Fabrikat.

Nie waren die Wege lang, überall kam man schnell an die Ortsgrenze und schaute hinaus in die Bergwildnis. Oder man landete wieder auf dem Dorfplatz. Um diesen gruppierte sich eine Handvoll Geschäfte; ihre unauffälligen Ladenschilder aus Emaille zeigten die fremdartigen und mittlerweile doch vertrauten Lettern. Es gab einen altmodisch eingerichteten Friseursalon, außerdem ein wuchtiges, offiziell wirkendes Gebäude, das ein Amt oder das Rathaus sein mochte. Die Niveauunterschiede zwischen den Häusern waren teils beträchtlich; bei einigen Abstiegen wurde mir regelrecht schwindelig, so steil führten die schlecht gepflasterten, unregelmäßigen Treppen in die Tiefe. Geländer hatten sie meistens nicht, man musste sich am Mauerwerk abstützen.

Auch Menschen begegnete man nur selten. In der Regel waren es alte Leute, die auf Bänken saßen oder in Hauseingängen zusammenstanden und einen Plausch hielten – offenbar ein typisches Bild dieser Insel. Wo mochten die Kinder abgeblieben sein? In der Schule? Ein entsprechendes Gebäude hatte ich bislang nirgends gesehen. Vielleicht lag es in einem der Nachbarorte, und ein Bus oder sonstiger Fahrdienst brachte die Schüler morgens dorthin, sodass sie tagsüber fort waren.

Irgendwann kam mir der Grenzstein wieder in den Sinn. Ich kehrte zur Dorfstraße zurück, prüfte, aus welcher Richtung ich gestern abend gekommen war und lief dann bis zum dortigen Ortsausgang. Rasch fand ich ihn: Wie ein großes, schlafendes Tier lag er am Straßenrand und präsentierte dem vorbeifahrenden Besucher seinen Schriftzug – leider nur in den altertümlichen, kryptischen Lettern. Ich versuchte die Zeichenkette im Straßenplan wiederzufinden, ohne Erfolg: Sämtliche Ortsbezeichnungen waren dort ausschließlich in lateinischen Buchstaben angegeben. Hatte dieses Dorf wirklich keinen französischen Namen? Oder weigerten sich die Bewohner schlicht, ihn zur Kenntnis zu nehmen? War dies vielleicht eine autonome Region, für die irgendwelche besonderen Gesetze galten? Jedenfalls blieb es mir ein Rätsel, wohin es mich verschlagen hatte.

Ein Stück die Landstraße hinunter gab es eine Art Aussichtspunkt, ein Grüppchen schattenspendender Bäume mit einer verwitterten Holzbank darunter. Hier setzte ich mich, um einen Moment zu verschnaufen. Inzwischen hatten wir Nachmittag – auf dieser Insel erfahrungsgemäß die Tageszeit mit den drückendsten Temperaturen. Aber die Luft blieb angenehm; aus den Bergen kam permanent ein erfrischender Wind heran. Ich holte die Apfelsine hervor, schälte sie und schob mir das erste Stück in den Mund – es war überraschend sauer. Als ich alles aufgegessen hatte, fühlte ich mich deutlich belebt und erfrischt.

Die Fernsicht war atemberaubend, geradezu unwirklich. Ein Pfad, der zunächst über die Wiesen in der Umgebung mäanderte und dann in die Berge führte, ließ sich ewig weit verfolgen. Wo mochte er hier im Dorf beginnen? Vorhin bei meiner Ortsbesichtigung war er mir nicht aufgefallen. Er hätte sich eine Wanderung angeboten, aber dazu wäre eine bessere Karte unabdingbar gewesen. Wirklich ärgerlich, dass ich in Plage d'Aiola keine hatte auftreiben können.

Zwischendurch ein kurzer Blick aufs Handy: Es zeigte eine völlig absurde Uhrzeit an. Vielleicht lag es am fehlenden Empfang: Die Signalstärke lag bei Null. Als ich testweise die Nummer meines Buchversand-Händlers in Deutschland wählte, kam sofort die Anzeige „Verbindung nicht möglich!“.

Schließlich ging ich zum Gasthof zurück. Mein Wagen stand wohlbehalten auf dem kleinen Parkplatz, noch immer der einzige fahrbare Untersatz weit und breit. Sein Anblick wirkte beruhigend: Zur Not konnte er mich schnell zurückbringen in die Zivilisation. Ich zog den Autoschlüssel hervor, öffnete die Fahrertür und schaltete die Zündung ein – wie um sicherzugehen, dass alles noch funktionierte. Aufs Starten des Motors verzichtete ich, drehte stattdessen das Radio an: Die Frequenzanzeige begann zu rotieren, auf und ab, und wieder von vorn, bis sie es schließlich aufgab. Nur gleichförmiges Rauschen und Pfeifen tönte aus den Lautsprechern, keine Musik, kein Geplapper. Es blieb dabei: Diese Gegend war ein komplettes Funkloch.

Drinnen hatte sich wieder die Würfelrunde des Vorabends zusammengefunden, der Wirt heute mitten unter ihnen. Gläser klirrten, die unvermeidliche Wolke aus dichtem, blauem Qualm hing über den Spielern. Sie schenkten mir keinerlei Beachtung, als ich an ihnen vorbei zur Treppe ging. In meinem Zimmer war es trotz der geschlossenen Vorhänge ähnlich stickig wie gestern abend, bei meiner Ankunft. Ich zog die Stoffhälften zurück und öffnete beide Fensterflügel weit.

Nach dem Duschen und Umziehen ging ich wieder hinunter in die Gaststube. Eigentlich stand mir nicht der Sinn danach, hier in rauchgeschwängerter Luft zwischen lärmenden Spielgesellen zu sitzen, aber ich war hungrig und musste etwas essen. Als der Wirt mich sah, bekam sein Gesicht einen leicht genervten Ausdruck. Er bellte irgendwas Unverständliches nach hinten; kurz darauf eilte Wirtin mit ihrem Tablett aus der Küche herbei und servierte mir dieselbe einfache, schmackhafte Mahlzeit wie am Vorabend.

Während des Essens beobachtete ich aus den Augenwinkeln das Geschehen. Bis auf den Wirt waren alle Mitglieder der Zockerrunde alt. Man sah zerfurchte Gesichter, deren Augen manchmal vom Schirm einer Baskenmütze verdeckt wurden. Zigarren und filterlose Zigaretten hingen zwischen spröden Lippen; einige Münder wiesen Zahnlücken auf. Dem Wirt kam offenbar die Rolle des Einheizers und Antreibers zu. Wenn die Getränke auszugehen drohten, genügte ein kurzes Grölen seinerseits, und die junge, schüchterne Frau brachte neue Weinkaraffen. Während sie die leeren einsammelte, begrapschte der Wirt sie unter Zurufen aus der Runde, gab ihr einmal einen derben Klaps auf den Allerwertesten und erntete schallendes Gelächter. Mit hochrotem Kopf ließ die Wirtin alles über sich ergehen und eilte schließlich von dannen.

Ich kauerte peinlich berührt über meinem Essen. Gern hätte ich der Frau geholfen, aber meine Feigheit verhinderte leider, dass ich die Rolle des edlen Helden übernehmen konnte. Eines jedenfalls schien klar: Seine Tochter würde der Wirt kaum so behandeln, also musste sie eine Angestellte sein, vielleicht auch seine Ehefrau oder Freundin, trotz des Altersunterschieds.

Schließlich lag ich im Dunkeln auf dem Bett, bei geöffnetem Fenster. Die Glocke des Kirchturms schlug – es war gerade mal zehn.

Ob meine Armbanduhr inzwischen wieder lief? Ich knipste die Nachttischlampe an, schaute aufs Zifferblatt: zehn vor acht. Bisher hatte ich ja die Batterie im Verdacht gehabt, aber nun kam mir ein anderer Gedanke: Blieb die Uhr vielleicht stehen, wenn sie kein Zeitsignal mehr empfing? Obwohl es in der Bedienungsanleitung geheißen hatte, in diesem Fall würde der Freilauf einsetzen. Außerdem hatte mir der Verkäufer hoch und heilig versprochen, das Signal wäre „an jedem Punkt dieser Welt zu empfangen“.

Es musste also doch an der Batterie liegen.



***



Nach einiger Zeit hatte sich ein fester Ablauf eingespielt. Jeden Morgen stand ich um neun Uhr auf, gegen halb zehn ging ich, den gepackten Rucksack auf den Schultern, hinunter in die Gaststube. Kaum hatte ich Platz genommen, brachte die Wirtin das Frühstückstablett. Nach dem Essen nahm ich mir eine Wasserflasche aus dem Stoß, der an der Rezeption bereitstand, und entrichtete meinen Obolus in die auf dem Tresen bereitstehende Schale. Die klobigen Glasflaschen wurden sicher irgendwo in der Umgebung abgefüllt, ihren Etiketten mit der fremden, blassen Schrift nach zu schließen. Ich kippte das Wasser in meine eigene Leichtmetallflasche um, wegen des Gewichts, und machte mich auf den Weg.

Inzwischen hatte ich meinen Stammladen für den Kauf von Obst. Hier gab es kleine, ausgesprochen süße Bananen, die ich einfach köstlich fand, sowie jene Apfelsinen, die mir schon am ersten Tag so gemundet hatten. Die Verkäuferin, ein freundliches Großmütterchen, legte meine Münzen einfach in eine kleine Holzkiste, ohne sie zu prüfen. Auf mein „Au révoir“ beim Hinausgehen antwortete sie stets nur mit einem Kopfnicken.

Es folgte ein Gang durch den Ort. Dieser war, mit Ausnahme des Wirtes und seiner Frau, augenscheinlich nur von alten Leuten bewohnt. Was der Reiseführer sagte, schien also zu stimmen: Die Menschen verließen das Inselinnere, zogen an die Küste oder aufs Festland. Meine raren Begegnungen mit Passanten liefen immer nach demselben Muster ab: Man erwiderte knapp meinen Gruß und sah mir stumm nach, in einer Mischung aus Neugier und Misstrauen. Schaute ich einer Person in die Augen, wandte sie sich rasch ab und blickte ins Nichts. Eigentlich hieß es doch, Südländer seien herzlich und offen, aber die Menschen hier wirkten sogar noch spröder als ich es von zu Hause kannte. Vielleicht, weil sie bloß selten Fremden begegneten? In der Tat schien es hier keinen einzigen Touristen zu geben – außer mir.

Trotzdem hatte ich nicht das Gefühl, unwillkommen zu sein. Nirgends war offene Ablehnung zu spüren oder gar Feindseligkeit, nicht bei den Passanten im Dorf, nicht im Obstladen und auch nicht beim „Ältestenrat“ auf dem Dorfplatz. Manchmal glaubte ich gar etwas wie Besorgnis oder Mitleid an den Leuten wahrzunehmen, wenn sie mich heimlich musterten. Überprüfen ließ sich dieser Eindruck nicht, denn wie gesagt: Sobald ich zurückblickte, taten alle so, als sähen sie mich nicht, ihre Miene bekam etwas Undurchschaubares, scheinbar Abwesendes. Es war wie beim alten Jacques im Hotel; auch dieser hatte so undefinierbar drein geblickt, taxierend und zugleich bemitleidend – um sich dann abrupt abzuwenden und ins Nirgendwo zu starren.

Nach einigen Wochen Aufenthalt wurden mir die Haare zu lang, und ich entschloss mich spontan zu einem Friseurbesuch. Kein anderer Kunde war anwesend, als ich den altmodischen Salon betrat, ich kam sofort dran. Ohne nach meinen Wünschen zu fragen, verpasste mir die Friseurin eine Bürstenfrisur, einen regelrechten Mecki. Ob das hier der Standardschnitt für Männer war? Egal, im gesamten Ort gab es niemanden, der sich daran hätte stören können. Und ich würde für eine Weile Ruhe haben, was die Haarlänge anging. Mein Geld wurde übrigens wieder ohne Prüfung in eine Schatulle gelegt. Inzwischen fragte ich mich, ob die Einheimischen untereinander möglicherweise in Naturalien zahlten? Nahmen sie meine Münzen und Scheine aus reiner Höflichkeit an?

Eines Nachmittags entdeckte ich hinter der romanischen Kirche einen alten Friedhof. Das nicht sehr große, im Schatten hoher Bäume gelegene Rechteck war von einer Bruchsteinmauer umschlossen, nur sein hinteres Ende lief gegen den Berghang. Ich schritt die Wege ab und studierte neugierig die Grabsteine, die trotz ihres Alters nur wenig verwittert waren. Die Inschriften in den fremden Lettern konnte ich natürlich nicht entziffern, aber die Jahreszahlen waren arabisch. Einige raubten mir schier den Atem: „1649“ las ich, „1711“ und andere, unfassbar weit zurückliegende. Ehrfürchtig berührte ich die Gravierungen in den Steinen, als wollte ich mich versichern, dass sie tatsächlich existierten, dass ich mich nicht verlesen hatte. Bis ins Jahr 1950 reichten die Einträge, neuere fand ich nicht.

Jeder meiner Gänge endete am Aussichtspunkt hinter dem Ort. Erst wenn ich mich auf meiner knarrenden, verwitterten Holzbank niedergelassen hatte, erschien mir der Tag vollständig und rund. Ich saß einfach dort, im flirrenden Schatten der Baumkronen, und genoss den Frieden dieser vergessenen, weltabgewandten Gegend. Der angenehm kühle Bergwind, das Blöken der Schafe, das Gackern der Hühner, die Ursprünglichkeit des Dorfes und seiner Umgebung – all dies erfüllte mich mit einer Ruhe, die ich bislang nicht gekannt hatte.

Und immer wieder betrachtete ich den Wanderweg. In Dorfnähe lief er noch über grüne Auen, aber schnell erreichte er trockenes, mit Geröll übersätes Gelände. Man sah ihn Bergrücken überqueren, in Täler abtauchen, jenseits davon wieder emporkommen und schließlich zwischen den Gipfeln verschwinden. Wohin er wohl führte? Wo mochte er beginnen? Und nicht zuletzt: Wie lang war er? Aber eigentlich suchte ich keine Antworten mehr auf diese Fragen. Mittlerweile flößte mir der Weg zu viel Respekt ein, als dass ich noch ernsthaft erwog, ihn zu gehen. Ich gab mich damit zufrieden, ihn aus der Ferne zu betrachten, von hier aus seine helle Linie zu verfolgen, die so geheimnisvoll in der Hitze zitterte. In Wahrheit hatte ich kein Verlangen mehr, mein Refugium unter den schattigen, sattgrünen, melodisch im Wind rauschenden Baumkronen zu verlassen.

Währenddessen vollendete die Sonne allmählich ihren Zug über den Himmel. Wenn ich abends in den Gasthof zurückkehrte, war die Würfelrunde längst in vollem Gange. Und immer saß inmitten der lärmenden und trinkenden Gesellen der Hausherr. Die Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Wirt in Porto d'Arreccio erschien mir noch immer frappierend. Als wären die beiden Zwillingsbrüder, die sich aber vollkommen unterschiedlich entwickelt hatten.

Der hiesige Gastwirt jedenfalls, das konnte ich inzwischen sagen, war mir rundherum unsympathisch. Alles an ihm stieß mich ab: sein ungepflegtes Äußeres, die Lustlosigkeit, mit der er seine Arbeit verrichtete, die ständige Angeberei vor den anderen Würfelspielern und besonders die Art und Weise, wie er die junge Frau behandelte. Warum ließ die Ärmste sich seine Übergriffe bieten? War sie zu schüchtern, um sich zu wehren? Hatte sie Angst? Ständig nahm ich mir vor, ihr beizustehen, und wagte es dann doch nie, ich Memme.

Abneigung war aber bloß nur eines der Gefühle, die ich dem Wirt gegenüber empfand. Es gab da noch etwas anderes, einen unbestimmten Verdacht: Zeugte dieser Drang, sich vor den anderen zu produzieren, dieses übersteigerte Wahrnehmungsbedürfnis nicht von tiefer Unsicherheit, vielleicht gar Angst? War es möglicherweise eine Flucht, ein Weglaufen vor einer Erkenntnis, die so niederschmetternd, so furchtbar war, dass man sie unmöglich ertragen konnte? Je länger ich ihn beobachtete, desto mehr verfestigte sich bei mir dieser Eindruck: Mit dem Typen stimmte etwas nicht, er schien zunehmend seinen inneren Halt zu verlieren, allmählich abzurutschen. Aber anstatt seine Probleme anzugehen, übte er sich in Weltverachtung und Zynismus, was die Abwärtsbewegung bloß noch beschleunigte.

Das Merkwürdigste aber war, dass ich ihn in dieser Hinsicht sogar zu verstehen glaubte, mich ihm nahe fühlte, wie eine Art Bruder im Geiste… peinlich berührt wischte ich diesen Gedanken jedes Mal beiseite.

Nach dem Abendessen machte ich gern noch einen Verdauungsspaziergang über die Dorfstraße, mal in die eine, mal in die andere Richtung. Die Gässchen und Treppen zu beiden Seiten mied ich jetzt tunlichst. So idyllisch sie des Tags auch sein mochten – im Dunkeln schienen sie mir nicht mehr geheuer. Aber selbst hier, auf der relativ breiten, übersichtlichen Straße, war die Stimmung abends merkwürdig verändert. Man sah niemanden mehr, und obgleich einige Fenster erleuchtet waren, hörte man keine Stimmen aus den Häusern. Nirgends quakte ein Fernseher, dudelte ein Radio, nichts. Eine fast absolute Geräuschlosigkeit lag wie Blei über dem Dorf; es war, als hätte jemand die Zeit angehalten. Einzig der Glockenschlag des Kirchturms bewies, dass dem nicht so war.

Am jeweiligen Dorfausgang machte ich kehrt und ging zurück. Im Gasthof war die Würfelpartie meist schon beendet, wenn ich wieder eintrat. Rezeption und Gaststube lagen verwaist im Halbschatten, es roch durchdringend nach Tabak und Alkohol. Nur vom oberen Korridor kam ein letzter Lichtschein – die Wirtin schaltete dort jeden Abend die Wandleuchte ein, damit ich den Weg zu meinem Zimmer fand.

Schließlich lag ich im Bett; das Fenster war geöffnet, frische Nachtluft erfüllte den Raum. Wenn ich die sonnenhellen Bilder des Tages noch einmal an mir vorüberziehen ließ, wurde das Gefühl von Harmonie und innerem Frieden stärker denn je. Es gab nichts, das mich drängte, zur Eile antrieb, zur Pflicht rief. Nur das Hier und Jetzt zählte.

Die Versuche, das Dorf auf dem Straßenplan wiederzufinden, hatte ich längst eingestellt. Mittlerweile erschien mir mein Standort unwichtig, ähnlich wie die Tatsache, dass es hier keinen Empfang gab, weder für Telefon noch für Radio oder Zeitsignal. Die Recherche nach Lennard hingegen stand noch auf dem Plan; allerdings forcierte ich dieses Vorhaben nicht. Ich würde es wissen, sobald damit zu beginnen war.

Bis dahin wollte ich einfach nur hier sein.



***



Mein üblicher Gang nach dem Abendessen durch den nächtlichen Ort. Ich staunte nicht schlecht, als vor mir eine schlanke, hochgewachsene Person im diffusen Licht der Straßenlaternen auftauchte. Von der Statur her hätte es der Wirt sein können, aber dem war ich gerade begegnet: Er schwang im Gasthof den Würfelbecher, wie üblich.

Wer mochte das sein? Noch nie war mir zu dieser Stunde hier draußen ein Mensch begegnet. Neugierig heftete ich mich an die Fersen des geheimnisvollen Wanderers, der es eilig zu haben schien: Ziemlich schnell lief er Richtung Dorfgrenze, immer nur als Schatten zu erkennen. Manchmal schien es, als wäre er in eines der Gässchen abgebogen und verschwunden, aber jedes Mal tauchte er unvermittelt wieder vor mir auf.

Kurz vor dem Ortsausgang sah ich ihn plötzlich haltmachen und warten. Mir wurde unbehaglich: Hatte er etwas gemerkt? Wollte er mich zur Rede stellen? Ob ich besser in eine der Seitengassen verschwinden sollte, um Ärger zu vermeiden? Andererseits war es nicht verboten, hier herumzulaufen; ebenso gut konnte ich ein Tourist sein, der eine abendliche Dorfbesichtigung unternahm. Beruhigt und ermutigt durch diesen Gedanken setzte ich meinen Weg fort.

Der Unbekannte rührte sich nicht von der Stelle, man sah nur seinen Umriss, der nahezu mit dem Schatten der Häuser verschmolz. Weshalb verbarg er sich? Irgendetwas stimmte hier nicht. Meine Nerven waren auf einmal zum Zerreißen gespannt, ich ahnte, dass etwas Unangenehmes passieren würde. Fast hatte ich die dunkle Gestalt erreicht, wollte mich schon räuspern, einen Guten Abend wünschen – da drehte er sich mit einem Ruck zu mir um. Aber was war das für ein Gesicht? Eingefallene Wangen, schwarze Augenhöhlen, die Gesichtshaut ledrig, ausgetrocknet und von leichenhafter Blässe… der Schädel eines Untoten prangte vor mir, eines lange Gestorbenen!

Nur die Augen selbst verrieten, dass der Mensch dort noch lebte: Stechende Pupillen fixierten mich, bohrten sich geradezu in mich hinein, während das Weiße fahl im Dunkel zu leuchten schien – mir blieb vor Entsetzen die Luft weg… und dann war er fort, mit einem Schlag verschwunden. Ich starrte perplex nach vorn, suchte fieberhaft den menschlichen Umriss, den ich gerade noch gesehen hatte – aber nur das unverputzte Mauerwerk ragte vor mir auf. Ich kniff die Augen zusammen, überblickte die Dorfstraße in beide Richtungen – vergeblich, alles war völlig einsam.

Von irgendwoher streifte mich plötzlich ein kalter Luftzug; gleichzeitig hörte man Schritte, die sich rasch entfernten. Es klang, als würde jemand eilig das Weite suchen. Ein schmaler Durchgang war nun zwischen den Häusern zu erkennen, eine winzige, fast unsichtbare Passage – exakt dort, wo ich eben noch massives Mauerwerk gesehen hatte!

In diesem Moment begann die Kirchturmuhr zu schlagen – Mitternacht. Eisiges Schaudern legte sich um mein Herz. Ging dies alles noch mit rechten Dingen zu? Ich wollte zum Gasthof zurücklaufen, so rasch wie möglich – aber dann vollzog meine Stimmung eine abrupte Kehrtwende: Was hatte es mit dem Spaziergänger auf sich? Sein plötzliches Erscheinen war kein Zufall, sagte mir eine innere Stimme. Irgendetwas sollte ich durch ihn erfahren, etwas ungeheuer Wichtiges. Schließlich dieses Gesicht… für Sekundenbruchteile nur hatte ich es gesehen, und doch kam es mir seltsam bekannt vor.

Nach kurzem Zögern wagte ich es, das Dunkel zwischen den Häusern zu betreten. Modriger Geruch stieg mir in die Nase, von irgendwo hörte man es herabtropfen. Ich musste mich mit ausgestreckten Händen vortasten, so komplett finster war es. Nur weit oben, zwischen den Dachtraufen, erkannte man undeutlich einen Streifen des Sternenhimmels. Manchmal gluckerte und plätscherte es leise, wie von einem Bach oder Abfluss; in der Ferne ertönte immer wieder der Ruf eines Käuzchens. Und die ganze Zeit tappten vor mir die Schuhsohlen aufs Pflaster.

Wohin zog es den Nachtwandler? Lang konnte das Gässchen nicht sein, von meinen Rundgängen wusste ich, dass man überall schnell an die Dorfgrenze kam. Aber die wollte zu meiner großen Verwunderung nicht auftauchen. Dafür ließ sich nun von überall her leises Zischen und Fauchen vernehmen. Und was waren das für Schatten, die an den Hauswänden entlangstrichen, über Mauersimse und Balkone huschten? Je mehr die Finsternis meine Sinne schärfte, desto deutlicher bemerkte ich rege Geschäftigkeit um mich, ein emsiges Tun unsichtbarer Wesen!

Der Fremde hingegen war offenbar verschwunden. Auf einmal wurde mir bewusst, dass man seine Schritte nicht mehr hörte; er schien wie vom Erdboden verschluckt. Blankes Entsetzen packte mich. Was geschah hier? Welcher Teufel hatte mich geritten, des Nachts hierherzukommen? Ich machte auf dem Absatz kehrt und begann mich durch die Finsternis zurückzuarbeiten. Die Abenteuerlust war mir gründlich vergangen – bloß wieder zur Dorfstraße, wo Licht war, jedenfalls ein bisschen!

Wo blieb der Durchgang? Hatte ich irgendeine Abzweigung verpasst und lief jetzt komplett ins Leere? Immer enger umschloss mich das Schwarz; es fühlte sich an wie ein dickes, schweres Tuch, das mir allmählich die Luft abdrückte. Nichts wie raus hier, sonst erstickte ich! Die Panik ließ sich nicht mehr zurückhalten; blindlings rannte ich los, stolperte über Kantsteine, kollidierte mit Mauervorsprüngen und Hausecken. Dann war irgendwelches Blechgeschirr im Weg, das laut scheppernd übers Pflaster rollte. Ich rutschte aus, fiel nach vorn, spürte das glitschige Pflaster unter meinen ausgestreckten Händen, einen brennenden Schmerz in den Knien…

Vorsichtig kam ich wieder hoch – außer ein paar Schrammen hatte ich mir anscheinend nichts zugezogen. Ich glaubte zu erkennen, wie in den oberen Etagen der Häuser Köpfe sich rasch in dunkle Fensteröffnungen zurückzogen, Läden wieder zugeklappt wurden – aber als ich schaute, war da nichts mehr. Dafür entdeckte ich endlich das Licht der Gasse: Der Ausgang aus diesem verfluchten Tunnel lag nicht mehr weit entfernt! Ich tastete mich weiter vorwärts – und kam schließlich exakt wieder an den Punkt, wo ich die Passage vorhin betreten hatte.

Als ich zum Gasthof zurückging, hatte ich das deutliche Gefühl, nur sehr knapp einer Gefahr entronnen zu sein.



***



Der folgende Tag begann wie jeder andere: Ich stand zur gewohnten Zeit auf, duschte, packte den Rucksack und ging hinunter zum Frühstück. Anschließend brach ich zum obligatorischen Rundgang auf, für den ich mich in meinen Stammladen mit Obst eindeckte. Alles schien wie immer.

Erst beim Gang über die Dorfstraße spürte ich die Aufregung. Es brodelte regelrecht in mir, eine Mischung aus Angst und brennender Neugier beherrschte mich vollkommen. Je näher ich der Stelle kam, an der nachts der Unbekannte verschwunden war, desto stärker wurde es. Ob das alles wirklich so stattgefunden hatte? Bei Tageslicht erschien mir das vermeintliche Erlebnis eher wie ein Traum, ein furchtbarer Nachtmahr… und plötzlich stand ich erneut vor dem Durchgang!

Es gab ihn also wirklich. Obwohl man ihn durchaus übersehen konnte, so schmal und unscheinbar, wie er war. Gleichwohl – er existierte! Auch dieser feucht-kalte Luftzug war wieder zu spüren. Mein Herz raste… was würde passieren, wenn ich es wagte, diesen finsteren Spalt erneut zu betreten? Lauerte am helllichten Tag dieselbe Gefahr, die man nachts so deutlich hatte spüren können?

Zum Glück war das kurze Stück Dunkelheit rasch durchquert. Als ich wieder ins Freie kam, traute ich meinen Augen kaum: Ein idyllisches Gässchen lag vor mir, lichtdurchflutet und gesäumt von windschiefen Häusern, die allesamt sehr alt sein mussten. Nichts hatte ich weniger erwartet als diesen Anblick pittoresken, verspielten Giebelwerks, das sich rechts und links in die Höhe zog. Verzaubert folgte ich den Windungen der engen Passage. Geöffnete Fensterläden erlaubten den Blick ins Innere der Häuser; man sah geweißte, einfach eingerichtete Räume. Weinlaub rankte sich an Holzgestellen über dem Pflaster und milderte das grelle Sonnenlicht, das jetzt, kurz vor Mittag, nahezu senkrecht einfiel. Ein angenehm kühler Wind ging, ein paar Katzen räkelten sich in der Sonne. Alles hier wirkte malerisch und versponnen; ein schöneres Stück Dorf hatte ich bislang nicht gesehen.

Bald – allzu bald! – erreichte ich die Häusergrenze. Die gepflasterte Gasse ging hier in einen unbefestigten Pfad über, der ins Gelände hinausführte. Ich begriff sofort: mein Weg! Es konnte sich bloß um jenen geheimnisvollen Bergpfad handeln, den ich so oft mit Blicken verfolgt hatte, von meinem Ruhewinkel unter den Bäumen aus. Plötzlich war das Gefühl der letzten Nacht wieder da, diese Gewissheit, dass ich etwas erfahren würde, erfahren sollte. Es gab jetzt keine Ausrede mehr, ich musste den Weg in Angriff nehmen, sofort, auf der Stelle! Die Zeit war endlich reif.

Ausgerechnet heute hatte ich eine zweite Flasche Wasser mitgenommen, auch in Sachen Obst war ich reichlicher versorgt als sonst. War das eine Vorahnung gewesen? Hatte ich gespürt, dass etwas Besonderes passieren würde? Nur ein einziges Problem gab es: die Uhrzeit. Armbanduhr und Handy verweigerten nach wie vor ihren Dienst, weshalb ich beides längst nicht mehr auf meine Rundgänge mitnahm. Also musste der Sonnenstand genügen. Notfalls wurde die Tour eben abgebrochen und der Rückweg angetreten.

Der Pfad lief zunächst über Wiesen und Felder. Eine Schafherde, in der Nähe des Dorfes grasend, wurde durch mein Kommen aufgescheucht, blökend rannten die Tiere auseinander. Dann tauchte zu meiner Überraschung ein Wald vor mir auf. Vom Aussichtspunkt hatte man ihn nicht sehen können, vielleicht, weil er in einer Senke lag. Mit einem Schlag legte sich der Bergwind, es wurde kühl und still. Kiefern wechselten sich ab mit Pinien, der Boden war mit einer dicken Schicht Nadeln bedeckt. Manchmal ging der Blick auf kleine, versteckte Lichtungen, wo Agaven sich der Sonne entgegenstreckten. An feuchten Stellen zeigte sich dunkelgrünes, würzig duftendes Moos. Aber meistens roch es intensiv nach Tannenholz und Harz – unwillkürlich fühlte ich mich in die heimatlichen Mittelgebirge versetzt, trotz der südlichen Vegetation und des trockenen Klimas.

Zwischen benachbarten Baumstämmen waren oft riesige Spinnennetze aufgespannt. Manchmal reichten sie quer über den Weg; man musste höllisch aufpassen, nicht hineinzulaufen. Auch die Erbauer dieser tückischen Gebilde sah man erst auf den zweiten Blick, obwohl sie stets schauderhaft groß waren, ähnlich wie seinerzeit in der Spinnenhöhle. Einige lauerten am Rand ihres Konstrukts, andere hockten zu einer schwarzen Kugel zusammengeballt im Zentrum. Wobei sich in keinem der Netze Beute befand; auch sah man nirgends Schwärme von Mücken oder anderen Insekten in der Luft – wovon mochten sie sich ernähren, die Biester?

Der Wald war nicht sehr ausgedehnt; bald kam ich wieder ins Freie und lief über eine Felsebene. Jeder meiner Schritte wirbelte den feinen, hellen Sand hoch, der hier den Grund bedeckte. Die Hänge aus Granitgestein leuchteten nahezu weiß in der Nachmittagssonne. Inseln aus Moos und kargen Flechten breiteten sich manchmal darüber. In den Senken lagen kleine Teiche, deren makellos glatte Wasserflächen die umliegenden Felsen widerspiegelten. Wenn sich der Blick in die Ferne öffnete, sah ich weitere Berge, nichts als Berge.

Trotz der hochstehenden Sonne blieb die Hitze angenehm; eine fortwährende Brise strich über die Höhen und ließ den Schweiß auf der Haut schnell verdunsten. Allerdings war hier draußen die Trockenheit umso stärker zu spüren. Meinen ersten Liter Wasser hatte ich bereits getrunken, der zweite war aus der Glas- in die Leichtmetallflasche umgefüllt. Wenn auch der aufgebraucht war, wollte ich die Flasche einfach aus einem der Seen nachfüllen; sicher konnte man ihr Wasser gefahrlos trinken, so kristallklar, wie sie waren.

Ständig veränderte sich die Umgebung. Erst war alles wild zerklüftet, Felsen lagen zerschmettert und zerbröselt am Boden, als hätten Riesen sich hier ausgetobt. Kurz darauf umstanden mich zahllose Findlinge, Stelen, Monolithen in strenger, fast geometrischer Ordnung. Schließlich fand ich die Granitfelsen ringsum abgeschliffen, regelrecht poliert von den Elementen; man hatte den Eindruck, zwischen spiegelnden Marmorplatten gigantischen Ausmaßes entlangzulaufen.

Der Pfad stieg bergan, führte über Grate hinweg und fiel immer wieder in tiefe Senken ab. Ich setzte meine Schritte mit Bedacht, wollte unbedingt vermeiden, im Geröll auszurutschen. Was, wenn ich mich verletzte, mir das Fußgelenk verstauchte oder schlimmeres? Wer hätte mich hier draußen, in diesem kompletten Nichts, jemals gefunden? Aber seltsam: Ich fühlte mich keinen Moment allein oder verlassen, empfand im Gegenteil tiefe Geborgenheit und Harmonie. Es war, als würde eine schützende Macht mich umgeben. Ihr konnte ich mich anvertrauen, alles wurde leicht unter ihrer lenkenden Hand.

Bald war ich in geradezu euphorischer Stimmung. Die Sehnsuchtsbilder aus der Zeit vor meiner Reise kamen mir in den Sinn: War hier nicht alles genauso, wie ich es mir damals erträumt hatte? Ein Dorf, so abgeschieden und ursprünglich, dass es seinesgleichen suchte. Dazu eine Landschaft, die in ihrer Endlosigkeit schlicht atemberaubend war. Das sonnendurchflutete Paradies meiner Träume – es existierte wirklich, ich konnte es mit eigenen Augen sehen!

An einem der Bergseen machte ich halt. Eigentlich wollte ich bloß, wie geplant, meine Wasservorräte auffrischen, aber dann war der Anblick doch zu verlockend: Ich warf die Klamotten von mir und sprang ins kühle Nass. Blitzschnell war der Kreislauf wieder in Gang gebracht, das dumpfe Pochen hinter der Stirn vertrieben, das sich zuletzt eingestellt hatte, vermutlich durch die permanente Sonne. Fürs Abtrocknen musste der Pulli herhalten, den ich sicherheitshalber mitgenommen hatte. Rundum erfrischt machte ich mich über den Mittagsimbiss her, tankte Kraft für den weiteren Weg. Noch immer wusste ich nicht, wohin er mich führen würde, aber ich vertraute der unbekannten, schützenden Macht. Sie würde nicht zulassen, dass ich mich hier draußen verirrte.

Beim Weitergehen überkam mich ein merkwürdiges Vibrieren, eine Spannung wie vor einem bedeutenden, einschneidenden Ereignis. Fortwährend schaute ich mich jetzt um, suchte die schroffen Felslinien am Horizont ab. Etwas Wichtiges würde gleich geschehen, dessen war ich gewiss. Schließlich blieb mein Blick an einem bestimmten Punkt hängen, einem von Dunstschleiern verhüllten Gipfel… der Berg in den Wolken! Eines der Motive auf Lennards Postkarte!

Der Anblick war überwältigend, er machte mich regelrecht versunken: ein gewaltiges Bergmassiv, höher als alle anderen, dessen Gipfel in einer Krone aus Wolken verschwand. Zugleich erschien das Phänomen äußerst rätselhaft: Woher kam dieser Dunst, der dort beständig an der Bergspitze aufquoll, während der Himmel ringsum von makellosem Azur war? Mein Weg führte direkt auf das bizarre Naturschauspiel zu; es wirkte wie eine Einladung, eine regelrechte Aufforderung, das Mysterium zu enthüllen. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen: Ein kurzes Durchatmen, dann marschierte ich strammen Schritts dem Gipfel entgegen.

Aber seltsam: Ich schien mich kaum vom Fleck zu bewegen, aller Anstrengung zum Trotz. Unermüdlich lief ich, schonte mich nicht, legte Kilometer um Kilometer zurück, aber das Bergmassiv verharrte in der Ferne, unerreichbar, schweigend, abweisend. Es war wie auf der Autofahrt, als die Grünen Riesen des Inselinnern nicht hatten näherrücken wollen.

Und wie seinerzeit änderte sich irgendwann meine Wahrnehmung: Auf einmal schien der Berg gar nicht mehr so weit entfernt, sondern im Gegenteil ziemlich nah. Himmelhoch türmte er sich vor mir auf, majestätisch, geradezu bedrohlich, als wollte er sagen: bis hierher und keinen Schritt weiter! Und diese Wolkenknäuel da oben um den Gipfel – erinnerten sie nicht an einen Vorhang? Sollte dort etwas verborgen werden vor den Blicken Unbefugter?

Aber trotz einer inneren Stimme, die mich eindringlich ermahnte, wollte ich nicht umkehren. Inzwischen war die Sonne verschwunden; ein dämmriger Grauschleier hatte sich über die Landschaft gelegt, wie vor einem Unwetter. Mit Schrecken gewahrte ich, dass die Wolkenkrone nicht länger über mir war, sondern mit mir auf einer Höhe. Und sie lag auch nicht mehr leblos und starr dort wie bisher, sondern umströmte, umwallte den Gipfel in stetiger Drift. Strukturen und Muster waren jetzt in den Nebelschleiern zu erkennen, an lebendes Gewebe erinnernd. Alles dort atmete, zuckte, pulsierte, dehnte und zog sich wieder zusammen.

Und fortwährend wuchsen Arme aus dem rätselhaften Ding hervor, lange Fühler. Lautlos glitten sie über den Boden, betasteten und prüften alles sorgfältig… und zerflossen schließlich wieder, lösten sich auf. Zugleich entstanden anderswo neue Gliedmaßen und gingen ihrerseits auf die Reise. Waren diese Arme nicht wie Wächter? Erkundeten sie nicht die Umgebung des Gipfels nach Eindringlingen, Fremdkörpern? Was, wenn sie mich entdeckten? Ich hatte mich frech ins Reich des Bergs vorgewagt, hatte unerlaubt seinen Bannkreis betreten. Stellte ich nicht eine Gefahr für ihn und sein Geheimnis dar?

Das war natürlich blanker Unsinn, ich wusste es, und doch überkam mich eine unerklärliche Angst. Auf einmal erschien mir der Berg wie ein bewusst handelndes Wesen, und die Wolkenkrone war sein Werkzeug, sein Schutzmechanismus. Ich musste hier weg, sofort!

Der nächste Arm, der herankroch wie ein gigantischer Tentakel. Wenn er mich fand, war ich verloren! Er würde mich einhüllen und mit sich fortreißen… und doch konnte ich nichts tun. Ein heftiges Zittern durchlief mich, meine Beine waren plötzlich wie versteinert. Ich war bewegungsunfähig, längst gefesselt, eingewoben, eine sichere Beute!

Es kostete unendliche Mühe, die Erstarrung zu durchbrechen; sämtlichen Willen musste ich aufbieten, die Konzentration überstieg fast meine Kräfte. Wie in Zeitlupe gelang es mir, zurückzuweichen, Stück um Stück, Zentimeter um Zentimeter…

… und mit einem Schlag war es vorbei. Die Wolkenschleier wanderten gemächlich an der Bergwand entlang, kümmerten sich nicht mehr um mich. Offenbar hatte ich den unmittelbaren Machtbereich des Gipfels verlassen. Raschen Schrittes entfernte ich mich, wollte möglichst schnell viel Abstand zwischen mich selbst und jenes geisterhafte Wesen bringen, das dort wirkte. Bald schien die Sonne wieder von einem klaren Himmel, die Wärme kehrte zurück und löste meine Glieder. Als ich erneut nach hinten schaute, zeigten die Wolken ihr altes Weiß und befanden sich wieder ein gutes Stück über mir. Reglos und friedlich lagen sie um den Gipfel des Bergmassivs, als würden sie schlafen.

Erleichtert atmete ich aus. Jetzt, da ich in Sicherheit war, konnte ich über mich selbst lachen. Ein Berg mit Bewusstsein – so eine verrückte Vorstellung! Trotzdem hätte in diesem Augenblick nichts mich bewegen können, noch einmal zurückzugehen…

Dann brach sich ein anderes Gefühl in mir Bahn: Enttäuschung. Der Blick von so einem Gipfel – wie gewaltig musste er sein! Vermutlich konnte man in alle Richtungen bis zum Wasser schauen und sich überzeugen, dass dies eine Insel war, ein winziger Kieselstein bloß inmitten der unermesslichen See. Aber diese großartige Erkenntnis blieb mir versagt, denn dort oben lag dieser Schleier, dieser dichte Nebel, hartnäckig, unüberwindlich, ewig. Ich musste mich in meine begrenzte Wahrnehmung fügen.

Aber letztlich war ich zufrieden mit mir. Ich hatte es gewagt, den engen Horizont des Dorfes zu überwinden, hatte mir selbst ein Bild von der Gegend gemacht. Und war ich nicht reichlich belohnt worden? Mit dem Anblick einer unberührten Landschaft von ergreifender Schönheit, dem Empfinden einer nie gekannten inneren Harmonie? Und obwohl der Berg in den Wolken mich zurückgewiesen hatte: Allein sein Anblick war grandios und aller Mühen wert gewesen! Zudem hatte er mich endlich wieder an mein Vorhaben gemahnt: die Suche nach Lennard.

Fast bedauerte ich es, als der Ort wieder vor mir auftauchte. Aber wie sehr hatte der Eindruck sich gewandelt seit heute morgen, da ich aufgebrochen war: Überall tobten Kinder durch die Straßen; lautes Lachen erfüllte die Luft, ausgelassenes Kreischen hallte von den Hausmauern wider. Gerade hatte ich mich noch danach gesehnt, die durchgeschwitzten Klamotten loszuwerden und eine Dusche zu nehmen, aber beim Anblick dieser Lebensfreude vergaß ich alle Erschöpfung wieder. Ich ließ mich einfach treiben, voller Staunen über die veränderte Atmosphäre in diesem bislang immer so stillen Ort, angesteckt von der Leichtigkeit, dem Übermut. Und obwohl ich ja fremd war, hatte ich doch das Gefühl, Teil des bunten Reigens zu sein.

Als ich in den Dorfgasthof zurückkam, war die Rezeption unbesetzt. Auch die Würfelrunde hatte noch nicht begonnen, der Ecktisch der Spieler war leer. Oben auf dem Flur stellte ich überrascht fest, dass die Tür zu meinem Zimmer weit offenstand. Hatte ich morgens beim Aufbruch vergessen, sie hinter mir zu schließen? Es wäre das erste Mal gewesen.

Mit einem unguten Gefühl ging ich hinein – und stand dem Gastwirt gegenüber. Er glotzte mich an, irritiert, sogar ziemlich erschrocken über mein abruptes Erscheinen. Dachte ich jedenfalls im ersten Moment. Erst nach einigen Sekunden begriff ich, dass etwas nicht stimmte: Er wirkte wie in Trance, schien nichts um sich herum wahrzunehmen. Sein Blick war verschleiert, unablässig bewegten sich seine Lippen, murmelten, hauchten Worte. Es klang wie „Plateau“ oder „Chateau“, manchmal glaubte ich auch ein „Cimetière“ herauszuhören. Das Bild eines Ertrinkenden schoss mir durch den Kopf, dem allmählich die Sinne schwinden, während etwas ihn unerbittlich in die Tiefe zieht…

In einer Hand hielt er ein Stück Karton oder Pappe – erst beim zweiten Hinschauen erkannte ich die Ansichtskarte, Lennards Karte! Panisch griff ich danach, wollte sie ihm entreißen, notfalls Gewalt anwenden – aber nun fing er am ganzen Körper heftigst zu zittern an. Es schüttelte ihn regelrecht, er zuckte und bebte wie unter einem Nervenkrampf. Seine Finger öffneten sich, die Karte schwebte herab; dann begann er langsam nach vorn zu kippen. Instinktiv hob ich die Arme, um den Stürzenden aufzufangen – als ihn plötzlich ein Ruck durchlief, wie bei einem starken Stromschlag. Er wurde wieder klar, sein Blick erfasste die Umgebung. Leichtes Erschrecken, als er mich sah, in seinem Gesicht entstand ein serviles, entschuldigendes Grinsen. „Excusez moi“, murmelte er, „nettoyé… nettoyé votre chambre.“ Unter Verbeugungen ging er rückwärts aus dem Raum, stammelte ein letztes „Excusez“ und schloss die Tür; dann hörte man polternde Schritte auf der Treppe.

Es dauerte einen Moment, ehe ich mich von dem Schreck erholt hatte. Vorsichtig hob ich Lennards Karte vom zerschlissenen Läufer auf, strich sie glatt und stellte sie wieder an ihren Platz neben der Nachttischlampe. Was hatte den Wirt daran so entsetzt? Er verkaufte diese Art Karten doch selbst unten in der Gaststube.

Hing es vielleicht damit zusammen, dass jemand die Karte von hier abgeschickt hatte, an eine andere, außenstehende Person? War es seine Aufgabe gewesen, so etwas zu verhindern? Und hatte er möglicherweise nicht zum ersten Mal versagt? Wusste er, dass jetzt das Maß voll war? Das hätte sein Verhalten während der abendlichen Würfelrunden erklärt, diese bemühte gute Laune, die geradezu hysterisch wirkte, als sollte sie ein anderes Gefühl zudecken: Verzweiflung, Angst, nacktes Entsetzen vor dem, was bevorstand. Rechnete er mit einer furchtbaren Bestrafung?

„Plateau“ hatte er gestammelt, und „Chateau“, also Schloss. Beide Wörter lösten bei mir rein gar nichts aus. Den Friedhof allerdings, den „Cimetière“, kannte ich. Wobei ich bei meinem ersten Besuch dort nichts Ungewöhnliches bemerkt hatte, abgesehen von den beeindruckend alten Jahreszahlen auf den Grabsteinen. Ob ich noch einmal hingehen sollte?

„Nettoyé la chambre“, das Zimmer saubergemacht – lächerlich! Nie hatte ich den Gastwirt bislang auch nur einen Finger rühren sehen, außer bei seinem lustlosen, pflichtschuldigen Gläserputzen am Tresen.

Was geschah hier?



***



Mein neuerlicher Besuch des Friedhofs am folgenden Tag war wenig erhellend. Systematisch schritt ich die Sandwege ab, inspizierte die Inschriften, die Jahreszahlen auf den Grabsteinen, hielt permanent Ausschau nach irgendetwas Ungewöhnlichem. Aber wonach sollte ich suchen? Was konnte es hier geben, das auf ein Plateau oder Schloss hinwies? Missmutig wanderte ich herum, ohne zündende Idee, ohne die Spur eines sinnvollen Gedankens.

Über mir leuchtete der Himmel in seinem gewohnten Blau, fortwährend rauschten die Bäume im warmen Bergwind. Kleine, bunt-schillernde Vögel sausten durch die Luft, ließen sich manchmal auf der Friedhofsmauer nieder und begannen aus voller Kehle zu singen. Dieser Flecken – er war magisch, voll rätselhafter Schönheit…

Irgendetwas veranlasste mich, den Felshang an der Rückseite des Areals in Augenschein zu nehmen. Woher kam plötzlich dieses eigenartige Schwingen und Vibrieren? Mit der Hand schirmte ich die Augen vor der Mittagssonne ab und betrachtete die gewaltige, zerklüftete Granitwand, die sich bestimmt 30 Meter in die Höhe zog. Allmählich verschleierte sich mein Blick, immer stärker verschwamm vor meinen Augen der schrundige Fels… bis endlich der schmale Riss im Gestein sichtbar wurde, eine hauchfeine Linie nur, kaum zu erkennen. Im Zickzack wand sie sich durch den Hang aufwärts, offenbar bis zur oberen Kante.

Aber wo begann sie hier unten? Ohne mir dessen bewusst zu sein, setzte ich mich in Bewegung, schritt an der Felswand entlang. Die seltsame Energie schwoll allmählich an – um kurz darauf wieder abzunehmen. Es war, als hätte ich einen kritischen Punkt passiert. Ich machte kehrt, ging wieder zurück, so behutsam wie möglich. Da kam es wieder: ein leises Erzittern der Luft, ein feines Singen und Tönen… es wurde stärker, deutlicher, intensiver. Ich schloss die Augen, überließ mich vollkommen der Wärme, die mich umgab wie ein unsichtbarer Kokon. Immer weiter drosselte ich das Tempo, bewegte mich schließlich wie in Zeitlupe. Die Schwingungen waren jetzt geradezu körperlich zu spüren, ein Beben und Vibrieren des Bodens, das die Fußsohlen angenehm kitzelte…

Als ich wieder schaute, war im Fels eine Öffnung aufgetaucht, ein dämmriger Tunnel, an dessen Ende Stufen in die Höhe liefen. Es war ein Déjà-vu: die Aussichtsplattform in Porto d'Arreccio, der Durchbruch in der Steinwand, die Treppe zum Felsplateau… das Plateau! Der Wirt und sein konfuses Geplapper: Cimetière, Plateau!

Unwillkürlich tastete ich nach meinem Rucksack: Wie am Vortag war er gut gefüllt mit Proviant und Wasser – hatte ich geahnt, dass möglicherweise eine neue Wanderung bevorstand? Dann durchquerte ich entschlossen die enge Passage. Anders als in Porto d'Arreccio gab es diesmal keine Tür, die abends den Rückweg hätte versperren können, aber wieder bedeckte feiner, heller Sand die Treppenstufen.

Der Aufstieg fiel leicht, trotz der beträchtlichen Steigung und der brennenden Mittagssonne. Bald lagen Ort und Kirche ein gutes Stück unter mir; der viereckige, wuchtige Turm wirkte aus dieser Perspektive geradezu fragil. Oben empfing mich kein Gipfelkreuz, aber der Pfad, der sich an die Treppe anschloss und ins Land lief, existierte auch hier. Dass ich ihn gehen würde, stand außer Frage. Cimetière, Plateau – bisher ergab alles Sinn, was der Wirt gemurmelt hatte. Würde ich schließlich auch sein Chateau finden?

Zunächst ging es über karges, steiniges Hochland. Ein angenehmer Wind wehte, die Temperaturen waren trotz der Sonne moderat. Bald veränderte sich die Beschaffenheit des Geländes; die Sträucher wurden zahlreicher, auch wuchsen sie höher und üppiger. Kiefern tauchten auf, deren Wurzelwerk sich in den Spalten und Kerben des Felsgrundes festkrallte. Letzterer verschwand schließlich unter einer geschlossenen Grasdecke, was das Laufen bedeutend angenehmer machte: Kein Staub mehr, der hochwirbelte, kein tückisches Geröll, das einen wegrutschen ließ.

Seitlich des Weges brach das Gelände nun oft ein, tiefe Schluchten öffneten sich, an deren Grund die Vegetation exakt dieselbe war wie hier oben, nur lag alles 15, 20 Meter tiefer. Umgekehrt ragten vor mir plötzlich schroffe, mit Moos und Flechten überzogene Felswände auf, denen der Pfad in weitem Bogen ausweichen musste. Es schien, als hätte das Land sich zu einer gigantischen Treppe aufgeworfen, über deren Stufen ich lief. Einmal ergoss Wasser sich aus großer Höhe in einen See; die aufschäumende Gischt ließ einen Regenbogen entstehen, der Wasserspiegel glänzte in hellem Türkis. Der See lag in einem Steinbecken; kein Stäubchen Sand wirbelte auf, der Grund war bis weit hinaus sichtbar – ein riesiger Pool, allerdings ein komplett natürlicher.

Ich nahm wie gestern ein Bad, setzte mich danach am Ufer in die Sonne und machte Brotzeit. Während des Essens schaute ich immer wieder um mich, fassungslos, geradezu bestürzt über die Makellosigkeit dieses Fleckens, der gesamten Region. Weshalb nur fand sich in den Reiseführern nichts darüber? Weshalb ließen die Touristen sich dieses großartige Naturwunder entgehen? Aber mir sollte es recht sein, so hatte ich alles für mich allein.

Das Wasser des Sees hatte einen deutlich mineralischen Geschmack, wie ich beim Füllen meiner Flasche feststellte. Konnte man es gefahrlos trinken? Dann schüttelte ich den Kopf über meine Bedenken. Was sollte passieren? Hielt nicht jene unsichtbare Macht wieder ihre Hand schützend über mich? Ich fuhr mit dem Auffüllen fort, packte zusammen und ging weiter, voller Optimismus und Neugier.

Bald wurde die Umgebung wieder trockener. Der Weg zeichnete sich nur noch schwach im Sand ab, schien manchmal gänzlich verschwinden zu wollen, um wenig später erneut aufzutauchen, ein dünner Faden bloß, ein Rinnsal, getreten von den Wenigen, die vor mir hier gewesen sein mochten. Ich spürte mittlerweile eine gewisse Kurzatmigkeit, hatte auch leichtes Kopfweh. Meine Wahrnehmung schien eingeengt, beschränkt aufs nähere Umfeld. Der Himmel, obwohl nach wie vor klar, wirkte auf einmal wie abgedunkelt. Was war los? Konnte es mit der Höhe zusammenhängen? War die Luft dünner geworden? Auch die Temperatur schien gesunken zu sein, geradezu kühl strich mir der Wind inzwischen über die Haut, ich fröstelte. Mit einem Schlag wurde mir bewusst, dass ich wahrscheinlich noch nie so hoch gewesen war. Aufs Erklimmen des Wolkenberges, schätzungsweise der höchste Punkt der Insel, hatte ich am Vortag ja verzichtet.

Aber nach und nach stellte mein Organismus sich auf die Situation ein. Vollends hörte der Schwindel allerdings nicht auf, zudem war da immer wieder dieses Gefühl von Euphorie und Spannung, das mich schauerartig durchlief. Mittlerweile ragten zu beiden Seiten hohe Felswände auf, zwischen denen mein Pfad sich mühsam hindurchwand. Nur wenig Licht schaffte es nach hier unten, sodass der Eindruck entstand, es würde bereits dämmern, aber bis Sonnenuntergang musste es noch eine gute Weile hin sein.

Endlich tauchte der Ausgang des Nadelöhrs vor mir auf. Ich zögerte. Dieses Energiefeld, das ich bereits auf dem Dorffriedhof wahrgenommen hatte – anscheinend kam es von jenseits der Öffnung. War es klug, weiterzugehen?

Aber – wollte ich jetzt ernsthaft kneifen, wo ich meinem Ziel so nahe war? Ich gab mir einen Ruck und trat ins Freie. Gleißende Helligkeit traf mich, vor mir lag eine Ebene, überstäubt, überpudert mit einer schneeweißen Substanz. War es Wüstensand, Staub? Ein heißer, trockener Wind ging stoßweise in dies grazile Substrat und formte Kamine aus Dunst, lichte Säulen, die sich weit in den Himmel schraubten. Ein Reigen aus Formen und Figuren entfaltete sich vor mir, ein unaufhörliches Fließen und Strömen, Tanzen und Kreisen. Bleiche Schemen wanderten umher, menschliche Gestalten mit starren Gesichtern und leeren Augen. Verzweifelt irrten, hetzten sie über das Feldplateau, fanden aber nie, wonach sie suchten. Und wenn die Kraft sie verließ, sackten sie in sich zusammen, verschmolzen wieder mit dem Grund, während an anderer Stelle neue Leiber in die Höhe wuchsen.

Auch mich erfasste dieser Malstrom der Elemente; eine geheimnisvolle Thermik schien mich emporzuheben und über Sand und Geröll davonzutragen. Unvermittelt fand ich mich an einem schroffen Absturz wieder, hinter dem schwindelerregende Tiefe gähnte. Das Vibrieren war jetzt machtvoller denn je, der Himmel so erfüllt von Energie und Gluthitze, dass ich schier darin verging. Die Quelle jener mysteriösen Kraft – sie musste in allernächster Nähe liegen…

Unvermittelt beendeten die Staubfiguren ihren Tanz und sanken in den Wüstensand. Zugleich wuchsen jenseits der Schlucht Bergmassive empor, dehnten sich in den Raum, griffen ins Unendliche, zerflossen in Hitze und Licht. Und allmählich erkannte man im flirrenden Glast Zinnen und Dächer, Türme, Wehrgänge, mit Fenstern durchsetztes Mauerwerk… eine Burg, ein Schloss – das Chateau. Es thronte auf einer in die Schlucht ragenden, mächtigen Felszunge. Einer der Außentürme war gedrungen und wuchtig, während in der Mitte ein anderer schlank und hoch aufragte.

Der Anblick erschien unwirklich, eine Luftspiegelung nur, eine Vision, aber ich wusste, dass dem nicht so war. Wusste es, weil ich das alte Gemäuer nicht zum ersten Mal erblickte: Das Felsplateau über Porto d'Arreccio, das Dunstphänomen draußen auf dem Wasser, das Kastell zwischen den vermeintlichen Berggipfeln – hier war es wieder. Zwischen beiden Orten, dem Plateau über der Bucht und dieser Hochebene, bestand ein Zusammenhang. Gewiss keiner, der sich mit den Gesetzen der Physik hätte beschreiben lassen, aber deshalb nicht weniger real.

Als der geisterhafte Tanz der Staubfiguren wieder anhob, verschwand das Schloss. Aber ich wusste, dass es zu gegebener Zeit von neuem erscheinen würde. Ein nie erlebtes Gefühl mystischer Schönheit durchströmte und erfüllte mich; ich spürte, dass ich Einlass erhalten hatte in eine Welt, die den Menschen unserer Zeit normalerweise verschlossen blieb. Ich befand mich im Einklang mit mir selbst, war richtig, sinnhaft, gut. Ein Individuum und doch eingebunden in ein großes, allumfassendes Ganzes.

Beim Zurückgehen fand ich die vorhin noch makellos weiße Ebene in leuchtendes Rot getaucht – der Staub reflektierte die untergehende Sonne. Zusehends verdunkelte sich der Rotton, bis er die Farbe von Blut angenommen hatte. Ich ging, watete durch ein Meer aus Blut. Am liebsten hätte ich ein Bad darin genommen, auf dass die Kraft und die Magie dieses Ortes für immer in mir blieben…

Den Rückweg musste ich größtenteils im Dunkeln bewältigen, aber seltsam: Obwohl man kaum etwas erkennen konnte und mein Pfad doch nicht ungefährlich war mit all seinen Schluchten und Einschnitten, fühlte ich mich jederzeit behütet. Wieder war da diese mysteriöse, wohlwollende Macht, die mich leitete und acht gab, dass mir nichts zustieß.

Endlich sah ich im Tal die Lichter des Dorfes glimmen, kurz darauf erreichte ich die Treppe. Entgegen meiner Befürchtung verlief der Abstieg vollkommen problemlos; jeder Schritt fand seine Stufe, nie trat ich ins Leere oder rutschte weg. Es fühlte sich an, als würde ich regelrecht in die Tiefe schweben.

Im Gasthof war alles dunkel, nur vom oberen Flur kam wie üblich schwacher Lichtschein. Auf einem der Tische stand mein Abendessen bereit. Der Anblick der liebevoll drapierten Speisen, des Bestecks in seiner Stoffserviette, der Karaffen mit Wasser und Wein, rührte mich seltsam an. Erst jetzt merkte ich ich, dass mein Magen erbärmlich knurrte – mit Heißhunger machte ich mich über das Essen her.

Nachdem ich zufrieden die letzten Happen vertilgt hatte, begriff ich endlich, was heute fehlte: der Geruch nach Schnaps und Zigarettenqualm, den die Würfelspieler normalerweise hinterließen. Sie hatten sich offenbar nicht getroffen – zum ersten Mal, seit ich hier war.

In meinem Zimmer überfiel mich plötzlich bleierne Müdigkeit. Achtlos warf ich den Rucksack in die Ecke, ließ mich aufs Bett fallen und war sofort eingeschlafen. Nicht mal ans Duschen hatte ich noch gedacht.



***



In der Nacht schreckte ich hoch. Mir war, als hätte ich etwas Merkwürdiges gehört, einen Schrei oder ein ersticktes Rufen, irgendetwas, das nicht hierher gehörte.

Stille… Hatte ich mich getäuscht?

Nein, da war es wieder: Jemand keuchte, stöhnte, wimmerte. Im ersten Moment dachte ich an Sex, den Wirt und das Mädchen. Dann war sie wohl doch seine Frau oder Freundin. Genervt zog ich mir die Bettdecke über den Kopf – ich wollte das nicht hören, es ging mich nichts an…

Mir fielen bereits die Augen wieder zu, als plötzlich jemand aufschluchzte; es folgte ein Jammern und Weinen, das mir durch Mark und Bein ging. Missbrauchte er sie? Denkbar war das, so wie er abends in der Gaststube immer mit ihr umsprang. Ich musste endlich meine Feigheit überwinden und ihr helfen!

Das Schluchzen wollte nicht enden, es war zum Gotterbarmen. Was tat er ihr nur an? Und was sollte ich machen? Die Polizei konnte ich nicht rufen, ohne Akku und Empfang. Gab es irgendwo im Haus ein Festnetztelefon? Sollte ich einen schweren Gegenstand nehmen und den Kerl einfach niederschlagen? Der Kopf schwirrte mir. Ich versuchte aufzustehen und konnte mich doch nicht rühren.

Bald erkannte ich zu meiner großen Überraschung: Das verzweifelte Weinen und Wehklagen gehörte einem Mann! Offenbar hatte ich die ganze Zeit den Wirt gehört! Aber wie jämmerlich: Im Gastraum machte er den dicken Max, und nachts bekam er – weshalb auch immer – das große Plärren. Jetzt erkannte ich auch die Stimme der Wirtin: Fortwährend stieß sie wütende Sätze in der alten Inselsprache aus, fauchend, zischend, knurrend – waren es Drohungen? Flüche? Von wegen ängstlich – sie konnte offenbar auch austeilen! Beruhigt und erleichtert über die unverhoffte Auflösung des Rätsels drehte ich mich auf die andere Seite, um weiterzuschlafen.

Aber das Geheul schwoll immer weiter an, wurde bald zu einem hohen, schrillen Kreischen, das fast an ein Kind denken ließ. Trieben die beiden irgendwelche Sadomaso-Spiele? Aber eigentlich klang es nicht nach Spielchen. Absolut nicht. Eher, als würden ihm schlimmste Qualen zugefügt. Himmel, das war ja nicht zu ertragen! Was geschah dort nur? Alles in mir zog sich zusammen bei diesen Tönen, diesem verzweifelten Schreien. Was taten sie mit ihm? Welches Martyrium musste er durchleiden? Es war, als wollten sie das Innerste aus ihm herauspressen, ihn komplett brechen.

Die Frauenstimme begann sich ebenfalls zu wandeln, sie dehnte und verlangsamte sich, wurde so tief, wie es eigentlich nicht sein konnte. War das noch die Gastwirtin? Dieselbe schüchterne, mädchenhafte Person, die mir morgens immer das Frühstück servierte? Unwillkürlich sah ich eine finstere Kreatur vor mir, eine Ausgeburt der Hölle, die sich aus dem Körper der jungen Frau herauswand…

Jetzt hob ein merkwürdiges Trippeln an, das ich im ersten Moment überhaupt nicht einordnen konnte. Irgendetwas ließ mich an kleine Pfoten oder Klauen denken, die über Holzdielen tappten. Viele Pfoten, wahre Massen! Was immer dieses Geräusch erzeugen mochte – es hauchte dem Gastwirt, der zuletzt nur noch erschöpft gewimmert hatte, neues Leben ein: Er stieß einen markerschütternden Schrei aus, man hörte ihn in absoluter Todesangst stammeln, flehen, betteln. Aber als Antwort kam bloß tiefes, hässliches Lachen, gefolgt von einem Fauchen, fast Brüllen. Das Jammern erstarb in einem gurgelnden Laut; etwas Massiges fiel polternd zu Boden. Schließlich Stille.

Atemlos lauschte ich ins Dunkel. Etwas Furchtbares musste dort unten geschehen sein, etwas unsagbar Grauenvolles!

Bald drang ein neues Geräusch an mein Ohr, ein lautes, äußerst unappetitliches Schmatzen und Saugen, das mir Schauer des Ekels über den Rücken trieb. Konnten das Zähne sein, die sich in Fleisch schlugen, Stücke herausrissen und lustvoll zerkauten? Die Laute vervielfältigten sich, als würden immer mehr ihrer Verursacher zusammenströmen. Angstvoll rollte ich mich unter der Bettdecke zusammen, wagte nicht mehr, mich zu rühren. Was war dies für ein Ort? Welche Kreaturen trieben hier ihr Unwesen? Vor allem aber: Ich wurde den Verdacht nicht los, dass die Ereignisse unten im Gastraum mit der Begegnung zwischen dem Wirt und mir zu tun hatten, gestern in diesem Zimmer…

Der Gedanke war kaum zu Ende gedacht, da setzte erneut das irritierende Trippeln ein. Die Holztreppe begann zu knarren, wie unter großem Gewicht – etwas kam nach oben! Immer lauter wurde das Tappen, die Dielen zitterten, die Fensterscheiben klirrten leise. Eine Lawine rollte heran, machtvoll, brodelnd, donnernd - und plötzlich riss das Geräusch unvermittelt wieder ab.

Während ich mir noch das Hirn zermarterte, was wohl vor sich ging, hörte man vom Flur jetzt leises Zischeln, Flüstern und Quieken; manchmal mischten sich auch knurrende Laute darunter, ähnlich denen, die vorhin die Gastwirtin ausgestoßen hatte… und endlich begriff ich: Sie waren direkt vor meiner Zimmertür, diskutierten, was zu tun war! Starr vor Entsetzen beobachtete ich die Klinke – begann sie nicht zu ruckeln? Senkte sie sich nicht herab? Tauchte nicht ein Spalt zwischen Türblatt und Rahmen auf? Mein Herz krampfte sich zusammen, ich machte mich bereit für ein unsagbar grauenvolle Ereignis…

Aber nichts geschah. Etwas schien plötzlich innegehalten zu haben; ein winziger Augenblick der Ruhe war entstanden. Dann hob das Wogen und Rumoren von Neuem an, dieses Tappen unzähliger Füßchen auf den Dielen. Es wurde rasch leiser, entfernte sich, hörte schließlich auf.

Meine Sinne blieben bis zum Äußersten angespannt. Jeden Augenblick rechnete ich damit, dass die Geräusche zurückkehrten, dieses bedrohliche Trippeln, das Flüstern vor meiner Tür. Oder dass es unten in der Gaststube wieder zu schmatzen und zu kauen anfing.

Minuten verstrichen, eine Stunde… aber nichts rührte sich mehr. Allmählich kam die Müdigkeit zurück, überlagerte meine innere Anspannung. Und endlich erlöste mich der Schlummer.



***



Strahlender Sonnenschein fiel in den Raum, als ich die Augen öffnete, auf der Bettdecke lag ein Lichtfleck mit dem Muster der Gardine. Der Wecker zeigte viertel nach elf – so spät war ich bisher noch nie aufgewacht. Aber ich fühlte mich ausgeruht und frisch, was nach der letzten Nacht zumindest überraschend war. Die Zimmertür fand ich abgeschlossen vor, der Schlüssel steckte. Niemand konnte also des nachts die Tür von außen geöffnet haben…

Mit einem mulmigen Gefühl ging ich nach dem Duschen zum Frühstück hinunter – was würde nun passieren? In der Gaststube war niemand, auch von hinten aus der Küche hörte man keinerlei Geräusche. Aber auf einem der Tische stand mein Tablett bereit. Der Kaffee dampfte in seinem Metallkännchen, die gerösteten Brotscheiben waren noch warm. Jemand musste alles gerade erst angerichtet haben. Während des Essens suchte ich mit Blicken nach Spuren eines Kampfes, aber nichts war zu entdecken – keine zerbrochenen Gegenstände, keine zerkratzten Dielen und vor allem: kein Blut. Rein gar nichts, das sich als Erklärung für die nächtliche Geräuschkulisse angeboten hätte.

Auch auf dem anschließenden Rundgang durchs Dorf wirkte zunächst alles wie immer: Die Sonne erhellte die schmalen Gassen, Senioren saßen vor ihren Häusern und genossen den Tag, auf dem Marktplatz hatte sich wie stets der Ältestenrat eingefunden.

Waren die vermeintlichen Ereignisse der letzten Nacht womöglich meiner Phantasie entsprungen? Ich dachte an die gestrige Wanderung zurück, den mineralischen Geschmack des Wassers aus dem See, meine euphorische Stimmung, nachdem ich es getrunken hatte. Konnte das eine Art Rausch gewesen gewesen sein? In dessen Folge ich Gespenster gesehen oder besser: gehört hatte? Das schien mir nun, mit Abstand und bei Tageslicht, durchaus plausibel.

Aber allmählich bemerkte ich doch eine Veränderung im Ort: Alle Leute, denen ich begegnete, sahen mich äußerst seltsam an. Etwas Abweisendes, geradezu Vorwurfsvolles lag in ihren Mienen, das gestern noch nicht dagewesen war. Ich schalt mich innerlich einen Hasenfuß und Paranoiker – allein, es half nichts. Der Eindruck blieb, und er verstärkte sich noch, je länger ich herumlief: Überall diese stechenden, anklagenden Blicke, wohin ich auch schaute. Plötzlich schien es unter der Oberfläche des verträumten Straßenbildes zu gären und zu rumoren, etwas Fremdes, Beklemmendes war auf den Plan getreten. Die engen Gässchen schnürten mich ein, raubten mir schier die Luft zum Atmen. Auf einmal wirkten die windschiefen Hausgiebel seltsam verzerrt; sie beugten sich grotesk vor, drückten schwer wie Blei auf mich herab.

Schließlich floh ich aus dem Ort, rettete mich zum Aussichtspunkt. Der Pfad in die Berge ließ sich auch heute wieder kilometerweit verfolgen. Aber seltsam: Er hatte seine Faszination verloren. Lag es daran, dass ich ihn in der Zwischenzeit gelaufen war? Überhaupt schien es mir, als hätte ich hier alles Entscheidende gesehen und erfahren, als gäbe es nichts mehr zu entdecken. War dies das Signal zum Aufbruch, von dem ich gewusst hatte, dass es irgendwann kommen würde?

Gesenkten Blickes eilte ich zum Gasthof zurück. In meinem Zimmer lag der Straßenplan seit Wochen unbenutzt auf dem Tischchen. Ich blätterte zu den Karten in der Inselmitte, suchte konzentriert alles ab. Aber das Bild blieb das altbekannte: Eine Handvoll Straßen, die sich wie Schlangen zwischen den Höhenzügen hindurch wanden, kaum Ortschaften. Die Gegend schien so gut wie verlassen.

Und ziemlich genau im Zentrum der Insel prangte diese Schlossruine. Konnte sie möglicherweise das Chateau sein, das ich in den Bergen gesehen hatte? Ortschaften fanden sich leider nicht in der Nähe dieses mysteriösen Bauwerkes. Oder waren Dörfer wie das meine schlicht zu klein, um bei einem Maßstab von 1:100.000 berücksichtigt zu werden?

Als ich abends in die Gaststube kam, stand mein Essen am gewohnten Platz. Vom Wirt und seiner Frau nach wie vor keine Spur; auch die Ecke, in der sonst die Würfelspieler zusammensaßen, war leer. Alles hier drinnen wirkte plötzlich verändert, unheilvoll, bedrohlich – wie heute morgen im Ort. Fortwährend ächzte und knarrte das Deckengebälk, als hätte es große Last zu tragen. Immer wieder meinte ich aus den Augenwinkeln Schatten zu sehen, die über den Boden huschten, an den Wänden entlang strichen – und blitzschnell verschwanden, sobald ich mich hindrehte. Die Stimmung war derart gespenstisch, dass ich keinen Bissen herunterbekam. Kurzentschlossen griff ich mir das Tablett und nahm es mit aufs Zimmer.

Nach dem Essen war ich versucht, den üblichen Spaziergang ausfallen zu lassen, aber bei diesem Gedanken wallte prompt Unzufriedenheit in mir auf: Jeden Abend hatte ich bisher meine obligatorische letzte Runde gedreht, und nun wollte ich von dieser Gewohnheit ablassen? Das kam überhaupt nicht infrage!

Also riss ich mich zusammen und ging noch hinaus. Wie schon tagsüber ließ sich auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches erkennen: Die Dorfstraße lag ausgestorben im abendlichen Schummerlicht, die vertraute Stille hatte sich herabgesenkt. Erst nach einer Weile begriff ich, dass doch etwas anders war als sonst: In keinem einzigen Fenster brannte heute Licht, sämtliche Häuser waren dunkel. Hatten die Bewohner sich verkrochen, weil sie wussten, dass etwas Schlimmes bevorstand? Oder waren sie am Ende gar nicht mehr hier, hatten sich längst in Sicherheit gebracht?

Auf dem Friedhof sah man die Grabsteine ungewohnt deutlich in der Dunkelheit schimmern, während der Kirchturm plötzlich an einen riesigen, gen Himmel zeigenden Finger erinnerte. Etwas Sinistres, Böses schien über das Dorf gekommen zu sein wie ein unsichtbarer Nebel, ein Odem der Finsternis, der durch die Straßen waberte und alles ersticken wollte. Ich beschleunigte meine Schritte, hatte es auf einmal sehr eilig, wieder zurückzukehren. Zum Glück umgaben mich bald wieder die Mauern des Gasthofes.

Meine Zimmertür schloss ich heute besonders sorgfältig hinter mir, drehte den Schlüssel zweimal herum. Verdammt, weshalb hatte ich nicht schon tagsüber die Gelegenheit genutzt und das Weite gesucht? Jetzt war es zu spät; notgedrungen musste ich die Nacht noch irgendwie herumbringen.

Oder sollte ich einfach losfahren? Rasch meine Siebensachen zusammenpacken und abhauen? Aber wollte ich wirklich im Dunkeln durch die Berge kurven? Bei diesen Straßenverhältnissen? Und schließlich – was mochte dort draußen sein? Vielleicht fuhr ich dem, was gerade drohend heraufzog, just entgegen… nein, es war wohl besser, durchzuhalten, bis es hell wurde. Aber dann nichts wie weg! Keinen Tag länger wollte ich hierbleiben.

Wie jeden Abend öffnete ich vorm Zähneputzen das Fenster, um zu lüften, und schaltete das Licht aus. Als ich aus dem Bad zurückkam, legte ich mich im Dunkeln aufs Bett. Von draußen war noch immer nicht der geringste Laut zu hören; einzig die Kirchturmglocke unterbrach die Totenstille, als es zehn Uhr schlug.

Bis zum Äußersten angespannt lag ich dort und lauschte. Irgendwann nickte ich ein, aber es war nur eine oberflächliche Betäubung; ein Teil von mir blieb wach und sprungbereit…



***



Wieder bin ich draußen, unterwegs auf der nächtlichen Dorfstraße. Und vor mir geht – der Unbekannte! Wie sehr ich mir gewünscht habe, ihn endlich wiederzusehen, eine neue Chance zu bekommen. Sofort hefte ich mich an seine Fersen. Diesmal würde es klappen!

Kurz vor dem Ortsende macht er halt. Ich versuche das Unbehagen zu ignorieren, das in mir aufsteigt, gehe tapfer weiter, fixiere die menschliche Silhouette, die sich im Halbdunkel der Mauern abzeichnet… da tritt er aus dem Schatten! Wieder ist der Anblick entsetzlich: die eingefallene, leichenhafte Fratze, weit aufgerissene Augen, deren Weißes bedrohlich leuchtet, dazu stechende Pupillen, zornig, anklagend – gleichzeitig aber voller Verzweiflung… und endlich schließt sich die Lücke in meiner Erinnerung: Lennard? Kann das sein? Ist er es wirklich?

Einen Moment später ist die Gestalt verschwunden. Ohne zu zögern betrete ich ebenfalls den engen Durchgang, der vor mir in der Hauswand aufgetaucht ist. Ein schier unerträglicher Gestank nach Moder und Verfall erfüllt die Luft, über den Boden huschen kleine, flinke Schatten. Sind es Katzen? Aber ich achte ihrer nicht, bloß ein einziger Gedanke beherrscht mich: Habe ich wirklich gerade Lennard gesehen? Was ist mit ihm passiert? Was hat ihn zu diesem Gespenst werden lassen? Es ist, als habe jemand oder etwas ihm das Leben regelrecht ausgesogen.

Schließlich erreiche ich die Stelle, wo der Ort endet – aber neue Häuserzeilen tauchen jetzt auf, der Weg wächst und wuchert vor mir ins Dunkel, wie der Trieb einer einer Pflanze, wie ein Pilz, ein bösartiges Geschwür. Windet sich zwischen feuchten Steinmauern hindurch, führt über glitschige Stufen steil bergan und jäh wieder in die Tiefe, nach einem System, das ich nicht verstehe. Ich konzentriere mich auf das Tappen der Schritte; nur dieses Geräusch zählt, ich darf es nicht verlieren, alles andere ist egal. Von Zeit zu Zeit ertönt das Läuten der Kirchturmuhr, die Glockenschläge brechen sich zwischen den Hauswänden, irrlichtern in den engen Schneisen umher. Und fortwährend sind aus der Finsternis die Schritte des mysteriösen Spaziergängers zu hören.

Intensives Summen erfüllt auf einmal die Luft; man spürt die Nähe von Menschen. Ein Torbogen erscheint vor mir, durch den es geheimnisvoll leuchtet. Die schwarzen Hausmauern gleiten auseinander wie Vorhänge, greller Lichtschein trifft mich, alles wird weiß…

Ich stehe auf einem Platz, ringsherum ziehen sich die Ränge eines Amphitheaters in die Höhe, überall schwarz von Zuschauern. Sämtliche Augenpaare richten sich auf einen bestimmten Punkt im Himmel, und ich ahne bereits, was dort ist… der Seiltänzer! Wie ein Hohepriester, ein Magier steht er dort, scheinbar frei im Äther schwebend, den Kopf zurückgelegt, das schwarze, lockige Haar fällt ihm in den Nacken. Kein Netz ist unter ihm, nur das nackte, todbringende Steinpflaster. Sein Gesicht liegt im Schatten, aber auch aus dieser Perspektive sieht man, dass die Lippen sich unaufhörlich bewegen, als würden sie Worte murmeln – Beschwörungsformeln vielleicht, geheime Anrufungen?

Plötzlich entsteht Unruhe im Publikum, Schreie ertönen. Weit oben sieht man in einem der Ränge die Leute nacheinander aufstehen, jemand drängt sich hindurch zur Treppe, kommt die Stufen herabgelaufen, ein hochgewachsener Mann – der Unbekannte, Lennard! Erst begreife ich nicht… aber dann sehe ich, was hinter ihm ist: eine dunkle Wolke, ein aufgebrachter, wütender Schwarm, der immer weiter anwächst. Von überall strömen die Schatten zusammen und kleben sich an seine Fersen. Was macht sie so rasend? Was hat er getan?

Nun ist er unten, rennt in meine Richtung, direkt auf mich zu! Im letzten Moment kann ich zur Seite springen; er streift mich bloß und hetzt weiter, die Stufen des gegenüberliegenden Ranges hoch. Rasch kommen seine Verfolger hinterher, stieben mit wutverzerrten Gesichtern an mir vorüber, geifernd, brüllend… und plötzlich verstehe ich: Sie werden ihn jagen, ihn vor sich hertreiben, bis seine Kräfte schwinden, bis er sich in sein Schicksal fügt, und dann…

Ich will, muss helfen! Verzweifelt setze ich ihnen nach. Die Treppe, über die Lennard und seine Häscher verschwunden sind, wirkt aus der Nähe absurd steil, fast wie eine Leiter, deren Sprossen direkt in den Nachthimmel führen. Das Hochsteigen gerät zur Kletterpartie, mir bricht der Schweiß aus, immer wieder muss ich Halt machen und warten, dass der Schwindel sich legt. Und bloß nicht nach hinten schauen, sonst verliere ich endgültig das Gleichgewicht und stürze in die Tiefe…

Unter großen Mühen erreiche ich mein Ziel, aber das Häuserlabyrinth ist hier nicht zu Ende: Neue Mauern schälen sich aus dem Dunkel, gepflasterte Gassen, Treppen, Durchlässe. Kann dies noch das Bergdorf sein? Ist dies überhaupt ein Ort, eine Ansammlung von Gebäuden und Straßen? Ich fühle mich eher an etwas Organisches erinnert, ein riesiges, fremdartiges Lebewesen, das sich ausdehnt und wieder zusammenzieht, je nach Stimmung und Situation. Wie soll ich Lennard bloß finden in diesem heimtückischen Gebilde, das sein Spiel mit mir treibt?

Auch hier sieht man überall die Schatten über den Boden huschen. Aber sie ähneln nicht länger Katzen, sondern eher… riesenhaften Ratten, den trippelnden Bewegungen nach zu schließen. Aus allen Richtungen strömen sie zusammen, zahllose Augenpaare glimmen mir bedrohlich mir aus der Finsternis entgegen. Man hört quiekende, zischelnde, knurrende Laute, die manchmal wie Worte klingen, kurze Sätze und Kommandos, hervorgebracht in jener alten, nahezu vergessenen Sprache der Insel.

Aber dann zieht der Strom davon, ohne mir Beachtung zu schenken. Es ist, als folgten die Schattenwesen einem für mich unhörbaren Ruf. Erneut senkt sich drückendes Schweigen herab… bis plötzlich ein furchtbarer Aufschrei die Stille zerreißt, ein markerschütterndes, nervenzerfetzendes Brüllen. Ihm folgt ein Klagen, so elend und verzweifelt, dass es mich schier zum Wahnsinn treibt. Ich presse mir die Hände auf die Ohren – Himmel, lass das aufhören, es ist nicht zu ertragen!

Als hätte jemand meine Worte gehört, reißt das Jammern plötzlich ab. Im ersten Moment bin ich erleichtert, aber allmählich wird das Schweigen so massiv, so unheilverkündend, dass ich mich instinktiv zusammenkauere. Ich ahne, was jetzt geschehen wird: Mit Lennard sind sie fertig, der nächste Kandidat ist an der Reihe… Angst breitet sich in mir aus wie klebriges, lähmendes Substrat. Ich muss weg von hier, sofort! Aber wie noch herausfinden aus diesem Irrgarten des Grauens? Eine Vivienne müsste erscheinen, um mir im letzten Moment aus der Patsche zu helfen, wie schon einmal. Aber damit ist vermutlich nicht zu rechnen.

Das Schlagen der Kirchturmuhr, mächtig, unheilverkündend, final. Zu spät. Alles vorbei…



***



Dunkelheit, endlose Dunkelheit! Von irgendwoher eine schneidend kalte Bö, wie der Auftakt zum Finale, zum großen Sturm. Neben mir ein offenes Fenster in die Finsternis. Dazu Blumenduft, ein sanfter Nachhall von Glockenschlägen…

Es dauerte lange, ehe mir klar wurde: Ich war nicht draußen, nicht gefangen in einer dunklen Gasse, bedroht von etwas Unheilvollem. Ich befand mich in meinem Zimmer, lag auf dem Bett.

Schlagartig fiel nun die Todesangst von mir ab. Ein Traum, alles nur ein böser Albtraum! Unsägliche, maßlose Erleichterung schoss mir durch alle Nervenbahnen.

Der Wecker stand genau auf Mitternacht. Vermutlich war ich vorhin eingenickt, müde vom Essen, und dann hatte dieser schreckliche Alb seinen Lauf genommen. Das Schlagen der Kirchturmuhr musste mich geweckt und befreit haben. Welch unfassbares Glück – ich hatte ernsthaft geglaubt, dass…

Erschöpft drehte ich mich zur Seite und versuchte, wieder einzuschlafen. Aber ich fand keine Ruhe mehr, wurde im Gegenteil immer wacher. Dieses permanente Rascheln und Knirschen hinter mir – was hatte das zu bedeuten? Es klang, als würde es direkt aus den Wänden kommen. So leise wie möglich stand ich auf, schloss das Fenster und legte das Ohr gegen die Tapete hinterm Bett… ja, irgendetwas war dort. Vielleicht Mäuse oder Ratten?

Im nächsten Moment packte mich blankes Entsetzen: Konnte man inmitten des Rumorens nicht wieder jenes bedrohliche Wispern und Raunen hören? Exakt wie letzte Nacht, als – ich wagte kaum, den Gedanken zu Ende zu führen – die unbekannten Kreaturen vor meiner Zimmertür gelauert hatten!

Ich zuckte in Panik von der Tapete weg; die entsetzlichsten Gedanken schossen mir plötzlich durch den Kopf: Gruben sie möglicherweise einen Tunnel durchs Mauerwerk? Versuchten sie, auf diese Weise hierher ins Zimmer zu gelangen?

An Schlaf war jetzt endgültig nicht mehr zu denken. Jeden Augenblick rechnete ich damit, dass ein Schwarm der kleinen Monstren unter dem Bett hervorkam. Oder dass draußen im Flur wieder dieses Trippeln anhob, dieses Klopfen und Tappen unzähliger Füßchen. Wie erstarrt lag ich dort, ließ permanent den Blick durchs Dunkel wandern. Beobachtete die Türklinke, wartete förmlich darauf, dass sie sich bewegte. Lauschte auf das Knistern und Arbeiten in den Wänden, versuchte zu erkennen, ob es lauter wurde, sich näherte. Und immer wieder blickte ich zum Fenster, sehnsüchtig den Tagesanbruch erwartend. Helligkeit, das spürte ich instinktiv, bedeutete Schutz vor dem, was hier vor sich ging.

Endlich tauchte am Himmel die erste Morgenröte auf und erlöste mich.

Zum Schloss

Beim Frühstück war erneut keine Menschenseele zu sehen. Mein gepackter Koffer stand oben im Zimmer bereit; gleich nach dem Essen wollte ich aufbrechen. Ich plante, zunächst die Gegend zu erkunden und anhand der Straßenverläufe sowie der Karten meine aktuelle Position zu bestimmen. Benzin hatte ich wie vor genug; notfalls fuhr ich hinunter an die Küste und tankte.

Vielleicht fand ich auch neue Hinweise auf dieses ominöse Chateau. Es schien wichtig zu sein; immerhin hatte der Gastwirt während seiner Trance davon gemurmelt – und das vermutlich mit dem Leben bezahlt. Bei meiner Wanderung zur Hochebene war das Schloss dann prompt aufgetaucht, wie ein Hinweis, ein unmissverständliches Signal. Gut möglich, dass jenes Bergschloss, das Chateau des Wirtes und die Ruine im Straßenplan ein und dasselbe waren.

Trotz der zermürbenden Nacht beschloss ich nach dem Frühstück, noch einen letzten Gang durch den Ort zu machen, gewissermaßen zum Abschied – immerhin hatte ich hier bis vor kurzem eine äußerst angenehme Zeit verlebt.

Unterwegs bemerkte ich erneut die misstrauischen Blicke der Bewohner, ihr heimliches Taxieren. Es gab jetzt keinen Zweifel mehr: Sie versuchten mich permanent im Auge zu behalten, jeden meiner Schritte zu registrieren! War es womöglich von Beginn an so gewesen? War dieses Dorf in Wirklichkeit etwas vollkommen anderes, als ich immer darin gesehen hatte? Weshalb fand kein einziger Tourist seinen Weg hierher, gab es im Gästebuch außer meinem keine weiteren Einträge? Aus welchem Grund legte die Verkäuferin im Obstladen mein Geld immer achtlos in ihr Zedernholz-Kistchen? Die ganze Idylle war augenscheinlich nur eine Fassade, einzig errichtet, um mich zu täuschen. Ich sollte mich sicher fühlen, nicht merken, wie sie ihre Netze immer dichter um mich woben, bis ich schließlich in der Falle saß! Meine Güte, wie hatte ich nur die ganze Zeit so blauäugig sein können, so komplett naiv?

Aber was führten sie im Schilde? Und wo war der Gastwirt abgeblieben? Seit unserer seltsamen Begegnung in meinem Zimmer vor drei Tagen schien er wie vom Erdboden verschluckt. Was hatten sie ihm angetan? Ihm und Lennard, falls er wirklich der nächtliche Unbekannte gewesen war?

Lennard – konnte er auch der Flüchtende meines immer wiederkehrenden Traumes sein? Dieser und der Alb der letzten Nacht schienen zusammenzuhängen: Ein bleicher, gespensterhafter Lennard, der sich ins Gassenlabyrinth flüchtet, schließlich gestellt und zur Rechenschaft gezogen wird, und dann jener Unbekannte, der über die Hochebene davonläuft, verfolgt von den schwarzen Schatten… natürlich, es passte. Auch mein quälendes Schuldgefühl nach jedem Aufwachen ergab plötzlich Sinn: Es war das schlechte Gewissen Lennard gegenüber. Seit Jahrzehnten verfolgte es mich, lastete bis heute auf mir. Obwohl ich noch nicht recht verstand, welche Bedeutung den Spinnenwesen zukam. Und obwohl alles ja bloß ein Traum gewesen war, erschien mir eines doch sicher: Ich musste schnellstmöglich von hier verschwinden, andernfalls drohte mir ernsthafte Gefahr.

Als ich wieder zum Gasthof kam, sah ich neben meinem Twingo ein zweites Auto parken, einen wuchtigen, schwarzen Landrover mit dem unvermeidlichen Reserverad an der Rücktür. Waren neue Gäste angereist? Lange konnte der Wagen noch nicht dort stehen; der Motor war am Kühlen. Eine Kruste weißen, feinen Sandes bedeckte wie Schmirgelpapier das Vehikel, nur auf der Windschutzscheibe hatten die Scheibenwischer zwei halbrunde Flächen freigeschaufelt.

In der Gaststube dauerte es wie üblich einen Moment, ehe meine Augen sich ans dämmrige Licht gewöhnt hatten. Tatsächlich: An einem der Tische saß jemand, offenbar eine Frau. Dunkel, fast unheilverkündend zeichneten sich ihre Umrisse vor dem sonnenbeschienenen Fenster ab. Wer konnte das sein? Wer störte plötzlich mein beschauliches Dasein in diesem Ort? Seit Ewigkeiten war ich niemandem mehr begegnet außer den Gastleuten, den Würfelspielern und den Dorfbewohnern. Menschen von 'draußen', merkte ich plötzlich, waren mir ziemlich fremd geworden. Ich überlegte ernsthaft, unbemerkt die Treppe hochzuschleichen. Vielleicht war die Invasorin wieder verschwunden, wenn ich das nächste Mal herunterkam.

So behutsam wie möglich setzte ich meine Schritte, konnte aber ein Knarren der Dielen nicht verhindern. Prompt wandte die Besucherin sich um – und ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen: Dort saß Vivienne, jene rätselhafte Frau, die mir in Porto d'Arreccio aus der Bredouille geholfen hatte!

„Hallo“, sagte sie auf englisch und erhob sich lächelnd. „So sieht man sich wieder.“ Keine Spur der Überraschung bei ihr, im Gegenteil: Sie schien es fast erwartet zu haben, mich hier zu treffen.

„In der Tat“, entgegnete ich verblüfft. Ich war versucht, sie zu berühren, mich zu überzeugen, dass sie es leibhaftig war und ich nicht bloß träumte.

„Alles in Ordnung?“ Sie runzelte die Stirn und musterte mich. Unwillkürlich musste ich lachen – unsere erste Begegnung war nicht viel anders verlaufen. Und tatsächlich fühlte ich mich gerade ähnlich konfus wie seinerzeit in der Altstadt von Porto d'Arreccio, als wir fast zusammengestoßen waren.

Wir setzten uns. Ich fragte nach dem „Woher“ und „Wohin“ und erfuhr, dass sie gerade unterwegs war, um Besorgungen zu machen.

„Warum ausgerechnet hier?“, wunderte ich mich. „Verbindet dich etwas mit dieser Gegend?“

Sie nickte. „Ich stamme von hier. Unserer Familie gehört dieses Land, wir leben hier seit Jahrhunderten.“

Ich schüttelte den Kopf, mochte es kaum glauben – welch ein Zufall! Erst nach einer Weile dämmerte mir, was ihre Worte nur bedeuten konnten: „Das Land gehört euch? Seit Jahrhunderten? Heißt das, du wohnst… ihr wohnt… auf dem Schloss?“ Ich wagte fast nicht, es auszusprechen.

Wieder Nicken; Vivienne begann zu lächeln. „Wir sind die Bewohner von Chateau de Montardit“, erklärte sie, und man hörte den Stolz in ihrer Stimme. Zugleich bekam ihr Gesicht einen leicht spöttischen Ausdruck, als wollte sie ihre Eröffnung nicht zu dramatisch klingen lassen. „Natürlich verbringen wir die meiste Zeit in der 'Zivilisation'…“ Sie malte Anführungszeichen in die Luft. „Ich arbeite in Paris, das hatte ich bereits erwähnt. Mein älterer Bruder Cyrano lehrt in Harvard. Sandrine wiederum ist in Bologna zu Hause. Nur Justin lebt dauerhaft auf dem Schloss.“

Es war nicht zu fassen: Vor wenigen Augenblicken hatte ich noch überlegt, wo dieses mysteriöse Schloss liegen konnte, und jetzt saß eine seiner Bewohnerinnen leibhaftig vor mir!

„Ich kümmere mich um die Verwaltung“, erklärte Vivienne. „Leider bin ich die Einzige mit einer gewissen praktischen Veranlagung; meine Geschwister ziehen allesamt das Geistige vor. Aber glaube nicht, dass ich gern meine Zeit mit Personal- und Finanzangelegenheiten verbringe, Handwerker bestelle, mich mit Behörden herumschlage und dergleichen.“

Fasziniert lauschte ich ihren Ausführungen – und konnte dennoch nicht aufhören, mich zu wundern. Welche Zufälle das Leben manchmal bereithielt, welche verrückten, völlig unerwarteten Wendungen und Volten es doch nehmen konnte…

„Die Leute hier nennen uns nach wie vor die 'Herrschaft'“, meinte Vivienne nachdenklich. „Dabei ist die Revolution über 200 Jahre her. Seltsam, nicht?“

Prompt musste ich an die alten Männer in Porto d'Arreccio denken: Bei unserem Eintreten in die Gaststube hatten sie sofort die Köpfe gesenkt, ergeben, geradezu demütig. Und plötzlich verstand ich: Es musste Viviennes Anblick gewesen sein. Aber war diese Reaktion nicht etwas übertrieben? Wir lebten im 21. Jahrhundert, was hatten die Leute jetzt noch von der 'Herrschaft' zu befürchten? Trotzdem spürte ich selbst etwas wie Ehrfurcht bei dem Gedanken, dass Vivienne einem uralten Adelsgeschlecht angehörte, das dazu noch auf einem auf einem Schloss residierte. Dabei hatte ich mich immer für modern und aufgeklärt gehalten.

„Wie dem auch sei: Meine Geschwister und ich lieben das Schloss, es zieht uns immer wieder dorthin zurück. Chateau de Montardit endgültig verlassen, niemals mehr wiederkommen – das wäre für uns alle undenkbar. Dabei gibt es dort die ganzen Errungenschaften der Zivilisation nicht. Aber vielleicht…“, Vivienne wurde nachdenklich, „vielleicht ist es genau das.“

Ich wollte wissen, was sie unter 'Errungenschaften der Zivilisation' verstand.

„Fernsehen, Radio, Internet, Elektrizität.“

„Ihr habt keinen Strom dort?“ rief ich. Nun wurde es abenteuerlich. Konnte ich das wirklich noch glauben?

„Wir haben keinen Strom dort. “ Viviennes Stimme blieb ruhig. „Kerzen sorgen für Licht, Kamine für warme Räume im Winter. Auch heißes Wasser gibt es, aus einer Quelle. Und die Toiletten arbeiten mit einer Art Hydraulik. Schon die alten Römer haben es so gemacht.“ Erneut klang Stolz in ihrer Stimme mit. „Aber frag mich nicht nach technischen Details. Da weiß Stefano mehr, er ist so etwas wie unser Hausmeister.“

Ich spürte Erleichterung. Einen kurzen Augenblick hatte ich gedacht, sie tische mir ein Märchen auf; aber jetzt klangen ihre Schilderungen wieder plausibel. Es schien tatsächlich zu stimmen, was sie erzählte: Sie lebte auf diesem Schloss in den Bergen, ohne Strom, nur mit Kerzenlicht… es war phantastisch, schlicht großartig!

„ Warum kommst Du nicht einfach mit und machst Dir selbst ein Bild?“, unterbrach Vivienne meine Gedanken.

Ihre Worte, ganz beiläufig gesprochen, lösten einen regelrechten Strudel an Bildern und Assoziationen in mir aus. Ein echtes Schloss! Die Szenerie unzähliger Gruselheftchen früherer Zeiten! Ein Ort, der bis in die hintersten Winkel angefüllt sein musste mit Mythen, Rätseln und Geheimnissen! Geschah jetzt das Undenkbare? Wurde eine alte Wunschvorstellung aus Kindertagen Realität?

Dann dachte ich an praktische Dinge. War Viviennes Vorschlag als Einladung gemeint oder ging sie davon aus, dass ich für meinen Aufenthalt bezahlte? Würde sie mir bei der Abreise eine saftige Rechnung präsentieren? Ließ mein Geldbeutel ein solch feudales Vergnügen überhaupt zu?

Endlich wischte ich all diese kleinlichen Bedenken beiseite. Eine solche Offerte musste ohne Zögern und Zaudern angenommen werden. Was hatte ich zu verlieren? Falls ich mich unwohl fühlte, weshalb auch immer, oder sich das Ganze als zu kostspielig erwies, sagte ich einfach „Tschüss“ und fuhr wieder weg. Und schließlich Lennard – möglicherweise war er ebenfalls dort zu Gast gewesen, es hätte zu ihm gepasst. Oder er war nach seiner Ankunft gar nicht wieder abgereist, wohnte noch immer dort und begrüßte mich bei unserer Ankunft mit einem lässigen „Hi, wie geht 's“? Okay, das wohl eher nicht. Aber ich spürte, wie meine Begeisterung immer mehr wuchs. Ein Besuch auf Chateau de Montardit war definitiv der nächste Abschnitt meiner Reise, ein weiteres Glied in der Kette. Meine Recherchen würden dort erst richtig Fahrt aufnehmen.

„Und wie lange darf ich bleiben?“

„So lange du magst. Ein paar Tage oder Wochen, gern auch länger, ganz wie deine Zeit es erlaubt. Wir haben öfters Besuch. Gerade ist zum Beispiel eine Freundin und Arbeitskollegin aus Paris da.“

Obwohl ich mich innerlich längst entschieden hatte, wagte ich es noch nicht, den letzten Schritt zu tun und die Einladung zu akzeptieren. Was, wenn sich alles als großer Schwindel herausstellte? So lange hatte ich gehofft, dass etwas Ungewöhnliches, Besonderes in mein Leben trat, und immer wieder war ich enttäuscht worden. Ich traute ich dem Frieden nicht. Oder hatte ich bloß Angst vor der eigenen Courage?

„Du glaubst gar nicht, wie romantisch Kerzenlicht sein kann“, drang Viviennes Stimme an mein Ohr. Ich schaute hoch, sah das aufmunternde Lächeln in ihrem Gesicht. Etwas an ihr erinnerte mich plötzlich an Alexandra, ohne dass zwischen den beiden äußerlich irgendeine Ähnlichkeit bestand. Trotzdem – dies gab den Ausschlag: Ich sagte endgültig zu und fühlte mich auf einmal regelrecht euphorisiert.

„Hatte schon in Porto d'Arreccio überlegt, ob ich dich nach deiner Nummer frage“, rutschte es mir im Überschwang der Gefühle heraus.

Sie wurde rot, senkte verlegen den Blick. „Ging mir ähnlich…“

O je, da hatte jemand mich gründlich missverstanden! „Na, mein Handy funktioniert hier draußen eh nicht“, murmelte ich. „Genauso wenig wie mein Funkwecker und das Autoradio.“ Ein wenig zu schroff wandte ich mich ab, wütend über mich selbst, mein unvorsichtiges Geplapper.

„Ja, hier draußen ist man reichlich abgeschnitten“, stimmte Vivienne nach einem Moment peinlicher Stille zu. Ich sah, dass die Röte aus ihrem Gesicht verschwunden war, ihr Blick wirkte wieder klar und selbstbewusst. Auch dieses leicht ironische Lächeln kehrte nun zurück. „Aber warte erst, bis du aufs Schloss kommst…“



***



Ich trug mein Gepäck nach unten. Beim Betätigen der Rezeptionsglocke kamen mir plötzlich neue Bedenken: Was, wenn meine Barschaft nicht ausreichte, um die Rechnung hier im Gasthof zu begleichen? Sollte ich irgendwo Cash holen? Alles in mir sträubte sich bei dem Gedanken, noch einmal zurückzukommen, nachdem man bereits fort war…

„Lass nur“, sagte Vivienne, die in der Gaststube gewartet hatte. „Das ist okay.“

„Aber ich muss doch bezahlen“, entgegnete ich verblüfft und klingelte ein zweites Mal. Eigentlich erwartete ich nicht mehr ernsthaft, dass der Wirt oder seine Frau sich noch zeigen würden, trotzdem wollte ich nicht einfach so verschwinden. Das erschien mir schlicht unanständig.

„Es ist okay, glaub mir. Immerhin bist du mein Gast.“ Eine Ruhe lag in ihren Worten, die sehr überzeugend wirkte. Vielleicht stimmte es? Vielleicht musste man wirklich nichts bezahlen, wenn die „Herrschaft“ es so wollte? Erneut dachte ich an die alten Männer in Porto d'Arreccio…

Ich würde einfach ein paar Scheine hier auf den Tresen legen. Aber wie viel mochte ich schuldig sein? Der Wirt hatte mir nie einen Preis pro Nacht genannt, zudem – das wurde mir plötzlich bewusst – hatte ich keine Ahnung, wie viel Zeit inzwischen vergangen war. Nichts hier gab Auskunft über das aktuelle Tagesdatum, kein Radio oder Fernsehen, kein Kalender an der Wand. Und mir selbst erschienen ja Kategorien wie Uhrzeit oder Datum inzwischen bedeutungslos, wie Artefakte einer anderen Kultur, einer anderen Auffassung von Leben und Zeitverlauf…

„Komm“, sagte Vivienne mit resoluter Stimme, nahm meine Hand und zog mich hinter sich her. Ich war so verwirrt, dass ich es geschehen ließ.

Draußen lag alles wie ausgestorben in der Mittagshitze. Ich fischte den Autoschlüssel aus der Hosentasche und wollte den Kofferraum aufmachen.

„Dein Gepäck verstaust du am besten gleich hier.“ Vivienne stand an der geöffneten Rücktür ihres Geländewagens. „Dann musst du nachher nicht umladen.“

Dieser Vorschlag, obwohl ja durchaus vernünftig, behagte mir ganz und gar nicht. War es klug, sich von seiner Habe zu trennen? Oder sah ich Gespenster? War ich nervlich zu angespannt? Schließlich legte ich schweren Herzens Koffer und Rucksack auf der Ladefläche des Landrovers ab. „Okay“, lächelte Vivienne, „lass uns fahren.“ Sie schlug die Tür zu.

Erst jetzt bemerkte ich im Giebelfenster des Nebenhauses einen Schatten. Ich schützte die Augen mit der Hand vor der Sonne, spähte nach oben – und erkannte die Obstverkäuferin, die hinter der Scheibe stand und sehr aufmerksam zu uns herunterspähte. Aber irgendetwas stimmte nicht mit ihr, sie wirkte wie in Trance; ihre Lippen bewegten sich, als sprächen sie ein Gebet oder eine Beschwörungsformel. Die erhobenen Hände umfassten, umkrallten einander so fest, dass man die Fingerknöchel weißlich hervortreten sah…

Schaudernd drehte ich mich weg und stieg in mein Auto. Diese Alte – besser, ich beachtete sie gar nicht! Sie war mir immer verwirrt vorgekommen.

Der Twingo sprang ohne Schwierigkeiten an, dabei musste es Ewigkeiten her sein, dass ich ihn zuletzt gestartet hatte. Mit einem Gefühl der Erleichterung ließ ich den Wagen rückwärts auf die Straße rollen, schaltete in den ersten Gang. Vorm Anfahren warf ich einen letzten Blick auf den Gasthof. Neben dem Eingang standen noch immer die rostigen Bistromöbel, auf denen ich nie jemanden hatte sitzen sehen. Mein Zimmerfenster befand sich genau darüber. Nachdenklich betrachtete ich dessen vergilbte Gardine – und erkannte hinter dem altmodischen Muster plötzlich eine Gestalt: die Gastwirtin! Aber was war in sie gefahren? Ein boshaftes, geradezu diabolisches Grinsen verzerrte ihr Gesicht fast bis zur Unkenntlichkeit; irgendetwas erfüllte sie offenbar mit großer Vorfreude, sie schien es kaum abwarten zu können – der Anblick war verstörend, angsteinflößend….

Ich trat aufs Gaspedal, fuhr mit durchdrehenden Reifen an. Bloß weg von hier!



***



Während der Autofahrt kamen mir wieder Zweifel, ob die Situation tatsächlich so stattgefunden hatte. Der Gesichtsausdruck der Wirtin – hinter dem Gardinenmuster konnte er unmöglich so detailliert zu erkennen gewesen sein. Hatte ich unbewusst meine eigenen Erwartungen und Befürchtungen in den Anblick hineinprojiziert? Spielten auch die Entwicklungen der letzten Tage eine Rolle, die seltsamen Veränderungen im Dorf? Das plötzliche Erscheinen Viviennes, ihre Erzählungen über Schloss und Familie, schließlich ihre Einladung… war es vielleicht des Guten zu viel gewesen?

Der Landrover vor mir auf der Straße wirkte klobig wie ein Panzer. Umhüllt von einer Staubwolke schwamm er hin und her, den Windungen und Mäandern der Bergpiste folgend. Unser Ziel war ein Ort an der Ostküste. Vivienne meinte, dort befände sich die einzige Niederlassung meines Autoverleihs, die von hier gut erreichbar war. Hm, hatte der Angestellte in Plage d'Aiola nicht erzählt, nur im Süden und Westen gäbe es Filialen? Die Liste auf meiner Quittung sagte dasselbe. Aber vielleicht war sie inzwischen veraltet, zudem schien mir Vivienne nicht der Typ zu sein, der sich auf Halbinformationen verließ.

Immer wieder prüfte ich zwischendurch meine Armbanduhr, aber die Zeiger verharrten stur auf ihrer altbekannten Position: zehn vor acht, dem Zeitpunkt meiner Ankunft im Dorf. Zu gern hätte ich auch einen Blick auf den Straßenplan geworfen, um herauszufinden, wo genau wir uns befanden. Allerdings gab es ein Problem: Reiseführer und Karten steckten im Rucksack, und der wiederum befand sich auf der Ladefläche des Fahrzeugs vor mir. Äußerst ungünstig!

Nach gut einstündiger Fahrt ging die Sandpiste in eine asphaltierte Straße über, sodass der Staub sich verzog. Als kurz danach die ersten Hinweisschilder in lateinischen Buchstaben auftauchten, drehte ich probeweise am Radioknopf: Sofort schallte mir lautes Musikgedudel entgegen, immer wieder unterbrochen von Werbeeinspielungen und hektischem Geplapper auf französisch. Ich stellte auf Suchlauf; ein Sender löste den anderen ab, Musik wechselte mit Sprachprogramm, in französisch, italienisch, spanisch. Willkommen zurück!, dachte ich mit einem Gefühl von Sarkasmus. Mein Handyempfang war ebenfalls wieder optimal, wie der Display anzeigte.

Stetig ging es bergab, bis zwischen den bewaldeten Höhen das Meer auftauchte. Nun erwachten auch die Zeiger meiner Armbanduhr zum Leben, rotierten suchend übers Ziffernblatt, blieben schließlich auf viertel vor drei stehen. Die Datumsanzeige allerdings machte mich stutzig: „28“ – genau wie am Tag meiner Abreise aus Plage d'Aiola. Hatte sie sich nicht korrekt eingestellt? War die Uhr defekt, nach der langen Zeit ohne Empfang? Aber dann begriff ich: Es musste genau ein Monat vergangen sein; wir hatten den 28. Oktober.

Das bedeutete auch: Seit gestern war die Sommerzeit beendet; die Uhrzeit entsprach jetzt wieder dem Stand der Sonne. Viertel vor drei auf dem Ziffernblatt hieß also tatsächlich viertel vor drei, nicht mehr faktisch viertel vor zwei. Und wenn die Kirchturmuhr im Dorf zwölf schlug, war es auch offiziell zwölf, nicht mehr eins, wie bisher. Seltsam, dass die Uhr dort nicht vorgestellt worden war…

Überhaupt erschienen mir die ganzen letzten Wochen jetzt äußerst merkwürdig: dieses abgeschiedene Bergdorf, in das sich niemand verirrte, der Gasthof ohne Gäste, schließlich unsere Abfahrt, ohne dass ich einen Heller bezahlt hatte, ganz im Vertrauen auf die Autorität dieser Vivienne. Sollte ich mich lieber vom Acker machen? Einfach an der nächsten Weggabelung abbiegen und das Weite suchen? Ich konnte mir unten an der Küste wieder ein Hotel nehmen, wie zu Beginn, erneut in der Anonymität des Massentourismus verschwinden…

Ja, so hätte es laufen können – wenn nicht mein Gepäck da vorn gewesen wäre. Ich musste versuchen, es an mich zu bringen, bevor ich den Twingo abgab. Vielleicht aßen wir demnächst irgendwo eine Kleinigkeit. Dann würde ich bei der erstbesten Gelegenheit rausrennen, die Sachen aus dem Landrover in mein eigenes Auto umladen und auf Nimmerwiedersehen verduften.

Eine Häusergruppe wurde sichtbar; wir passierten ein verwittertes Ortsschild: La Parètte. Das sagte mir etwas, laut Reiseführer handelte es sich um einen Fischerort im Nordosten. Allerdings hatte ich ihn mir größer vorgestellt als dieses traurige Ensemble einiger weniger Behausungen, die allesamt leerstehend und verwahrlost wirkten, dem Verfall anheim gegeben. Ein Artikel kam mir in den Sinn, den ich im Internet gelesen hatte, über die verschwundenen Dörfer und Städte der Insel. Früher hatten die Menschen abseits der Touristengebiete in Scharen das Weite gesucht; ganze Ortschaften waren aufgegeben worden, im Zentrum der Insel, aber genauso im Norden und Osten. Der Trend hielt bis heute an, auch wenn er sich abgeschwächt hatte. War La Parètte ebenfalls betroffen? Würde auch dieser Weiler irgendwann verwaist und aus den Straßenkarten getilgt sein, wie so viele vor ihm?

Buchstäblich aus dem Nichts erschien jetzt ein großzügiger, moderner Zweckbau. Auf einem davorliegenden Parkplatz standen Kleinwagen in Reih und Glied, allesamt lackiert in den Farben meiner Autovermietung. Eine Flaggengruppe neben dem Eingang zeigte das entsprechende Logo. Die Station – ich mochte es kaum glauben! Sie wirkte wie aus einer anderen, moderneren Welt hierher verpflanzt.

Als ich die Fahrertür öffnete, schlug mir dumpfige, feuchte Treibhausluft entgegen. Es musste hier an die zehn Grad wärmer sein als oben in den Bergen – augenblicklich brach mir der Schweiß aus. Ein diesiger, bleigrauer Himmel drückte schwer auf die See, der Geruch von faulenden Algen raubte mir fast den Atem. Kleine Wellen schwappten müde gegen die flach abfallende Felsküste, manchmal kreischten Möwen. Menschen sah ich nirgends. Kein Wunder – wer hätte in dieser Einöde wohl ein Fahrzeug leihen sollen?

Vivienne bedeutete mir, dass sie im Auto warten würde. Mist, das hatte ich mir anders vorgestellt! Wie sollte ich nun an mein Gepäck kommen? Wenn ich erst in ihren Wagen stieg, gab es kein Zurück mehr, dann war ich auf Gedeih und Verderb dieser unbekannten Frau ausgeliefert. Ich fühlte mich, als wäre gerade eine Falle zugeschnappt. Wie jetzt noch aus der verflixten Situation herauskommen?

Die Vorderseite der Mietstation war vollständig verglast. Als ich eintrat, hatte ich das Gefühl, in einen Kühlschrank zu steigen – die Klimaanlage musste bis zum Anschlag aufgedreht sein. Am Tresen knipste eine sonnengebräunte, wasserstoffblonde Schönheit ihr Zahnpasta-Lächeln an; die Wand dahinter leuchtete in den Farben des Autoverleihs. Irgendetwas stimmte hier nicht. Das Bild wirkte zu perfekt, zu makellos, wie in einem Film, einem Werbespot…

Während ich die Formalitäten erledigte, wollte das ungute Gefühl einfach nicht verschwinden. Kurz kam mir der Gedanke, mein Gepäck einfach Gepäck sein zu lassen und durch den Hintereingang – falls vorhanden – das Weite zu suchen. Meine Brieftasche mitsamt Geld, Karten und Papieren trug ich bei mir, das war das Wichtigste. Und die Felsen am Strand boten sicher unzählige Versteckmöglichkeiten. Irgendwann würde Vivienne es aufgeben, mich zu suchen, und losfahren. Mit etwas Glück ließ sie sogar mein Gepäck hier in der Station zurück, dann konnte ich einfach denselben Wagen nochmal mieten und unbehelligt davonfahren.

Aber im nächsten Moment zog sich etwas in mir schmerzhaft zusammen. Weshalb traute ich Vivienne nicht mehr, unterstellte ihr sogar böse Absichten? Sie meinte es ehrlich, freute sich aufrichtig über meinen Besuch – und ich wollte sie einfach hier stehen lassen? Ein Kloß schnürte mir die Kehle zu. Ihr Erröten vorhin im Gasthof kam mir wieder in den Sinn, und seltsam: Auch diesmal musste ich dabei an Alexandra denken…

Genug – sich zu verdrücken kam nicht infrage! Mit einem Gefühl der Entschlossenheit faltete ich die Rückgabe-Quittung zusammen, verließ das Gebäude und ging zu Viviennes Wagen.

 

***

 

 

Längst hatten die Bergwände sich wieder um uns geschlossen, war auch die Waldzone in der Tiefe zurückgeblieben. Der Himmel dagegen zeigte sein schönstes, intensivstes Blau, die Luft war so kristallklar wie bei unserer Abfahrt aus dem Dorf. Und allmählich gewöhnte ich mich an die Vorstellung, dass Chateau de Montardit wirklich existierte. Schon bald würde ich es mit eigenen Augen sehen…

Die asphaltierte Straße endete; eine Schotterpiste schloss sich an. War es dieselbe wie vorhin auf dem Weg ins Tal? Fortwährend suchte ich nun die Umgebung nach vertrauten Merkmalen ab – dem Dorf, dem Gipfel in den Wolken, dem Schloss, wie ich es vom Hochplateau aus gesehen hatte: auf seiner Felszunge in die Schlucht ragend. Aber ich konnte nichts entdecken.

In engen Serpentinen wand die Piste sich an den Berghängen entlang. Immer wieder schien es, als hätte der Landrover seinen Halt verloren und schlitterte auf den tödlichen Abgrund zu, aber Vivienne ging partout nicht vom Gas. Vermutlich kannte sie die Strecke wie ihre Westentasche und wusste, was sie ihrem Wagen zumuten konnte. Dennoch bekam ich allmählich das Gefühl, als wartete sie darauf, dass ich einknickte und sie bat, langsamer zu fahren. Alexandra hatte es früher ganz ähnlich gemacht. Immer wieder hatte sie ihre Macht ausgetestet und versucht, mich kleinzukriegen, beim Autofahren und in anderen Situationen – fast immer mit Erfolg.

Bleiche Dunstschwaden zogen hinter uns her. Manchmal hatte ich den Eindruck, sie würden Gestalt annehmen, sich zu menschlichen Schemen ausformen. Waren es die Staubwesen des Hochplateaus? Hatten sie ihr Refugium verlassen, um uns zu jenem rätselhaften Kastell zu geleiten, das eigentlich seit langem eine Ruine war? Gesichter strichen an den Scheiben entlang, leere Augenpaare lugten ins Wageninnere. Sie schienen wie ein Spiegel meiner selbst, meiner Vergangenheit und Gegenwart, vor allem aber meiner Zukunft…

Endlich ließen die Staubwolken von uns ab und zogen davon. Die Kurven endeten, wir fuhren jetzt über eine mit schwarzem Geröll bedeckte Hochebene. An vielen Stellen erhoben sich kleine Felsbuckel, ähnlich jenen grabhügel-artigen über Porto d'Arreccio. Zur Linken stieg gerade der Halbmond auf, riesig und fahlgelb, während auf der anderen Seite ein glühender Sonnenball langsam im Dunst versank. Blutrot leuchtete die Felslandschaft, die Gipfel brannten wie Feuer. Etwas Unheimliches kündigte sich an; jeden Moment würde es sich zeigen… und hinter einer Hügelkuppe sahen wir das Schloss aus dem Boden wachsen – ein düsterer, spukhafter Scherenschnitt. Immer höher und gewaltiger türmte er sich vor uns auf.

Allmählich ließen sich Details erkennen: die kupfernen Dächer der einzelnen Gebäude, ein Seitenflügel, der in klobigem Halbrund endete. Der Außenturm erschien wehrhaft, der Hauptturm hingegen war schlank und elegant. Wie ein Speer ragte er in den Himmel, als wollte er die höchsten Gipfel übertrumpfen. Und plötzlich lief es mir wie Eiswürfel den Rücken hinab: War es klug, weiterzufahren? Würde einen dieses Gemäuer jemals wieder freigeben, wenn man es erst betreten hatte?

Vivienne schien meine Gedanken zu erraten. „Fast allen Besuchern ist Chateau de Montardit aus dieser Perspektive nicht geheuer“, meinte sie und nickte mir aufmunternd zu. Es war gut, ihre Stimme zu hören, das Lächeln in ihrem Gesicht zu erkennen – die echte Vivienne trat dadurch wieder in Erscheinung. Sie ähnelte so gar nicht der hinterhältigen, aggressiven meiner Phantasie. Die Person neben mir strahlte nur Freundlichkeit und Wohlwollen aus; keine Spur von Heimtücke oder Einschüchterung.

Der Weg verlief nun eine ganze Weile entlang einer Mauer aus Bruchsteinen. Als sie endete, sahen wir vor uns eine breite, zinnenbewehrte Steinbrücke. Sie spannte sich über einen tiefen Graben, der ausgetrocknet war, jenseits davon ragte das Schlosstor auf. Beim Durchqueren seines gotisch geformten Bogens erkannte ich über uns die Spitzen eines eisernen Fallgitters. Endlich fuhren wir in den Schlosshof ein. Vivienne lenkte den Wagen zur Umfassungsmauer eines rechteckigen Brunnens, wo bereits einige Fahrzeuge standen. „Da wären wir“, meinte sie leise und stellte den Motor ab.

Beim Aussteigen merkte ich, wie sehr ich mich während der Fahrt verspannt hatte. Ich reckte und streckte mich, versuchte die steifen Glieder zu lockern. Hohe Wände umgaben uns in Form eines Dreiecks; oben leuchteten die Zinnen und Turmhelme im kräftigsten Abendrot – welch ein Anblick!

Jeder Windstoß wirbelte feinen, hellen Staub auf, der in Schwaden davonzog. „Eigentlich ist der Innenhof gepflastert“, erklärte Vivienne, „aber der Bergsand war schließlich stärker, er hat im Lauf der Zeit alles zugedeckt. Trotzdem ist hier seit mehr als anderthalb Jahrhunderten nichts verändert. Wenn einer unserer Vorfahren plötzlich wiederauferstände, würde er alles vorfinden, wie er es kennt. Schau, diesen Brunnen gibt es seit über 1000 Jahren, und noch immer spendet er Wasser.“ Sie strich über die Umfassungsmauer aus hellem Bruchstein.

Ihre Worten ließen mich an einen alten Text aus Kindertagen denken, eines jener Gruselhefte, die ich damals in Unmengen verschlungen hatte: Ein Amerikaner, modern, aufgeschlossen, reist mit einer geheimnisvollen Frau auf ein Kastell im Hochgebirge, in dessen Hof sich ein uralter Brunnen befindet – war es nicht genau wie bei Vivienne und mir?

In der Mitte des gewaltigen Schlossportals entstand nun ein Lichtspalt; zwei Gestalten schlüpften hindurch und kamen ins Freie. Die beiden, ein Mann und eine Frau, schienen noch recht jung, Anfang oder Mitte zwanzig. Händchenhaltend schlenderten sie die Treppe hinab.

„Dachte ich’s mir doch, dass Sandrine und Stefano meine Ankunft abpassen. Umso besser.“ Vivienne öffnete die Rücktür ihres Wagens. „Dann kann Stefano sich gleich ums Gepäck kümmern.“

Es gab eine lebhafte Begrüßung auf französisch, Umarmungen und Küsschen auf die Wangen. Vivienne wechselte ins Englische und stellte mich dem Paar vor. Stefano war von südländischer Bräune; das lange, fast schwarze Haar hatte er zu einem Zopf zurückgebunden. Er kam aus „Naaapoli“, wie er mit deutlich italienischem Akzent erklärte. Sandrine war in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von Stefano: ein hellhäutiger Typ mit rötlichem, kurz geschnittenem Haar, zudem von ruhiger, distinguierter Art. Ihr Englisch klang amerikanisch, tatsächlich hatte sie in den USA studiert. Wenn sie nicht hier auf dem Schloss war, lebte sie in Italien, allerdings im nördlichen Teil, in Bologna.

Sie und Vivienne machten einige scherzhafte Bemerkungen über den „hoffnungslosen Mezzogiorno“. Sofort sprang Stefano darauf an, schimpfte lebhaft über die „arroganten Bourbonen“ – und brach in meckerndes Lachen aus. Ich hatte das starke Gefühl, dem Typen erst kürzlich begegnet zu sein. Aber wo? Vielleicht in Plage d’Aiola?

„Komm, ich zeige dir dein Zimmer“, unterbrach Vivienne meine Gedanken und zog mich hinter sich her. Beim Passieren des Eingangsportals suchte ich unwillkürlich nach einer mechanischen Vorrichtung zum Öffnen und Schließen. Sandrine und Stefano konnten den schweren Türflügel unmöglich händisch bewegt haben. Aber ich entdeckte nichts. Als ich zum Auto zurückschaute, wuchtete Stefano gerade meinen Rollkoffer von der Ladefläche. Ein kurzer Blick auf die Armbanduhr: Es war zehn vor sieben.

Der Anblick der Halle verschlug mir die Sprache: Solch überbordende, barocke Pracht hatte ich bislang nie gesehen, weder in Filmen noch auf Bildern – und schon gar nicht in der Realität. Rundbögen, Säulen und Galerien, soweit das Auge reichte. Zu meinen Füßen breitete sich gleißendes Marmorparkett wie ein Wasserspiegel, dahinter sah man eine monumentale Freitreppe aufwärts steigen. Im Hochparterre umschloss sie in zwei Armen einen Springbrunnen, die sich dahinter wieder vereinigten. Schließlich dieses Licht – nach dem düsteren Äußeren des Schlosses hatte ich erwartet, ein burgartiges Gewölbe zu betreten, beleuchtet allenfalls von ein paar Fackeln, offenen Kohlefeuern oder sonstigen archaischen Lichtquellen; stattdessen ließen tausende Kerzen alles erstrahlen wie im hellsten Sonnenschein. Überall flackerten und flirrten sie: in kristallenen Lüstern an der Decke, in Kandelabern an Wänden und Säulen, in kunstvoll gearbeiteten Haltern entlang der Treppe. 'Wer hat die alle angezündet?', dachte ich, völlig überwältigt.

Ein Donnerschlag beförderte mich unsanft ins Diesseits zurück – das Portal war hinter uns zugefallen, so schwer und machtvoll, dass es etwas Endgültiges hatte. Unbestimmte Furcht stieg in mir auf, ich wollte instinktiv auf dem Absatz kehrtmachen – als eine innere Stimme mir zuraunte: 'Denk an Lennard'. Trotz meiner Angst war ich mir sicher, auf der richtigen Fährte zu sein, sicherer als je zuvor. Gerade jetzt musste ich unbedingt dranbleiben!

Unsere Schritte hallten von leeren Wänden wider, als wir die Treppe hinaufgingen. Nirgends sah man Bilder oder Skulpturen, der kalte, weiße Marmor wirkte wie gefroren. Am Ende der Stufen empfing uns eine Galerie, von der aus man in die Halle hinunterschauen konnte – der Anblick war schlicht grandios!

Ein weiteres Treppengewölbe schloss sich an, auch dieses blank und leer wie in einem Eispalast. Es folgte ein Lichthof, durch dessen Glasdach die abendliche Sonne hereinfiel. Diverse Korridore zweigten von hier ab; es war verwirrend, wie in einem Labyrinth. Längst kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus und hatte Mühe, Vivienne zu folgen, die scheinbar aufs Geratewohl einen der Flure gewählt hatte. Der Marmorboden ging jetzt in dunkles, knarzendes Holzparkett über, Ölporträts in gedeckten Farben und schwere Gobelins zierten die Wände. Endlich entsprach das Interieur dem Äußeren des Gebäudes. „Halle und Treppen wurden Mitte des 19. Jahrhunderts dem damaligen Stil angepasst", erklärte Vivienne, erneut meine Gedanken erratend. „Aber hier, in den oberen Etagen, ist alles noch wie zu Zeiten von Arsène de Montardit. Er gab um 1600 dem Schloss seine heutige Gestalt.“

Die Türen waren vom selben dunklen Holz wie das Parkett. An der Breite ihrer Zargen konnte man sehen, wie mächtig das Mauerwerk war. Zu beiden Seiten liefen die Kerzenflämmchen in schnurgerader Linie davon, einem Fluchtpunkt irgendwo in der Ferne zustrebend. Schmale Nebenflure zweigten immer wieder von unserem Hauptkorridor ab, in verwirrend spitzen Winkeln, die kein System erkennen ließen. „Chateau de Montardit selbst ist fast 800 Jahre alt“, fuhr Vivienne in ihren Erläuterungen fort, „Einige Teile tief im Innern stammen sogar aus dem Frühmittelalter. Die ganze Anlage geht ja auf eine alte Burg jener Zeit zurück.“

In diesem Moment sprang neben uns eine Zimmertür auf, eine junge Frau in Dienstmädchenkleidung erschien. Sie war südländischen Typs, ihre kohlschwarzen Pupillen taxierten mich unangenehm. „Bonsoir“, grüßte sie, betont formell und kühl, fast etwas hochmütig. Die abendlichen Sonnenstrahlen, die durch den Raum bis hierher reichten, fielen auf ihr Gesicht, beschienen es in einem ganz bestimmten Winkel… und auf einmal erkannte ich sie: die Wirtin!

Wie vom Donner gerührt starrte ich sie an. Sie war es, ganz bestimmt! Dasselbe hämische Grinsen wie vorhin am Fenster des Gasthofes, hinzu kam nun dieses triumphierende Blitzen in ihren Augen, das zu sagen schien: Jetzt haben wir dich…

Dann fiel die Tür ins Schloss, das Licht verschwand, die Frau eilte davon.

„Ist irgendetwas?“, fragte Vivienne, als sie mein erschrockenes Gesicht bemerkte.

„Die Wirtin?“, flüsterte ich, eher fragend als feststellend. Plötzlich wurde ich wieder unsicher: Wie hätte sie so schnell vom Dorf hierher kommen sollen?

„Die Wirtin? Du meinst die Gastwirtin aus dem Dorf? Bestimmt nicht. Das war Manon, unser Dienstmädchen.“

„Vielleicht Zwillingsschwestern?“, warf ich ein. „Die beiden sind einander doch wie aus dem Gesicht geschnitten. Sag selbst.“

„Na, vielleicht eine gewisse Ähnlichkeit.“ Vivienne klang eher skeptisch. „Und Geschwister – nicht dass ich wüsste. Aber jetzt schau dir dein Zimmer an.“ Mit diesen Worten öffnete sie erneut die Tür, aus der Manon eben erschienen war. Ein großes Sprossenfenster zeigte in Richtung der untergehenden Sonne; die Butzenscheiben verzerrten den Glutball, ließen ihn zu einer zitternden, fleischigen Masse zerlaufen.

Vivienne klappte einen der Fensterflügel auf und bedeutete mir, hinauszuschauen. Als ich neben sie trat, erwartete ich das gewohnte Bild von Felsen, Gesträuch und Bergen… aber da unten war – nichts! Nichts außer Leere, grundloser Tiefe. Mir wurde schwindlig; instinktiv musste ich mich an Vivienne festklammern.

Endlich begriff ich, dass wir uns am Rand der Felsenzunge befanden; direkt unter dem Fenster gähnte der Abgrund. Erst weit entfernt stiegen die Granithänge wieder aus gewaltigen Tiefen empor, entfaltete sich das vertraute Panorama aus Gerölllandschaften, Höhenzügen, Gipfelformationen. Die Sicht war kristallklar, fast meinte ich den Horizont berühren zu können, wenn ich mich danach ausstreckte. Und beim Betrachten rückte die Landschaft sogar noch näher heran. Höher und höher türmten die Bergketten sich auf, wuchsen die Felsriesen in den Himmel. Auf den Gipfeln aber lag, wie ein glühender Ballon, die Sonne und färbte alles blutrot – es schien, als wäre das Land organisch, eine lebende, warm durchpulste Substanz…

„Und?“ Viviennes ruhige Stimme erweckte mich aus meiner Abwesenheit, meinem kurzen Trancezustand.

„Ich weiß nicht“, antwortete ich leise, „es sieht… unheimlich aus.“

Sie lachte. „So schlimm ist es hoffentlich nicht. Aber jetzt lass ich dich allein, du wirst dich einrichten und frischmachen wollen. Um 9 essen wir zu Abend, im Speisezimmer. Es liegt am anderen Ende der Schlosshalle, gegenüber der Haupttreppe. Findest du selbst dorthin? Ach, ich klopfe einfach gegen halb und hole dich ab. Also, bis dahin.“ Sie ging hinaus und schloss behutsam die Tür hinter sich.

Stille senkte sich herab, so profund und allumfassend, dass mir erneut flau wurde. Ich ging im Raum umher, ließ die Dielen knarzen, öffnete und schloss die beiden Türen eines wuchtigen Eichenschranks, zog die Schubladen einer altmodischen Kommode auf. Ich wollte Geräusche erzeugen, egal welche; Hauptsache, irgendetwas vertrieb diese Grabesruhe, die alles niederdrückte und zu ersticken schien.

Schließlich ließ ich mich rückwärts aufs Himmelbett plumpsen, vollkommen erledigt durch die Flut an Eindrücken. Die Bettwäsche duftete frisch, die Matratze gab beim Auf- und Abwippen ein zaghaftes Quietschen von sich. Das Bett selbst war aus dunklem Holz gearbeitet und merkwürdig kurz – erneut fragte ich mich, ob die Menschen früher wohl kleiner gewesen waren. Fasziniert betrachtete ich den Baldachin aus schimmernder, schneeweißer Seide, der sich über mir wölbte. Kunstvoll gedrechselte Bettpfosten trugen ihn, seine Seitenkanten waren mit Goldfäden durchwirkt. Keinen Augenblick bezweifelte ich, dass es sich um echtes Gold handelte. Ein Himmelbett mit seidenem Baldachin – plötzlich fühlte ich mich wie in einem Historienfilm. Noch nie hatte ich ein solches Möbel in Natura gesehen, und von nun an sollte ich jede Nacht darin schlafen…

Mich einrichten und frischmachen, hatte Vivienne gesagt; aber dazu brauchte ich meine Sachen. Ob ich Stefano entgegengehen sollte? Der Weg war weit, und sicher gab es Angenehmeres, als anderer Leute Gepäck durch die Gegend zu schleppen. Dann sah ich zu meiner großen Überraschung, dass Koffer und Rucksack längst in einer Ecke bereitstanden. Wie konnte das sein? Existierten hier Abkürzungen, geheime Wege für das Personal jenseits der offiziellen Korridore? Hatte Stefano unterwegs alles an Manon weitergereicht? Sie war vorhin ja aus diesem Zimmer gekommen.

Merkwürdig: Vivienne hatte vorhin gesagt, Stefano wäre so etwas wie der Hausmeister, trotzdem führten er und Sandrine offenbar eine Beziehung. Eine Familienangehörige mit einem Hausangestellten – das erschien mir reichlich seltsam.

Neben der Kommode führte eine Tür ins geräumige Badezimmer. Schwarze und weiße Bodenfliesen bildeten ein Schachbrettmuster. Eine Wanne stand frei im Raum, dahinter befand sich die Duschecke. Es gab ein großes Waschbecken und sogar eine Porzellantoilette. Becken, Wanne und Dusche waren mit Wasserhähnen und Drehknöpfen ausgestattet, jeweils für warmes und kaltes Wasser, wie ich feststellte. Die Toilette besaß eine mechanische Wasserspülung, die man durch Ziehen einer metallenen Kette auslöste, wie ich es aus meiner Berliner Altbauwohnung kannte. Aber dafür, dass die Einrichtung aus der frühen Neuzeit stammte, wie Vivienne mir erklärt hatte, wirkte sie erstaunlich modern. Fast wie in einem Hotel.

Aus dem Oval eines Spiegels über dem Waschbecken schaute mir mein Gesicht entgegen – bleicher als sonst. Ich wusch mir die Hände, benetzte meine Stirn mit kaltem Wasser, trocknete mich schließlich mit einem der blütenweißen, duftenden Frotteetücher ab, die überall an den Haltern hingen. Vermutlich hatte Manon sie vorhin gebracht. Zurück im Zimmer sah ich, wie gerade das letzte Stückchen Sonne hinter den Gipfeln verschwand. Es dunkelte erstaunlich rasch, und tatsächlich entdeckte ich nirgends im Raum eine Lampe oder einen Lichtschalter. Auf dem Nachttisch stand nur eine Kerze in einem Messinghalter mit Fingergriff, aber wie sollte ich sie entzünden? Ich musste beim Abendessen unbedingt nach Streichhölzern oder einem Feuerzeug fragen, sonst saß ich nachher im Finstern. Das Handy fiel als Lichtquelle ja aus, weil der Akku längst leer war. Und eine Taschenlampe zu kaufen hatte ich vor Reiseantritt leider versäumt – was mich jetzt doppelt ärgerte.

Ich begann meine Sachen auszupacken und im Schrank zu verstauen. Auf dem Nachttisch drapierte ich, wie schon im Gasthof, Lennards Karte und den Reisewecker. Als alles erledigt war, legte ich mich wieder auf dieses grandiose Bett, um noch ein bisschen zu entspannen. Neben mir tickte der Wecker, ansonsten war es totenstill. Auch von draußen kam, trotz des geöffneten Fensters, kein Geräusch herein, weder Vogelgezwitscher noch das Rauschen von Bäumen oder Sträuchern, auch kein Wind – absolut gar nichts. Als hätte jemand den Ton abgestellt.

Meine Armbanduhr zeigte zehn vor sieben – konnte das sein? Nein, konnte es nicht: Der Sekundenzeiger rührte sich nicht vom Fleck – die Uhr war anscheinend wieder stehengeblieben! Rasch prüfte ich den mechanischen Wecker und war sehr erleichtert, als ich den vorrückenden Sekundenzeiger sah. Dabei hatte ich das gute Stück anfangs gar nicht mitnehmen wollen, und jetzt war er meine einzige Zeitquelle. Ich musste unbedingt daran denken, ihn regelmäßig aufzuziehen – im Dorf hatte es ja im Zweifel noch den Kirchturm gegeben.

Zehn vor sieben – genau um diese Zeit hatten wir vorhin die Schlosshalle betreten. Und war es im Bergdorf nicht ähnlich gewesen? Auch dort hatten mit Überschreiten der Ortsgrenze die Zeiger schlagartig ihren Dienst eingestellt. Mein ungutes Gefühl kehrte zurück; wieder sah ich das hämische Grinsen der Wirtin vor mir, hörte erneut das Zuschlagen des Portals, jenes monumentale Donnern, das etwas Endgültiges gehabt hatte – als gäbe es nun definitiv kein Zurück mehr…

Im nächsten Moment klopfte es ungestüm an meiner Zimmertür: „Marc? Bist du fertig?“ Ich sprang hoch wie von einer Tarantel gestochen – und erkannte schließlich Viviennes Stimme. „Das Diner wartet“, rief sie. Tatsächlich: Halb neun – wie im Flug war die Stunde vergangen!

Und wieder das Wandern zu zweit über lange Korridore, vorbei an unzähligen Türen, Ölgemälden und Antiquitäten. Schließlich erreichten wir die Galerie, ohne dass ich ein einziges Detail des Hinwegs wiedererkannt hätte. Waren wir diesmal anders gelaufen? Mit Sicherheit gab es diverse Routen zur Auswahl, so labyrinthisch wie hier alles angelegt war.

In der Tiefe leuchtete die prunkvolle Schlosshalle. Gerade sah man dort Manon übers blanke Parkett eilen, ein Tablett mit Weinflaschen vor sich hertragend. Oder war es doch die Wirtin aus dem Gasthof? Ich schüttelte den Gedanken ab – nein, das konnte einfach nicht sein.

Wir gingen ebenfalls nach unten. Ein Säulengang hinter der Freitreppe, den ich vorhin nicht bemerkt hatte, führte uns direkt zum Speisezimmer. Wobei „Zimmer“ eine gehörige Untertreibung war, wie ich beim Eintreten feststellte: Es handelte sich definitiv um einen Saal, eine Halle geradezu. Auf einem absurd langen Tisch waren Speisen und Gedecke drapiert. Erlesenes Tafelsilber funkelte neben kostbarem Porzellan, das Kerzenlicht brach sich tausendfach im Kristall der Weingläser und Karaffen. „Nur herein“, rief Stefano uns entgegen. Er und Sandrine warteten bereits. Behände sprang er auf, zog einen der hochlehnigen Stühle zurück und bedeutete mir, Platz zu nehmen. Ich tat, wie mir geheißen, etwas verwirrt durch seinen Rollenwechsel und die plötzliche Förmlichkeit. Vivienne setzte sich neben mich.

Insgesamt machte hier alles einen eher rustikalen Eindruck, zumal wenn man noch unter dem Eindruck der Schlosshalle und der dortigen Marmorpracht stand. Der Boden war mit Terrakotta-Fliesen ausgelegt und leicht uneben. Die Saaldecke bestand aus schweren Holzbohlen, die ihrerseits von zwei noch mächtigeren Querstreben getragen wurden. Statt eines Kronleuchters gab es ein Konstrukt aus zwei ineinanderhängenden, schmiedeeisernen Reifen, beide mit Kerzen bestückt – wobei das meiste Licht vermutlich von den Leuchtern an den Wänden kam. All dies erinnerte eher an den Festsaal einer mittelalterlichen Burg als an ein Schloss. Was aber zum wuchtigen Erscheinungsbild passte, das Chateau de Montardit von außen abgab.

Der Kamin war nahezu mannshoch; seine Umfassung zeigte denselben hellen Granit wie so vieles auf dieser Insel, Häuser, Straßenpflaster, Kirchtürme, selbst die Grabsteine. Ein Feuer brannte nicht in ihm, vielleicht wegen der Jahreszeit. Neben dem Kamin lag ein schmaler Durchgang, der offenbar in eine Servierküche führte, den Arbeitsgeräuschen nach zu schließen.

Stefano füllte gerade mein Weinglas, als die schwere Saaltür erneut aufging und eine junge, dunkelhaarige Frau hereinkam. Offenbar war sie gelaufen: Ihre Wangen waren gerötet, sie schien außer Atem. Ein „Excuse moi“ murmelnd umarmte sie flüchtig Vivienne und wollte auf der anderen Seite neben ihr Platz nehmen.

„Lucienne, wir haben einen neuen Gast“, verkündete Vivienne, ins Englische wechselnd. „Dies ist Marc.“ Sie drehte sich zu mir: „Marc, Lucienne ist meine Pariser Kollegin, von der ich dir bereits erzählt habe.“

Ich erhob mich, aus Höflichkeit, aber auch aus Neugier. Die Frau war ähnlich jung wie Sandrine und Stefano, sehr schlank und ausgesprochen hübsch. „Bonsoir“, grüßte sie freundlich und taxierte mich einen Moment. Etwas Mondänes, Verwöhntes ging von ihr aus; man sah ihr die Herkunft aus besserem Hause definitiv an. „Hallo“, erwiderte ich, auf einmal ziemlich verlegen.

Zum Abendessen gab es Salat und kalten Braten mit verschiedenen Soßen, dazu Ciabatta. Alles schmeckte köstlich und machte angenehm satt, ohne ein Völlegefühl zu erzeugen. Die Atmosphäre war unverkrampft, manchmal ausgelassen. Wie selbstverständlich wurde Englisch gesprochen. Ich war der Einzige, dem das Parlieren in dieser Sprache schwerfiel. Immer wieder geriet ich ins Stocken, musste manchmal abbrechen und neu ansetzen. Zwar hatte sich meine innere Anspannung mit dem ersten Glas Wein etwas gelegt, aber wirklich sicher fühlte ich mich in dieser noblen Runde nicht. Die ganze Zeit spürte ich sozusagen meinen „niederen Stand“.

Von Lucienne sah ich die ganze Zeit so gut wie nichts; nur ihr dunkles, halblanges Haar schaute manchmal hinter Vivienne hervor. Dafür nutzte ich die Gelegenheit, Manon genauer ins Auge zu fassen, wenn sie zwischendurch Geschirr abräumte oder neue Speisen und Getränke brachte. Aus der Nähe sah ich plötzlich diverse Unterschiede zwischen ihr und der Wirtin aus dem Dorf. Zum Beispiel das Haar: Manon trug es völlig anders, nicht streng zurückgebunden, sondern locker und offen, in einem modernen Schnitt. Auch war sie schlank und hochgewachsen; sie bewegte sich flink, elegant und leichtfüßig, wirkte ganz wie eine Bedienstete in gutem Hause. Die Gastwirtin dagegen, von gedrungener Gestalt und eher träge in ihren Bewegungen, hatte auf mich stets einen ländlich-biederen Eindruck gemacht. Also war Viviennes Skepsis auf meine Bemerkung, die beiden könnten Geschwister sein, durchaus berechtigt gewesen. Ich hatte mich wohl getäuscht – aber ein letztes Misstrauen blieb doch zurück…

Nach dem Diner wechselten wir aus dem Speise- ins angrenzende Kaminzimmer. Dieses glich in Sachen Prunk wieder der Schlosshalle, allerdings war es weniger auf Repräsentation denn auf Behaglichkeit angelegt. Man fühlte sich wohl, kaum dass man den Raum betreten hatte. Hohe, elfenbeinfarbene Bücherschränke mit Glastüren bedeckten die Wände, Sitzgruppen mit Möbeln aus dem Barock oder Rokoko luden ein, es sich bequem zu machen. Der Kamin war deutlich kleiner als im Speisezimmer, aber hier prasselte tatsächlich ein helles, wärmendes Feuer. Karaffen mit Wein und Wasser standen auf einem Rauchtischchen bereit, dazu brachte Manon gerade noch Kannen mit Tee und Kaffee. Ein Schachtisch in der Ecke faszinierte mich besonders: Seine Spielfiguren aus Silber und Gold funkelten prachtvoll im Schein des Feuers.

Stefano öffnete ein hölzernes Kistchen auf dem Rauchtisch, holte verschiedene Zigarren daraus hervor, beschnupperte sie sorgfältig mit Kennermiene – um sich schließlich eine Filterzigarette anzuzünden. Dann hielt er Sandrine das Lederetui hin, gab ihr Feuer mit einem schmalen, elegant wirkenden Goldfeuerzeug, das mir irgendwie bekannt vorkam. Den Rest des Abends sah man die beiden unablässig rauchen.

Die Unterhaltung kam auf Justin und dessen Lebensgefährtin Chloé. „Die Einzigen, die permanent hier auf dem Schloss leben – falls man es so nennen kann“, meinte Sandrine und verdrehte grinsend die Augen.

„Die beiden zu treffen ist schwierig“, erklärte Stefano. „Sie schweben nur selten herab aus ihrem Nirwana.“ Das klang in der Tat merkwürdig – und machte neugierig. Würde ich das geheimnisvolle Paar je zu Gesicht bekommen?

Auch über die anderen Familienmitglieder wurde gesprochen. Jérôme befand sich mit seinen Oxford-Kommilitonen momentan auf Europa-Rundreise. Angeblich war auch eine Stippvisite auf Chateau de Montardit geplant, und zwar schon demnächst. „Hoffentlich stellt sich das Ganze als Falschmeldung heraus.“ Sandrine zog hektisch an ihrer Zigarette. „Wisst ihr noch, bei seinem letzten Besuch?“ Allgemeines Aufstöhnen, es wurde von nächtelangen Partys berichtet. „Manon und ich mussten danach das halbe Schloss saubermachen“, klagte Stefano. „Aber lustig war 's schon mit denen“, fügte er lachend hinzu.

Von Laurent wusste man generell nie, was er gerade trieb. Einmal studierte er, das nächste Mal hatte er sich in einer Landkommune verdingt und züchtete Schweine. Auch zur See gefahren war er schon. Wenn er aufs Schloss kam, hatte er stets jemand Neues im Schlepptau, mal Mann, mal Frau. Er müsse sich sexuell noch finden, lautete immer seine Begründung.

Ich selbst hatte inzwischen sämtliche innere Distanz abgelegt und amüsierte mich bestens – nicht zuletzt dank des Rotweins, der entspannte, ohne betrunken zu machen. Im übrigen war er einfach köstlich. Als jemand vorschlug, den Abend zu beenden und schlafen zu gehen, wollte ich erst protestieren, merkte dann aber, dass ich todmüde war. Es musste spät sein, auch war der Tag ziemlich anstrengend gewesen.

Stefano bot sich an, gemeinsam mit mir zurückzugehen, was ich erleichtert akzeptierte. Auf eigene Faust und dazu beschwipst mochte ich nur ungern durch dieses Haus laufen. Mit Leuchtern ausgestattet brachen wir auf. In der Schlosshalle empfing uns Dämmerlicht, nur hie und da brannten noch einzelne Kerzen. Als wir in den Lichthof des Obergeschosses kamen, wurde mir endgültig flau: Die diversen Korridore, die hier begannen, waren alle dunkel – wie Schlünde gähnten uns von überall ihre schwarzen Öffnungen entgegen…

Allmählich begann ich zu ahnen, was es eigentlich bedeutete, des Nachts ohne elektrisches Licht zu sein, noch dazu in einem Gemäuer wie diesem. Grenzenlos tief erschien mir plötzlich das Dunkel, wie eine unheimliche, bösartige Macht, eine Urgewalt, der wir nahezu wehrlos gegenüberstanden: Unsere schwächlichen Kerzenflammen würde schon ein schwacher Windhauch zum Erlöschen bringen. Aber meine Einsicht kam zu spät, nun war ich hier und konnte nicht mehr weg.

Notgedrungen folgte ich Stefano, als er einen der finsteren Tunnel betrat. Meine Nerven waren aufs Höchste angespannt, wie eine Waffe trug ich den Leuchter vor mir her. Was geschah jenseits seines engen Lichtkreises? Welche Kreaturen lauerten in der Finsternis, welche Gefahren erwarteten uns in den Tiefen des Schlosses? Meine überreizten Sinne begannen mir die seltsamsten Sachen vorzugaukeln: Gespenstisches Raunen und Zischeln erfüllte plötzlich die Luft, die Porträtierten auf den Wandgemälden wirkten wie lebendig. Ihre Pupillen schienen uns misstrauisch zu verfolgen, Arme sich aus den Bildern herauszustrecken, bleiche, knochige Finger nach uns zu greifen. Und immer wieder tauchten vor uns im Dunkel glühende Augenpaare auf – aber sobald wir den fraglichen Punkt erreichten, war dort nichts mehr…

Endlich blieb Stefano vor einer Tür stehen. „Eh voilà “, meinte er gähnend. „Angenehme Nachtruhe.“ Er winkte müde und machte auf dem Absatz kehrt. Nach kurzem Wegstück bog er in einen Seitenflur, dann hörte man, wie eine Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde; das Licht seines Leuchters erstarb.

Unschlüssig verharrte ich auf meinem Fleck. Woher wusste Stefano, dass von den zahllosen Türen ausgerechnet diese auf mein Zimmer führte? Es gab keine Nummern oder sonstigen Kennzeichen. Was, wenn es die falsche war und ich gleich einem Fremden gegenüberstand? Andererseits konnte ich schlecht hier draußen auf dem Korridor bleiben. Mit dem Mut der Verzweiflung drückte ich die gusseiserne Klinke hinab – und betrat denselben Raum, den ich vorhin verlassen hatte. Weshalb sollte Stefano auch die Zimmer verwechselt haben? Er lebte schließlich nicht erst seit gestern auf Chateau de Montardit; vermutlich kannte er sich hier bestens aus.

Kühle, frische Bergluft empfing mich – richtig, ein Fensterflügel stand noch offen. Rasch klappte ich ihn zu, um nicht Mücken durch den Kerzenschein anzulocken. Oder sonstiges Getier, das möglicherweise dort draußen herumflatterte… Auch hätte ich am liebsten die Tür abgeschlossen – wenn denn ein Schlüssel vorhanden gewesen wäre.

Nachdem ich die Nachttischkerze am Leuchter entzündet hatte, blies ich dessen Lichter mit einem kräftigen Stoß aus. Es wurde ziemlich dunkel im Raum, dunkler, als ich erwartet hatte. Schatten wanderten plötzlich über die Zimmerdecke, die Vorhänge des Himmelbettes schienen sich sacht zu bewegen. Sogar die hochgestellten, weißen Federkissen am Kopfende kamen mir auf einmal seltsam lebendig vor…

Als ich aus dem Bad wieder ins Zimmer zurückkam, wagte ich kaum, mich dem Bett zu nähern. Beim Zurückschlagen der Decke nahm ich erneut den angenehm frischen Duft der Bettwäsche wahr. Ich legte mich vorsichtig auf die Matratze, hörte das leise Quietschen, betrachtete den Baldachin über mir – und erneut packte mich dieses Gefühl völliger Irrealität. Das konnte einfach alles nicht wahr sein, nicht wirklich geschehen.

Aber ein Traum war es auch nicht; die Dinge um mich herum ließen sich allesamt betasten und befühlen. Wie weich das Bettzeug war, wie luftig die Daunendecke! Die Matratze schmiegte sich perfekt an den Körper; sehr unwahrscheinlich, dass ich darauf Rückenschmerzen bekommen würde, wie im Gasthof. Allmählich beruhigten sich meine aufgepeitschten Nerven. Ich würde mich an die Atmosphäre gewöhnen. Jetzt und zumal in der Nacht dominierte noch der Eindruck des Schaurigen, Unheimlichen, aber wenn ich erst ein paar Tage im Schloss verbracht hatte, sah die Sache bestimmt anders aus.

Wann morgen wohl gefrühstückt wurde? Vivienne hatte mir keine Zeit genannt. Und ob sie mich wieder abholte? Was, wenn ich ihr Klopfen nicht hörte? Ach, dann würde ich mich einfach auf eigene Faust zur Halle durchschlagen. Früher oder später musste ich den Weg eh allein finden.

Gerade wollte ich die Kerze auf dem Nachttisch auspusten, da fiel mir ein, dass ich vorhin nicht nach Streichhölzern oder einem Feuerzeug gefragt hatte. Was jetzt? Wenn die Flamme erst erloschen war, saß ich bis Tagesanbruch im Finstern. Ohne viel Hoffnung begann ich in der Nachttischschublade zu kramen – und fand prompt eine Schachtel Streichhölzer! Da hatte jemand vorgesorgt, so ein Glück. Ich schickte dem Unbekannten ein stummes Dankeschön und nahm mit zitternden Fingern ein Hölzchen aus der Schachtel. Leider brach es beim Anreißen ab. Beim zweiten zerbröselte sang- und klanglos der Zündkopf. Die Hölzer mussten uralt sein!

Enttäuscht betrachtete ich die vergilbte Pappschachtel, las den Aufdruck: „Café Swing – Nollendorfplatz 3-4“. Café Swing? Dasselbe Berliner Café, in dem Lennard und ich so viele gemeinsame Abende verbracht hatten? Ich kniff die Augen zusammen, fixierte erneut das Logo auf der Schachtel, die Lettern im Stil der frühen 80er… und mir wurde schwindelig. Auf einmal glaubte ich einen Zeitsprung zu tun, 20 Jahre zurück in die Vergangenheit.

Dann musste ich lachen – natürlich war es kein Zufall, die Schachtel konnte nur von Lennard stammen! Wie sonst sollte ich ausgerechnet hier, inmitten dieser historischen Umgebung, einen solchen Fund machen? Lennard war auf dem Schloss gewesen, wie ich bereits vermutet hatte. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte er ausgerechnet dieses Zimmer bewohnt. Endlich, endlich ein Beweis, dass ich noch immer auf der richtigen Fährte war!

Im nächsten Moment überkam mich ein Gefühl unerschütterlicher Ruhe und Sicherheit. Auf einmal wusste ich definitiv, dass mir nichts zustoßen konnte, dass alle Ängste und Befürchtungen, die mich seit Betreten des Gemäuers verfolgten, unbegründet waren. Hier musste ich sein, an diesem Ort, und nirgends sonst.

Geradezu befreit blies ich die Kerze aus. Lennard – deutlich spürte ich seine Gegenwart. Ich war des Rätsels Lösung näher denn je.



***



Als ich aufwachte, dämmerte es bereits. Im ersten Moment wähnte ich mich im Dorfgasthof, glaubte die Reise zum Schloss nur geträumt zu haben. Aber allmählich legte sich die Schlaftrunkenheit; ich sah die gedrechselten Bettpfosten, den seidenen Himmel über mir, die klobige Wandkommode mit dem darauf abgestellten Messingleuchter – und begriff, dass ich wirklich hier war. All die phantastischen Ereignisse des Vortages hatten stattgefunden. Auch gab es jetzt eine greifbare Spur zu Lennard – die Streichholzschachtel, die neben der Ansichtskarte auf dem Nachttisch lag.

Der Wecker zeigte sieben Uhr. Ich ging ich zum Fenster, spürte die Maserung des Holzparketts unter den nackten Sohlen. Ein kurzes Drehen am altmodischen Knauf, und der Flügel schwang nach hinten; morgendliche Kühle drang in den Raum. Unten in der Schlucht war es noch ziemlich dunkel, auch die Felsebene dahinter lag noch im Schatten. Nur die Gipfel weit hinten leuchteten rot in der aufgehenden Sonne – es sah großartig aus. Ich dachte ans Dorf, die zahlreichen Geräusche, die dort in den Morgenstunden die Luft erfüllt hatten: das vielstimmige Gackern des Federviehs, das Blöken der Schafe auf den Weiden, zwischendurch immer wieder das Krähen eines Hahns. Hier war es totenstill, bis auf die Rufe eines Raubvogels, der sich auf ausgebreiteten Schwingen vom Bergwind durch die Schlucht tragen ließ.

Eine seltsame Wachheit hatte von mir Besitz ergriffen. Mir war, als hätten meine Sinne ihre Beschränkung aufs nähere Umfeld abgelegt, als könne ich ins Weite spüren, tasten, hören, die winzigsten Bewegungen wahrnehmen… und ich erkannte, dass uns nur eine einzige, allumfassende Leere und Reinheit umgab.



***



Als ich das nächste Mal die Augen öffnete, stand der Wecker auf halb zehn. Draußen leuchtete die Sonne mittlerweile hell herab. Ob in der Zwischenzeit jemand geklopft hatte, um mich zu wecken? Aber eigentlich war es egal.

Ich fühlte mich ausgeruht und voller Tatendrang. Nach dem Duschen verließ ich das Zimmer, um mich zur Halle durchzuschlagen. Zunächst nahm ich einfach dieselbe Richtung, aus der ich nachts mit Stefano gekommen war, später lief ich nach Gefühl weiter. Ich durchmaß verschiedene Korridore, die zwar lang, aber keineswegs endlos waren, entschied mich an Abzweigungen aufs Geratewohl für eine Richtung und sah irgendwann zu meiner großen Überraschung die Rundbögen und Säulen der Galerie auftauchten. Das war deutlich einfacher gewesen als befürchtet. Obwohl ich die Route jetzt schon nicht mehr zusammenbekommen hätte.

Gleißendes Sonnenlicht erfasste mich, als ich die Haupttreppe hinunterging – beide Flügel des Portals standen weit offen. Das Speisezimmer fand ich verwaist vor, allerdings waren einige Gedecke aufgelegt; es duftete nach Kaffee. Und jetzt? War ich zu früh oder zu spät? Etwas ratlos schaute ich mich um, als auf einmal Manon im Küchendurchgang erschien. „Pétit dejeuner?“, fragte sie in ihrem kühlen Tonfall.

„Oui, s'il vous plait“, antwortete ich überrascht. Sofort fühlte ich mich an den Gasthof erinnert, den ersten Morgen dort, als die Wirtin mir Frühstück serviert hatte.

Manon deckte auf, ohne eine Miene zu verziehen. „Café?“ Auf mein zaghaftes „Oui“ brachte sie ein Kännchen. Während sie eingoss, versuchte ich ihr in die Augen zu schauen, aber sie entzog sich geschickt meinen Blicken.

„Mademoiselle Vivienne lässt sich entschuldigen“, erklärte sie. „Sie ist auf der Insel unterwegs und wird erst abends zurückkommen. Selbstverständlich dürfen Sie sich im Schloss umschauen, wie es Ihnen beliebt.“

'Mademoiselle Vivienne' – das klang sonderbar. Wobei 'Madame', 'Comtesse' oder irgendein anderer Titel noch weniger zum Stil des Hauses gepasst hätte. Möglicherweise war es ein Kompromiss, irgendetwas zwischen formaler Korrektheit und den legeren Umgangsformen, die hier augenscheinlich gepflegt wurden. Ich erfuhr, dass nie gemeinsam gefrühstückt wurde. Jeder kam morgens zum Essen, wann immer er oder sie mochte. Mittagessen gab es ebenfalls keines, aber den ganzen Tag standen hier im Speisezimmer kalte Platten bereit. Nur das Diner wurde stets gemeinsam eingenommen, um neun Uhr.

Ich frühstückte also allein. Ohne Menschen erschien mir der Saal noch weitläufiger, der Tisch noch langgestreckter, die Zahl der hochlehnigen Stühle noch größer. Aus dem Durchgang hörte man Arbeitsgeräusche; Geschirr klirrte, Schranktüren wurden geöffnet und geschlossen. Einmal kam Manon, räumte wortlos ab und brachte mir ein neues Kännchen Kaffee.

Nach diesem Muster sollten sich die Morgenstunden fortan meistens abspielen. Auch den Rest des Tages blieb ich in der Regel mir selbst überlassen. Vivienne war viel unterwegs, auf der Insel, um Verwaltungsdinge zu erledigen, oder auf dem Festland, des Berufes wegen. Bologna, Neapel, Marseille, Barcelona und natürlich Paris hießen ihre Reiseziele, die von hier nur umständlich zu erreichen waren – entsprechend lange blieb sie dann fort. Sandrine und Stefano sah man tagsüber gleichfalls nur selten; ich hatte keine Idee, womit sie ihre Zeit verbrachten. Und diese Lucienne schien eine regelrechte Nachteule zu sein; vor dem Diner war mit ihr nicht zu rechnen. Vermutlich brauchte sie ihren Schönheitsschlaf. Chloé und Justin schließlich hatte ich überhaupt noch nicht zu Gesicht bekommen; die beiden blieben ein Phantom für mich, existierten nur durch die Erzählungen der anderen.

Und so nutzte ich die Zeit, um ausgiebig das Schloss zu erkunden. Allerdings mied ich die inneren Gebäudebereiche; zu undurchschaubar und labyrinthisch erschien mir dort das Weggeflecht, zu gespenstisch wirkten die langen Reihen von Kerzenflammen an den Wänden der verwaisten Korridore, die ein Geist morgens zu entzünden und des Nachts wieder zu löschen schien. Lieber hielt ich mich dort auf, wo Fenster waren, Licht und Wärme hereinkamen. Selbst unter dieser einschränkenden Maßgabe war der Auswahl reichlich, konnte ich den lieben, langen Tag umherstreifen, ohne mich zu wiederholen.

Ich durchmaß endlose Zimmerfluchten, passierte Tür um Tür um Tür und begegnete nie einer Menschenseele. Für wen waren die vielen Räume gedacht? Und wer hielt das alles sauber? Oder gab es hier gar keinen Staub, der sich ablegen konnte und fortgewischt werden musste?

Marmorne Korridore glänzten verlassen im Sonnenlicht. Arkaden mit zahllosen, sich nach hinten verjüngenden Rundbögen ließen kein Ende erkennen. Passagen endeten unvermittelt in Lichthöfen, durch deren gläserne Dächer das Blau des Himmels hereinschien. Kühle, schattige Kreuzgänge erlaubten manchmal Blicke in den verlassenen Schlosshof. Einmal sah ich weit hinten am Ende eines Flurs ein bunt schillerndes, irisierendes Gebilde in der Luft schweben, das sich beim Näherkommen als Glasmosaik entpuppte. Von außen stand die Sonne auf das prachtvolle Kunstwerk und ließ es hell aufleuchten, explodieren in einer Kaskade aus Farben.

Jeder Raum konnte betreten werden, sämtliche Korridore, Hallen, Treppen waren frei zugänglich. Nie fand ich eine Tür verriegelt vor, nie ein Gitter zugesperrt; jede Pforte ließ sich öffnen, jeder Torflügel zurückschwenken. Auch das Hauptportal wurde erst mit Einbruch der Dunkelheit verschlossen; tagsüber konnte man jederzeit in den Hof hinausspazieren. Chateau de Montardit präsentierte sich als Ort vollkommener Offenheit; ich hätte es auch ganz verlassen und zum Beispiel eine Wanderung machen können. Aber danach stand mir nie der Sinn.

Die unterschiedlichsten Epochen waren in die Schlossarchitektur eingeflossen. Einige Teile wirkten klassizistisch, andere hatten etwas Burgartiges, Wehrhaftes. Mal war ich von barockem Prunk umgeben, kurz darauf wölbten sich Spitzbögen über mir, passierte ich düstere Kreuzgänge, ließ alles an eine gotische Kirche denken oder ein mittelalterliches Kloster. Dann wieder zeigten sich Räume und Möbel im Stil der frühen Neuzeit, vergleichbar meinem Zimmer und den umliegenden Korridoren. Offensichtlich hatten die Bewohner immer wieder Veränderungen vorgenommen, typische Elemente ihrer jeweiligen Ära eingebracht. Die Vielfalt wirkte oft planlos und beliebig, zugleich faszinierte die Unbefangenheit, mit der man Altes kurzerhand durch Neues ersetzt hatte. Alles schien möglich auf Chateau de Montardit, nichts zu abwegig, um nicht ausprobiert zu werden. Selbst die Gusseisen-Architektur des 19. Jahrhunderts war präsent, so in den Lichthöfen mit ihren Dachkonstruktionen aus Glas- und Eisensegmenten, die eindeutig dem Londoner Kristallpalast nachempfunden waren.

Staubige Wendeltreppen endeten auf pittoresken Türmchen, schwere Holzpforten entließen mich unter betulichem Knarren auf einsame Wehrgänge. Steinbrücken, oft ohne Geländer, verbanden Dachfirste miteinander, überwanden innere Sicherungswälle, führten zu Aussichts- und Wachpunkten. Stets schien die Sonne, wenn ich ins Freie kam, waren die Temperaturen mild, strich ein frischer Bergwind über mich hinweg. Die Schlucht erschien hier draußen noch riesenhafter und monumentaler als von meinem Zimmerfenster aus. Beim Abschreiten der Zinnen stellte sich unweigerlich ein Gefühl der Losgelöstheit ein, des Schwebens im lichtblauen Äther. Gleich einem Seiltänzer schien man im freien Raum zu stehen, im Nichts, unter sich nur einen hauchdünnen, zitternden Grat, den man kaum Weg nennen konnte. Ringsum erhoben sich Felswände aus der Tiefe, bleich, wild zerklüftet und nahezu kahl; nur wenige versprengte Sträucher klammerten sich an den steilen Hängen fest. Die Höhenzüge dahinter waren unabsehbar; Gipfel reihte sich an Gipfel. Immer wieder sah man in der Ferne Wolken aufsteigen, Kamine aus Staub, sich in nebelhafte Gestalten verwandelnd, ihren Tanz aufführend. Irgendwo dort musste das Felsplateau sein, auf dem ich einst gestanden hatte – wie unendlich lange das her schien…

Bloß von der See ließ sich partout nichts entdecken. Das war seltsam, schließlich befanden wir uns im Hochgebirge einer allenfalls mittelgroßen Insel. Hätte nicht wenigstens ein Zipfelchen Meerblau irgendwo am Horizont erscheinen müssen? Oder war ich noch immer nicht hoch genug? Der Hauptturm hätte sicher Aufschluss gebracht, aber um ihn zu erreichen, wäre ein Abstecher ins Innere des Schlosses nötig gewesen, und das kam nicht infrage. Es blieb mir also nur, mich in meine beschränkte Wahrnehmung zu fügen, wie schon einmal, beim Berg in den Wolken.

Dafür gewahrte ich auf meinen Freigängen manchmal etwas Grünes, das zwischen all den Zinnen, Firsten, Brückenbögen, Turmspitzen hervorlugte. Gab es da hinten Vegetation? Immer wieder war ich versucht, dem rätselhaften Phänomen entgegenzugehen, wenn es sich in der Ferne abzeichnete. Aber etwas in mir wollte lieber nahe der Tür bleiben, durch die ich gekommen war. Was, wenn ich drüben nirgends mehr ins Schloss zurückkam? Wer sollte mich jemals hier oben finden, wenn ich mich aussperrte? Der Gedanke war ziemlich schauderhaft.

Aber eines Tages fasste ich mir doch ein Herz. Der Gang über die Dächer entwickelte sich zu einem mühseligen Unterfangen, einem wahren Balanceakt, nicht immer ohne Risiko. Mehrmals blieb ich stecken, einmal musste ich gar zweieinhalb Meter in die Tiefe springen, um auf einen anderen, vielversprechenderen Weg zu gelangen. Eigentlich hatte ich vorgehabt, mir die Strecke einzuprägen, aber das gab ich spätestens nach meinem Kamikaze-Sprung auf. Dort wieder hochzukommen war schlicht utopisch. Falls an meinem Ziel wirklich alles verriegelt und verrammelt war, hatte ich ein ernstes Problem.

Endlich erreichte ich die gegenüberliegenden Schlosszinnen. Der Blick in die Tiefe war überraschend: Statt der gigantischen Schlucht, wie sonst, sah ich den ausgetrockneten, felsigen Schlossgraben, zum ersten Mal seit meiner Ankunft. Also musste ich mich an der Nordseite von Chateau de Montardit befinden; nur hier war die Felsenzunge mit dem umliegenden Bergland verbunden. Hinter dem Graben jedoch, begrenzt durch eine Steinmauer, ragten Bäume in den Himmel, dicht an dicht – ein Parkareal erstreckte sich dort bis zum Horizont.

Staunend lief ich die Zinne entlang. Dass Chateau de Montardit einen Schlosspark besaß, hatte ich nicht gewusst. Aber wo lag sein Eingang? Nirgends zeigte sich eine Öffnung in der Begrenzungsmauer, auch überspannte keine einzige Brücke den Graben. Schließlich erreichte ich die Bastionen oberhalb des Haupttores: Hier sah man die Parkmauer im rechten Winkel abknicken und in staubige, hitzeflimmernde Fernen davonlaufen, begleitet von einer Schotterpiste. Richtig, auf der waren Vivienne und ich seinerzeit ja zum Schloss gekommen. Und tatsächlich hatte ich bei unserer Anfahrt die hohe Steinmauer an der Seite bemerkt. Die Bäume dahinter allerdings nicht – vielleicht wegen der hereinbrechenden Dunkelheit?

Das also war das Geheimnis des Grüns zwischen den Dachfirsten: Ein Park, der in seiner Ausdehnung manchen der Wälder glich, die ich früher durchwandert hatte. Nur wie man hineinkam in den Zaubergarten, war mir noch immer ein Rätsel. Ließ er sich vom Schloss aus gar nicht direkt erreichen? Lag sein Zugang irgendwo draußen in den Bergen? Auch die tausend Türen, die ich während meiner Streifzüge durchs Chateau bereits ausprobiert hatte, halfen in diesem Fall nicht weiter; sie führten alle in den Hof, auf Türme, zu den Wehranlagen oder sonst wohin, aber nicht in jene Oase, die sich da unten so sattgrün und verlockend ausbreitete. Vielleicht wusste Stefano Rat? Wenn jemand sich hier auskannte, dann er.

Übrigens blieb mir die Sucherei nach einer unverschlossenen Tür erspart: Von den Bastionen führte eine schmale Holzstiege direkt in den Hof hinab, sodass ich durch das geöffnete Portal stressfrei wieder in die Schlosshalle spazieren konnte.

Eigentlich hatte ich ja auch vorgehabt, mehr über das Chateau herauszufinden. Wann genau wurde es erbaut? Und von wem? Wer waren die Montardits, woher stammten sie ursprünglich? Der Reiseführer schwieg sich über all das aus. Inzwischen aber hatte ich diesen Plan komplett aus den Augen verloren. Zu fesselnd war die Atmosphäre des Schlosses, zu sehr schlug sie mich in ihren Bann. Inzwischen gab ich mich vollkommen dieser besonderen, morbiden Stimmung hin, ließ alles nur noch auf mich wirken. Wen interessierten Daten und Fakten, wenn doch die schieren Eindrücke so intensiv waren, die Emotionen, die sie auslösten, so belebend und geradezu elektrisierend?

Hinweise auf Lennard spürte ich ebenfalls nicht mehr auf, anders als erhofft. Trotzdem zweifelte ich nie daran, dass er hier gewesen sein musste. Ich hatte seine Fährte nicht verloren, dessen war ich mir sicher, sondern kam ihm im Gegenteil immer näher. Und eines Tages würde ich ihn schließlich finden.



***



Obwohl ohne Uhr kehrte ich abends nie zu spät von meinen Exkursionen zurück. Immer blieb noch genügend Zeit, um auf dem Zimmer eine Dusche zu nehmen und sich fürs Diner umzuziehen. Die schmutzige Wäsche warf ich in einen Korb im Bad. Dieser wurde regelmäßig geleert; einige Tage später lagen die Sachen dann wieder auf meinem Bett, frisch gewaschen, zusammengefaltet und herrlich duftend. Handtücher und Bettwäsche wurden ebenfalls alle paar Tage gewechselt. Ich hatte keine Ahnung, wer dafür verantwortlich war; vermutlich Manon.

In Schale geworfen brach ich schließlich wieder auf. Ich nahm jeden Abend eine andere Strecke – mittlerweile kannte ich deren diverse. Während des Weges packte mich immer ein seltsames Prickeln und Herzklopfen, das von Minute zu Minute weiter anwuchs. Wenn ich schließlich auf die Galerie hinaustrat und in der Tiefe die leuchtende Schlosshalle sah, durchliefen mich jedes Mal regelrechte Schauer. Als würden von irgendwo geheimnisvolle Klänge herankommen, sehr fragil und so intensiv, dass sie direkt in mein Inneres vordrangen, anstatt den Weg über die Ohren zu nehmen. Vor Spannung war ich einen Moment geradezu gelähmt und konnte nicht weitergehen.

Woher kam diese allabendliche Gefühlsaufwallung? Lag es daran, dass ich nach den langen, einsamen Wanderungen des Tages endlich wieder Menschen sehen würde? Beim Betreten des Speisezimmers begrüßten mich üblicherweise Sandrine und Stefano. Aus der Servierküche hörte man Arbeitsgeräusche; von Zeit zu Zeit kam Manon von dort heran und stellte Speisen auf die lange Tafel. Vivienne fehlte oft; die geschäftlichen Termine und berufsbedingten Reisen nahmen sie zeitlich sehr in Anspruch. Lucienne kam meistens erst, wenn wir bereits am Schmausen waren. Stets wirkte sie, als sei sie den ganzen Weg gerannt. Die Art, wie sie ihr „Pardon“ murmelte, außer Atem und mit geröteten Wangen, und sich dann eilig setzte, rührte mich immer seltsam an. Stefano füllte während des Diners wie gewohnt zwei Rollen gleichzeitig aus: Er richtete gemeinsam mit Manon die Speisen an, entzündete Kerzen, entkorkte Weinflaschen, schenkte ein. Aber er war auch Teilnehmer, saß mit uns bei Tische, beteiligte sich am Gespräch.

Meine Vorfreude aufs Abendessen nahm sich umso merkwürdiger aus, wenn man bedachte, wie steif unsere Zusammenkünfte immer begannen. Lange sprach niemand ein Wort; alle widmeten sich dem Mahl. Das Klappern der Bestecke, gelegentliches Räuspern und leises, diskretes Kauen waren zunächst die einzigen Geräusche. Es schien, als wären wir einander fremd und würden uns in tiefem Misstrauen gegenseitig beäugen. Anfangs glaubte ich gar eine gewisse Feindseligkeit zu spüren – mir gegenüber. Ich wurde den Eindruck nicht los, dass man sich insgeheim meine Abreise wünschte, um endlich wieder unter seinesgleichen zu sein. Als Angehöriger eines „niederen“ Standes hatte ich in dieser vornehmen Gesellschaft definitiv nichts verloren.

Es war immer Stefano, der die Stimmung drehte. Ein lockerer Spruch von ihm, ein Witz, und prompt entwich dieser unbestimmte Druck, der auf allen zu lasten schien; man begann zu plaudern, zwanglos erst, aber allmählich auch verbindlicher, profunder. Die Beklommenheit schwand, die Lautstärke wuchs; Diskussionen entwickelten sich, wurden manchmal zu leidenschaftlichen Streitgesprächen. Schließlich war die Atmosphäre ausgelassen wie am ersten Abend: Lachen ertönte, Weinkorken ploppten, Gläser klirrten. Der Abend zog sich dann meist noch ewig hin.

Und natürlich war ich vollständig integriert; keine Spur bei den anderen von Herablassung oder Standesdünkel; meine Ängste und Befürchtungen erwiesen sich immer als völlig unbegründet.

Wie gelang Stefano dieses allabendliche Wunder? Wie brachte er die Anwesenden dazu, sich zu entspannen, locker zu machten? Welche Magie ließ er uns angedeihen? Oder war es schlicht seine Anwesenheit, die Leichtigkeit, die er ausstrahlte? Nichts konnte seine Laune trüben, seine Unbeschwertheit vertreiben. Alle wurden von ihm bedacht, mit einem freundlichen Satz, einer interessierten Frage, einem Scherz, einem Kompliment. Und immer verfing es, passte perfekt. Alberne Spielchen, wie die Animateure in den Hotels und Ferienanlagen, brauchte er nicht für seine Moderation. Mit traumwandlerischer Sicherheit, fast wie in Trance, bewegte er sich zwischen den Personen im Raum umher und brachte sie zueinander. Zweifelsohne war er der Mittelpunkt unserer Runde, ihr Herz und Rückgrat, und das, obwohl er offiziell zum Personal zählte.

Ich blieb anfangs skeptisch, wusste nie recht, was ich von ihm halten sollte. 'Ein komischer, undefinierbarer Typ!', dachte ich immer. Aber je länger mein Aufenthalt im Schloss dauerte, je zahlreicher die gemeinsam verbrachten Abende wurden, desto mehr Vertrauen fasste ich. Er gab mir, dem Neuling, ein Gefühl der Zugehörigkeit. Mehr noch: Ich spürte, wie sein Einwirken allmählich etwas von mir nahm, ein Gefühl permanenter Bedrückung und Leere, das, wie mir jetzt bewusst wurde, bis dato prägend gewesen war. Schwer wie ein Mühlstein hatte es auf mir gelegen und jede Lebendigkeit erstickt, alle Neugier abgetötet. Aber nun schienen Kälte und Sterilität der Umgebung zurückgedrängt, die Dinge allmählich ins Lot zu kommen. Und prompt zeichneten sich am Horizont neue, ungeahnte Möglichkeiten ab, schemenhaft noch, wenig konkret, aber trotzdem schon zu erahnen…

Zugleich wollte das Gefühl nicht weichen, dass ich Stefano bereits früher begegnet war. Der italienische Typus, das schwarze, zum Zopf gebundene Haar, der schlanke, braungebrannte Körper, der sich so leichtfüßig und elegant bewegte – all das schien mir vertraut. Ähnliches galt für seine Art, diese Mühelosigkeit des Tuns, die Fähigkeit, stets Ruhe zu bewahren, die innere Balance nicht zu verlieren, selbst unter intensivster Beobachtung. Und auch die bemerkenswerte Verwandlung, die gerade mit mir selbst vorging, erlebte ich nicht zum ersten Mal. Ich kannte das: Ein Mensch, der sich meiner annimmt, mir durch seine schiere Präsenz und Anteilnahme den Zugang zu mir selbst eröffnet, meinem inneren Wesen – und damit zu anderen Leuten, jenseits von Oberfläche und Präsentation, zur lebendigen, wirklichen Welt.

Wenn überhaupt, konnte ich Stefano bloß hier auf der Insel begegnet sein; Italiener hatte ich zuvor nie kennengelernt. Aber wo? Im Süden, während während der ersten Zeit? Oder anschließend, im Bergdorf? Manchmal schien es mir gar, als hätte die Begegnung irgendwann in meiner Kindheit stattgefunden. Was definitiv nicht stimmen konnte, denn damals war Stefano noch gar nicht geboren gewesen. Trotzdem…

Eines Abends, als wir bereits vollzählig im Speisezimmer versammelt waren, öffnete sich die Tür und ein Fremder kam herein. Er maß bestimmt zwei Meter, und auch sonst war seine Erscheinung eindrucksvoll. Breite Schultern und ansehnliche Bizeps bildeten einen reizvollen Gegensatz zu den schmalen Hüften. Deutlich zeichneten sich unter dem engen T-Shirts die Bauchmuskeln ab. Kurzgeschnittenes, wasserstoffblondes Haar umrahmte ein attraktives Gesicht, aus dem leuchtend blaue Augen hervorstachen. Die glatte, sonnengebräunte Haut bekam im Kerzenlicht einen fast metallischen Glanz. Ich hielt den Neuankömmling zuerst für einen Bediensteten und staunte nicht schlecht, als er auf der anderen Seite der Tafel Platz nahm, mir gegenüber.

Aber es sollte noch besser kommen: Nach dem Hünen betrat eine Frau den Raum, deren Anblick mir endgültig die Sprache verschlug. Ihr Antlitz war von unwirklicher, geradezu ätherischer Schönheit; es ließ an Renaissance-Bildnisse der Venus oder Maria denken. Wallendes, goldblondes Haar fiel auf zierliche Schultern, die Augen hatten die Farbe leuchtenden Bernsteins. Ein rotes Abendkleid umhüllte einen wohl proportionierten Körper mit sehr weiblichen Rundungen. Alles kam perfekt zur Geltung: die langen Beine, eine schmale Taille und üppige Brüste, die durch ein tiefes Dekolleté zusätzlich betont wurden.

Sie setzte sich neben ihn. Wenn die beiden sich als Adam und Eva vorgestellt hätten, wäre ich kaum überrascht gewesen. Aber längst ahnte ich natürlich, Justin und Chloé vor mir zu haben, und genauso war es. Endlich zeigte das Paar sich in natura, nachdem ich bereits so viel Seltsames über die beiden vernommen hatte.

Als einzige Familienmitglieder wohnten sie permanent auf Chateau de Montardit. Sie würden die Abgeschiedenheit des Schlosses und der Bergwelt über alles schätzen, erklärten sie mir, beide ebenfalls sofort englisch sprechend. Ein langjähriger Aufenthalt in Tibet, in einem buddhistischen Kloster inmitten der Gipfel des Himalaya, wäre für sie eine prägende Erfahrung gewesen, behaupteten sie, während der sie zu sich selbst gefunden hätten, durch Meditation und „Introspektion“, wie sie es nannten. Ihre Sprechweise, betont entspannt, friedlich und ausgeglichen, verwirrte mich; es ließ die beiden offen und zugewandt erscheinen und gab ihnen dennoch etwas Unnahbares. Auch was sie erzählten, klang reichlich skurril; allmählich verstand ich, weshalb die anderen sie verschroben fanden, schrullig. Und doch war ich auch fasziniert von ihren Schilderungen, nötigte mir die Konsequenz, mit der sie ihren Lebensstil verfolgten, Respekt ab. Endlich Leute, die sich den obligatorischen, auf Konsum und Betäubung ausgerichteten Strukturen verweigerten, die eine Alternative für sich gefunden hatten und diese auch umsetzten. Hinzu kam die geradezu übernatürliche Schönheit sowohl von Chloé als auch von Justin – dass ein Mann so attraktiv auf mich wirken könnte, hätte ich bis bis zu dieser Begegnung nicht für möglich gehalten.

Allerdings blieb es bei dem einen Zusammentreffen mit dem rätselhaften Duo. Zu gern hätte ich gewusst, wo in den Tiefen des Schlosses sie wohl lebten, und hoffte fortan auf meinen Wanderungen immer, ihr Domizil zu finden – aber dieser Wunsch erfüllte sich leider nicht.

So viel jedoch war mir inzwischen klar: Sämtliche Bewohner von Chateau de Montardit, ob sie zur Familie gehörten, zum Personal oder zu den Gästen, hoben sich erfrischend ab von den drögen, uniformen Gestalten meiner Vergangenheit. Etwas Neues kam durch sie in mein Leben, etwas Aufregendes, Prickelndes. Ich wurde einfach nicht müde, ihre Besonderheiten und Extravaganzen zu studieren.

Lucienne

Vor allem ein Mensch weckte zusehends mein Interesse: Viviennes junge Pariser Kollegin, Lucienne. Jene verwöhnte, so aristokratisch wirkende Frau, die es partout nicht schaffte, pünktlich zum Diner zu erscheinen. Irgendwann stellte ich in einer Mischung aus Erschrecken und heimlicher Freude fest, dass ich andauernd zu ihr hinsah. Wie ein Magnet zog sie meine Blicke an, ich konnte es einfach nicht verhindern, verlor regelmäßig die Kontrolle über mein Handeln. Endlich verstand ich auch, was dieses Herzklopfen auslöste, das mich überkam, wenn ich abends zum Diner hinunterging – es lag an Lucienne. Es war Aufregung und pure Vorfreude, ihr leibhaftig zu begegnen, sie endlich zu Gesicht zu bekommen. Wirklich eigenartig, wie das Unterbewusstsein manchmal der bewussten Wahrnehmung vorauseilte, wie es uns Signale schickte, die wir überhaupt noch nicht einordnen konnten, obwohl wir sie bereits deutlich spürten…

Aber was war in mich gefahren? Wollte ich ernsthaft dieser jungen Frau nachstellen? Ich hatte vor kurzem die 40 überschritten; meine Gefühle waren völlig unangemessen. Welche Grille hatte sich da in mir festgesetzt? Doch obwohl ich all das glasklar erkannte, konnte ich nichts tun gegen diesen inneren Sog, der stärker war als alle Vernunftgründe, alle rationalen Argumente dieser Welt. Schlimmer noch: Wenn ich die unmögliche, geradezu absurde Situation überdachte und mich ermahnte, endlich zur Besinnung zu kommen, lachte etwas in mir auf, als freute es sich auch noch über meinen Zustand.

Wenigstens wollte ich die Angelegenheit für mich behalten, kein Schlossbewohner durfte etwas merken. Ich musste alles konsequent in mir einkapseln, von der realen Welt abtrennen. Nur so war die Gefahr gebannt, dass ich mich unmöglich machte. Dann konnte es vielleicht funktionieren.

Bald fieberte ich den Diners regelrecht entgegen, dem Moment, da sie endlich das Speisezimmer betrat, wie stets ein paar Minuten zu spät und außer Atem. Hingerissen lauschte ich ihrem gemurmelten „Pardon“, beobachtete gebannt, wie sie die Tür etwas zu laut hinter sich schloss und Platz nahm. Welch eine Lust, während des Essens heimlich in ihre Richtung zu linsen, den Schattenriss ihres Kopfes zu betrachten, aus dem die langen Wimpern hervortraten. Idealerweise war Vivienne abwesend, dann hatte ich noch bessere Sicht und bekam zum Beispiel mit, wenn sie das dunkle, schimmernde Haar mit ihrer feingliedrigen Hand zurückstrich und hinter der Ohrmuschel festklemmte. Mit etwas Glück wandte sie sich in meine Richtung, und ich konnte einen Blick auf ihr Antlitz erhaschen, auf die schmalen, blutroten Lippen, ihre fast schwarzen Augen, in denen sich das Kerzenlicht spiegelte. Etwas Orientalisches haftete ihr an; sie erinnerte ein bisschen an die iranischen Kommilitoninnen meiner FU-Zeit.

Der Höhepunkt kam, wenn wir nach dem Abendessen ins Kaminzimmer wechselten. Endlich wurde dass freie, unbefangene Schauen nicht länger durch Tischsitten und etwaige Platznachbarn behindert. Zutiefst angerührt bemerkte ich den rötlichen Schimmer, den ihre Wangen im erhitzten Gespräch zeigten. Beim Lächeln nahmen sie gar eine etwas pausbäckige, kindliche Form an, was überhaupt nicht zu Luciennes ruhiger, distinguierter, aristokratischer Art passen wollte. Wobei derartige Gegensätze sie nur noch attraktiver und aufregender für mich machten.

Aber Äußerlichkeiten waren es nicht allein, die mich anzogen. Es gab da noch etwas anderes, möglicherweise ihre Stimme oder ihr Auftreten, die elegante Art, sich zu bewegen, diese gerade, fast stolze Haltung, die sie so selbstverständlich einnahm, dass man auf Anhieb merkte: Es konnte nicht antrainiert sein, es war Teil ihrer Persönlichkeit, drückte ihr inneres Wesen aus. Vielleicht fesselte mich auch ihre Klugheit, die offenkundig wurde, wenn sie mit Vivienne sprach, über Politik, das Weltgeschehen, wirtschaftliche Themen. Oder ihr hintergründiger Humor, diese leise, stete Ironie, die durchschien, wenn sie es auf ein Wortgefecht mit Stefano anlegte, aus dem sie meistens als Siegerin hervorging. Ich konnte es nicht sagen. Ihre schiere Präsenz machte mich trunken, taumelnd, willenlos.

Längst befand ich mich in einer Art Rauschzustand, einer permanenten, nicht enden wollenden Verzauberung und Euphorie. Ich lebte nur noch auf die Stunden des Tages hin, die wir gemeinsam verbringen würden. Obwohl mir jederzeit bewusst war, dass ich sie nur aus der Ferne beobachten durfte; ein direkter Kontakt zwischen uns war tabu, ein absolutes No-Go. Aber eigentlich wünschte ich es mir nicht anders, denn auf diese Weise verharrten die Dinge in ihrem Zwischenstadium, diesem Raum unbegrenzter Möglichkeiten. Alles war denkbar, nichts ausgeschlossen, das vergrößerte den Reiz nur noch.

Wenn ich schließlich in meinem Himmelbett lag, wurde der Baldachin über mir zur Leinwand, auf der erneut die Bilder des Abends erschienen, die wunderschönen Eindrücke von Lucienne: ihr lachendes Gesicht, die Silhouette ihres schlanken Körpers vor dem Kaminfeuer, ihre eleganten Bewegungen. Alles stand gestochen scharf und in kräftigsten Farben vor mir, Raum und Zeit schienen aufgehoben. Leicht und frei schwebte ich durchs Universum…

Ein einziges Mal begegneten wir uns außerhalb des Diners. Es war an einem Nachmittag, ebenfalls im Speisezimmer, an den kalten Platten, wo ich gerade meinen Tagesproviant auffüllte – und Lucienne völlig überraschend eintrat. Die unverhoffte Nähe war elektrisierend, wie ich es nie zuvor erlebt hatte. 'Trau dich!', flüsterte eine innere Stimme. 'Dies ist kein Zufall! Es soll endlich geschehen…'. Ich räusperte mich, wollte irgendeine Bemerkung machen. Aber in meinem Kopf herrschte plötzlich gähnende Leere, mein Sprachvermögen war wie ausgelöscht. Außer einem knappen „Hallo“ im Moment des Zusammentreffens und einem „bis später“ zum Abschied brachte ich nichts heraus. Erst als ich wieder allein war, fiel mir ein, dass ich sie zum Beispiel hätte fragen können, womit sie ihren Tag verbrachte. Was an der Sciences Po ihr Aufgabengebiet war. Ob ich richtig lag mit meiner Annahme, dass sie iranische Wurzeln hatte. Und, und, und… eigentlich hätte es tausend Themen gegeben. Aber nun war es zu spät und die günstige Gelegenheit ungenutzt verstrichen.

Nein, genau anders herum: Eine Unterhaltung mit ihr hätte alles zerstört. Meine Tarnung wäre aufgeflogen, ich hätte mich komplett zum Trottel gemacht. Womöglich wäre mir nichts anderes übrig geblieben als abzureisen. Gerade noch mal davongekommen! Alles konnte weitergehen wie bisher.

Eine einzige Person trübte in dieser Zeit mein heimliches Glück: Vivienne. Anscheinend reichte ihr die intensive, aber platonische Freundschaft nicht mehr, die wir bislang geführt hatten. Wenn sie am Diner teilnahm, rückte sie im Verlauf des Abends immer dichter an mich heran, war schließlich so nahe, dass ich Mühe hatte, überhaupt noch das Besteck zu führen oder mir Speisen nachzulegen. Zudem verdeckte sie ständig die Sicht auf Lucienne, schob sich sofort konsequent vor jeden kleinen Zipfel, der möglicherweise von ihr auftauchte. Spürte sie, was in mir vorging? Wollte sie eine für sie ungünstige Entwicklung im Keim ersticken?

Bei den anschließenden geselligen Runden wurde es noch unangenehmer. Egal welchen Winkel des Kaminzimmers ich mir aussuchte, ob ich mir einen Stuhl nahm, mich auf einen der Fauteuils niederließ oder einfach nur ans Bücherregal lehnte – ständig hatte ich Vivienne an meiner Seite und wurde sie einfach nicht mehr los. Schließlich ging ich dazu über, an solchen Abenden früh das Weite zu suchen; als Ausreden mussten wahlweise Müdigkeit, Kopfweh oder allgemeines Unwohlsein herhalten.

Wann hatte es begonnen? Wann hatte sie angefangen, mir eindeutige Signale zu zu senden? Jedenfalls waren die Zeiten, da sie sich mit netten, harmlos verplauderten Abenden zufriedengab, offensichtlich vorüber. Sie wollte mehr. Sie wartete auf eine Geste von mir, eine Antwort, ein Zeichen der Zuneigung. Immer drängender wurde ihr Werben, immer ungeduldiger und – wie mir schien – immer ultimativer. Braute sich da Unheil zusammen?

Gottlob hielten ihre Verpflichtungen sie oft vom Schloss und unseren abendlichen Zusammenkünften fern, sodass nichts mich um das Vergnügen von Luciennes Gesellschaft brachte.



***



Auch bei Lucienne hatte ich das starke Gefühl, sie von früher zu kennen. Und wie im Falle Stefanos konnte ich mich absolut nicht entsinnen, wann und wo das gewesen sein sollte. Eines Abends jedoch, als wir wieder im Kaminzimmer zusammensaßen und plauderten, kam mir unverhofft die Erleuchtung. Gerade berichtete Sandrine über eine Semiotik-Vorlesung, die sie an ihrer Uni in Bologna gehört hatte – bei niemand Geringerem als Umberto Eco. Ohne Frage hochspannend, erst recht für einen Historiker, aber ich hatte wieder mal bloß Augen für Lucienne.

Hingerissen beobachtete ich, wie sie Sandrines Schilderungen lauschte, das Kinn in der Handfläche, sich mit dem Ellenbogen auf dem Knie abstützend, wie sie es beim Zuhören häufiger tat – der Anblick nahm mich völlig gefangen, mehr noch als sonst. Unvermittelt stieg ein Bild aus dem Dunkel meiner Erinnerung empor, sehr alt, scheinbar ohne jeglichen Bezug zur Gegenwart, zu den Dingen, die mein Leben seit langem ausmachten: das Bild von Sophia. Sophia, ein Mädchen aus meiner Kindheit. Ohne dass ich es merkte, begannen meine Gedanken abzuschweifen, immer weiter…

Es war in der Schule gewesen, irgendwann in der Unterstufe, auf der Treppe zu den Bio-Räumen: Sophia stand gegen die Betonbrüstung gelehnt, mit dem Kinn in der Handfläche, verträumt in die Ferne blickend – exakt wie Lucienne! Kaum registrierte ich noch, dass ich eigentlich im Kaminzimmer saß, im Kreis derer von Montardit; ich hatte nurmehr diese eine Szene vor mir, war innerlich vollkommen bei Sophia…

Das alte Verlangen brandete wieder auf, das schier unstillbare Bedürfnis, Sophias Gesicht zu berühren, den wunderbaren Mund mit den schmalen Lippen. In ihre Augen zu schauen und – endlich – von diesen schwarzen Augen gesehen zu werden. So gern hätte ich auch über ihr dunkles Haar gestrichen, wenigstens ein einziges Mal. Meistens trug sie es offen und lang, aber manchmal auch zu Zöpfen geflochten oder in einem buschigen Pferdeschwanz zusammengebunden…

Aber dem Erinnerungsschub folgte prompt der Schmerz, wie eine heftige, tödliche Eruption. Der Schmerz, den ich einst abgewehrt und weggesperrt hatte – mit einem Schlag kehrte er zurück, stärker als zuvor. Ich sprang von meinem Fauteuil auf, konnte plötzlich keine Gesellschaft mehr ertragen. Knapp verabschiedete ich mich von den anderen, ignorierte ihre verwunderten, fragenden Mienen und lief aus dem Raum. Erst als ich mein Zimmer erreichte, hatte ich mich wieder etwas beruhigt. Mit zittrigen Fingern entzündete ich die Nachttischkerze und klappte den Fensterflügel zu. Dann nahm ich eine kühlende Dusche.

Als ich schließlich im Bett lag, dachte ich erneut an die Szene mit Sophia. Fast drei Jahrzehnte lag das inzwischen zurück; ich hatte es längst vergessen. Und nun kam plötzlich alles wieder…

Sophia war in der Sexta und Quinta mein heimlicher Schwarm gewesen. Wann immer es ging, hatte ich sie angeschaut, ob in den Pausen oder im Unterricht. Ich war süchtig gewesen nach ihrem Anblick, hatte mich damit vollgesogen, um nicht Entzug leiden zu müssen, nach der Schule oder – noch schlimmer – in den Ferien. Sie anzusprechen wäre allerdings undenkbar gewesen. Wie jetzt Lucienne hatte auch sie diese Überlegenheit ausgestrahlt, diese Klugheit, die einem unwillkürlich Respekt einflößte. So mancher Lümmel auf unserer Schule war ziemlich kleinlaut geworden in Sophias Gegenwart.

Nie würde ich ihren Aufsatz über „Oliver Twist“ vergessen. Wir hatten das Buch im Deutschunterricht durchgenommen, in einer stark gekürzten Schulausgabe, und am Ende die obligatorische Klassenarbeit geschrieben. Bei der Rückgabe las uns Herr Markus, der Lehrer, Sophias Text vor, als Musterbeispiel einer gelungenen Analyse. Das einzige „Sehr gut“.

Ich selbst hatte mit Müh und Not eine Drei eingefahren, was eigentlich meinem Standard entsprach – trotzdem wurmte mich die Note, komischerweise. Im Gegensatz zur üblichen, drögen Schullektüre waren mir einige Szenen dieses Romans durchaus unter die Haut gegangen, besonders im ersten Drittel, als Oliver sich allein nach London durchschlägt und dort in die Kreise von Fagin und Bill Sikes gerät. Zu gern hätte ich meine Begeisterung über das Buch in die Klassenarbeit einfließen lassen und Herrn Markus ein einziges Mal bewiesen, dass mehr in mir steckte als nur Mittelmaß. Aber so war das halt in der Schule: Von etwas berührt sein zählte wenig, entscheidend war der nüchterne, wissenschaftliche Blick. Im Falle des „Oliver Twist“ hätte das geheißen, den Beziehungswust zu durchdringen, der die diversen Buch-Charaktere miteinander verbindet, und auf dieser Grundlage die dramatischen Szenen in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Wie Sophia es getan hatte.

Wie schaffte man es, einen Text so tiefgehend zu erfassen und die Erkenntnisse dann so flüssig und dazu noch witzig zu formulieren? Ich war baff. Okay, vielleicht auch ein bisschen neidisch. Auf alle Fälle aber reichlich verwirrt: Analytisches Denken, so kalt und verkopft es auch sein mochte, tötete also nicht bloß ab. Im Gegenteil: Sophias Aufsatz zeigte eindrücklich, dass man auch auf rationale Weise schöpferisch sein und sogar gute Zensuren damit einfahren konnte.

War das vielleicht gar eine Möglichkeit, sich gegen diese Abstumpfung zu schützen, die alle Menschen nach und nach zu erfassen schien? Meine Eltern und überhaupt alle Erwachsenen gaben da ein warnendes Beispiel ab – offenbar suchte ich schon damals unbewusst nach einem Weg, ihrem Schicksal zu entgehen. Wie konnte man sich gegen ein System wappnen, das die Menschen in einer Mischung aus Leistungsdruck und Betäubung allmählich mürbe machte, sie träge und mutlos werden ließ? Ich erschuf mir eine Gegenwelt, indem ich Gruselheftchen verschlang, und versuchte damit unbewusst, mir ein Stück innere Freiheit zu bewahren. Auf Dauer aber – ich ahnte es längst – würde das nicht reichen. Sophias Methode erschien mir robuster, weil aktiver, engagierter. Irgendetwas in der Art musste ich auch finden, unbedingt. Wenn ich weiterhin so tatenlos blieb, würde ich dereinst mit leeren Händen dastehen, spätestens nach der Schulzeit, wenn die Tretmühle erst richtig losging…

Eines Tages hörte ich, dass Adrian ein Auge auf Sophia geworfen hatte. Adrian, unser Überflieger: Bester im Schulsport, Kapitän und Spielmacher unserer Fußballmannschaft im Verein, außerdem ein Ass in Mathe und Bio. Dass er später Arzt werden würde, wie sein Vater, stand bereits fest. Trotz seiner Genialität zeigte er sich stets verantwortungsbewusst und hilfsbereit; er war Klassensprecher und ließ bei Arbeiten seine Platznachbarn grundsätzlich abschreiben. Man konnte einfach nichts gegen ihn haben, er war der perfekte Kamerad, schlicht ohne Fehler. Ich fand ihn trotzdem irgendwie nervig; seine Makellosigkeit erschien mir wie ein permanenter Vorwurf. Alles, womit ich mich abrackern musste, gelang ihm spielend. Und natürlich himmelten sämtliche Mädchen ihn an wie einen Popstar.

Alle bis auf Sophia. Komisch, dass seine Wahl ausgerechnet auf sie gefallen war, die Einzige, bei der er bislang nicht hatte punkten können. Sie schien selbst ihm, dem absoluten Klassenprimus, überlegen, wirkte reifer, nachdenklicher. Das übliche Protzgehabe der Jungen berührte sie nicht, auch Adrians zahllose Qualitäten tropften an ihr ab. Trotzdem war er noch der beste Kandidat, verglichen mit dem Rest. Wie lange würde Sophia seinen Avancen widerstehen? Und war sie wirklich stark genug, um die Erwartungshaltung der anderen dauerhaft zu ignorieren? Trotz ihrer großer Eigenständigkeit hatte ich da meine Zweifel…

Die Uhr tickte also; es wäre höchste Zeit gewesen, endlich zu handeln. Aber ich blieb passiv, glaubte nicht an meine Chance. Seit der besagten Klassenarbeit schien der Abstand zwischen mir und Sophia sogar noch gewachsen zu sein. Ich durfte sie bewundern, aber über das tägliche Schulgeplänkel hinaus mit ihr zu reden, von gleich zu gleich, kam mir schlicht nicht zu. Dann passierte auch noch der Eklat mit der Fußballmannschaft, der mich endgültig zum Außenseiter machte, zum isolierten Sonderling. Mein letztes Selbstvertrauen schnurrte nun in sich zusammen.

Der letzte Schultag brach an. Alle waren wehmütig gestimmt, denn nach den Sommerferien würde es unsere Klasse nicht mehr geben. Die Schüler der Stufe waren neu aufgeteilt worden, gemäß ihrer Wahl der zweiten Fremdsprache. Hieß konkret: Sophia und ich würden zukünftig in getrennte Klassen gehen, denn natürlich hatte sie Latein gewählt, wie alle guten Schüler, ich hingegen Französisch. Abends stand noch eine letzte gemeinsame Fete an, danach war alles vorbei.

Es kam zur erwähnten Situation auf der Treppe: Sophia, am Geländer lehnend und in die Ferne schauend, das Kinn in die Hand gestützt. Ein abwesendes Lächeln lag auf ihrem Gesicht, als würde sie an etwas zurückdenken, eine lustige Szene, ein schönes Erlebnis. Oder sich auf die Ferien freuen. Erst beim zweiten Hinsehen bemerkte ich die Unstimmigkeit in dem Bild: Normalerweise hatte Sophia immer Leute an ihrer Seite, wenigstens ihre beste Freundin, Judith. Jetzt aber stand sie allein dort – es wirkte seltsam künstlich, wie arrangiert.

Unvermittelt drehte sie den Kopf in meine Richtung, sah mir direkt in die Augen. Offenbar hatte sie mich bereits entdeckt, ja, es schien sogar, als erwartete sie geradezu, von mir angesprochen zu werden… und dann traf es mich wie ein Blitzschlag: Sie wollte es! Sie wusste längst, was ich für sie empfand, und erwiderte meine Gefühle! 'Trau dich endlich!', drückte alles an ihr aus. 'Worauf wartest du noch?'

Die Erkenntnis machte mich schwindeln; mit einem Schlag schien die Welt auf den Kopf gestellt, mein vertrautes Koordinatensystem wie ausgelöscht. Sophia und ich… was immer tabu gewesen war, ein komplettes Ding der Unmöglichkeit – es konnte, sollte passieren, hier und jetzt! Ganz allein stand sie dort, bloß ein paar Meter von mir entfernt. Ich würde mit ihr reden können, nur mit ihr, niemand sonst war da…

Unter größten Mühen schaffte ich es, meinen Körper in Bewegung zu setzen, mit steifen, ungelenken Bewegungen auf Sophia zuzugehen. Es war, als sollte ich einen unbekannten Kontinent betreten oder einen neuen Planeten. Als sie mich herannahen sah, verkrampft und ängstlich, regelrecht um Fassung ringend, tauchte etwas Neues in ihrem Blick auf: Zweifel. „Kann das wirklich funktionieren zwischen uns?“, glaubte ich ihre Worte zu hören. Aus Skepsis wurde allmählich Abwehr: „Vielleicht sollten wir es besser bleiben lassen…“ Schließlich funkelten ihre Augen in heller Panik: „Tu's nicht!“, schien es aus ihnen zu flehen.

Und ich verstand, hörte ihre Bitte. Ging geradeaus weiter, ließ es aussehen, als wäre ich nur auf dem Weg zum Unterricht. Sophia starrte ihrerseits in die Ferne und vermied jeglichen Blickkontakt. Ich erreichte die Tür, trat ins Schulgebäude – vorbei. Niemand hatte etwas mitbekommen von dem stillen Drama, das sich gerade zwischen Sophia und mir abgespielt hatte.

Kurioserweise fühlte ich mich im ersten Moment erleichtert: Der Smalltalk war uns erspart geblieben, die anstrengende Suche nach passenden Themen, die immerfort lauernde Gefahr, mit einer unglücklichen Formulierung alles zu vermasseln. Erst während des Unterrichts brach sich die Enttäuschung Bahn. Wie eine Sturzsee kam sie über mich, presste mich schier zu Boden. Ich schaffte es kaum, die letzten Stunden und die Zeugnisvergabe zu überstehen.

Am Klassenfest nahm ich nicht teil. Später erfuhr ich, dass Sophia an diesem Abend tatsächlich mit Adrian zusammengekommen war. Offenbar hatten alle es längst gewusst und dem großen Ereignis seit Wochen entgegengefiebert. Alle außer mir. Ich hatte bis zuletzt davon geträumt, vielleicht Chancen bei Sophia zu haben. Wie lächerlich das jetzt erschien, wie gnadenlos peinlich und demütigend!

Und doch – ihr Blick, dieses Lächeln… irgendeinen Grund musste es dafür gegeben haben. Aber dann war etwas anderes stärker gewesen und hatte im letzten Moment alles zerstört.

Ich erfuhr nie, was wirklich geschehen war. Ab sofort verbannte ich jeden Gedanken an Sophia aus meinem Kopf; ich zwang mich, sie zu vergessen. Wenn ich sie nach den Ferien irgendwo in der Schule sah, drehte ich mich weg und ignorierte sie. Wie gut, dass die Klassen neu aufgeteilt worden waren und man den Lateinern im großen Schulgebäude nur selten begegnete. Sophia tauchte fortan in meinem Gedächtnis nicht mehr auf, sie schien wie gelöscht. Mehr noch: Seit der Episode mit ihr war das andere Geschlecht für mich erledigt, gestorben. Erst mit Alexandra änderte sich das wieder…

Ich blies die Kerze auf dem Nachttisch aus, deckte mich zu und fuhr im Dunkeln fort, den Baldachin über mir zu betrachten.

Nein, Alexandra zählte im Grunde nicht. Die entscheidende Veränderung war hier auf dem Schloss gekommen, mit Lucienne. Sie hatte die Erinnerung an Sophia zurückgebracht. Sophia und Lucienne – es gab so viele Parallelen zwischen den beiden. Schon äußerlich waren sie ähnliche Typen, hatten dieselben dunklen Augen, fast schwarzes Haar, eine im Vergleich dazu helle Haut. Aber noch mehr glichen sie sich in ihrem Habitus, der Sprechweise, ihrer Eigenart, dem Gesagten eine zweite, unsichtbare Ebene zu verleihen, es mit feiner Ironie anzureichern oder auch mit einnehmender Wärme, ganz nach der jeweiligen Situation.

Bislang schien mein Leben bloß eine Abfolge an Ereignissen gewesen zu sein, verworren, konfus, zusammenhanglos. Aber nun schienen sich die einzelnen Puzzleteile allmählich zu verbinden, ein konsistentes, schlüssiges Ganzes zu bilden, eine Struktur. Ein roter Faden entstand – endlich! Fast meinte ich ihn im Dunkel meines Zimmers zu sehen: rotglühend, eine Brücke zwischen mir und dem Rest der Welt bildend.



***



„Jérôme hat sich gemeldet“, verkündete Sandrine, „er und seine Leute kommen heute Abend.“

„Mamma Mia!“, rief Stefano aus, der sich am Getränkewagen gerade einen Campari-Soda mixte.

Wir saßen im Freien, auf einer weitläufigen Terrasse. Hinter uns zog sich die Schlossmauer in die Höhe, jenseits der Brüstung ging es steil hinab in die Schlucht. Eine hochgewachsene Zierhecke an der Seite bot Schutz vor dem Bergwind; dazu tauchte üppiger Flieder, der sich an einem Holzgerüst über unseren Köpfen rankte, alles in purpurnes Licht. Es war ein beschaulicher Flecken, von dessen Existenz ich eher zufällig erfahren hatte, während eines Gesprächs mit Sandrine und Stefano im abendlichen Kaminzimmer. Die beiden waren aufrichtig entsetzt gewesen, als sie hörten, dass ich seit meiner Ankunft sämtliche Tage damit verbracht hatte, das Schloss zu durchwandern und nie nach draußen gekommen war, abgesehen von meinen Gängen über die Dächer.

„Die ganze Zeit in diesem dunklen Gemäuer verbringen!“ Stefano schüttelte den Kopf, dass die schwarzen Locken nur so flogen. „Leg dich lieber in die Sonne.“

„Schließlich sollst du deine Zeit hier genießen“, ergänzte Sandrine lächelnd.

Anderntags trafen wir uns zum Frühstück im Speisezimmer; danach führten die beiden mich zur Terrasse. Seitdem kam ich regelmäßig hierher, nahm mir Liegestuhl und Beistelltischchen und faulenzte. Stefanos Worte von dem dunklen Gemäuer hatten durchaus ihre Berechtigung; es schlug allmählich doch aufs Gemüt, ständig allein über verwaiste Schlossflure zu laufen. Für den Moment jedenfalls war mein Wissensdurst gestillt, ich bevorzugte es eindeutig, an der frischen Luft zu sein, Sonne zu sehen – und vor allem Gesellschaft zu haben.

Mit Sandrine und Stefano war auf der Terrasse immer zu rechnen. Auch Vivienne begegnete man hier draußen durchaus, wenn sie nicht gerade auf Reisen war. Nur Lucienne ließ sich leider nie blicken. So schön ich sie im Kerzenschein des Speise- und des Kaminzimmers fand – ich hätte sie gern mal bei Tageslicht gesehen. Aber sie schien tatsächlich ein reiner Nachtmensch zu sein.

Die Anwesenden reagierten höchst unterschiedlich auf Sandrines Ankündigung von Jérômes Besuch. Stefano stürzte seinen Campari-Soda in einem Zug hinab und mixte sich gleich den nächsten. Vivienne, die ihren Liegestuhl im Schatten der Schlossmauer postiert hatte, sah kurz auf, lächelte geheimnisvoll und wandte sich wieder ihrem Buch zu. Manon fuhr fort, die Karaffen auf dem Getränkewagen nachzufüllen, scheinbar ungerührt. Nur Sandrine schien sich aufrichtig zu freuen.

Ich selbst war zwiegespalten. Einerseits spürte ich Neugier, weitere Mitglieder dieser ungewöhnlichen Familie kennenzulernen. Andererseits hatte sich gerade eine gewisse Regelmäßigkeit eingespielt, eine Routine, die nun gestört wurde. Wie war dieser Jérôme? Was hatte man zu erwarten, wenn er und seine Freunde hier aufkreuzten?

Der Nachmittag verstrich in gewohnt entspannter Manier. Stefanos Gefühlsaufwallung war schnell vorübergegangen; genüsslich räkelte er sich im Liegestuhl, nippte ab und zu an seinem Getränk und sprach nur wenig. Sandrine hatte sich mit Kopfweh zurückgezogen. Und Vivienne war völlig vertieft in ihr Werk, irgendeinen Fachtext.

Ihre Annäherungsversuche waren in letzter Zeit ausgeblieben. Vielleicht hatte sie inzwischen doch registriert, dass ich keinerlei Interesse zeigte, und sich mit den Tatsachen abgefunden. Ein Glück! Solche Situationen konnten auch ganz anders verlaufen, sich immer weiter hochschaukeln, bis es für beide Seiten unerträglich wurde. Ich hatte mich innerlich bereits darauf vorbereitet, vielleicht abreisen zu müssen, aber momentan wollte ich alles Mögliche – bloß das nicht. Jetzt schien die Gefahr gebannt.

Stunde um Stunde verrann. Die Sonne wanderte über den Himmel, der sanfte Wind fächerte uns fortwährend Kühlung zu. Bis aufs Knistern der Fliederzweige und gelegentliches Rascheln, wenn Vivienne umblätterte, war es still. Am frühen Abend – gerade wollte ich aufs Zimmer gehen, um vor dem Essen noch eine Dusche zu nehmen – schnellte Stefano unvermittelt aus seinem Liegestuhl hoch. „Sie sind da!“, rief er. Ich lauschte und hörte zunächst nichts. Dann aber ließen sich Motorengeräusche vernehmen, kurz darauf wurde mehrmals gehupt. „Lasst uns nach unten gehen.“, sagte Vivienne in ihrem bestimmenden Tonfall, der Vorschläge stets ein bisschen wie Anweisungen klingen ließ.

Auf dem Schlosshof parkten zwei neue Autos, silbergraue Jeeps. Die Insassen, allesamt junge Leute, waren gerade dabei, ihr Gepäck auszuladen; neben den Fahrzeugen standen bereits einige Trekking-Rucksäcke in einem Pulk zusammen. Stefano zögerte nicht lange und begann, Gepäckstücke zum Portal zu schleppen. Bald kam Manon hinzu und half ihm.

Die Studenten drehten sich fortwährend im Kreis und schauten in sämtliche Richtungen; auf ihren Gesichtern lag ungläubiges, fast kindliches Staunen. Amerikanisches Englisch erfüllte den Hof, Handys und Digitalkameras klickten im Stakkato. Unterdessen wurde Jérôme von seinen Geschwistern freudig empfangen; man hatte sich offenbar lange nicht gesehen. Lebhaft umarmte Vivienne ihren Bruder, Sandrine tat es ihr gleich. Sogar Chloé und Justin waren aus ihrem Refugium herabgestiegen, um den heimkehrenden Reisenden willkommen zu heißen. „Bienvenu, pétit frère“, summte Justin mit seiner angenehmen Stimme. Chloé nahm ihn sanft in den Arm und strich zugleich mit einer Hand zärtlich über seinen Nacken und den Haaransatz – man konnte direkt neidisch werden! Sie und ihr Partner sahen im Freien sogar noch besser aus als bei Kerzenschein, wie ich verblüfft feststellte. Die beiden waren einfach eine Augenweide.

Ähnliches galt für Lucienne, die es sich gleichfalls nicht hatte nehmen lassen, dem besonderen Ereignis beizuwohnen. Zum ersten Mal sah ich sie bei natürlichem Licht, und mich durchliefen Schauer der Wonne. Neben Chloé und Justin, deren bronzefarbene Teints hier draußen erst recht zur Geltung kamn, wirkte sie auf den ersten Blick unscheinbar. Aber wie eigenartig der Ton war, den die rötliche Abendsonne ihrer hellen, makellos glatten Haut verlieh. Wie seidenmatt ihr dunkles Haar in diesem Licht schimmerte. Dazu die fast schwarzen Augen, die den klaren Himmel widerspiegelten! Ich musste mich regelrecht zwingen, woanders hinzuschauen, sonst wären meine hypnotisierten Blicke am Ende aufgefallen.

Auf Französisch begrüßte sie Jérôme, dazu gaben die beiden sich Küsschen auf die Wangen. Der Anblick versetzte mir einen heftigen Stich – obwohl ich wusste, dass diese Bussis unter Franzosen üblich waren. Vielleicht lag es auch daran, wie selbstverständlich die beiden jungen Leute miteinander redeten, noch dazu in der gemeinsamen Muttersprache. Es gab nichts Trennendes zwischen ihnen, der Umgang wirkte auf Anhieb natürlich und locker. So locker, wie es zwischen Lucienne und mir niemals werden würde, werden konnte…

Schließlich war ich an der Reihe; auf Englisch machte Vivienne mich mit Jérôme bekannt. „Schön, dich kennenzulernen“, sagte er, während wir uns die Hände schüttelten. Nichts Auffälliges war an ihm, er schien ein junger Mann wie viele andere: dunkles, kurzgeschnittenes Haar, ein hageres Gesicht, unter der Nase Flaum, den man noch nicht Bart nennen konnte. Aber in seinen Augen war etwas, das ihn sofort für mich einnahm, eine unverstellt wirkende Offenheit und Neugier. Ich ahnte, dass wir noch häufiger miteinander reden würden.

Dann stellte Jérôme nacheinander seine Kommilitonen vor, acht oder neun an der Zahl, allesamt Amerikaner. Der Europa-Trip war ihre Idee gewesen, und natürlich hatte auf einer solchen Rundreise Chateau de Montardit nicht fehlen dürfen. Ein echtes, europäisches Adelsschloss, und einer aus ihrer Runde stammte sogar von dort – was für eine Gelegenheit! Sie waren morgens auf der Insel angelangt und hatten, nach einem ausgiebigen Badetag an der Südküste, kurzerhand die beiden Autos gemietet, um hierher zu kommen. Und ganz offensichtlich waren sie nicht enttäuscht.

Aber was war die anfängliche Begeisterung der Studentengruppe gegen ihr aufbrandendes Jubelgeschrei, als sie die Halle betraten? Amüsiert beobachtete ich, wie die jungen Leute mit leuchtenden Augen das Prachtgewölbe bewunderten und noch hektischer als eben im Hof um sich knipsten und filmten. Ob jemand ihnen gesagt hatte, dass es hier keinen Strom gab, um die Geräte wieder aufzuladen?

Schließlich verschwand der Tross hinter dem Brunnen auf der Haupttreppe, aber noch lange tönte ihr aufgeregtes Geschnatter von oben herab.

 

***

 

 

Das Diner fand an diesem Abend in deutlich vergrößerter Runde statt. Endlich wirkte der lange Esstisch, obgleich noch immer ein Gutteil der Stühle leer war, nicht mehr hoffnungslos überdimensioniert. Stefano ging heute Manon zur Hand, statt mit uns beim Essen zu sitzen, half beim Auftragen der Platten und Abräumen des benutzten Geschirrs. Selbst für zwei Leute war viel zu tun – die beiden mussten ziemlich rackern.

Bislang hatte ich auf meiner Tischseite immer ganz am Rand gesessen, aber nun fand ich mich plötzlich mitten im Geschehen wieder, zwischen Vivienne zur Rechten und Jérôme zur Linken. Auf letzteren folgten noch drei weitere Gäste. Alle Neuankömmlinge studierten in Oxford Kunst- und Kulturgeschichte, wobei einige ihr gesamtes Studium in England absolvierten, andere nur für ein paar Semester dort waren und dann wechseln wollten, am liebsten nach Italien oder Griechenland. Jérôme hatte sich auf Renaissance und Barock spezialisiert, aber ihn interessierten auch die späteren Epochen, vor allem die Aufklärung und die Zeit der bürgerlichen Revolutionen. Als er hörte, dass ich neben Politologie auch Geschichte belegt hatte, kamen wir rasch ins Gespräch, überflogen verschiedene historische Epochen, langten schließlich beim Ancien Régime und der Französischen Revolution an. Es machte großen Spaß, mit ihm zu plaudern; sein Fragen waren klug und zeugten von fundierten Kenntnissen des Fachs, Wichtigtuerei war seine Sache offensichtlich nicht. Seit der Uni-Zeit hatte ich keinen so interessantes Austausch über geschichtliche und politische Themen mehr geführt.

Leider zogen sich die Studenten bald zurück – der lange Tag und die strapaziöse Anreise forderten ihren Tribut. Aber Jérôme und ich verabredeten, unseren Gesprächsfaden bei nächster Gelegenheit wieder aufzunehmen.

 

***



„Marc, hast du Lust auf eine kleine Schlossführung?“, schallte es mir am nächsten Vormittag entgegen, als ich gerade aus dem Speisezimmer kam. Jérôme und seine Kommilitonen standen in der Halle zusammen und wollten offenbar gerade losmarschieren.

„Nur das Wichtigste“, erklärte er schnell. „Sonst wären wir ja Tage unterwegs. Außerdem“, flüsterte er unter vorgehaltener Hand, „halten die eh nicht lange durch.“ Mit dem Daumen wies er kurz auf die Studentengruppe.

Eine Schlossführung? Eigentlich hatte ich Vivienne versprochen, ihr heute Gesellschaft zu leisten – es war einer ihrer wenigen freien Tage. Ich hatte ihr die Bitte nicht abschlagen mögen, obwohl ich mir durchaus Schöneres vorstellen konnte

Gerade war sie auf ihrem Zimmer, um sich frischzumachen; sie wollte gleich zurück sein. Ob Jérômes Kommilitonen sich noch so lange gedulden würden? Einige scharrten bereits erkennbar mit den Hufen. Wenn sie erst losgegangen waren, würde ich sie in diesem labyrinthischen Gemäuer ganz sicher nicht mehr wiederfinden.

Sollte ich mir die günstige Gelegenheit wirklich entgehen lassen? Ich wusste nach wie vor fast nichts über das Schloss. Immer wieder hatte ich mir vorgenommen, Vivienne oder Sandrine zu befragen, es dann aber stets vergessen. Und mein Reiseführer war in dieser Hinsicht sowieso keine Hilfe. Jérômes Führung konnte durchaus ein paar Wissenslücken schließen.

Spontan ging ich mit. Das Ganze würde ja nicht bis abends dauern; anschließend konnte ich mich immer noch mit Vivienne treffen. Tatsächlich war der Rundgang eher kurz gehalten; wir liefen über ein paar Korridore, nahmen eine Handvoll Räume in Augenschein. Immerhin: Gegen Ende ging es ins Innere des Schlosses, wohin ich mich bislang nie getraut hatte, den Weg von meinem Zimmer zur Halle ausgenommen. Jérôme wollte uns die herrschaftlichen Schlafgemächer zeigen, in denen einstmals die Oberen der Montardits genächtigt hatten. Der Anblick der mit Prunk schier überladenen Räumlichkeiten war in der Tat eindrucksvoll, allerdings wohnte dort, wie wir erfuhren, schon lange niemand mehr; vor allem die heutige Generation der Montardits mochte es lieber etwas bescheidener.

Jérôme erwies sich als kundiger Guide und guter Erzähler; seine Schilderungen der Schlosshistorie waren ungemein spannend. Wir lernten, dass bereits im frühen Mittelalter an dieser Stelle eine Burg gestanden hatte. Sie war allerdings aufgegeben worden und in der Folge allmählich verfallen. Im 13. Jahrhundert kam es in Frankreich zum Albigenserkreuzzug, der sich vornehmlich gegen die Glaubensgemeinschaft der Katharer richtete. Nach und nach wurden ihre Städte und Burgen eingenommen und teilweise zerstört. Der letzte Rückzugsort war die Burg Montségur in den Pyrenäen, aber nach fast einjähriger Belagerung fiel auch diese. Die Bewohner wurden vor die Entscheidung gestellt, ihrem Glauben abzuschwören oder aber auf dem Scheiterhaufen zu sterben. Die meisten wählten Letzteres. Wobei für die Katharer alles Irdische grundsätzlich als materialistisch und böse galt, während die gottgeschaffene, gute Welt erst im Jenseits erreicht werden konnte. Nach dieser Lesart war die Entscheidung für den Feuertod also nur folgerichtig.

Eine kleine Gruppe entschloss sich allerdings, von Montségur zu fliehen, um die Glaubensgemeinschaft an anderer Stelle wiederzuerrichten. Nach langer Odyssee quer durch Europa erreichten sie schließlich diese Insel und nahmen das alte, inzwischen vergessene Bergkastell in Besitz. Peu à peu bauten sie es zu einer Festung aus, ähnlich der, die sie hatten verlassen müssen. Und tatsächlich gelangte die katharische Gemeinde hier zu neuer Blüte.

Im Lauf der Zeit stiegen die Montardits zur führenden Familie auf. Sie waren die Tüchtigsten; unter ihrer Ägide wuchs die Burganlage stetig und verteilte sich allmählich über den gesamten Felsvorsprung. Trotz ihrer Macht blieb die Familie lange den katharischen Regeln verhaftet, vor allem dem Grundsatz des bescheidenen, asketischen und gottgefälligen Daseins. Erst während des ausgehenden Mittelalters wandelten die Montardits sich allmählich zu einem normalen Adelsgeschlecht jener Epoche. Ein aufwändiger, auf Repräsentation und Pomp ausgerichteter Lebensstil hielt Einzug, der schließlich auch in der Umgestaltung des Familienstammsitzes mündete: Arsène de Montardit machte aus der bis dato eher kärglichen, wehrhaften Burg jenes Schloss, das wir heute kennen. Die Einweihung fand im Jahr 1600 statt, mit einem rauschenden Fest, das mehrere Tage dauerte.

Ende des 18. Jahrhunderts wurden im Zuge der Französischen Revolution Stände und Privilegien abgeschafft. Auch die Montardits traf es, allerdings durfte die Familie ihren Stammsitz sowie sämtliches Land behalten. Faktisch blieb also alles beim Alten. Die Folgerevolutionen von 1830 und 1848 schafften es nicht einmal mehr bis auf die Insel.

Erst 1850, als auf dem Festland längst alles vorüber war, gab es hier einen bemerkenswerten Zwischenfall. In den Jahren zuvor hatte César de Montardit, das damalige Familienoberhaut, die Schlosshalle und alle umliegenden Bereiche erneuert, den Galerien, Treppenhäusern und Emporen ihr heutiges Gepräge verliehen. Die Bevölkerung war für dieses kostspielige Vorhaben erbarmungslos ausgepresst worden. Im besagten Jahr 1850 suchte eine extreme Dürreperiode die Insel heim; die Ernten fielen kärglich aus, die Inselbewohner litten Hunger, in einigen Regionen verdurstete das Vieh. Schließlich eskalierte die Situation: Eine Horde aufgebrachter Menschen zog los, um die Montardits zu verjagen und den Familienbesitz untereinander aufzuteilen, vor allem natürlich Vieh und Land.

Aber die Aufständischen sollten das Schloss niemals erreichen: Irgendetwas stieß ihnen unterwegs zu, sie verschwanden allesamt spurlos und wurden nie mehr gesehen. In der Folge brach die Revolte in sich zusammen. Gerüchte machten die Runde, dass ein schrecklicher Fluch auf Chateau de Montardit und seinen Bewohnern laste. Seitdem wagte sich niemand mehr in die Nähe des Schlosses.

„Dieses Gerede von einem Fluch ist natürlich Quatsch“, erklärte Jérôme, „aber bis heute weiß kein Mensch, was damals passiert ist. Nur so viel: Seit diesem Ereignis ist es auf der Insel ruhig geblieben. Im Großen und Ganzen hat sich hier in all den Jahrhunderten wenig verändert. Natürlich hat der technische Fortschritt Einzug gehalten, sind im Süden Touristengebiete entstanden, aber das war 's auch schon. Wir Insulaner sind es zufrieden, wollen lieber unter uns bleiben. Einmischung von außen ist nicht gern gesehen. Wir sind, wie man so schön sagt, ein sehr eigenes Völkchen.“

Zum Abschluss der Führung waren wir auf einen Turm gestiegen und standen jetzt im Freien. Die Studenten knipsten wieder eifrig – wie typische Touristen bei einem Ausflug. Und ich war einer unter ihnen. Plötzlich schien mein Aufenthalt hier auf Chateau de Montardit sozusagen legitimiert: Ich war ein ganz normaler Reisender, verbrachte meinen Urlaub an diesem Ort. Alles schien sozusagen in die Realität zurückgeholt, ins Alltägliche, Profane. Keine Spur mehr von der Entrücktheit, der lähmenden Mystik, die zuletzt immer stärker von mir Besitz ergriffen hatte. Das Schloss war nur eine Attraktion unter vielen auf dieser Sonneninsel, eine zwar beeindruckende, aber mitnichten ungewöhnliche. Klar, es gab ein paar Schauergeschichten, die sich um das historische Gemäuer rankten, aber das gehörte dazu, war sozusagen Teil der Show, der Kulisse.

Wie um meinen Gedankengang zu unterstreichen begann nun irgendwo ein Telefon zu schrillen. Es war die Imitation eines altmodischen, mechanischen Klingeltons, wie man sie oft bei Mobilgeräten hörte. Neben mir zog eine Studentin ihr Handy aus der Gesäßtasche. Um Jérôme nicht in seinen Ausführungen zu stören, ging sie ein paar Schritte beiseite, in eine Ecke des Turms, und führte dort ihr Gespräch. Irgendwann sah man sie das Gerät zuklappen und wegstecken; dann kam sie wieder zu uns. 'Typisch Tourist', war mein spontaner Gedanke.

Erst später wunderte ich mich, dass sie überhaupt hatte telefonieren können. Mein eigenes Handy war seit der Ankunft in den Bergen wie tot; nie hatte ich auch bloß den geringsten Empfang gehabt. Abgesehen davon, dass inzwischen längst der Akku leer war.

Oder hatte ihr Telefonanbieter schlicht ein besseres Netz?



***



An diesem Abend fühlten sich auch Jérôme und seine Kommilitonen fit genug, um nach dem Diner mit uns ins Kaminzimmer hinüberzuwechseln. Der Raum war voller Menschen, der Wein floss reichlich; immer wieder musste Manon neue Flaschen bringen. Blauer Qualm hing in der Luft, von Zigaretten, Zigarillos und Zigarren. Ein Kommilitone mit dicker Brille und Vollbart, Adam, schmauchte seine Pfeife. Wie ich von Jérôme wusste, hatte er einige Semester in Deutschland studiert, am Institut für Buchwissenschaften in Erlangen.

Vivienne hielt mir ein leeres Weinglas hin; ich saß in Griffweite der Getränke. Während ich ihr dunkelroten Burgunder nachschenkte, ging mir erneut durch den Kopf, was vormittags nach der Schlossführung geschehen war: Vivienne hatte unsere Rückkehr in die Halle abgepasst und mich von der Gruppe regelrecht weggezogen. Ob ich Verabredungen immer schon nach zwei Minuten wieder vergessen würde, zischte sie in einem Tonfall, der keinerlei Missverständnisse über ihre Laune aufkommen ließ. Au backe! Dass sie so dünnhäutig war, hatte ich nicht erwartet. Ich stammelte eine Entschuldigung und blieb den Rest des Tages bei ihr, voll des schlechten Gewissens ob meiner Verfehlung. Gleichzeitig wurde ich das Gefühl nicht los, an anderer Stelle Wichtiges zu verpassen: Jérôme und seine Leute wollten sich nachmittags auf der Schlossterrasse treffen – eigentlich hätte ich die Zeit lieber mit ihnen verbracht.

Auch hier im Kaminzimmer verging kaum eine Minute, da Vivienne nicht an meinem Rockzipfel hing. Unbefangene Gespräche waren kaum möglich, ich fühlte mich regelrecht überwacht. Im Laufe des Abends wurde mir plötzlich bewusst, woher ich diese Situation kannte: aus der Zeit mit Alexandra. Auch sie hatte sich permanent zwischen mich und andere geschoben, immer getrieben von der Angst, übergangen zu werden, nicht genügend Aufmerksamkeit zu bekommen.

Ein Gefühl des Unwillens durchzuckte mich: Ich war nicht Viviennes Eigentum! Als sie kurz draußen war, nutzte ich die Gelegenheit und wechselte zu einem Grüppchen, das sich um Stefano gescharrt hatte. Dessen Nähe mied Vivienne nach Möglichkeit; sie hielt ihn für einen großtuerischen Marktschreier – womit sie nicht ganz falsch lag, aber das war jetzt zweitrangig. Mein Kalkül ging auf: Als sie zurückkam und mich in Stefanos Gesellschaft entdeckte, drehte sie abrupt bei und setzte sich in die hinterste Ecke. Von dort aus beobachtete sie mich ununterbrochen; in ihrem Blick eine sinistre Mixtur aus Verletztheit und Zorn. Schließlich gab sie es auf verließ wortlos das Kaminzimmer – zu meiner großen Erleichterung!

Wann akzeptierte sie endlich, dass ich keine tieferen Gefühle für sie hegte? Konnte sie sich nicht einfach mit einer Beziehung auf freundschaftlicher Basis zufriedengeben? Egal, ich wollte darüber nicht länger nachdenken! Entschlossen wandte ich mich wieder den anderen zu.

Bald war ich mit Jérôme und Neil, einem seiner Kommilitonen, in ein Gespräch vertieft. Es ging ein weiteres Mal um um historische Themen, genauer: um die Französische Revolution und ihre Folgen. Hätte man die 1791er-Verfassung beibehalten und den König am Leben gelassen, argumentierte Neil, wäre es nie zum jakobinischen Schreckensregime gekommen. Jérôme fand, dass man von Beginn an die Republik als Staatsform hätte wählen sollen. Ich kritisierte meinerseits das armselige Verhalten der europäischen Nachbarn, insbesondere Preußens, das keinen Gedanken an die möglichen Aufstandsursachen verschwendete, nur den Ungehorsam sah und sofort einen Krieg vom Zaun brach – typisch! Wir ließen unseren Gedanken und Einfällen freien Lauf, spintisierten, was das Zeug hielt; der Wein tat das Seinige. Je länger wir zusammensaßen, desto unkontrollierter sprudelten die Sätze aus mir heraus. Ich assoziierte einfach drauf los, ohne noch auf Wissenschaftlichkeit zu achten, trotzdem funktionierte es – oder möglicherweise gerade deshalb? Vor allem Jérôme nahm meine Ideen dankbar auf, entwickelte Gegenthesen, formulierte neue Aspekte. Wir lagen eindeutig auf derselben Wellenlänge; ein Stichwort gab das andere, schnell entspann sich die nächste Erörterung, eine neue Diskussion.

'Wie damals mit Lennard', dachte ich irgendwann…

Auch heute wanderte mein Blick immer wieder automatisch zu Lucienne, die mit Sandrine und zwei von Jérômes Kommilitonen in der Nähe des Kamins saß. Stefano gesellte sich dazu, und sofort stieg der Lärmpegel deutlich an – wie überall, wo er aufkreuzte. Nachdem ich eine Weile geschaut hatte, geschah etwas vollkommen Unerwartetes: Lucienne, die gerade am Reden war, brach mitten im Satz ab, als hätte jemand sie angestupst oder ihr ein Zeichen gemacht. Dann drehte sie sich langsam zu mir. Ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht, das ich im ersten Moment dem Gesagten zuschrieb. Aber nach einer Schrecksekunde begriff ich, dass es mir galt. 'Glaubst du wirklich, dass ich deine Blicke nicht längst bemerkt habe?', sagte es, eindeutig.

Schnell schaute ich weg, zu Boden, an die Decke, ins Leere, irgendwohin, nur nicht mehr in ihre Richtung. Die Peinlichkeit traf mich bis ins Mark, zugleich sah ich die Gefahr: Flog jetzt meine Tarnung auf? Hatte ich mich endgültig verraten und alles kaputtgemacht?

Als ich im Bett lag – inzwischen war es weit nach Mitternacht –, ließ ich den Abend noch einmal Revue passieren. Ich dachte an Vivienne, ihre Aufdringlichkeit im Kaminzimmer, schließlich ihre Kapitulation – und konnte eine gewisse Schadenfreude nicht verhehlen.

Dann kam mir wieder die kurze Szene mit Lucienne in den Sinn. Mittlerweile schien es mir, als ob ihr Blick gar nicht anklagend gewesen war, wie im ersten Moment gedacht. Hatte nicht eher etwas Verständnisvolles und Warmes in ihm gelegen, gar etwas Ermunterndes?



***



Anderntags machte ich mich daran, die Schlossführung auf eigene Faust zu wiederholen. Es sollte ein Test sein: War das Gefühl von Bodenständigkeit und Solidität während des gestrigen Rundganges konstant oder würde es verschwinden, sobald ich wieder auf mich selbst gestellt war? Jérômes Tour erschien mir ideal: Sie führte ins gefürchtete Innere des Chateaus, zugleich war die Erinnerung daran noch frisch.

Aber wie so oft in diesem Gebäude lief alles anders als geplant. Gerade war ich auf einem der endlosen Korridore unterwegs; das Holzparkett knarzte vernehmlich unter meinen Schritten, auf beiden Wandseiten liefen die Kerzenlichter in schnurgerader Linie davon. Wann kam endlich die Treppe, die wir am Vortag hochgestiegen waren, um die herrschaftlichen Schlafgemächer zu besichtigen? Sie wollte und wollte einfach nicht auftauchen.

Ich wurde ungeduldig, begann zu laufen – aber von der besagten Treppe keine Spur. Schließlich erreichte ich einen Lichthof, so weitläufig und hell, dass man im ersten Moment den Eindruck hatte, sich im Freien zu befinden, auf einem verwaisten Dorfplatz oder Marktflecken. Erst bei genauem Hinsehen erkannte man das Glasdach, das wie eine transparente Kuppel über allem schwebte. Die Eisenträger, vermutlich armdick, wirkten aus dieser Entfernung filigran wie Spinnweben. Hier war ich ganz bestimmt noch nie gewesen!

Beklemmung stieg in mir hoch, auch Wut auf mich selbst. Genau das hatte ich vermeiden wollen: planlos im Schloss herumlaufen, immer mehr die Richtung verlieren… aber jetzt galt es, unbedingt Ruhe zu bewahren, sonst wurde alles bloß noch schlimmer. Ich lief nach Gefühl weiter, immer auf der Suche nach bekannten Punkten oder Gegenständen – Räumen, Treppen, Emporen, Gemälden, Möbelstücken, irgendetwas Vertrautem, das mir die Orientierung zurückgab. Eine unscheinbare Holzpforte am Ende eines Flures ließ mich wieder hoffen: Sie ähnelte derjenigen, die uns gestern auf den Turm geführt hatte. Leider wollte sie sich keinen Millimeter bewegen; alles Drücken und Zerren, Ruckeln und Schieben half nicht. Ich war schon am Kapitulieren, wollte frustriert von dannen ziehen, als das Türblatt auf einmal doch nachgab: Ein Lichtspalt tauchte auf, ein frischer Luftzug streifte mich – und plötzlich stand ich im Freien.

Perplex schaute ich mich um, ohne jede Idee, wo ich sein konnte. Vor mir lag eine Brücke aus Bruchsteinen, die sich über den Schlossgraben spannte. Um die Hauptbrücke konnte es sich keinesfalls handeln, die war deutlich breiter. Auf der anderen Grabenseite verlief die Parkmauer, über ihrem Sims wogten die Kieferwipfel. Erst jetzt sah ich es: Da war ein schmaler Durchgang in der Mauer, direkt am Ende der Brücke, und nichts versperrte ihn, keine Tür, kein Gitter! Der Eingang in den Schlosspark – völlig unerwartet hatte ich ihn gefunden!

Ich zögerte keinen Moment. Als ich den Schatten des Schlosses verließ, umhüllte mich warmer, belebender Sonnenschein. Mit Herzklopfen betrat ich die verwitterte Steinbrücke. Zu beiden Seiten dehnte sich, wie mit dem Lineal gezogen, der Schlossgraben. Weshalb er wohl ausgetrocknet war? Oder hatte man ihn seinerzeit nur bei Bedarf geflutet? Links endete er bald an einer steinernen Barriere, dahinter gähnte die Schlucht. Auf der rechten Seite aber, ziemlich weit von hier entfernt, sah man definitiv die Hauptbrücke in der Hitze flimmern. Ich beugte mich über die Brüstung und erschrak regelrecht ob der immensen Tiefe: Weit unter mir bedeckte Geröll den Grund, ein paar karge Sträucher krallten sich an den steilen Wänden fest. Mir wurde schwindelig; es war ähnlich wie beim ersten Blick aus meinem Zimmerfenster, am Abend der Ankunft. Rasch ging ich weiter und war froh, die andere Seite zu erreichen, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren.

Endlich konnte ich den geheimnisvollen Schlosspark betreten. Ein intensiver Geruch nach Gras und Harz erfüllte die Luft, über mir rauschten die Kiefern im Bergwind. Ich lief einfach herum, ohne auf die Richtung zu achten. Welch großartiges Gefühl es war, wieder in der Natur zu sein, nach so langer Zeit! Alles hier wirkte zerzaust, verwachsen, der Verwilderung anheim gegeben; ein Gärtner hätte viel Arbeit vorgefunden. Auf Lichtungen und an Wegkreuzungen sprossen fremdartige Gewächse mit Blüten, die durchsichtig wie Schemen waren. Einige der Kiefern erschienen geradezu riesenhaft; Stämme von solchem Umfang hatte ich nie zuvor gesehen. Merkwürdig, dass auf dieser Höhe überhaupt noch Bäume wuchsen. War dies vielleicht eine Stelle mit besonderen klimatischen Bedingungen?

Vögel schienen sich allerdings nicht hierher zu verirren; bis auf das Rauschen der Bäume war es vollkommen still. Auch Mückenschwärme oder sonstige Insekten konnte ich nirgends ausmachen. Dafür aber jene überdimensionierten Spinnennetze, die mich bereits auf früheren Wanderungen das Gruseln gelehrt hatten. Überall spannten sie sich auf, die heimtückischen, nahezu unsichtbaren Gebilde, und ihre Konstrukteure wirkten hier oben sogar noch monströser als im Wald des Bergdorfes. Aber erneut waren die Netze immer leer, nie hing Beute in den Maschen…

Schließlich wurde es Zeit zum Umkehren. Zwar hatte ich längst die Orientierung verloren, aber anhand des Sonnenstandes ließ sich ungefähr erkennen, wo Süden lag. Wenn ich mich immer in diese Richtung hielt, musste ich zwangsläufig wieder auf die Parkmauer stoßen. Dann galt es noch, den Durchgang zu finden. Und schließlich in die Halle zurückzukommen. Ich würde mir die Route gut einprägen, für die nächsten Parkausflüge. Sicher gab es hier noch so manches zu entdecken.

Der Marsch entwickelte sich zu einer regelrechten Tortur: Überall wucherte dichtes Gesträuch, manchmal kam ich nicht mehr weiter und musste einen anderen Weg ausprobieren. Vorhin hatte ich das ziellose Herumlaufen noch genossen, aber jetzt drängte die Zeit. Hinzu kam die Gefahr, im abnehmenden Tageslicht das eine oder andere dieser arglistigen Spinnennetze zu übersehen. Maßloser Ekel packte mich bei der Vorstellung, in die klebrigen Fäden zu geraten und von lauernden Riesenkrabblern angegriffen zu werden. Ob sie Giftstachel besaßen, um ihre Opfer außer Gefecht zu setzen? Plackerei und Stress trieben mir bald den Schweiß auf die Stirn. Je tiefer die Sonne sank, desto unbehaglicher wurde mir.

Endlich tauchte grauweißes Gestein zwischen den Bäumen auf. Ich begann zu laufen, erleichtert und auch ein bisschen stolz, dass meine Strategie, sich in südliche Richtung zu halten und dadurch zurückzufinden, offenbar funktioniert hatte. Die Enttäuschung folgte, als ich die letzten Zweige beiseite wischte: Es war nicht die Mauer des Parks, die ich gesehen hatte.

Vor mir lag eine kleine, gotische Kapelle, errichtet aus demselben hellen Granit wie Schloss und Parkmauer. Moos hatte sich über das Dach und die Wände des sakralen Bauwerks ausgebreitet, die Fenster verschwanden unter dem Staub zahlloser Jahre. Zwischen den Baumwipfel lugte die Abendsonne hervor und übergoss alles mit goldenem Licht und flirrenden Schatten.

Es musste sich um die Familiengruft der Montardits handeln. Allerdings ließ ihr Zustand darauf schließen, dass sie seit langem nicht mehr benutzt wurde. Warum? Irgendetwas daran war beunruhigend, eine dunkle Vorahnung stieg in mir auf, deren Ursache ich nicht begriff. Noch nicht.

Zögernd betrat ich die Lichtung. Das bogenförmige Eingangsportal an der Stirnseite besaß keine Tür, man konnte einfach hindurchgehen. Ein leerer Innenraum empfing mich; weder gab es Sitzbänke noch irgendwelchen Kirchenschmuck. Zur Linken fielen abendliche Sonnenstrahlen durch die roten Scheiben und zeichnete blutige, gotisch geformte Umrisse auf den staubigen Boden. Gegenüber lag ein niedriges, fast lichtloses Seitenschiff. Ich blieb in der Mitte, ging ein paar Schritte, während mein ungutes Gefühl immer stärker wurde. Bösartige Blicke schienen auf mich gerichtet und jede meiner Bewegungen zu registrieren. Auf einmal meinte ich hinter mir einen huschenden Schatten zu erkennen! Blitzschnell drehte ich mich um: Dort war nur der leere Innenraum.

Dafür bemerkte ich nun die Staubwölkchen, die meine Schritte aufgewirbelt hatten: Sehr langsam, fast wie in Zeitlupe, stiegen sie in die Höhe, gerieten in die Lichtkegel der Sonnenstrahlen, nahmen deren rote Färbung an – und erinnerten auf einmal an strömendes, triefendes Blut. Es war wie beim abendlichen Blick aus dem Zimmerfenster: die Felsen, durch den geröteten Himmel in organisches, pulsierendes Gewebe verwandelt…

Irgendetwas war hier, ganz sicher! 'Lauf weg!', mahnte eine innere Stimme, aber es war bereits zu spät: In meinem Kopf begann es schmerzhaft zu pochen; etwas hüllte mich ein und lähmte mich, ein starkes Energiefeld. Nicht länger Herr meiner Handlungen ging ich weiter, setzte mechanisch meine Schritte, einen nach dem anderen.

In der Apsis, wo eigentlich der Altar hätte stehen müssen, gähnte nur ein leeres Podest. Als ich ins Halbdunkel des Seitenschiffs tauchte, spürte ich unter mir den Boden sacht vibrieren. Unablässig tönte nun fernes, rhythmisches Klopfen, wie eine riesige Maschine. Die Wellen des Energiefeldes waren mittlerweile so stark, dass ich zitterte. Ein ähnliches Gefühl hatte ich auf dem Plateau gehabt, als das Schloss so unvermittelt aufgetaucht war, aber hier schien die Quelle noch näher…

Etwas Frostiges wehte mich plötzlich von der Seite an. Erst nach einer Weile erkannte ich eine Nische in der Seitenwand, versperrt von einem Gitter. Wie hypnotisiert bewegte ich mich darauf zu. Das Hämmern und Schlagen wurde übermächtig, es schien jetzt direkt aus dem Erdinnern zu kommen. Alles in mir wollte nur noch fort, wollte fliehen, und doch blieb ich, wo ich war. Die fremde Kraft ließ mich am Gitter rütteln – es war verschlossen. Behutsam schob ich den Kopf zwischen die Eisenstäbe: Im Dämmerlicht waren schemenhaft Stufen zu erkennen, die in die Tiefe führten – der Zugang zur Grabkammer!

Im hinteren Teil des Gelasses schimmerte etwas Helles, Quaderförmiges, eine Estrade oder ein Podest. Irgendwelche Kisten waren darauf drapiert… auf einmal brach mir der Schweiß aus: Es waren Särge! Neue Särge aus dunklem, glatt poliertem Holz! Zwei hatte man bereits verschlossen, zwei warteten noch auf ihre künftigen Bewohner; hochkant lehnten ihre Deckel an der Rückwand, auf dem Boden lagen Hammer und ein Bündel langer Nägel bereit. Heftige Übelkeit packte mich, alles geriet in Bewegung, die Sinne drohten mir zu schwinden. Für Sekundenbruchteile schoben sich in meinem Kopf lose Fragmente ineinander, vereinigten sich, bildeten ein schlüssiges Ganzes… und plötzlich verstand ich, wurde die dunkle Vorahnung zur tödlichen Gewissheit! Dann ließ der Bann mich endlich los, ich rannte, floh aus der Kapelle, über die Lichtung, hinein ins Dickicht. Nur fort von diesem Ort des Grauens, so weit wie möglich!

Erst nach einer guten Weile wurde ich langsamer. Meine Kleidung war schmutzig, überall an Armen und Beinen hatte ich blutige Striemen. Und verdammt – ich war wieder in diesem Riesenpark verschollen. Mittlerweile war die Sonne so gut wie untergegangen. Im Dunkeln würden meine Chancen gegen null sinken, zum Schloss zurückzufinden.

Irgendwie schaffte ich es, ruhig zu bleiben, eine weitere Panikattacke zu verhindern. Immerhin hatte keines dieser gigantischen Spinnennetze meiner Flucht ein jähes Ende bereitet. Ich probierte es einfach wie vorhin, versuchte mich südlich zu halten. Noch war die Sonne nicht gänzlich verschwunden, noch konnte man ihren Widerschein über den Baumwipfeln sehen.

Erneut tauchten graue Steine vor mir auf – und diesmal war es tatsächlich die Grenze des Parks. So erleichtert wie in diesem Moment hatte ich mich lange nicht gefühlt! Ein Weg zog sich am Steinwall entlang, in beide Richtungen. Ich entschied mich, nach rechts zu gehen – notfalls musste ich halt umkehren und die andere Seite absuchen. Aber diese neuerliche Prüfung blieb mir erspart: Nach einer Weile sah ich einen Streif Abendlicht, fast waagerecht durch eine Öffnung in der Mauer hereinfallend – ich hatte den Ausgang gefunden, buchstäblich in letzter Minute.

Inzwischen bezweifelte ich stark, dass ich in der Gruft wirklich das gesehen hatte, woran ich mich zu erinnern glaubte: Särge, noch dazu fabrikneu – wie um Himmels willen hätten die wohl hinter das rostige, seit langem verriegelte Gitter kommen sollen? Auch die Anzahl erschien mir jetzt sehr willkürlich: Weshalb ausgerechnet vier? Weshalb nicht fünf oder drei? Ich beschloss, die Kapelle in der nächsten Zeit erneut aufzusuchen und alles in Ruhe zu überprüfen. Obwohl ich mir durchaus Schöneres vorstellen konnte…

Eine schattenhafte Bewegung riss mich aus meinen Gedanken: Jemand stand neben dem Ausgang im Halbdunkel der Sträucher und Bäume! Nach einer Schrecksekunde konnte ich aufatmen: Es war Stefano.

Er bemerkte mich offenbar nicht; nach unten blickend säuberte er mit einem Rechen den Boden von herabgefallenen Kiefernzweigen und Blättern. Die grüne Gärtnerschürze, die er trug, wirkte sehr ungewohnt, ebenso seine Arbeitshandschuhe und das grobe Schuhwerk. Am Wegrand war eine Schubkarre mit weiteren Gartenwerkzeugen abgestellt.

Nun schaute er auf. „Buonasera!“, grüßte er in seiner typischen Art und lehnte sich auf den Stiel seines Rechens. „Einen Spaziergang im Grünen gemacht? Ausgezeichnete Idee!“ Falls mein plötzliches Auftauchen ihn überrascht hatte, ließ er es sich nicht anmerken. „Aber musstest du dich gleich durchs Dickicht schlagen? Der Park hat doch Wege. Und manche sind sogar noch benutzbar.“ Kopfschüttelnd, fast tadelnd betrachtete er mein schmutziges T-Shirt und die Kratzer an den Armen.

„Und was treibst du hier?“, fragte ich, verblüfft über sein unerwartetes Auftauchen und den seltsamen Aufzug. „Bist du unter anderem auch Parkgärtner?“

Er lachte. „Kann man so sagen. Wobei ich nur den Eingangsbereich in Ordnung halte, hier kommen noch am ehesten Leute her. Für einen einzelnen Gärtner ist das Areal ein bisschen zu groß, wie du vermutlich selbst festgestellt hast.“

„Weshalb wächst auf dieser Höhe überhaupt noch so viel?“, fragte ich. Wenn er wirklich der Gärtner war, kannte er vielleicht den Grund.

„Die Bäume, die du hier überall siehst, sind Kanaren-Kiefern. Die Feuchtigkeit aus Wolken und Nebel kondensiert an ihren langen Nadeln und tropft zu Boden – wie Regen. Also gedeihen die Dinger selbst auf dieser Höhe noch prächtig.“

Das leuchtete mir ein; allerdings fragte ich mich, wie in dieser knochentrockenen Bergluft wohl Nebel oder Wolken entstehen sollten. Vielleicht in der Nacht?

„Arsène de Montardit hat den Park angelegt, vor fast 400 Jahren“, fuhr Stefano fort. „Anfangs hat man ihn wohl für verrückt erklärt, aber der Spott legte sich schnell, nachdem hier alles zu grünen und zu blühen anfing wie im Garten Eden. Einstmals hat sich eine ganze Heerschar Gärtner um den Park gekümmert, aber diese Zeiten sind lange passé…“

„Und was ist das für eine Kapelle da hinten im Wald?“

„Die Familiengruft. Alle Montardits werden dort bestattet – jedenfalls seit es den Park gibt.“

„Alle?“, hakte ich nach und dachte an den verfallenen Zustand des Gemäuers.

„Ja, alle“, antwortete Stefano. Er runzelte die Stirn; leichtes Misstrauen tauchte in seiner Miene auf. „Weshalb fragst du?“

„Die Kapelle macht nicht den Eindruck, als würde sie noch benutzt“, antwortete ich so beiläufig wie möglich. Kurz war ich versucht, die Nische anzusprechen, in der ich Särge zu sehen geglaubt hatte. Aber etwas in mir fand es klüger, den Mund zu halten.

Stefano trat nahe an mich heran, seine Miene war plötzlich ernst. „Hast du jemals von den Katharern gehört?“, raunte er.

Verwundert nickte ich. „Jérôme erzählte davon. Sie haben offenbar Chateau de Montardit aufgebaut, nachdem sie aus Südfrankreich…“

„Das ist die offizielle Geschichte des Schlosses“, fuhr er mir barsch ins Wort. Er wirkte plötzlich nervös und angespannt – so kannte ich ihn gar nicht!

„Aber daneben gibt es noch eine zweite, weniger geläufige. “ Er schaute mich bedeutungsvoll an, wie um seinen Worten zusätzliche Dramatik zu verleihen. Schließlich sprach er weiter: „Innerhalb des Katharer-Ordens existierte ein geheimer, innerer Zirkel. Er nannte sich 'Ordo Puritas', Orden der Reinheit. Ebendieser war es, der von Montségur flüchtete, um hier Chateau de Montardit zu errichten.“

„Und worin unterschied sich dieser Geheimbund von den offiziellen Katharern?“ Eigentlich hatte ich gerade andere Dinge im Kopf und wenig Lust, mir Verschwörungstheorien anzuhören. Aber es tat gut, mit jemandem zu sprechen. Außerdem schien Stefano auf einmal so verändert; das weckte meine Neugier.

Er zögerte mit seiner Antwort, musterte mich wie einen Fremden. Versuchte er abzuschätzen, ob ich vertrauenswürdig war, wie viel er mir erzählen durfte?

„Soweit ich es verstanden habe, sehen sie sich als Hüter des Alten, Überlieferten. Die geistige, gute Welt, glauben sie, wartet nicht erst im Himmelreich, sondern ist bereits im irdischen Leben möglich. Montségur war eine solche Welt gewesen, und Chateau de Montardit sollte wieder eine werden. Sie sollte ein Schutz sein gegen die Große Leere, die sich draußen immer weiter ausbreitet. Die Menschen, so sieht es der Ordo Puritas, verlieren allmählich den Kontakt zu sich selbst, zu ihrem inneren Wesen. 'Gottverlassenheit' wird es bei ihnen genannt, manchmal fällt auch der Begriff 'entseelt'.“

Seine Schilderung klang recht obskur und esoterisch, aber dass er sich überhaupt mit derartigen Themen befasste, überraschte mich. Ein völlig neuer Stefano zeigte sich da gerade…

„Und – hat der Orden es geschafft, eine solche Gegenwelt zu errichten?“

„Genau kann ich es nicht sagen“, flüsterte er. „Man kommt nur schwer an Informationen. Niemand will offen sprechen über das, was hier geschah und noch immer geschieht, weder die Menschen in den Dörfern noch die Schlossbewohner. Überall läuft man gegen eine Mauer des Schweigens. Aber ich habe mich in den Küstenorten und Feriengebieten umgehört, in Gegenden, die noch nicht unter dem Einfluss des Schlosses stehen. Und tatsächlich habe ich dort Leute getroffen, die mir einiges berichten konnten. Bislang ist alles noch verschwommen, unvollständig, aber ich bin auf der richtigen Spur, das fühle ich. “

Plötzlich fasste er mich am Handgelenk. „Hör zu, irgendetwas Seltsames geschieht hier! Es ist, als würde alles immer weiter abdriften. Chateau de Montardit sei verzaubert, sagen die Leute, es verschwindet allmählich aus der normalen Welt. Wer den Bannkreis des Schlosses einmal betreten hat, heißt es, wird ihn niemals mehr verlassen…“

Seine Stimme war zuletzt so leise geworden, dass man ihn kaum noch verstand. Hatte er Panik, jemand könne uns belauschen? Litt er an Wahnvorstellungen, Paranoia? Nein, wie ein psychisch Gestörter wirkte er dann doch nicht. Es schien eher, als laste großer Druck auf ihm. Und schließlich – deckten seine Schilderungen sich nicht auffallend mit dem, was ich selbst beobachtet hatte, in Porto d'Arreccio, im Bergdorf und auch hier, auf Chateau de Montardit? Plötzlich wusste ich nicht mehr, was ich glauben sollte. Verwirrt schüttelte ich den Kopf, als könne ich dadurch meine Gedanken ordnen.

„Wenn dir irgendetwas Merkwürdiges auffällt“, flüsterte Stefano und schaute mich eindringlich an, „erzähl es mir, bitte! Alles kann mich weiterbringen.“

Das gerade Erlebte schoss mir wieder durch den Kopf, die Kapelle mit den Särgen, die Treppe hinab in die Krypta… sollte ich mich Stefano anvertrauen? Er hatte mir so viel erzählt, ohne zu wissen, welches Risiko er damit einging. War es nicht bloß fair, wenn ich mich jetzt umgekehrt ebenso offen zeigte?

Ich räusperte mich, wollte gerade beginnen, als man Schritte auf der Steinbrücke hörte. Blitzschnell drehte Stefano sich weg und harkte weiter; Sekundenbruchteile später tauchte im Durchgang der Schatten einer Gestalt auf – Vivienne!

„Dachte ich 's mir doch, dass du hier bist“, sagte sie, an Stefano gerichtet, der nun wieder ganz nach Parkgärtner aussah. „Manon braucht dringend Hilfe beim Vorbereiten des Diners. Allein schafft sie es nicht, wir haben momentan einfach zu viele Gäste.“ Stefano nickte stumm, warf den Rechen zu den anderen Arbeitsgeräten und zog mit der Schubkarre polternd von dannen.

Vivienne wollte ihm gerade folgen, als sie mich entdeckte: „Marc, was für eine Überraschung! So hast du also unseren Park kennengelernt. Gefällt er dir?“ Ihr heiterer Ton wirkte sehr aufgesetzt, sehr künstlich. Vermutlich war sie noch sauer wegen gestern Abend, der Szene im Kaminzimmer. Ich hatte eigentlich vorgehabt, das schnellstmöglich mit ihr zu klären, aber jetzt ließ ihr Sarkasmus neuen Unmut in mir aufwallen.

„Oh ja“, antwortete ich, ebenso gespielt. „Vor allem die Kapelle.“

„Tatsächlich? Das freut mich ganz besonders. Sie ist einer der interessantesten Orte hier. Allerdings finden die meisten Gäste sie, nun ja – bedrohlich.“ Sie schaute mich an und zwinkerte ein paarmal; die giftige Ironie war förmlich mit Händen greifen.

„Lass uns lieber zurückgehen“, sagte sie. „Die Sonne dürfte bald verschwunden sein, und im Dunkeln wird es hier recht ungemütlich.“



***



Nach dem Diner versammelten wir uns wieder im Kaminzimmer. Aber anders als sonst konnte ich die Zusammenkunft heute nicht genießen; zu intensiv wirkten die Eindrücke des Tages nach. Diese Kapelle – was mochte es damit auf sich haben? Und waren es vielleicht doch Särge gewesen, die ich hinter dem Gitter gesehen hatte?

Ich stürzte das nächste Glas Rotwein hinab und war froh, als sich langsam eine beruhigende Wirkung einstellte. Am Gespräch der anderen nahm ich heute nur sporadisch teil; immer wieder ertappte ich mich dabei, dass ich mit den Gedanken abschweifte und den Blick ziellos durch den Raum wandern ließ.

Stefano gab den gewohnten Conferencier und Alleinunterhalter, von seiner Verwandlung im Park war ihm nichts mehr anmerken. Heute schien er auffallend um Lucienne bemüht. Er besprach sich lange mit ihr, es wirkte, als würden die beiden irgendetwas aushecken. Und merkwürdig: Ich wurde partout den Eindruck nicht los, als redeten sie über mich. Oder waren bloß meine Nerven überreizt?

Was er vorhin im Schlosspark erzählt hatte, beschäftigte mich noch immer. Zwar fand ich die Theorie vom allmählichen Verschwinden des Schlosses jetzt eher abstrus, aber da war noch immer dieser mysteriöse Orden. Dessen Ideen vom Absterben der menschlichen Seele, der Materialismus, die sich ausbreitende Leere – beschrieb das nicht exakt den Wahnwitz der heutigen Zeit, diese gigantische, kranke Party des Konsums bis zur Bewusstlosigkeit, die nie endete, sondern im Gegenteil immer weiter um sich griff? Zu gern hätte ich weiter über das Thema geredet. Wäre doch bloß Vivienne nicht aufgekreuzt und hätte uns unterbrochen! Aber gut möglich, dass Stefano noch gar nicht viel mehr zu dem Thema sagen konnte – er stand ja erst am Anfang seiner Recherchen.

Stattdessen nahm ich in einer ruhigen Minute Jérôme beiseite: „Während der Schlossführung hast du die Katharer erwähnt“, begann ich. „Kennst du eigentlich ihre Ideen, ihre Philosophie?“

„Was genau meinst du?“, fragte er und wirkte auf einmal ähnlich misstrauisch wie vorhin Stefano.

„Ich habe irgendwo gelesen, dass die Katharer, die sich hier ansiedelten, eine spezielle Vorstellung von der Religion ihrer Gemeinschaft hatten. Auch ein eigener Zirkel wurde erwähnt, ich glaube, er hieß 'Orden der Reinheit' oder so ähnlich. Viel verstanden habe ich von alldem nicht, ehrlich gesagt.“ Wieder war da diese innere Stimme, die mich zur Vorsicht gemahnte. Etwas Mysteriöses, Dunkles schien diesem Orden anzuhaften – irgendein Tabu, über das man nicht offen reden durfte.

Jérôme schaute sich prüfend in alle Richtungen um. Sein Blick blieb an Manon hängen, die gerade neuen Wein brachte. Er wartete, bis sie die Flaschen auf dem Tisch abgestellt und den Raum wieder verlassen hatte. Erst als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, sprach er mit gedämpfter Stimme weiter: „Du hast richtig gelesen: Der Orden der Reinheit, der 'Ordo Puritas', war ein geheimer Kreis innerhalb der katharischen Glaubensgemeinschaft. Dass die irdische Welt so ein Jammertal ist, hat nach seiner Auffassung weniger mit göttlichen Vorsehungen und Prinzipien zu tun als eher mit den Menschen. Diese wollten einst ihren Urängsten nicht länger ausgeliefert sein, ihrem tiefen Unbehagen vor dem Dunklen, Unbekannten. Aus diesem Grund haben sie die Welt peu à peu aufs Materielle reduziert, aufs Rationale, Erklärbare, und sie damit entmystifiziert. Dieses Ignorieren alles Geistigen und Ideellen, so der Orden, würdigt jedoch unser Dasein zu etwas rein Funktionalem herab, macht es letztendlich zum Ding, zur bloßen Ware. Alles bekommt seinen Preis, inklusive der Menschen sowie der Beziehungen zwischen ihnen. Mentale Fertigkeiten dagegen verkümmern zusehends, verloren geht die Gabe, sich selbst als Ganzes wahrzunehmen, als Einheit aus Seele, Geist und Körper. Von 'Gottverlassenheit' spricht der Orden, heutzutage würde man es wohl eher den Verlust der Spiritualität nennen. Jedenfalls schaffen wir es nicht mehr, unserem eigenen Leben und dem Sein als Ganzem etwas wie Sinn zu verleihen. Alles dreht sich nur noch ums Funktionieren und Optimieren; Aspekte jenseits reiner Nützlichkeitserwägungen zählen allesamt nicht mehr.“

Gebannt lauschte ich seinen Worten. Was er da schilderte, kam mir äußerst vertraut vor. Genauso hatte ich es selbst immer erlebt, seit meiner Kindheit…

„Ein Gefühl der Leere breitet sich aus“, fuhr Jérôme fort, „das man mit Gütern zu bekämpfen versucht. Aber das Vakuum vergrößert sich dadurch bloß, und man braucht noch mehr Dinge, um es zu füllen – es ist ein Teufelskreis. Über all das zwanghafte Konsumieren und Verbrauchen verlieren die Menschen nach und nach ihren inneren Kompass, sie werden immer haltloser. Schließlich hat sich jede Individualität in ihnen abgebaut, jegliche eigenständige Persönlichkeit. Sie sind zu Zombies geworden, zu Zwischenwesen, noch nicht tot, aber auch nicht mehr wirklich lebendig. Andere, im Hintergrund wirkende Kräfte haben komplett die Steuerung übernommen. Sie lenken das unstillbare Konsum- und Zerstreuungsbedürfnis dieser menschlichen Marionetten in eben jene Bahnen, die ihnen selbst nützlich sind. Darüber zersetzen sich dann die letzten Reste dessen, was wir heute noch unter Gesellschaft und Gemeinsinn verstehen, übrig bleibt eine Ansammlung von Individuen, die unverbunden nebeneinanderher existieren. Außerdem vernichtet die Produktion all der Güter allmählich unsere physischen Lebensgrundlagen.“

Es fiel mir schwer, ruhig zu bleiben, die Fassung zu bewahren: Offenbar spiegelte die Philosophie dieses Ordens genau das wider, was mit der Menschheit gerade passierte. Aber aus welchem Grund waren diese Ideen so wenig bekannt? Verhinderte jemand oder etwas, dass sie sich verbreiten konnten? Oder interessierte sich schlicht niemand mehr dafür? Waren wir längst zu eingeschränkt in unserer Wahrnehmung, zu sehr abgerichtet auf materielle, funktionale Dinge, um derartige Gedankengänge noch nachvollziehen, ihnen einen Wert beimessen zu können?

Ich war elektrisiert und zugleich völlig durcheinander. An den Gesprächen der anderen konnte ich jetzt endgültig nicht mehr teilnehmen. Schließlich gab ich es auf, verabschiedete mich und verließ kurzerhand das Kaminzimmer.



***



Wir waren mit dem Auto unterwegs zu einem der zahllosen Gebirgsseen in der Region. Der unsere sollte besonders abgelegen und einsam sein. Wobei ich mich fragte, welcher Flecken hier wohl nicht abgelegen und einsam war.

Sandrine und Stefano hatten die Idee zu diesem Ausflug gehabt und alles organisiert. Insgesamt waren wir zu sechst: Manon und Lucienne saßen hinten, Jerome und ich teilten uns die mittlere Bank. Sandrine lenkte das Auto, einen Geländewagen, wie der von Vivienne. Neben ihr gab Stefano einen armseligen Beifahrer ab: Er behauptete, die Strecke von einem früheren Ausflug zu kennen, und erteilte Sandrine ständig Richtungsanweisungen, die diese konsequent ignorierte. Zum Glück, sonst wären wir vermutlich nie angekommen.

Vor der Abfahrt hatten wir im Schlosshof Vivienne verabschiedet, die nach Athen reiste. „Ein Kongress, sehr langweilig“, erklärte sie. „Lange Reden in fensterlosen, klimatisierten Sälen, Banketts, Bella Figura. Aber es hilft nichts.“ Sie wandte sich in meine Richtung: „Ich hoffe, du wirst dich während meiner Abwesenheit nicht langweilen, Marc.“ Sie zwinkerte mehrmals, ähnlich wie am Vorabend im Schlosspark. Eine merkwürdige Kälte schien plötzlich heranzukriechen. Ganz langsam kletterte sie mir an den Beinen hoch, erreichte den Rumpf, setzte sich schließlich in meinen Eingeweiden fest… „Amüsier dich“, sagte Vivienne, drehte sich um und stieg in ihren Landrover. Meine Erstarrung legte sich erst, als der Wagen rumpelnd durchs Schlosstor verschwand. Mindestens eine Woche würde sie wegbleiben, und offen gestanden war ich darüber nicht besonders traurig – im Gegenteil.

Nach anderthalbstündiger, kurviger Fahrt durch die Berge erreichten wir schließlich unser Ziel: ein Hochtal, in dessen Mitte eine weite, glatte Wasserfläche leuchtete. Der Schotterweg, über den wir nun rumpelten, führte direkt zum Ufer hinab. Beim Aussteigen sog ich fast ritualistisch die würzige Bergluft ein – und musste einen Moment über mich selbst schmunzeln.

Wieder beeindruckte die Erhabenheit der Landschaft, ihre Weite und Leere. Über uns leuchtete die Himmelskuppel in gewohnter blauer Makellosigkeit. Kein einziger Kondensstreifen zerteilte sie; es war, als existierten keine Flugzeuge mehr – oder als hätte man sie noch nicht erfunden. Das Innere dieser Insel musste ein unbewohntes Stück Erde sein, von den Menschen übersehen, im Zeitfluss verloren gegangen. 'Alles hier driftet immer weiter ab, verschwindet allmählich aus der normalen Welt…', hörte ich erneut Stefanos Worte. Aber heute klangen sie anders als am Vortag. Aus der normalen Welt verschwinden – war das wirklich so schlimm? War es nicht eher ein großes Glück, zumal wenn man sich an einem Platz wie diesem befand?

Wir bereiteten am Seeufer mit Decken ein Lager, spannten den Sonnenschirm auf. Manon drapierte Speisen auf einem Klapptisch; an denen wir uns bei Bedarf gütlich taten. Irgendwann badeten wir. Ich war nie ein großer Schwimmer gewesen, trotzdem gelang es mir, im Gefolge von Stefano und Lucienne den kompletten See zu überqueren. Ziemlich stolz auf meine Leistung entstieg ich den Fluten – konnte allerdings kaum noch laufen, so wabbelig fühlten sich die Oberschenkel an.

Meine Hinfälligkeit nach Kräften verbergend folgte ich den beiden. Es ging ein Stück am Ufer entlang, dann über eine Granitfläche, die glatt wie Marmor war, geschliffen und poliert von den Elementen, dazu angenehm erwärmt. Auf einem Vorsprung, der in den See hineinragte, setzten wir uns und überließen es dem Sonnenschein, uns zu trocknen. Lucienne streckte mit einem Seufzer der Entspannung ihre langen Beine aus. Der schwarze Badeanzug betonte umso mehr ihren hellen, aristokratischen Teint. Ohne Scheu beobachtete ich sie, genoss ihre Nähe, sah mit Freude den Ausdruck von Zufriedenheit in ihrer Miene.

Endlich wurde mir bewusst, dass dies genau die Situation war, die ich immer hatte vermeiden wollen: Lucienne zu nahe kommen, möglicherweise mit ihr ins Plaudern geraten, sich zu irgendwelchen Dummheiten hinreißen lassen – und schließlich auffliegen. Aber alles fühlte sich so gut an, so ungezwungen und selbstverständlich – daran konnte einfach nichts Falsches sein. Sämtliche Fremdheit und Distanz zwischen ihr und mir wegen der Altersdifferenz schien aufgehoben, wie ausradiert. Mehr noch: Mittlerweile hatte ich oft den Eindruck, als wäre – kaum wagte ich, diesen Gedanken innerlich zu formulieren – mein Interesse kein einseitiges mehr. Luciennes auffordernder, ermunternder Blick neulich im Kaminzimmer – war er nicht ein erstes Signal gewesen? Und was hatte die gestrige Absprache zwischen ihr und Stefano bedeutet? War da etwas arrangiert worden? Etwas, das mit der jetzigen Situation zu tun hatte? Suchte sie den Kontakt, das Gespräch?

Etwas hatte sich verschoben zwischen uns. Die alten Regeln, die ich mir selbst auferlegt hatte, aus Angst, in eine unwürdige, lächerliche Situation zu geraten, schienen nicht länger gültig. Im Gegenteil: Ich musste mich jetzt trauen, musste ins Risiko gehen – es konnte einfach nicht mein Schaden sein!

Irgendwann erhob Stefano sich leise, glitt ins Wasser und schwamm davon. Lucienne und ich waren allein.

Wer von uns machte den Anfang? Ich konnte mich später nicht mehr erinnern. Aber nachdem der Damm gebrochen war, sprachen wir über alles Mögliche – Familiäres, Berufliches, Nebensächliches. Wobei es auf Inhalte gar nicht so sehr ankam, viel wichtiger war das Reden an sich, der Austausch, das Verlieren der gegenseitigen Scheu, das Miteinander-Vertraut-Werden. Es schien zu funktionieren…

Sie war 25 und stammte aus Paris. Vor ihrer Zeit an der Sciences Po hatte sie Ökonomie studiert, an der Sorbonne, mit Schwerpunkt auf Wirtschaftsgeschichte. Als beste Absolventin ihres Fachbereichs war ihr eine Assistentenstelle an der Sciences Po angeboten worden, in Viviennes Arbeitsgruppe. Sie hatte sofort angenommen; nächstes Jahr wollte sie promovieren. Ich selbst beließ es bei der Erwähnung meines Studiums in Berlin. Die unwürdigen Elendsjahre, die dann folgten, verschwieg ich einfach – was zählten sie noch? Hier konnten mich die alten Erinnerungen eh nicht mehr erreichen.

Als wir schließlich zurückfuhren und die sinkende Sonne alles in ihr blutiges Rot tauchte, war ich einfach stumm vor Verzauberung. Fast empfand ich es als Erleichterung, Jérôme zum Platznachbarn zu haben, und nicht Lucienne. So konnten die glühenden Eruptionen in mir langsam zur Ruhe kommen.

An diesem Abend zogen wir uns nach dem Diner alle früh zurück.



***



Dafür war die Zusammenkunft am folgenden Abend umso lebhafter. Das Kaminzimmer lief über von Menschen, alles redete, lachte, trank, rauchte. Permanent musste Manon neue Weinflaschen bringen, damit wir nicht auf dem Trockenen saßen. Anfangs half ihr Stefano, später wurde er immer mehr Teil der feiernden Menge. Sogar Musik plärrte heute aus irgendeiner Ecke, vermutlich von einem der Studenten-Handys.

Faktisch war es eine Abschiedsparty. Jérôme und seine Leute wollten am nächsten Tag nach Venedig weiterreisen, um dort ein Rockkonzert zu besuchen. Aber von Abschied mochte heute niemand sprechen.

Ich fand mich im dichtesten Getümmel wieder. Jérôme war hier, ebenso Adam, der Buchexperte. Entspannt hockte er auf der Lehne eines Fauteuils und stopfte seine Pfeife, den Trubel ringsherum nahm er stoisch hin. Als Jérôme uns miteinander bekanntmachte und Adam meine Nationalität erfuhr, wechselte er sofort ins Deutsche, offenbar froh über jede Gelegenheit, seine Kenntnisse anzuwenden. Und tatsächlich konnte man sowohl Aussprache als auch Wortschatz äußerst passabel nennen. Trotzdem: Nach so langer Zeit plötzlich wieder die eigene Sprache zu benutzen fühlte sich sehr seltsam an. Als kehrte man von einer ausgedehnten Reise zurück und stellte überrascht fest, wie fremd einem die alte Heimat in der Zwischenzeit geworden war. Aber wir mussten eh bald wieder auf Englisch umschalten, weil die anderen natürlich kein einziges Wort unseres Smalltalks verstanden.

Bei Stefano und Sandrine hing offenbar der Haussegen schief. Den ganzen Abend schon zeigte er sich auffallend reserviert, sprach nur das Nötigste mit ihr, mied ihre Nähe, setzte sich weg, sobald sie zu ihm kam. Einmal schlich sie sich von hinten an und legte ihre Hände rechts und links auf seine Schultern. Schlagartig versteinerte sich seine Miene; er sprang hoch und verließ sichtlich aufgebracht das Kaminzimmer. Woraufhin Sandrine ebenfalls wutschnaubend von dannen zog.

Als Stefano wenig später wieder eintrat, nahm er Lucienne bei der Hand und zog sie hinter sich her, quer durch den Raum. Bei Jérôme und mir angelangt, drückte er sie wortlos in den freien Sessel neben uns und verschwand wieder. Sie war offensichtlich schon etwas angeheitert: Ihre Wangen zeigten intensives Rot, ihr Englisch, sonst immer sehr akzentuiert, klang heute etwas fahrig.

Dafür arbeitete ihr Verstand in der gewohnten Klarheit und Schärfe, wie sich bald zeigte, als zwischen ihr und Jérôme eine lebhafte Debatte entbrannte. Es ging um die Colleges und Universitäten in den USA; Jérôme lobte beides in höchsten Tönen, pries die Offenheit der amerikanischen Hochschulen, die flachen Hierarchien, die gute Betreuung. „Sämtliche Teams sind gemischt, die Leute kommen aus aller Welt, Studenten und Dozenten. Immer wirst du persönlich angeleitet“, erzählte er begeistert. „Und schon als Student kannst du an Forschungsprojekten teilnehmen. Dort bist du nicht nur irgendeine Hilfskraft, sondern wirst ernst genommen, in Meetings, Diskussionen – überall. Es ist einfach super!“

Mit Schaudern dachte ich bei diesen Worten an meine eigenen Uni-Erfahrungen zurück, an die Menschenmassen in den Hörsälen, die sich über Sitzplätze, Fensterbänke, Treppen ergossen hatten, die überfüllten Seminare, das Warten auf den Fluren während der Dozenten-Sprechstunden, all das Starre, Hierarchische, Behördenhafte. Dagegen klangen Jérômes Schilderungen geradezu traumhaft.

„Aber was ist mit den horrenden Studiengebühren?“, wandte Lucienne ein. Würde dadurch nicht eine rigide soziale Selektion betrieben? Wo blieben die Armen, die Leute aus den Ghettos, die Schwarzen? „Diese Gruppen fallen doch durch jedes Raster in deinem vermeintlich tollen System“, argumentiere sie. In diesem Augenblick war sie mir sympathischer denn je. Sie, die selbst so aristokratisch wirkte und ihrerseits eine Elite-Uni besuchte, der in den USA wohl alle Türen offengestanden hätten, ausgerechnet sie setzte sich für die Unterprivilegierten dieser Welt ein.

Es wurde ein wunderschöner Abend. Ich fühlte mich unglaublich frei und leicht, was mit Sicherheit nicht nur am Wein lag. Ich mochte die Leute, in deren Mitte ich saß, ihre Offenheit, die Art, wie sie mich als einen der ihren akzeptierten, trotz meines fortgeschrittenen Alters – das alles war ungeheuer belebend und inspirierend. Auf einmal spürte ich ein inneres Vertrauen, das ich nicht kannte, von dem ich nie gedacht hätte, dass ich es überhaupt besaß. Meine Äußerungen und Redebeiträge waren schlagfertig, treffend, witzig – manchmal konnte ich es selbst kaum fassen. Und obwohl ich mir den Wein durchaus schmecken ließ, wurde meine Zunge nicht schwer, blieben der Schwips und die übliche Benebelung durch den Alkohol aus.

Adam, Stefano und Jérôme sprachen über die zurückliegende Schlossführung. Bald kam Donna dazu, die Studentin mit dem klingelnden Handy. Sie zeigte den dreien Fotos, die sie während des Rundgangs geknipst hatte.

„Ihr habt ja bloß die Touristennummer gemacht“, schimpfte Stefano. Gemeinsam mit den anderen beugte er sich über den Handy-Display und betrachtete die Bilder.

„Ich dachte, sonst bricht schnell Langeweile aus“, verteidigte Jérôme sich.

„ Langeweile – in diesen Mauern?“ Stefano schüttelte den Kopf und fixierte Jérôme, als bezweifele er dessen Zurechnungsfähigkeit. „Was haltet ihr von einem Spaziergang zu den richtig interessanten Orten hier im Schloss?“, fragte er in die Runde.

„Jetzt?“, fragte Jérôme entgeistert.

„Wann sonst? Es ist die perfekte Gelegenheit. Du kannst deinen Gästen unmöglich Chateau de Montardit bei Nacht vorenthalten, Jérôme!“

Durchs finstere Schloss laufen – eine solche Idee konnte bloß von Stefano kommen! Mir genügte schon der Weg von der Halle zu meinem Zimmer…

„Ich habe gehört, hier gibt es eine Sammlung mit frühen Buchdrucken, mittelalterlichen Autographen und so“, bemerkte Adam.

Lucienne schaltete sich ein: „Die Bibliothek von Chateau de Montardit ist berühmt für ihren Bestand alter Schriften.“

Sie saß im rechten Winkel zu mir, auf jenem Fauteuil, den Stefano ihr angewiesen hatte. Plötzlich spürte ich, wie ihr Knie scheinbar zufällig meinen Oberschenkel berührte. Ich wagte nicht mehr, mich zu bewegen, aus Angst, sie würde die Situation bemerken und sich zurückziehen.

„Warst du schon dort, Marc?“, fragte sie. Zum ersten Mal sagte sie meinen Namen, in französischer Aussprache, mit dem typischen, betonten 'r' – es klang hinreißend. Mir blieb glatt die Stimme weg, ich konnte nur stumm den Kopf schütteln.

„Dann musst du sie sehen“, sagte sie lächelnd, und der Druck ihres Knies schien sich noch zu intensivieren…



***



Jérôme führte unseren Zug an, ein Stück hinter ihm erkannte man Adam im flackernden Kerzenlicht. Permanent schaute er sich in alle Richtungen um, mit einer zwischen Staunen und Ungläubigkeit schwankenden Miene, die manchmal in leise Furcht umzuschlagen schien. Lucienne dagegen wirkte ganz ruhig: Schweigend und ernst, fast würdevoll, schritt sie neben mir dahin. Manchmal blickte sie herüber, als wollte sie sichergehen, dass ich noch da war, der Mut mich nicht verlassen hatte.

Unterdessen huschte Stefano wie ein lautloser Schatten durch die Finsternis. Erst sahen wir ihn vor uns, Kerzen in ihren Lüstern entzündend, auf dass es Licht wurde. Im nächsten Moment erschien er hinter uns und ließ dort alles wieder ins Dunkel fallen. Betraten wir eine Räumlichkeit, war sie bereits vollständig erleuchtet. Verließen wir sie, erloschen deren Lichter, während uns auf dem Flur warmer Kerzenschein empfing. Die Finsternis wich zurück, sobald wir uns näherten, und übernahm erneut die Herrschaft, wenn wir weiterzogen.

Wie vermochte Stefano so rasch hin- und herzuwechseln, dass es aussah, als wäre er an mehreren Punkten gleichzeitig? Er schien wie ein Zauberer und Illusionist, wie ein Tänzer, der über tiefem Abgrund auf seinem Seil balancierte. Wie lange musste man auf Chateau de Montardit leben, um so vertraut zu werden mit all seinen verschlungenen Wegen? War Stefano nicht längst Teil dieses Ortes? Würde er jemals wieder von hier fortkommen, zurückgehen können in die andere, normale Welt – wo immer die sein mochte?

Bestimmte Stellen, an denen wir vorüberkamen, meinte ich von eigenen Erkundungstouren her zu kennen. Dann wieder erschien mir alles vollkommen fremd. Schließlich musste ich einsehen, dass ich keinen Schimmer hatte, wo wir uns befanden. Wie auch? Laut Stefano lag die Bibliothek irgendwo im tiefsten Innern von Chateau de Montardit, das ich stets gemieden hatte.

Die Ausdehnungen waren schlicht atemberaubend, die Zahl der Gemächer musste in die Hunderte gehen. Vivienne hatte erzählt, es gäbe im Schloss Zimmer, die kein Bewohner je betreten hätte, vom Dienstpersonal abgesehen. Offensichtlich hatte sie nicht übertrieben. Und die Menge an Kunstgegenständen und Antiquitäten hätten jedem Nationalmuseum zur Ehre gereicht. Wir bestaunten alte, wertvolle Möbel, mit kunstvollen Schnitzereien verzierte Tische und Stühle, edle Teppiche. Glänzende Kristallspiegel und prachtvolle Tapisserien schmückten die Wände. Schwere Kassettendecken wechselten sich ab mit stuckverzierten, hohen Kuppeln. Manche Räume waren behaglich eingerichtet und ähnelten dem Kaminzimmer. Andere dienten eindeutig der Repräsentation; hier breiteten sich Parkettböden wie dunkle, spiegelglatte Wasser. Ein Saal war derart weitläufig, dass selbst der flinke Stefano es nicht schaffte, alle Kerzen vor unserem Eintreten zu entzünden. Ein langgezogener Esstisch, ähnlich demjenigen in unserem Speisezimmer, verlor sich im Dunkel des hinteren Bereichs.

Und weiter ging die Reise in die Tiefen von Chateau de Montardit, immer seltsamer und vergessener muteten die Orte an, die wir passierten. Ich hatte mittlerweile das Gefühl, zu schweben, wie damals auf dem Plateau. Ein zaubrischer Luftstrom hatte mich emporgehoben und trug mich über Korridore, Treppen und Galerien. Heute Nacht kam eine seitliche Drift hinzu, ein unwiderstehlicher Magnetismus, der mich zu Lucienne zog…

Ich hätte später nicht mehr sagen können, ob wir durch eine Tür eintraten oder der Korridor sich einfach weitete zu jenem monumentalen Gewölbe, in das wir schließlich kamen. Ringsum erhoben sich Bücherregale wie die Wände einer Schlucht, wie gigantische Steilklippen. An ihnen entlang liefen hölzerne Galerien auf verschiedenen Ebenen, verbunden durch ein kompliziertes System aus Brücken, Leitern und Stiegen. In regelmäßigen Abständen schraubten sich zudem Wendeltreppen aufwärts bis unter die Kuppel. Diese war so weit entfernt, dass unser Kerzenlicht kaum bis zu ihr drang; man erkannte von hier bloß eine diffus-graue Fläche, über die manchmal dunkle Schatten huschten.

Adam geriet in regelrechtes Verzücken. Völlig aufgekratzt begann er zwischen den Regalen herumzuwieseln; seine Rufe der Begeisterung ertönten aus den unterschiedlichsten Richtungen. Ich selbst brauchte einige Minuten, bis der überwältigende Eindruck sich gelegt und ich meine Fassung wiedergefunden hatte. Dann lief ich einfach herum.

Eine Kathedrale des Geistes umgab mich. Jeder Zoll an den Wänden war mit Büchern bedeckt, dazu standen auf dem Hauptkorridor Globen der mannigfaltigsten Epochen bereit. Wuchtige Schränke enthielten alte Landkarten und Stadtpläne, gläserne Vitrinen zeigten Kupferstiche von Städten, Schlössern, Burganlagen, Festungen. Diverse Querungen führten in weitere Nischen, Abseiten, Gelasse; auch diese stets bis obenhin mit Bänden gefüllt. Dazu gab es überall Sitzecken mit gepolsterten Bänken und kleinen Lesetischchen. Ich studierte die Titel der Buchrücken, drehte an Globen, betrachtete historische Stadtansichten in ihren altmodischen Vitrinen aus Bleiglas. Das Balancieren über die schmalen, wackeligen Holzgalerien machte mich schwindeln; es war ähnlich wie draußen auf den Wehrgängen, wenn sich angesichts der tiefen Schlucht und der dahinterliegen, endlosen Berglandschaft die Empfindung einstellte, man würde losgelöst durch den Äther schweben. Und bei jedem Blick übers fragile Geländer erschauerte ich angenehm ob der steilen, bizarren Perspektive.

Als ich das nächste Mal in die Tiefe spähte, entdeckte ich unten Lucienne. Sie saß in einer der Leseecken und ließ offenbar alles auf sich wirken. Nun schaute sie hoch, sah mir in die Augen, lange und intensiv, mit einem Ausdruck, der eigentlich keine Fragen mehr offen ließ… und in mir explodierte etwas wie ein Feuerwerk. Plötzlich war ich regelrecht berauscht, mir schien, als gäbe es endgültig keinen Zweifel mehr: Auch sie empfand etwas, meine Gefühle waren nicht bloß einseitig!

Aber nein, es konnte nicht sein, die junge, schöne Lucienne und ich – das war schlichtweg unmöglich! Äußerst verwirrt setzte ich meinen Rundgang über die Galerien fort und glaubte bereits wieder, mich getäuscht zu haben. Dann hörte ich, wie jemand meinen Namen rief.

„Komm doch mal her, Marc! Wo immer du dich gerade herumtreibst.“ Es war Stefano.

Ich nahm die nächstliegende Wendeltreppe. Beim Hinabgehen zitterten ihre Stufen – oder waren es meine Knie? Unten musste ich eine Weile suchen, ehe ich Stefano fand. Er und Lucienne standen an einem Lesepult und betrachteten einen Band, der offenbar dort ausgebreitet war. Stefano winkte mir und zog sich ins Dunkel zwischen den Regalen zurück.

„Das hier interessiert dich sicher“, sagte Lucienne leise. Wieder dieser warme, intensive Blick, dieses Paar sehr großer, sehr dunkler Augen, die mich neugierig taxierten…

Sie wies auf das Pult neben sich, wo ein Foliant unter Glas präsentiert wurde. „Das Evangeliar von Montségur. Eigentlich gilt es als verschollen, aber das stimmt nicht. Es konnte rechtzeitig aus der Burg gerettet werden. Hier ist es.“

Die aufgeschlagenen Pergamentseiten zeigten Bildnisse im mittelalterlichen Stil. Biblische Gestalten waren auf ihnen zu sehen und vermutlich irgendwelche Größen der Katharer. Die Farbenpracht war so immens, dass ich es im ersten Moment nicht glauben konnte. Die Muster, die die Motive umrahmten, schienen in ihrer Plastizität fast dreidimensional. Selbst bei längerem Hinschauen blieb dieser Effekt – es war schlicht unfassbar. Ich hätte am liebsten geblättert und mir noch weitere Seiten angeschaut, aber die Glasvitrine des Pultes ließ sich nicht öffnen. Und selbst wenn – natürlich hätte ich ein solches Buch niemals angerührt.

Wir gingen in eine nahe Sitznische. Auf dem Lesetischchen standen eine Flasche Rotwein und zwei Gläser bereit, die ein guter Geist dort hingezaubert hatte. „Sagtest du nicht, dass du aus Norddeutschland bist?“, fragte Lucienne, während ich Wein in die Gläser schenkte. „Kennst Du das Kloster Helmarshausen? Das Evangeliar ist dort entstanden.“ Den Ortsnamen sprach sie mit deutlich hörbarem französischen Akzent aus, unterdrückte die H 's und betonte das R. Wieder war ich schlicht hingerissen.

Aber welch ein Zufall! Tatsächlich kannte ich dieses Kloster, war in der Zeit meiner Wanderungen und Ausflüge immer wieder mit dem Auto hingefahren. Aufgewühlt erzählte ich von diesen Besuchen, versuchte die tiefe, unergründliche Faszination zu schildern, die das alte Gemäuer damals auf mich ausgeübt hatte. „Aber meine Heimatstadt hat damit nicht viel zu tun“, erklärte ich. „Sie existiert bloß wegen des Stahlwerks, ist eine reine Kunststadt, keine hundert Jahre alt.“

„Kunststadt, Stahlstadt…“, sinnierte Lucienne. „Schau.“ Sie streckte den Arm aus: Ein schmaler Metallreif umschloss ihr Handgelenk, eine filigrane Schmiedearbeit. Sehr feine Wellenlinien waren darauf zu erkennen.

„Das hat mir mein älterer Bruder zum zwölften Geburtstag geschenkt“, flüsterte sie. „'Für meine kleine Venus', hat er gesagt. Er war sehr geschickt, wollte später Goldschmied werden. Meine Eltern waren natürlich dagegen. Er sollte studieren, an der Sciences Po oder ENA, aber er hatte immer einen ziemlich eigenen Kopf. Er war so etwas wie das Schwarze Schaf der Familie.“

Mit klopfendem Herzen betrachtete ich das silbrige, an den Rändern angelaufene Metall. Die Wellen waren so plastisch, so exakt gearbeitet, dass man die Schaumkronen auf den Kämmen erkannte. Venus – die Schaumgeborene…

„Was ist mit deinem Bruder geschehen?“, fragte ich.

„Er ist gestorben.“ Sie schluckte, man spürte, dass die Erinnerung sie aufwühlte. „Ich trage den Armreif nur noch selten, aber heute hatte ich Lust. Irgendwie passte es.“

Mit den Fingerspitzen strich ich über den metallenen Reif und die feinen, eingravierten Linien. Ganz kurz berührte ich dabei Luciennes Arm. Ich konnte ihre Wärme spüren, ihren Duft wahrnehmen…

„Schön, nicht?“, fragte sie und zog ihren Arm langsam wieder weg. Ich nickte nur sprachlos.

Ich bat sie, mehr von Paris zu erzählen. War es dort teuer? Lebte sie in einer Mietwohnung? Sie bejahte letzteres. Und tatsächlich war Paris so teuer, wie es immer hieß, außer in den Randbezirken, den Banlieues, von wo sie anderthalb bis zwei Stunden zur Sciences Po gebraucht hätte. Endlich sprach ich das Thema an, das wir beide bisher tunlichst gemieden hatten: „Wohnst du eigentlich allein?“

Kurzes Schweigen, dann schüttelte sie den Kopf. „Ich lebe mit Alain zusammen, meinem Verlobten.“

Natürlich… was hatte ich erwartet bei einer so attraktiven und erfolgreichen Frau wie Lucienne? Alles andere wäre mehr als ungewöhnlich gewesen. Tapfer schluckte ich das Gefühl der Enttäuschung hinunter. Dann hakte ich vorsichtig nach: „Und wie lange seit ihr zusammen?“

„Zwei Jahre“, antwortete sie. Liebe sei es eigentlich nie gewesen, eher eine Art Bruderschaft im Geiste. „Wir hatten sehr ähnliche Vorstellungen von Leben und Selbstverwirklichung, waren zudem beide skeptisch, was das Thema 'Große Liebe' angeht. Aber seit einiger Zeit funktioniert unser Modell nicht mehr. Die Differenzen häufen sich, irgendetwas fehlt. Mittlerweile.…“ Sie stockte. „Mittlerweile denke ich ernsthaft über eine Trennung nach.“

Ich schwieg, wollte in diesem Moment nichts Falsches sagen.

„Ich könnte mir inzwischen sogar vorstellen“, legte Lucienne nach, „untreu zu werden. Es käme auf die Person an…“ Ihre Augen öffneten sich noch weiter; etwas glomm mir aus ihnen entgegen.

Der Zeitfluss schien innezuhalten und auf mich zu warten, darauf, dass ich begriff, dass ich endlich glaubte, was hier geschah: Der Weg war frei. Alles, wovon ich in den letzten Wochen geträumt, was ich mir in den wundervollsten Farben ausgemalt hatte, konnte ich haben. Es war geradezu unwirklich.

Ich hätte jetzt aktiv werden, meine Hand nach ihr ausstrecken, sie berühren müssen. Aber etwas hielt mich ab, eine Erinnerung, ein Déjà-vu. Auf einmal sah ich Sophia vor mir; es war die Szene auf der Treppe, an jenem verhängnisvollen letzten Schultag. Die dunklen Augen, die Sehnsucht darin, das Auffordernde… und plötzlich diese abrupte Veränderung, die vehemente Skepsis und Abwehr, schließlich das heimliche, verzweifelte Flehen: Tu 's nicht… würde bei Lucienne dasselbe passieren?

Dann war er vorüber, der magische Moment; ungenutzt verschwand er im Dunkel und würde nie mehr zurückkehren. Der Glanz in Luciennes Augen erlosch, verwirrt blickte sie um sich. „Es ist spät“, sagte sie mit belegter Stimme, „und wahrscheinlich habe ich auch zu viel getrunken. Wo mögen wohl die anderen sein?“

In diesem Moment ließ sich von der Seite ein Räuspern vernehmen – Jérôme war zwischen den Regalen aufgetaucht: „Ich störe nur ungern, aber wir wollen wieder los. Kommt ihr mit oder bleibt ihr noch?“

Lucienne schaute ihn verdattert an, dann begann sie zu lachen. „Damit wir hier dereinst als Schlossgespenster herumstreichen und arglose Besucher erschrecken? Lieber nicht.“



***



Im Bett tat ich kein Auge zu, trotz der langen Nacht, der anstrengenden Wanderung durchs Schloss. Immer wieder fragte ich mich, was eigentlich passiert war, weshalb ich im entscheidenden Moment versagt hatte. Dieser Blick von Lucienne, ihr unzweideutiges Angebot – und dann mein Zögern, meine Passivität…

Ein Gefühl von Bitterkeit brannte wie eine giftige Substanz in meiner Magengrube, eine innere Stimme überhäufte mich mit Vorwürfen und wollte nicht verstummen. Wie konnte man ernsthaft eine solche Gelegenheit verstreichen lassen? Welch ein kompletter Idiot war ich eigentlich, dass ich diese großartige, schier unglaubliche Chance nicht nutzte?

Aber was, wenn ich Lucienne tatsächlich in die Arme genommen und geküsst hätte? Wenn ich mit energischer, männlicher Geste alles beiseite gewischt hätte, worauf ihr Leben fußte? Sprich: wenn ich an die Stelle ihres Verlobten getreten wäre?

Dieser Alain stand vermutlich voll im Leben, machte Karriere, war erfolgreich. Und in Luciennes Kreisen kam es vor allem auf solche Dinge an, das wusste ich aus meiner Zeit mit Alexandra nur zu gut. Niemanden dort interessierte es, ob jemand nett war oder gar ein edler Mensch; entscheidend waren Kriterien wie Status, Vorzeigbarkeit, positiver Gesamteindruck. Allein die Verpackung zählte, die Oberfläche, nichts gar sonst.

Hätte ich in einer solchen Welt jemals ein adäquater Ersatz für Alain sein können? Wohl kaum. Lucienne wäre das rasch klar geworden – spätestens morgen früh, wenn die Euphorie des Moments verflogen war, wenn wieder Nüchternheit und Vernunft einkehrten. Sie hätte ihre Tat dann sicher bereut, sie als fatalen Fehltritt wahrgenommen, als reine Affekthandlung, und sich gewünscht, sie niemals begannen zu haben…

Aber so lange hätte es vermutlich gar nicht gedauert… Sophia, auf der Treppe – war es bei ihr nicht genauso gewesen? Welche Antwort hätte ich geben können auf ihre zu erwartende Frage, wie ich meine Zeit verbrachte, welche Hobbys ich hatte? Dass ich Gruselgeschichten las und Radtouren zu geheimnisvollen Plätzen machte? Nicht mal Fußball spielte ich noch. Und für so jemanden hätte sie ernsthaft dem großen Adrian den Laufpass geben sollen? Abgesehen davon war ich einfach nicht schlau genug für sie. All das hatte Sophia vermutlich im letzten Moment erkannt und die Notbremse gezogen. Und wenn ich jetzt darüber nachdachte, musste ich einsehen: Sie hatte recht getan. Die Dinge waren, wie sie waren. Es passte einfach nicht, Punkt.

Punkt und Schluss? War es wirklich so hoffnungslos? Konnten Lucienne und ich nicht doch auf irgendeiner Ebene zusammenfinden? Meine Gefühle für sie und damals für Sophia – waren das ernsthaft nur romantische Hirngespinste, die sich im Licht der Wirklichkeit rasch zerstäubten? Auch solche Empfindungen mussten doch ihren Sinn haben!



***



„Warum wollt ihr denn unbedingt auf dieses blöde Konzert?“, fragte Stefano missmutig.

„Wir haben bereits Tickets“, erklärte Jérôme zum wiederholten Mal. „Astronomische Summen mussten wir dafür hinlegen. Das Ganze jetzt sausen zu lassen wäre völlig idiotisch. Obwohl es wirklich schade ist – gerade wird es hier richtig nett.“

Es war früher Nachmittag, wir hatten uns im Schlosshof versammelt. Jérôme und seine Kommilitonen schickten sich an, Chateau de Montardit den Rücken zu kehren – alles Bitten und Flehen hatte nichts genützt. Ihr Gepäck war bereits auf den Ladeflächen und Dachgepäckträgern der beiden Jeeps verstaut. Worte des Abschieds fielen, es gab Umarmungen und Küsschen, dann wurde die Motoren angelassen. Sand knirschte unter den Reifen, als die kleine Kolonne sich in Bewegung setzte, aus allen Fenstern sah man winkende Hände. Schließlich verschwanden die Fahrzeuge durchs Schlosstor; zurück blieb nur eine weißliche Staubwolke, die der Wind rasch davontrug.

Nach und nach gingen die anderen ins Gebäude zurück. Ich stand noch lange dort und starrte auf das große Tor, als erwartete ich, dass die jungen Leute sich plötzlich umentschieden und gleich wieder eintrudelten. Weshalb nur wurde ich dieses Gefühl von Verlassenheit nicht los? Weshalb schien es mir, als wäre mit den Studenten auch das lockere, unkomplizierte Leben aus diesen Mauern ausgezogen? Vor ihrer Ankunft war es mir doch sehr gut ergangen auf Chateau de Montardit; nur zu gern hatte ich mich der Mystik dieses Ortes überlassen. Was war jetzt anders? Die Sonne schien hell wie immer, der Himmel war gewohnt klar und blau, der vertraute Bergwind strich mir mild über die Haut. Alles schien unverändert – und wirkte zugleich sonderbar still und verloren. So verloren, dass ich es fast nicht aushielt.

Mir war nach Verstecken zumute, nach Verschwinden. Ob ich eine meiner Expeditionen durchs Chateau starten sollte? Andererseits schreckte mich der Gedanke an labyrinthische, dämmrige Flure und verwaiste Räume. Kurzerhand schlug ich den Weg zur Terrasse ein.

Als ich von einem Laubengang aus erneut in den Schlosshof blickte, stieg Sandrine gerade in ihr Auto und fuhr davon. Jetzt parkte dort unten neben der Brunnenmauer nur noch der Wagen von Chloé und Justin. Stefano war ohne fahrbaren Untersatz hier, wie er mir berichtet hatte. Ebenso Lucienne. Und ich selbst.

Auf der Terrasse war niemand. Ich mixte mir am Getränkewagen einen Campari-Soda und ließ mich in einen der Liegestühle fallen. Normalerweise trank ich um diese Tageszeit noch keinen Alkohol, aber heute hatte ich das dringende Bedürfnis, mich zu beruhigen.

Und dann kehrten sie doch zurück, die Erinnerungen an letzte Nacht. Lucienne, unser Gespräch, diese phantastische Gelegenheit, die ich ungenutzt hatte verstreichen lassen – warum nur, warum? Das Gefühl von Bitterkeit kochte erneut hoch, wollte mich regelrecht erwürgen… aber ich spürte auch wieder dieses innere Aufbäumen. Gab es nicht doch irgendeine Möglichkeit? Stand wirklich alles unerschütterlich fest?

In diesem Moment betrat Stefano die Terrasse, steuerte eilig den Getränkewagen an und hantierte dort herum. Als er sich umdrehte, hielt er einen ebenfalls Campari-Soda in der Hand. Erst jetzt bemerkte er mich.

„Hier bist du also. Ich hab dich schon gesucht.“ Er sah mein Getränk auf dem Beistelltischchen. „Willkommen im Club“, grinste er und prostete mir zu.

Er kam herüber, ging neben mir in die Hocke: „Kennst du den Lichthof am Ende des Westflügels, im Obergeschoss?“

Erstaunt verneinte ich.

„Lucienne wird heute Abend um zehn Uhr dort sein.“

Erst jetzt sah ich seine bittende Miene, den Ernst in seinen Augen – und mich ergriff ein Gefühl tiefer Dankbarkeit und Rührung. Er hatte ein neues Treffen arrangiert! Er wollte, dass ich eine zweite Chance bekam…

„Wirst du hingehen?“, fragte er leise.



***



Beim heutigen Diner versammelte sich ein dürftiges Grüppchen von drei Leuten: Stefano, Sandrine und ich. Neben Vivienne fehlte auch Lucienne; sie ließ sich mit Kopfweh entschuldigen. Unversehends fand ich mich auf meiner Tischseite allein wieder – nachdem wir gestern noch zu fünft oder sechst hier gesessen hatten.

Zwischen Stefano und Sandrine gab es anscheinend noch immer Probleme: Mürrisch saßen sie über ihre Mahlzeiten gebeugt und ignorierten sich konsequent. Es gab Schöneres, als mit den beiden Streithähnen in einem Raum zu sein; die Spannung zwischen ihnen war fast körperlich spürbar. Hinzu kam meine eigene Aufregung ob des bevorstehenden Treffens mit Lucienne. Je länger ich dort saß, desto unangenehmer wurde die Situation.

Als das Essen endlich überstanden war, hielt mich nichts mehr im Speisezimmer. Zurück in der Halle überlegte ich, wie man die Zeit bis zur Verabredung herumbringen konnte, aber nur wirre Gedanken rasten mir durch den Kopf. Schließlich marschierte ich einfach los, in die Richtung, die Stefano mir beschrieben hatte.

Ich fand den vereinbarten Treffpunkt ohne Probleme, war aber natürlich viel zu früh. Zur Ablenkung lief ich ein bisschen herum, nahm alles genau in Augenschein. Was Stefano einen Lichthof genannt hatte, machte auf mich eher den Eindruck eines behaglich eingerichteten Zimmers oder Ruhewinkels. Sofas, Sessel und eine Chaiselongue gruppierten sich um ein Rauchtischchen aus Mahagoni. Wieder waren dort Rotwein und Gläser bereitgestellt, wie letzte Nacht in der Bibliothek. Im Hintergrund ragten Bücherregale auf, an der Seite stand ein Klavier, dessen Deckel verschlossen war. Überall sah man Palmen und andere exotische Pflanzen in großen, irdenen Töpfen. Das einzige, was an diesem Ort die Bezeichnung 'Lichthof' rechtfertigte, war ein großflächiges Glasdach, das sich über der Sitzgruppe wölbte, eingerahmt von einer Kassettendecke aus weißem Marmor. Durch die Scheiben erkannte man den nächtlichen Sternenhimmel.

Meine Nervosität wuchs noch weiter an. Ich ging zu den Bücherregalen, studierte die Titel der Bände, zog schließlich eine alte, englische Ausgabe von Poes „The Fall of the House of Usher“ hervor. heraus. Kein Fädchen Staub wirbelte hoch, als ich über den Buchrücken pustete. Die Dünndruckseiten waren vergilbt, aber sie rochen nicht muffig. Ich begann zu lesen und spürte sofort Ruhe einkehren. Immer tiefer versenkte ich mich in den Text, gesellte mich zum Erzähler, der gerade den Familienstammsitz der Ushers erblickt und der Aura von Untergang und Verfall gewahr wird…

„Stör ich?“, drang unvermittelt eine Stimme an mein Ohr. Lucienne stand unter dem Glasdach, lächelnd, in einer Strickjacke, als sei ihr kalt.

„Natürlich nicht“, antwortete ich rasch und klappte das Buch zu. Gerade wollte ich es wieder ins Regal schieben, da trat sie neben mich. „Lass sehen“, sagte sie und griff nach dem Band. „Poe… großartig.“ Wieder nahm ich ihren Duft wahr; warmes Kerzenlicht beschien ihre Wangen, die langen Wimpern, die glitzernden Silberohrringe. Nur den Armreif trug sie heute nicht, wie sich zeigte, als sie in ihrer typischen Art eine Haarsträhne hinters Ohr strich und dabei der Jackenärmel ein Stückchen hochrutschte.

Wir setzten uns, und während ich die Weingläser füllte, begannen wir zu plaudern, über Poe und andere phantastische Autoren. Von dort schweiften wir zu den Epikern des 19. Jahrhunderts, Hugo Zola, den Russen. Lucienne, die den Band von Poe in die Sitzecke mitgenommen hatte, liebte vor allem die englischsprachigen Literatur jener Zeit, Poe, George Eliot, Emily Brontës „Wuthering Heights“ und „Oliver Twist“ von Charles Dickens. „Wie oft ich dieses Buch gelesen habe, kann ich gar nicht mehr zählen“, meinte sie. „An der Sciences Po gebe ich ein Seminar über die sozialen Auswirkungen der Industriellen Revolution. Immer wieder zitiere ich zur Veranschaulichung aus dem Dickens-Roman.“

Das Reden über unpersönliche, platonische Themen war mir immer leicht gefallen. All die Untiefen und Schlüpfrigkeiten, die bei privaten Dingen lauerten, fielen hier weg; man hatte Sicherheit und Struktur, zumindest wenn man sich in der fraglichen Domäne auskannte. Leider blieb zugleich alles unpersönlich, formell, distanziert. Echte Nähe wollte nicht aufkommen, und wenn man noch so intensiv plauschte, sich noch so sehr gemeinsam in die Sujets vertiefte. Auch heute war es wieder so. Eine unsichtbare Wand schien mich von Lucienne zu trennen, dennoch schaffte ich es partout nicht, das Thema zu wechseln. Es war, als wollte etwas in mir verhindern, dass zu viel Vertrautheit zwischen uns entstand, zu viel Nähe.

Von irgendwoher ertönte nun ein hektisch pulsierendes Summen. Leicht irritiert holte Lucienne ein Handy aus ihrer Strickjacke hervor. „Sorry“, murmelte sie und schaute auf den Display. Erst schien sie das Gespräch wegdrücken zu wollen, aber dann nahm sie es doch an: „Kann ich dich zurückrufen?“, fragte sie auf französisch. Dann, nach einer kurzen Pause: „Weiß ich nicht. Irgendwann später, okay? Adieu.“ Unwirsch steckte sie das Gerät wieder weg.

Ich ahnte natürlich, wer das gewesen war. Mein Puls raste, auch der leichte Rausch vom Wein konnte ihn kaum bremsen. Lucienne fuhr fort, über ihr Seminar zu berichten, aber immer stärker wurde in mir das Gefühl, als säße sie nicht wirklich neben mir, sondern weit weg, an einem völlig anderen Ort, der sich vermutlich irgendwo in der Riesenstadt Paris befand…

Wieder begann das Summen, ungeduldig, fordernd. Ich hoffte, dass Lucienne es ignorieren würde, aber sie stand bereits auf. „Bin gleich zurück“, sagte sie und eilte davon, im Gehen das Telefon herauskramend. „Hallo? Alain? Ja, es passt. Aber ich habe nicht viel Zeit…“ Sie verschwand im nächstgelegenen Korridor.

Auf einmal saß ich allein dort und kam mir ziemlich belämmert vor. War mein Telefon denn das einzige, das in diesem Haus nicht funktionierte? Nach und nach erloschen ringsherum die Kerzen; Dunkelheit begann sich auszubreiten.

Endlich kam Lucienne zurück. „Pardon, es musste leider sein“, entschuldigte sie sich. Mühsam brachte ich ein verstehendes Lächeln zustande.

„Ich denke, ich werde jetzt schlafen gehen“, sagte sie. „Aber eines wollte ich gern noch loswerden: Es war schön, mit dir zu reden.“

Ich nickte. „Mir hat es auch sehr gefallen.“

„Also dann: Bonne nuit.“ Sie lächelte mir ein letztes Mal zu, drehte sich um und ging.

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich ebenfalls aufstehen konnte. Eine Art Schockstarre lähmte meine Glieder, die einfach nicht weichen wollte. Mittlerweile brannte noch eine einzige Kerze. Ich nahm sie aus dem Halter, äußerst behutsam, wie ein sehr fragiles Lebewesen.

Das Wandern durchs nächtliche, leere Schloss war unheimlicher denn je. Die Verstorbenen in ihren Porträts fixierten mich finster; ihr Gezischel und Geflüster, das mit mir über die Flure wanderte, klang jetzt geradezu hämisch. Und immer wieder kam von hinterrücks ein feucht-modriger Luftzug heran, heimtückisch und bösartig: Nur mit Mühe konnte ich verhindern, dass er mir das Kerzenflämmchen ausblies.

Dann wäre das letzte Licht endgültig erloschen; ich hätte in absoluter Finsternis meinen Weg finden müssen.



***



Als ich am nächsten Morgen zum Frühstücken ins Speisezimmer kam, saßen Stefano und Sandrine bereits dort. Ihre Gesichter zeigten denselben mürrischen Ausdruck wie am Vorabend. Es wirkte ein bisschen, als hätten sich die beiden seitdem nicht von ihren Plätzen fortbewegt.

Mein „Guten Morgen“ wurde nur von Sandrine knapp erwidert; Stefano blieb stumm und schaute ins Leere. Bedächtig schälte er eine Orange und schob sich die Stücke in den Mund. Manon kam mit dem üblichen Kännchen Kaffee und goss mir ein.

„Lucienne ist übrigens heute früh abgereist“, meinte Sandrine nach einer Weile. „Justin hat sie zum Flughafen gefahren. Sie wollte die Morgenmaschine nach Paris nehmen.“

Ich studierte ihr Gesicht in der schwachen Hoffnung, Anzeichen von Schalk darin zu finden, irgendetwas, das mir signalisierte: Alles bloß ein Scherz. Aber nichts ließ sich finden.

„Es gab wohl schon seit längerem Probleme mit ihrem Verlobten“, erklärte Sandrine. „Mittlerweile haben die beiden sich ausgesprochen. Sie wollen es noch einmal versuchen.“ Beim diesem letzten Satz fasste sie mit scharfem Blick Stefano ins Auge. Der schaute aus dem Fenster, wirkte völlig ungerührt und desinteressiert.

„Sie lässt dich herzlich grüßen, Marc“, sprach Sandrine weiter. „Sie fand es schön auf Chateau de Montardit und wäre eigentlich gern noch geblieben.“

Ich nickte und frühstückte zu Ende, als wäre nichts vorgefallen. Erst beim Aufstehen spürte ich wieder diese seltsame Lähmung in den Gelenken. Als ich den Stuhl unter den Tisch schieben wollte, kam er mir schwer wie Blei vor. Wortlos verließ ich das Speisezimmer, durchquerte im Zeitlupentempo die Schlosshalle, schleppte mich die Treppe hoch. Dann ließ ich mich ziellos über die Korridore treiben. Ich betrat Räume und verließ sie wieder, ohne sie überhaupt wahrgenommen zu haben. Setzte mich auf Bänke im Flur, auf Stühle oder Sofas in irgendwelchen Zimmern, und starrte ins Nichts; kurz darauf lief ich weiter. Allmählich wich die Paralyse von mir, aber diese Leere… sie ließ sich einfach nicht abschütteln. Alles hatte plötzlich seinen Reiz verloren; ein weiterer Aufenthalt auf Chateau de Montardit erschien mir vollkommen sinnlos. Nur – wo sollte ich sonst hin?

Ohne es eigentlich geplant zu haben, fand ich mich schließlich am Ort des gestrigen Treffens wieder, jenem Lichthof, der eher ein gemütliches Zimmer war. Bei Tag wirkte hier alles völlig verändert. Durchs Glasdach schien die Sonne herein; in ihren Lichtstrahlen tanzte der Staub. Die geheimnisvolle, zaubrische Stimmung des letzten Abends hatte sich vollkommen verflüchtigt; dies war einfach ein beschaulicher Winkel inmitten all der Morbidität und Düsternis ringsum, sozusagen exterritoriales Gelände.

Wein und Gläser waren mittlerweile vom Rauchtischchen verschwunden, aber das Buch von Poe lag noch dort. Ein einzelner Sonnenstrahl fiel auf die geöffneten Seiten, beleuchtete eine Überschrift: „The Fall of The House of Usher“. Und plötzlich brandete erneut der Schmerz in mir auf, wie ein schneller, tiefer Schnitt durch die Kehle. Lucienne war fort… ich würde sie niemals mehr wiedersehen. Verzweifelt ließ ich mich auf eines der Sofas fallen und wand mich wie unter Krämpfen. Diese Hilflosigkeit angesichts des Unabänderlichen, diese Ausweglosigkeit!

Über den Buchseiten kreisten Staubfädchen durch die Luft, richtungslos, zufällig – und doch seltsam geordnet, als würden sie einem Ziel zustreben. Etwas blitzte im Sonnenschein auf, das neben dem Buch lag, etwas Silbriges, ein metallischer Gegenstand. Feine Gravuren waren darin zu erkennen, Wellen mit winzigen Schaumkronen…

Auf einmal begann mein Herz wie wild zu schlagen. Luciennes Armreif! Ob sie ihn hier vergessen hatte? Aber gestern Abend hatte sie ihn nicht getragen, das wusste ich sicher. Endlich kam mir die Erleuchtung: Er sollte hier liegen, war ganz bewusst neben dem Buch drapiert worden! Sie wollte mir zeigen, dass ich mich nicht getäuscht hatte, was ihre Gefühle anging – auch wenn sie sich am Ende anders entschieden hatte. Vor ihrer Abreise musste sie extra noch einmal hergekommen sein, um mir diese Botschaft zu übermitteln!

Ich griff nach dem Reif, sprang auf und lief einfach los, wie irre geworden durch diese unverhoffte Entdeckung. Meine Stimmung, eben noch gedrückt und düster, entsprach auf einmal der Atmosphäre des Tages: hell, leicht, ganz wie das Himmelsblau, das durchs Glasdach hereingekommen war. Immer wieder presste ich den Reif an die Brust; es war, als hielte ich ein Stück von Lucienne selbst in Händen, als könnten sich meine Empfindungen, meine Gefühlsaufwallungen durch ihn auf sie übertragen. Und möglicherweise war dem auch so – wer wusste das?

Irgendwann geriet ich auf eine Wendeltreppe. Sie war ungewohnt schmal und lief in engen Schlaufen aufwärts; ein wackeliges Geländer aus Holzplanken schützte notdürftig den Rand. In regelmäßigen Abständen waren schmale Fensterluken in die Wand eingelassen, die für Licht sorgten. Bald wurde ich ungeduldig; ich rannte, wetzte die Stufen hoch, bis mir schwindelig wurde, von der Kreisbewegung, aber auch von der Anstrengung. Schließlich konnte ich nicht mehr. Keuchend stand ich dort, nach Luft schnappend, mich mit den Händen auf den Knien abstützend. In meinen Schläfen hämmerte es, mein Kopf schien kurz vorm Platzen. Aber ich hatte mich etwas beruhigt.

Wieder zu Atem gekommen setzte ich den Aufstieg fort, nun aber deutlich langsamer und bedächtiger. Das obere Ende wollte einfach nicht auftauchen, die Treppe schien unbezwingbar. Was, wenn es auf dem Rückweg genauso war? Wenn ich nirgends mehr ankam, ganz gleich, welche Richtung ich einschlug? Wenn ich von nun ab gefangen war in diesem Kamin, diesem Stückchen Raum zwischen Himmel und Erde?

Zum Glück sah ich bald von oben Licht in den Schacht fallen. Ich begann wieder zu laufen, rannte, stolperte – und endlich tauchte hinter einer letzten Kurve über mir die rettende Öffnung auf!

Als ich ins Freie kam, konnte ich im ersten Moment nichts sehen, so geblendet war ich von der gleißenden Helligkeit. Dann gewahrte ich allmählich Berggipfel am Horizont, die Helme anderer Türme, kupferne Dächer, Zinnen, Wehrgänge. Aber all das lag tiefer, reichte nicht bis hierher. Dies war der höchste Punkt, zwischen mir und dem Himmel kam nichts mehr.

Ich war endlich auf dem Hauptturm. Anders als seine zahlreichen Geschwister besaß er keinen Helm; die Oberseite war flach und durch eine zinnenbewehrte Mauer geschützt. Ein Ausguck, ein Krähennest, wie auf dem höchsten Mast eines Schiffes. Ich stellte mich mit dem Rücken zur Sonne und blickte über die Zinnen hinweg ins Weite. Licht und Wärme erfüllten mich mit tiefer Ruhe.

Nach einer Weile gedankenverlorenen Schauens fiel mir in der Ferne ein Bergmassiv auf, das höher war als alle anderen ringsumher. Eigentlich konnte es nur der Berg in den Wolken sein, aber von letzteren war heute nicht die geringste Spur auszumachen. Einsam ragte der Felsgipfel in den blauen Äther. Wäre es damals bei meiner Wanderung doch genauso gewesen! Ich hätte die gesamte Insel überblicken können, bis zu ihren Rändern und darüber hinaus.

Aber jetzt musste ich mindestens genauso hoch sein; dieser Turm war das Pendant zum Wolkenberg, sozusagen sein Zwilling. Aufgeregt begann ich die Zinnen abzuschreiten. Diesmal würde ich es bestimmt schaffen, das Meer zu sehen – wenn nicht auf dieser Höhe, wo dann? In sämtliche Richtungen prüfte ich eingehend das Land, überschaute Gipfelketten und Täler, verfolgte die gezackten Höhenformationen, die jähen Einschnitte im Fels, darauf hoffend, schließlich den Horizont zu sehen… aber ganz hinten endete immer alles in Dunstflimmern, einem großen Nichts.

Überhaupt war es heute ungewohnt diesig – ich sah das zum ersten Mal, bisher war die Luft immer kristallklar gewesen. Auch von den üblichen, warmen Böen war nichts zu spüren, der Wind hatte sich völlig gelegt, die Luft stand still. Waren das Vorboten eines Wetterwechsels? Nach den vielen Wochen permanenten Sonnenscheins schwer vorstellbar. Andererseits: Der Berg in den Wolken lag plötzlich frei; irgendetwas musste sich also geändert haben.

Immer milchiger und verhangener wurde der Horizont, und endlich erkannte ich, dass Nebel aufzog. Zäher, kompakter Nebel waberte von überall heran und deckte wie ein riesiges Tuch das Bergland unter sich zu. Die höchsten Gipfel verschwanden, wurden stoisch verschluckt, Täler in Sekundenschnelle aufgefüllt. Auch der Himmel verlor allmählich seine blaue Farbe, wurde immer grauer und trüber, während die Sonne nurmehr als fahlgelber Fleck zu erkennen war.

Je näher die brodelnde, breiige Masse kam, desto gewaltiger türmte sie sich auf. Abrupt verschwand der Wolkenberg, und mit ihm die Sonne. Schließlich erreichte der Nebel den Abgrund vor Chateau de Montardit, eine gigantische, dräuende Dunstwand, himmelhoch aufragend. Die Schwaden stürzten den Hang hinab schossen auf unserer Seite wieder aus der Tiefe empor… und schlagartig konnte ich nichts mehr sehen außer einförmigem Grau. Es war, als hätte jemand die Welt ausradiert, alles weggewischt mit einer einzigen, machtvollen Handbewegung.

Schon nach wenigen Augenblicken fühlte sich meine Kleidung klamm und feucht an. Und obwohl der Nebel eigentlich nicht kalt war, sondern im Gegenteil unerwartet mild, fröstelte ich. Der Sommer, von dem ich dachte, dass er in dieser Region unvergänglich sei – er war fort. Plötzlich herrschte eine Atmosphäre tiefer Melancholie.

Stefano

Einigermaßen erschüttert durch dieses machtvolle Naturschauspiel ging ich zum Treppenschacht zurück und war froh, als mich wieder schützende Mauern umgaben. Stand im Reiseführer irgendetwas über dieses Wetter? War das ein vorübergehendes Phänomen oder blieb es jetzt so? Auf einmal machten auch Stefanos Erläuterungen bezüglich der Kanaren-Kiefern im Schlosspark Sinn: „Sie können den Niederschlag aus Wolken und Nebel holen.“

Der Abstieg dauerte sehr lange. Endlich tauchte unter mir der Treppenfuß auf, ich erreichte wieder den Korridor. Von wo war ich gekommen? Ich wusste es nicht mehr, wie schon so oft, musste mich nach Gefühl für eine Richtung entscheiden, um den Rückweg anzutreten. Die Kerzen an den Wänden brannten jetzt nur noch zum Teil; alles schien wesentlich dämmriger als auf dem Hinweg. Wurde möglicherweise während der dunklen Jahreszeit auch im Schlossinnern das Licht reduziert?

Und erneut packte sie mich, diese Niedergeschlagenheit, die heftige Trauer darüber, Lucienne verloren zu haben. Wie ein Nervenkrampf, eine üble Schmerzattacke schüttelte sie mich durch. Ich konnte nur die Zähne zusammenzubeißen und warten, dass es abebbte. Solche Schübe würden noch häufiger kommen; nach dem Schock mit Sophia war es ähnlich gewesen.

Eine Weile ging ich herum, völlig in meine Gedanken versunken. Bis von irgendwoher Stimmen ertönten: „Hör auf damit!“, sagte eine Frau barsch auf französisch, und „Geh weg!“ Eine andere, männliche Stimme lachte.

Licht fiel aus einer offenen Tür auf den Flur. „Lass mich los, verdammt!“, hörte man wieder die Frauenstimme. Erneut antwortete das Lachen.

Behutsam arbeitete ich mich vorwärts, immer darauf bedacht, das Knarren des Parketts zu vermeiden. An der Türfüllung des fraglichen Raumes vorbei lugte ich ins Innere – und sah Manon und Stefano. Er hielt sie von hinterrücks mit beiden Armen umschlungen, so fest, dass sie nicht freikam, so sehr sie sich auch wand.

„Jemand könnte uns hören“, zischte sie. Er antwortete mit verächtlichem Schnauben.

Jetzt nahm er einen Arm weg; der andere reichte ihm offensichtlich, um sie zu fixieren. Seine freie Hand machte sich an ihrer Kostümjacke zu schaffen, öffnete geschickt die Knöpfe, einen nach dem anderen. Manon wehrte sich nach Kräften, aber sie blieb gefangen. Selbst als Stefano ihr die Jacke rabiat über die Schultern nach hinten zog, konnte sie ihn nicht abschütteln. „Bitte!“, flehte sie und schien dem Weinen nahe. Er lachte bloß wieder.

Die Hand glitt nun über ihre weiße Rüschenbluse. „Nicht!“, keuchte sie. Ihr Widerstand flammte von Neuem auf, aber Stefanos eiserner Griff ließ ihr keine Chance. In aller Ruhe knöpfte er mit der freien Hand ihre Bluse auf; er schien sich seiner Sache sehr sicher. Gerade wollte ich einschreiten und Stefano mit Nachdruck auffordern, von Manon abzulassen, als ich sah, wie im ständig größer werdenden Blusenausschnitt der weiße BH auftauchte. Der Anblick faszinierte und erregte mich dermaßen, dass es wie ein Rausch in mir aufstieg.

Manon hatte offenbar resigniert: Mit tränennassen Augen blickte sie zur Seite, wehrte sich auch nicht, als Stefano ihr die Bluse vollständig öffnete und mitsamt der Jacke über die schlaff herabhängenden Arme und Hände zog. Gleichgültig warf er beide Kleidungsstücke zur Seite. Der Anblick des seidig-weißen Spitzen-BH' s auf Manons glatter, sonnengebräunter Haut raubte mir schier den Verstand. Ich verachtete mich für meine Untätigkeit und war doch zu keiner rettenden Aktion mehr in der Lage.

Stefano begann Manons Schultern mit Küssen zu bedecken, und zog dabei aufreizend langsam die BH-Träger zur Seite. Schließlich leisteten die beiden Körbchen nur noch schwachen Widerstand, trotzdem wartete er einige Sekunden, bevor er sie genüsslich nach unten schob. Mir stockte der Atem, als Manons blanker Busen auftauchte, wunderbar voll und dunkel. Gierig legten Stefanos Hände sich darauf und packten kraftvoll zu, pressten die Halbkugeln fast brutal zusammen. Manon stöhnte laut auf, und plötzlich wusste man nicht mehr, ob vor Schmerz oder Lust. Dann begann Stefano, die Brüste vom Ansatz bis zu den Spitzen zärtlich durch seine Hände gleiten zu lassen, immer wieder. Und jedes Mal wischte er schließlich mit den Daumen flink über beide Knospen. Ungläubig sah ich, wie die eben noch panische, verzweifelte Manon ihre Augen schloss und den Kopf nach hinten legte. Rasch hob und senkte sich ihr Brustkorb, während das Becken sanft zu kreisen begann, sich genüsslich an Stefanos Unterkörper rieb. Fortwährend stieß sie nun leise Seufzer aus.

Wie gekonnt er sie berührte! Mit welchem Feingefühl er ihre Brüste verwöhnte, sie durch seine Hände gleiten ließ! Und am Schluss immer diese kurzen, heimtückischen Daumenbewegungen über ihre Nippel, die jetzt spitz und hart aufragten. Längst hatte der BH den Weg der restlichen Kleidung genommen und lag zuoberst auf dem Stoffhaufen am Boden; Manons schöner Oberkörper glänzte im Schein der Kerzen, nunmehr komplett nackt. Liebevoll bearbeitete, modellierte Stefano die weiblichen Formen, wie ein Künstler, ein Bildhauer, der eine Plastik schuf…

Endlich riss ich mich los und ging raschen Schrittes über den Flur davon. Statt Erregung spürte ich jetzt Scham. Und inbrünstigen Hass auf mich selbst, meinen Voyeurismus, der stärker gewesen war als meine Hilfsbreitschaft. Auch wenn es am Schluss so ausgesehen hatte, als geschehe alles einvernehmlich.

Wie lange mochte das zwischen den beiden schon laufen? Was, wenn Sandrine davon erfuhr? So ein Lüstling, dieser Stefano! Warum hatte er sich nicht besser im Griff? Alles setzte er aufs Spiel: seine Beziehung, seine Anstellung hier im Schloss – und nicht zuletzt das, was er für mich getan hatte…

Mein Zorn wurde bald abgelöst von einem Gefühl tiefer Enttäuschung. Stefano – immer war er mein Schutzengel gewesen, mein guter Geist. Und plötzlich stand ich ganz allein da. Erst Lucienne und jetzt er – es war wirklich zum Verzweifeln!



***



Als ich im Bett lag, zogen immer wieder die Bilder von ihm und Manon an meinem inneren Auge vorüber. Wie er sie entkleidet, ihre Brüste liebkost hatte. Mir schien, als hätte ich nie etwas Erotischeres erlebt, obwohl ich nur unbeteiligter Zuschauer gewesen war. Dann kochte erneut dieser Zorn in mir hoch, auf mich selbst, aber genauso auf ihn. Ich fühlte mich betrogen, hintergangen, allein gelassen.

Dabei war er mir absolut nichts schuldig, es gab es keinerlei Absprachen zwischen uns. Obgleich – die Treffen mit Lucienne, die er vermittelt hatte, auch seine anfängliche Unterstützung für mich bei den Diners… war das nicht doch eine Art stiller Übereinkunft gewesen? Ich hatte mich jedenfalls willig in seine Obhut begeben, mich voll und ganz auf ihn verlassen – und jetzt das! Es fühlte sich geradezu wie Verrat an. Ich wurde immer aufgewühlter, immer wütender. Bilder geisterten mir durchs Hirn, wechselten in rasender Geschwindigkeit; ich sah Lucienne und mich bei Kerzenschein, in der Bibliothek und im Lichthof, Rotweingläser in den Händen, Sophia inmitten ihrer Freundinnen, dann allein auf der Treppe stehend… und schließlich tauchte das Gesicht von Pepe aus meiner Erinnerung empor…

Pepe, mein alter Klassenkamerad. Der einzige Mensch, der mal so etwas wie mein Freund gewesen war. Obwohl ich es bestimmt nicht so genannt hätte, damals in der Quinta. Nur dieses eine Jahr waren wir zusammen in eine Klasse gegangen, dieses eine, viel zu kurze Jahr. Pepe… wie Sophia hatte ich ihn vollkommen vergessen, hatte seit Jahrzehnten nicht mehr an ihn gedacht. Und jetzt stand sein Bild gestochen scharf vor mir, als wären wir uns erst kürzlich begegnet.

Das erste Jahr auf dem Gymnasium hatte mir ziemlich zu schaffen gemacht. Das gnadenlose Leistungsprinzip, das der eher spielerischen Herangehensweise in der Grundschule folgte. Der permanente Druck von allen Seiten: Lehrer, Eltern, Klassenkameraden. Und nicht zuletzt das Gefühl völligen Alleinseins – weit und breit schien es niemanden zu geben, dem diese Welt so fremd war wie mir, der sich darin ebenso fehl am Platze fühlte, so komplett verkehrt.

Dann kam Pepe. Er und seine Familie waren gerade erst hergezogen. Eigentlich hieß er Peter; den Spitznamen verdankte er seiner dunklen Haut und den indigenen Gesichtszügen. Er stammte aus Südamerika, war aber als Baby von seinen Eltern adoptiert worden. Pepe war irgendwie anders. Auf unerklärliche Weise gelang es ihm, den Leistungsdruck in der Schule zu ignorieren, sich nicht zermürben zu lassen von der täglichen Tretmühle. Wo er auftauchte, wichen Anspannung und Stress wie von Zauberhand; im Nu verbreiteten sich Lockerheit und gute Laune. Schulische Anforderungen kümmerten ihn wenig bis gar nicht; trotzdem zählte er neben Adrian und Sophia zu den Klassenbesten. Wie er das schaffte, blieb mir stets ein Rätsel.

Rasch entwickelte er sich zum guten Geist der Klasse. Im Nachhinein konnte man es schon als Jammer empfinden, dass er erst in der Quinta gekommen war und nicht schon früher, um unser tristes Schülerdasein aufzuhellen. Mir war er besonders wohlgesonnen, ohne dass ich den Grund hierfür hätte nennen können. Er unterstützte mich nach Kräften, vor allem in Klassenarbeiten, wo er mir oft rettende Spickzettel zukommen ließ, aber auch außerhalb des Unterrichts, zum Beispiel wenn es mal Ärger mit irgendwelchen Leuten gab.

Und natürlich entging ihm nicht, was ich für Sophia empfand. Längst hatte er mitbekommen, dass ich sie ständig ansah, wie in Trance, fast schon blödsinnig vor Sehnsucht.

Steckte er womöglich hinter dem Treffen am letzten Schultag der Quinta? Hatte er dafür gesorgt, dass Sophia ohne ihre geliebte Freundin Judith auf der Treppe stand und wartete? War die Begegnung, die dann so jämmerlich endete, auf sein Betreiben zustande gekommen? Es hätte zu ihm gepasst, definitiv.

Nach den Ferien war er plötzlich verschwunden. Obwohl er die Versetzung natürlich geschafft hatte. Und er hatte Französisch gewählt, als einer der ganz wenigen Guten, sodass wir vielleicht wieder in eine Klasse gekommen wären. Ich sprach Herrn Markus an, meinen alten Deutschlehrer. Peter sei im Krankenhaus, erklärte der mir, in der „Psychiatrie“. Dieses Wort hörte ich zum ersten Mal; ich begriff nur, dass es etwas mit den Nerven zu tun hatte. Und wegen so was kam man ins Krankenhaus? Schlimmer noch: Herr Markus meinte, Pepe würde gar nicht mehr zurückkehren. Das konnte ich einfach nicht glauben.

Aber Pepe blieb tatsächlich fort. Ein einziges Mal traf ich ihn noch, vorm Schulsekretariat, zusammen mit seiner Mutter. Sein Blick war trüb, seine Bewegungen wirkten fahrig. Offenbar erkannte er mich nicht mehr. Erst als seine Mutter ihn bei der Hand nahm und wegziehen wollte, schien etwas in ihm aufzuwachen; ich hatte kurz das Gefühl, als wollte er mir etwas sagen. Aber dann wurde es auch schon wieder Nacht um ihn. Die beiden gingen davon.

Diese Begegnung sollte die letzte gewesen sein, ich sah ihn niemals mehr wieder. Meine Enttäuschung war damals grenzenlos gewesen. In ein regelrechtes Loch war ich gefallen; ich hatte mich vollkommen im Stich gelassen und verraten gefühlt. Obwohl mir im Grunde klar gewesen war, dass Pepe nichts für seine Krankheit konnte. Aber derartige Einsichten hatten keine Chance gehabt gegen die Mischung aus Zorn und Hilflosigkeit, die mich komplett übermannte und alles andere verdrängte.

Der Frust jener Tage ähnelte sehr der Wut und Hilflosigkeit, die ich jetzt empfand, gegenüber Stefano.



***



Nachts schreckte ich aus unruhigem Schlaf hoch. Hatte gerade jemand geschrien? Oder war das ein Traum gewesen?

Nein, da kam es wieder: ein Aufschreien, schmerzvoll und sehr verzweifelt! Um Himmelswillen – was war dort los? Ich wälzte mich aus dem Bett, entzündete die Nachttischkerze und öffnete vorsichtig die Tür.

Draußen herrschte die übliche Schwärze. Ich lauschte eine Weile, aber nichts war mehr zu hören. Schon wollte ich kehrtmachen und mich wieder hinlegen, als plötzlich ein weiterer Schrei ertönte, sehr deutlich, in unmittelbarer Nähe. Irgendjemand brauchte da Hilfe, und zwar äußerst dringend!

Mit klopfendem Herzen zog ich mir Hose und Pulli über, dann trat ich, den Kerzenhalter in der zitternden Hand, auf den Flur hinaus. Das Schreien, so viel hatte ich erkannt, war aus Richtung des Abzweigs gekommen, hinter dem Stefanos Zimmer lag. Mich möglichst nah an der Wand haltend pirschte ich hin und lugte zaghaft um die Ecke. Im flackernden Kerzenlicht konnte man sehen, dass die Tür weit offen stand. Leises Wimmern und Weinen kam aus dem stockfinsteren Raum… es klang befremdlich. War das Stefano? Derselbe fröhliche, sorglose Stefano, den man tagsüber erlebte?

Ich verharrte an der Flurecke, innerlich schwankend zwischen meinem Pflichtgefühl und dem dringenden Wunsch, von hier zu verschwinden – als plötzlich ein Schatten über den Boden huschte. Neben der Zimmertür verharrte das Ding und beobachtete mich aus bösartig glimmenden Augenschlitzen, dann verschwand es im Dunkel des Raums. Alles vollzog sich dermaßen schnell, dass ich schon im nächsten Moment meiner Wahrnehmung nicht mehr traute. Hatte ich wirklich etwas gesehen oder gaukelten mir meine überreizten Sinne Dinge vor, die gar nicht existierten?

Während ich noch versuchte, meine Gedanken zu ordnen, nahm ich eine neue Bewegung wahr, am hinteren Ende des Flurs: Etwas kam von dort herangerast, ein weiterer Schatten, auch er verschwand blitzschnell in Stefanos Zimmer. Ich war perplex: Der Flur endete in einer Sackgasse, von da hinten konnte überhaupt nichts kommen! Oder schlüpften die Biester durch ein Loch in der Wand?

Ein merkwürdiges Grummeln hob jetzt an, ebenfalls aus der besagten Richtung, dumpf, unheilvoll, wie ein Gewitter in der Ferne, das aber rasch lauter wurde. Der Boden begann zu zittern, die Luft war plötzlich erfüllt von quiekenden, zischenden Lauten… dann spülte etwas aus dem Dunkel heran, eine eine schwarz-brodelnde, wimmelnde Flut, die sich direkt auf mich zu wälzte, rasend schnell, viel zu schnell, um noch zu fliehen – aber im letzten Moment wichen die Schatten aus, ergossen sich durch die Türfüllung in das Zimmer. So jäh, wie er eingesetzt hatte, riss der Strom wieder ab; zurück blieb nur unheilvolle Stille.

Ein Angstschub packte mich, drückte mich schier zu Boden. Unvermittelt fand ich mich in meinem eigenen Zimmer wieder, den Rücken gegen die Tür gepresst, panisch ein- und ausatmend. Wie ich so rasch hergekommen war, wusste ich nicht; bloß ein einziger, furchtbarer Gedanke jagte mir durch den Kopf, immer wieder: Die geheimnisvollen, widerlichen Kreaturen aus dem Gasthof – sie waren hier, im Schloss!

In diesem Moment ertönte draußen ein langgezogener, gellender Schrei. Er zerriss mir endgültig die Nerven; ich war nur noch ein zitterndes Bündel. Was taten sie Stefano an? Ereilte ihn jetzt dasselbe Schicksal wie den Gastwirt im Dorf? Aber warum? Was hatte er sich zuschulden kommen lassen?

Sandrine! Sie musste von der Affäre zwischen ihm und Manon erfahren haben! Die Wände dieses Schlosses hatten Augen und Ohren, hier blieb nichts geheim. Und nun musste Stefano büßen…

Hatte ich nicht die Pflicht, ihm zu helfen, wie auch immer? Definitiv ja. Ich durfte nicht einfach meiner Feigheit nachgeben und ihn im Stich lassen. Aber die Angst war noch größer; alles in mir sträubte sich, diesen Raum zu verlassen. Und so blieb ich, wo ich war, während draußen das Schreien allmählich in qualvolles Wimmern überging. Schließlich erstarb es.

Offenbar waren sie fertig mit ihm. Und jetzt? Was würden sie als nächstes tun? Atemlos lauschte ich ins Dunkel, jederzeit damit rechnend, dass die trippelnden Schritte wieder einsetzten und die Kreaturen hierher kamen, um mich als Nächsten zu holen…

Aber es blieb totenstill. Allmählich schwanden mir die Kräfte. Ich ging in die Hocke, mit dem Rücken gegen die Tür gelehnt, die ich unter keinen Umständen freigeben wollte. Hätte ich nur einen Zimmerschlüssel gehabt!

Die Müdigkeit kehrte zurück; mehrmals konnte ich nur im letzten Moment verhindern, dass mir die Augen zufielen. Schließlich nickte ich doch ein.



***



Als ich aufwachte, lag ich am Boden. Offenbar war ich im Schlaf, ohne es zu merken, nach und nach zur Seite gekippt.

Unter Mühen raffte ich mich hoch. Meine Arme waren vollkommen gefühllos und schlaff, erst nach langem Warten floss wieder Blut hinein. Ich duschte, zunächst heiß, um das Frösteln zu vertreiben, anschließend kalt, damit ich klar wurde. Nach dem Anziehen riss ich das Fenster auf – noch immer wallte draußen dieser zähe Nebel.

Auf dem Flur schien alles wie immer. Am Abzweig zu Stefanos Zimmer machte ich halt: Seine Tür war zu. Auf Samtpfoten schlich ich hin und klopfte zaghaft – keine Reaktion. „Stefano?“, flüsterte ich. Nichts rührte sich. Vorsichtig drückte ich die gusseiserne Klinke hinunter – abgeschlossen. Ich pochte vehement gegen das Türholz. „Stefano? Hörst du mich?“ Aber es blieb still.

Auf einmal bemerkte ich einen stechenden Blick im Nacken – Manon! Wie aus dem Boden gewachsen stand sie plötzlich hinter mir, musterte mich mit einer Miene deutlicher Missbilligung . „Stefano fühlt sich unwohl und möchte nicht gestört werden“, erklärte sie in ihrem förmlichen, leicht herablassend klingenden Französisch.

„Was fehlt ihm denn?“, fragte ich.

„Darüber kann ich nichts sagen. Aber er hat nachdrücklich darum gebeten, dass niemand ihn stört.“ In ihren Augen blitzte es gefährlich auf; plötzlich war etwas in ihnen, das keinen Widerspruch duldete. Das Bild der Gastwirtin schoss mir durch den Kopf, ihr hässliches, triumphierendes Grinsen hinter der Gardine. Wieder kroch die Angst der letzten Nacht in mir hoch, dieses Gefühl des Ausgeliefertseins…

Ich zog es vor, das Feld zu räumen. Langsamen Schrittes ging ich zum Hauptflur zurück. Als ich erneut nach hinten schaute, stand Manon immer noch dort und beobachtete mich. Offenbar wollte sie sichergehen, dass ich wirklich verschwand.

Auf der Freitreppe sah ich zu meiner großen Verwunderung, dass das Hauptportal verschlossen war – bislang hatten beide Flügel tagsüber stets weit offen gestanden. Das Speisezimmer war verwaist; auch aus der Servierküche kamen, anders als sonst, keine Geräusche. Wie auch? Manon bewachte ja Stefanos Zimmertür…

Aber an meinem Platz war aufgedeckt wie immer, auch das Kaffeekännchen stand bereits dort. Der Kaffee war brühend heiß, als hätte ihn gerade erst jemand gebracht. Merkwürdig. War Manon in der Zwischenzeit ebenfalls heruntergekommen, über einen Geheimgang? Sicherheitshalber warf ich einen Blick in die Servierküche: Nein, sie war definitiv nicht hier. Erleichtert atmete ich auf – nach der Szene, die sich eben vor Stefanos Zimmer zugetragen hatte, wollte ich ihr ungern schon wieder begegnen. Dennoch: Man konnte die veränderte Atmosphäre deutlich spüren. Irgendetwas Seltsames ging hier vor sich…

Während des Frühstücks überlegte ich, abzureisen. Ich konnte einen der Autobesitzer bitten, mich an die Küste hinunterzufahren, Sandrine, Chloé oder Justin. Aber wo fand ich die drei? Überhaupt – in welchem Teil des Schlosses lebten eigentlich seine Bewohner? Ich kannte gerade mal Stefanos Zimmer. Wo war Manon untergebracht? Wo wohnten Vivienne und Sandrine? Ganz zu schweigen von Chloé und Justin, diesem geheimnisvollen, orphischen Paar.

Nach dem Essen nahm ich den Weg zur Terrasse – auch hier war abgeschlossen. Bei diesem Nebel wäre es draußen eh ungemütlich gewesen, aber alle Ausgänge plötzlich verriegelt und verrammelt vorzufinden war schon merkwürdig. Erneut spürte ich diese dunkle Vorahnung – irgendetwas Ungutes schien sich um mich herum zusammenzubrauen. Nur was das sein konnte, blieb mir ein komplettes Rätsel.

Ob sich wenigstens die Tür zum Park noch öffnen ließ? Sie lag so weit abseits – möglicherweise hatte man sie übersehen. Leider wusste ich selbst nicht mehr genau, wie man hinkam… egal, ich würde sie schon finden! Hoffnungsvoll machte ich mich auf die Suche.

Wie zufällig führte mein Weg mich in den kleinen Lichthof, dem Ort des letzten Treffens mit Lucienne. Durch die Glaskuppel kam nur eintöniges, fahles Grau, entsprechend dämmrig war es hier drinnen. Ich holte den Armreif hervor. Merkwürdige Wärme ging von ihm aus; auch glaubte ich ein sanftes, regelmäßiges Pulsieren zu spüren. Fast zärtlich strich ich über die Gravuren und dachte an den Moment zurück, da ich den Reif hier gefunden hatte. Die Erinnerung schien wie ein Lichtstrahl in dunkler, kalter Winternacht.

Ich legte mich auf die Chaiselongue, drückte den Reif an die Brust und betrachtete die Nebelschwaden, die endlos über das Glasdach hinwegzogen. Sie schienen wie ein Spiegel meiner Seele, meiner niedergeschlagenen, tristen Stimmung. Am liebsten wollte ich schlafen, nur noch schlafen und nichts mehr spüren, keine Einsamkeit, keine Angst – nichts mehr. Ich sehnte den erlösenden Schlummer geradezu herbei…

Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich über mir Stefanos Gesicht. Im ersten Moment glaubte ich zu träumen, aber dann begriff ich, dass er wirklich dort stand! Rasch setzte ich mich auf, rieb mir die Augen, versuchte wieder klar zu werden. Dass jemand mich gerade in diesem Moment ertappte, war mir sehr unangenehm.

Wortlos nahm Stefano neben mir Platz. Sein Gesicht war kreidebleich und maskenhaft starr, Ringe zeichneten sich unter den Augen ab. Sein Blick war unstet, wechselte permanent die Richtung; ich hätte nicht sagen können, ob er mich überhaupt wahrnahm. Sein Haar, das ihm normalerweise in sanften Locken über die Schultern fiel, war zerzaust und hatte jeden Glanz verloren. Stefano wirkte äußerst verstört. Als hätte er Furchtbares durchgemacht und darüber jede Vitalität, jeden Lebensmut verloren.

Ich redete einfach drauf los, über alles, was mir gerade in den Sinn kam. Vielleicht konnte ich Stefano aufwecken, es irgendwie schaffen, dass er wieder der Alte wurde. Auch von meinem Erlebnis auf dem Hauptturm berichtete ich, diesen aufziehenden, dichten Nebel und wie er alles verschluckt hatte.

„Das ist hier im Winter das typische Wetter“, antwortete er mit rauer, belegter Stimme.

Dann erwähnte ich das verschlossene Portal. Zum ersten Mal sah er mir nun in die Augen; es schien, als würde er allmählich erwachen. „Ja, das Portal“, murmelte er, „irgendwann ist es immer zu.“ Er lächelte, ein Anflug von Bitterkeit tauchte in seiner Miene auf. Dann blickte er wieder ausdruckslos ins Leere.

Was hatte er bloß, was fehlte ihm? Endlich traute ich mich, das Thema anzusprechen, das mir so sehr auf der Seele brannte: „Stefano, was war gestern Nacht bei dir los?“

Er schwieg, schien mich nicht mehr zu hören.

„Du hast geschrien. Es war entsetzlich, kaum zu ertragen. Ich wollte dir helfen, wollte zu dir gehen, aber dann…“ Ich stockte; der Gedanke an meine Feigheit – plötzlich schämte ich mich in Grund und Boden. „Ich hatte Angst“, brachte ich den Satz schließlich zu Ende.

Auf einmal schien Leben in ihn zu kommen. Seine Augen öffneten sich weit, er musterte mich eindringlich. „Was immer auch passiert: Bleib auf deinem Zimmer! Verlasse es unter gar keinen Umständen!“, warnte er mich.

Mir lief es kalt den Rücken hinab. „Stefano, was tun sie mit dir? Was passiert hier? Was ist dies für ein Ort?“

„Dieser 'Ort' ist in der Tat – besonders.“ Ein verächtliches Grinsen überzog nun sein Gesicht. „Erinnerst du dich noch an unser Gespräch im Schlosspark, über den Orden der Reinheit? An das, was ich über ihre Ideen erzählt habe? Über die Ausbreitung der Großen Leere, die allmähliche 'Entseelung' der Menschen, wie sie es nannten?“

Ich nickte – wie hätte ich diese Geschichte je vergessen können?

„Inzwischen habe ich noch mehr herausgefunden", sprach Stefano weiter. „Bitte hör gut zu! Du bist der Einzige, dem ich hier vertraue. Meine Informationen können dir von Nutzen sein, vielleicht eher als du glaubst.“ Er wirkte auf einmal sehr wach und konzentriert, ähnlich wie seinerzeit im Park. Ewigkeiten schien das her zu sein…

„Die Lehre des 'Ordo Puritas'“, so Stefano, „unterscheidet wohl zwei Gruppen unter den Menschen. Da sind jene, die sich klaglos unterordnen und in der Masse mitschwimmen. Und dann gibt es die Sonderlinge, denen unbehaglich ist angesichts all der Geistlosigkeit und des kruden, dumpfen Materialismus. Sie weigern sich, ihr Leben mit Dingen und sinnlosem Besitz zu füllen und darüber allmählich abzustumpfen. Sie versuchen ihre Passivität zu überwinden und aus dem Teufelskreis auszubrechen, den ganzen Irrsinn abzuschütteln, der unsere Welt immer näher an den Abgrund bringt.“

Auf einmal wurde mir klar, dass ich Stefano die ganze Zeit über vollkommen falsch eingeschätzt hatte. Seine Rolle als Hausdiener und Conferencier, das clowneske Gehabe, die permanente Show – all das diente ihm bloß als Maske, als Tarnung. In Wirklichkeit war er ein Sinnsucher, jemand, der hinterfragte, der verstehen wollte. Wie Lennard – und wie ich selbst.

„Aber auch diese Nonkonformisten“, sprach er weiter, „sind ja zunächst geprägt durch unsere Kultur, sind genauso entwurzelt, 'entseelt' wie alle anderen. Eine Befreiung scheint fast unmöglich, es ist, als müsse man sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Nur ganz wenige bringen diese Willensstärke wirklich auf. Das Gros resigniert irgendwann und ordnet sich schließlich wieder ein in die Spirale des Elends. Am Ende bleibt nur noch ein kläglicher Rest übrig, ein verlorenes Häufchen Sturer, Hartnäckiger. Und hier wird es interessant.“ Ein Lächeln zuckte um seine Mundwinkel. „Diese Leute haben keinen wirklichen Ausstieg geschafft, wollen aber auch nicht mehr zurück in die Tretmühle, die Gesellschaft der Angepassten. Damit haben sie das denkbar schlechteste Los gezogen, denn von nun an sitzen sie zwischen den Stühlen, fallen nach und nach aus allen gängigen Mustern heraus. Immer weiter driften sie ab, bis sie schließlich ihre letzten Bindungen verloren haben, nirgendwo mehr hingehören. Sie sind zu Schatten ihrer selbst geworden, zu durchscheinenden, substanzlosen Wesen, die nur noch ziellos umherstreifen, in keiner Welt mehr zu Hause sind…“

Ich fühlte Beklemmung aufsteigen: Was Stefano da berichtete, erschien mir äußerst vertraut – es war geradezu unheimlich! So unheimlich, dass ich plötzlich nicht mehr wusste, ob ich noch mehr hören wollte…

„Die Erkenntnis dieser Unglücklichen am Ende ihres Weges wird grauenvoll sein“, prophezeite Stefano. „Die meisten werden es nicht ertragen.“ Angstvoll starrte er jetzt ins Nichts, die Augen weit aufgerissen, als sähe er etwas Monströses auf sich zukommen, etwas unsagbar Schreckliches…

„Pass auf“, flüsterte er und packte mich am Arm. „Ich hab ein Auto versteckt, ganz in der Nähe! Versuche hier herauszukommen, irgendwie. Klettere am besten über die Parkmauer und finde den Pfad, der von der Zufahrtsstraße zum Schloss abgeht. Der Wagen ist offen, der Zündschlüssel steckt. Vielleicht kannst du noch fliehen, wohin auch immer. Für mich ist es zu spät.“

Er zog sein ledernes Etui hervor, entnahm ihm mit zitternden Fingern eine Zigarette und zündete sie an. Als er das goldene Feuerzeug wieder einstecken wollte, sah ich zum ersten Mal die eingravierten Initialen: „LF“. Mir stockte der Atem.

„Woher hast du das?“, fragte ich. „LF“ – Lennard Franck… das Feuerzeug war ein Geschenk von Alexandra und mir gewesen, zu seinem 25. Geburtstag. Schon am ersten Abend, im Kaminzimmer, hatte ich geglaubt, es wiederzuerkennen. Aber nun gab es endgültig keinen Zweifel mehr!

„Was meinst du? Ach das.“ Stefano besah das Feuerzeug, als versuchte er dessen Wert abzuschätzen. „Keine Ahnung. Wahrscheinlich ist es vergessen worden, von einem früheren Gast.“

„Und wie lange hast du es schon?“ Fast versagte mir die Stimme, so aufgewühlt war ich plötzlich.

Er schaute mich an, verwundert über meine brennende Neugier. Dann leuchtete es in seinen Augen wie ein Funke des Verstehens auf. In seiner Miene war jetzt Erschütterung zu erkennen; behutsam legte er das Feuerzeug vor sich auf das Mahagoni-Tischchen. „Verzeih!“, murmelte er. „Ich hätte mehr tun können, hätte dich…“ Seine Augen schwammen auf einmal in Tränen. „Ich habe versagt…“

Jetzt packte ich ihn wirklich an der Schulter, wollte ihn trösten, aufmuntern, ihm versichern, dass… nur hatte ich leider keine Ahnung, was er meinte.

Er murmelte weiter, auf italienisch. Plötzlich versagte ihm die Stimme, er begann zu zittern. Seine Augen quollen aus den Höhlen hervor, als müsste er sich übergeben. Er wollte weiterzusprechen, rang heftig mit sich, versuchte offenbar eine innere Barriere zu überwinden. Aber immer wenn er kurz davor schien, es zu schaffen, ging plötzlich ein Ruck durch seinen Körper, und er fiel zurück in die Lähmung. Als wäre er in einer Endlosschleife gefangen.

Dann fiel es mir ein: der Wirt im Dorfgasthof, als ich ihn auf meinem Zimmer überrascht hatte – bei ihm war es ähnlich gewesen! Auch er hatte so weggetreten gewirkt, langsam versinkend in etwas Todbringendes…

Ich überlegte, Stefano ins Gesicht zu schlagen, wie bei jemandem, der unter Schock stand. Ich musste ihn herausholen aus seinem Sumpf, ihn irgendwie frei bekommen!

Plötzlich zuckte er zusammen, als hätte er einen starken elektrischen Schlag erhalten. Sein Blick wurde wieder klar; er sprang auf. „Ich muss gehen“, stammelte er, „ich muss…“ Dann hastete er los, lief über den Flur davon. Ich war viel zu überrascht, um ihm etwas hinterherzurufen, geschweige denn ihn aufzuhalten.

Das Feuerzeug lag noch auf dem Tisch, exakt an derselben Stelle wie tags zuvor Luciennes Armreif.



***



Noch lange saß ich im Lichthof, das Feuerzeug zwischen den Fingern hin und her drehend. Ich dachte an Lennards Geburtstag zurück, seine Freude beim Anblick des Feuerzeugs und vor allem der eingravierten Initialen. Alexandra hatte die Idee zu dem Geschenk gehabt. Sie war sich sicher gewesen, dass Lennard auf solche kostbaren Spielereien stand, seiner angeblich sozialistischen Gesinnung zum Trotz. Und sie hatte recht behalten.

Bald nach seiner Geburtstagsparty, die in unserer ehemals gemeinsamen Wohnung am Kottbusser Tor stattgefunden hatte, war ich mit Alexandra zusammengezogen. In der Folge hatten Lennard und ich uns allmählich aus den Augen verloren.

Das Feuerzeug war der definitive, endgültige Beweis, dass er auf dem Schloss gewesen war. Wo mochte er jetzt sein? Noch immer hier? Irgendwo verschollen in den Tiefen von Chateau de Montardit?

Und Stefano? Was fehlte ihm? Er wirkte fast wie vom Tode gezeichnet. Diese irre, angsterfüllte Miene… es war, als hätte er Schreckliches gesehen, etwas, das seinem Leben bald ein qualvolles Ende bereiten würde.

Was war der Sinn dieses Ortes? Was „wollte“ Chateau de Montardit?



***



In dieser Nacht waren die Schreie, die aus Stefanos Zimmer drangen, noch gellender, noch schmerzerfüllter und verzweifelter. Es wollte einfach nicht enden.

'Man kann das nicht tatenlos hinnehmen', dachte ich und blieb doch passiv, war vor Entsetzen wie gelähmt. Ein einziges Mal schaffte ich es, aufzustehen und zur Tür zu gehen. Als ich sie gerade öffnen wollte, kamen mir wieder Stefanos Worte in den Sinn: „Bleib auf deinem Zimmer! Verlasse es unter gar keinen Umständen!“

Ich legte mich wieder hin, presste mir die Hände auf die Ohren. Was sollte ich nur tun?

Und plötzlich riss das Schreien ab. Es kam nicht mehr wieder, so sehr ich auch ins Dunkel lauschte.



***



Am nächsten Morgen fühlte ich mich zerschlagener und zermürbter denn je. Der Blick aus dem Fenster zeigte das gewohnte Bild: eintöniges, diffuses Nebelgrau, wohin man schaute.

Heute brachte mich das kalte Duschen kaum auf Trab. Als ich das Zimmer verließ, wurde mir plötzlich übel. Frühstück würde ich kaum runterbekommen, aber vielleicht half ein starker Kaffee gegen Kopfweh und Schwindel.

Ich schlich über den dämmrigen Flur, erreichte den Abzweig – und mit einem Schlag kehrte der Horror der vergangenen Nacht zurück, die Erinnerung an das endlose, markerschütternde Gebrüll, meine Verzweiflung angesichts der eigenen Hilflosigkeit und schließlich – meine Angst. Diese erbärmliche, schlotternde Todesangst.

Aber – konnte es sein, dass Stefanos Zimmertür offenstand? Ich sah ganz genau hin: Da war ein Lichtspalt, definitiv! Mein Herz tat einen Sprung, ich wollte sofort losrennen – und schaffte es in letzter Sekunde, zunächst zu prüfen, ob jemand in der Nähe war. Erst als ich mich vergewissert hatte, nicht den Blicken Manons oder sonst eines Schlossbewohners ausgesetzt zu sein, startete ich durch und hatte im Nu das kurze Wegstück zurückgelegt. Panisch griff ich nach der Klinke, war mir auf einmal sicher, dass die Tür im letzten Moment zuschlagen würde… aber wie von Geisterhand schwang sie nach hinten, als würde vor mir zurückweichen – und enthüllte ein leeres Zimmer!

Perplex schüttelte ich den Kopf, kniff die Augen zusammen, schaute erneut: Kein einziges Möbelstück befand sich im Raum, keine Kleidung, kein Gepäck. Staubflocken wehten über den Dielenboden, die Stuckverzierungen an der Decke waren mit Spinnweben überzogen. Helle Rechtecke an den Wänden zeugten von Möbelstücken, die einst dort gestanden hatten – aber das schien sehr lange her zu sein.

Hatte ich mich im Raum geirrt? Zur Sicherheit ging ich hinaus und prüfte, ob ich mich auf dem richtigen Flur befand. Doch, alles stimmte. Dies musste Stefanos Zimmer sein, er war immer hier hineingegangen. Allerdings hatte ich nie einen Blick ins Innere werfen können – bis jetzt.

Aber das war doch absurd! Stefano konnte unmöglich ohne Möbel hier drinnen gelebt haben! Erneut wanderte mein Blick umher und fand nichts. Nichts außer eingestaubten Dielen und Spinnweben, die von der Decke herabhingen. Es blieb dabei: Dieser Raum stand seit langer Zeit leer.

Vivienne

Panisch irrte ich durchs Schloss, glaubte immer wieder Stefanos Worte zu hören: „ Versuche, hier herauszukommen“. Ich musste unbedingt jemanden finden, der mich zur Küste brachte. Hier konnte, durfte ich keinen Tag länger bleiben!

Wie schlecht ich mich immer noch zurechtfand auf Chateau de Montardit! Keine Strecke, die ich mir wirklich einprägen konnte, abgesehen von wenigen Ausnahmen: zur Halle, in den Lichthof, auf die Schlossterrasse. Nie schaffte ich es, Wege aus vorangegangenen Touren ein zweites Mal zu laufen, stets verhedderte ich mich früher oder später. Und erst recht gelang es mir nicht, etwas wie ein Muster im Labyrinth der Flure zu erkennen, eine Gesamtstruktur. Irgendetwas war hier, das mein Orientierungsvermögen durcheinanderbrachte. Auch mein Wille schien immer seltsam gelähmt: Kaum hatte ich mich zu etwas aufgerafft, kam mir die Entschlusskraft schnell wieder abhanden, verlor ich den Faden.

So war es auch jetzt wieder. Statt wie ursprünglich vorgehabt einen der Bewohner ausfindig zu machen, streifte ich bald nur noch umher, ohne System, ohne Ziel. Selbstvergessen wanderte ich über die Schlossflure, gelenkt nur von diesem einen, unbestimmten Wunsch, in die Tiefen von Chateau de Montardit einzutauchen und vollkommen darin zu verschwinden.

Manchmal musste ich kehrt machen, weil ich in einer Sackgasse gelandet war. Aber meist ging es irgendwie weiter, eröffneten sich neue Möglichkeiten: ein unbekannter Korridor, ein Lichthof, Treppenstufen, die auf- oder abwärts führten. Einmal waren farbige Milchglasscheiben in eine Seite des Flurs eingelassen, durch die helles Tageslicht drang. Schien draußen die Sonne? Hatte der Nebel sich endlich verzogen? Wie gern wäre ich jetzt im Freien gewesen und hätte Berge gesehen, blauen Himmel, ganz wie in früheren, besseren Zeiten. Aber wie? Existierten hier überhaupt noch Wege nach draußen?

Nie begegnete ich jemandem, nie kam ich an Punkte, die mir vertraut erschienen. Viviennes Bemerkung über Räume, die noch kein Schlossbewohner betreten hatte, erschien mir immer glaubhafter. Schließlich geriet ich in einen Gebäudetrakt, der sehr alt sein musste. Die Wände waren hier unverputzt, man sah die nackten Felsblöcke und die Mauerfugen dazwischen. Statt Kerzenleuchtern sorgten Fackeln für Helligkeit.

Aber schon bald veränderte sich die Umgebung erneut: Die Rundbögen der Korridore hatten jetzt ein orientalisches Gepräge, Arabesken zierten die Kapitelle der Säulen. Die Wände zeigten fremdartige Muster, gemalt oder als Mosaiken. Alles mutete zunächst arabisch an, kurz darauf fühlte ich mich eher an Indien erinnert, schließlich hatte ich gar den Eindruck, in China oder Japan zu sein. Tuschezeichnungen in fernöstlichem Stil breiteten sich nun über das Mauerwerk, manchmal unterlegt mit Bannern in asiatischen Schriftzeichen. Eine Buddha-Statue thronte auf einem kniehohen Sockel, umstellt und geheimnisvoll illuminiert von flackernden Kerzenlichtern. Wenig später erklangen sanfte, metallische Töne – ein von der Decke hängendes Windglockenspiel, das offenbar durch mein Kommen in Bewegung versetzt worden war. Intensive Düfte von ätherischen Ölen zogen durch die Luft und kitzelten meine Nase.

Wohin mochte ich geraten sein? Befand ich mich überhaupt noch auf Chateau de Montardit oder hatte mich eine geheimnisvolle Kraft in den Fernen Osten versetzt? Verwirrt und trotzdem neugierig ging ich weiter – und hinter einer Wegbiegung stand ich plötzlich Chloé gegenüber.

Im ersten Moment dachte ich an eine Statue, so unwirklich, so überirdisch wirkte ihre Erscheinung. Dann sah ich die Bewegungen der Augenlider, nahm auch ein leises Zucken um die Mundwinkel wahr – und begriff, dass es wirklich Chloé war, die echte, leibhaftige Chloé, zauberhafter und schöner als jemals zuvor. Sie trug ein weißes, hoch aufgeschlossenes Kleid, das in seiner Schlichtheit einer Mönchskutte ähnelte. Das lange, goldblonde Haar war hinter die eine Schulter zurückgestrichen und fiel in sanften Locken über die andere. Ein rätselhaftes Lächeln lag auf ihrem Gesicht, die bernsteinfarbenen Augen leuchteten – wie mir schien – erwartungsvoll. „Komm“, sagte sie und nahm mich bei der Hand, offenbar nicht im Mindesten überrascht. Hatte sie mich längst erwartet?

Ihre Handfläche fühlte sich unerwartet rau an, wie von körperlicher Arbeit. Ich wurde in ein Zimmer geführt, das im selben fernöstlichen Stil gehalten war wie die Korridore auf meinem Weg hierher. An der Stirnseite hing ein großer, aufgeklappter Fächer. Ein japanischer Wandschirm in der Ecke war verziert mit Tuschezeichnungen, detailreichen Darstellungen von Blumen, Vögeln und Schmetterlingen. Auch ein Wiedersehen mit den Buddhastatuen gab es: Sie waren an verschiedenen Punkten des Raumes drapiert, auf kniehohen Sockeln, ähnlich wie draußen im Flur. In der Raummitte lag ein mit Frotteetüchern bedeckter Futon. Und erneut erklang Musik, Chorgesänge diesmal – aber seltsamerweise konnte ich weder Lautsprecher noch ein Abspielgerät entdecken.

Ich folgte Chloé hinter den Wandschirm zu einer Sitzgruppe. Auf dem Tisch standen ein zierliches Teekännchen sowie zwei winzige Schälchen aus fast durchsichtigem Porzellan bereit. „Tee?“, fragte sie, als wir uns gesetzt hatten. Ohne meine Antwort abzuwarten, füllte sie die Schälchen und reichte mir eines. Ich trank einen Schluck – der Tee war würzig, fast scharf; Tränen schossen mir in die Augen. Der Duft der ätherischen Öle schien inzwischen sehr intensiv; etwas Betörendes, fast Erotisierendes ging von ihm aus. Chloé musterte mich ein weiteres Mal neugierig, fast prüfend. Endlich wurde mir bewusst, dass ich allein mit ihr war. Die Schönheitsgöttin schenkte mir und niemandem sonst ihre Aufmerksamkeit – bei diesem Gedanken begann ich unwillkürlich zu zittern.

„Das Bad ist fertig“, sagte Chloé mit einer Selbstverständlichkeit, als sei alles zwischen uns abgesprochen. Sie erhob sich, ergriff von neuem meine Hand und zog mich hinter sich her. Baden? Aber ich war längst viel zu berauscht, von ihr, den Eindrücken und Gerüchen, möglicherweise auch vom Tee, um noch Fragen zu stellen oder gar zu protestieren. Im Gegenteil: Die Aussicht, jetzt in eine mit heißem Wasser gefüllte Wanne zu steigen, reizte und erregte mich geradezu.

Im Badezimmer leuchtete alles meerblau: Kacheln und Fliesen, auch die in den Boden eingelassene, kreisrunde Wanne. Auf der Wasseroberfläche schwammen weiße Blüten, die ein süßes, eigenartig betörendes Arom verströmten. „Nimm dir die Zeit, die du brauchst.“ Mit diesen Worten ließ Chloé mich allein.

Zaghaft streifte ich Pulli und T-Shirt ab, entledigte mich der Socken, öffnete die Hose. Dann hielt ich inne. Was tat ich hier eigentlich? Sollte ich wirklich weitermachen? Aber schon schwanden meine Bedenken, wurden beiseite gewischt von brennender, fast besinnungsloser Neugier; auch die letzten Hüllen fielen. Nunmehr nackt fühlte ich mich äußerst wohl, in meiner Haut, an diesem Ort, der an eine von rauschender See umspülte Meeresgrotte erinnerte. Ich stieg ins dampfende Wasser, gab mich seiner Wärme hin, seinem Wohlgeruch, ließ mich davontragen, in die Weite, in Sphären der Harmonie und Leichtigkeit…

Als ich wieder zu mir kam, lagen am Wannenrand anstelle meiner Kleidung ein Badetuch und ein zusammengefalteter Kimono. Vorsichtig stieg ich aus dem Wasser und trocknete mich ab. Dann streifte ich den Kimono über. Sein kühler Seidenstoff fühlte sich auf der erhitzten, sensibilisierten Haut äußerst angenehm an. Chloé hatte mich offenbar gehört: Sie kam ins Bad und führte mich zurück in den Raum. Ich bekam heftiges Herzklopfen, meine Erregung steigerte sich noch. Was würde nun geschehen?

Neben dem Futon stellten wir uns einander gegenüber. Erneut glitten ihre forschenden Blicke über mich hinweg. Sie schienen den dünnen Seidenstoff des Kimonos zu durchdringen, direkt über meine nackte Haut zu streichen. Ihre Hände begannen, in der Luft meine Körperform nachzuzeichnen. Obwohl sie mich dabei nie berührte, spürte ich stets die Energie, die von ihren Handflächen ausging. Nun schritt sie um mich herum, stellte sich hinter mich; im nächsten Moment spürte ich kühle Fingerspitzen an meinen Schläfen. Diese allererste Berührung war für mich wie ein Rausch. Der sich noch weiter steigerte, als Chloés Hände langsam an meinen Wangen entlangstrichen, das Kinn erreichten, schließlich den Hals, wo der Kimono-Kragen einen Fortgang der Dinge verhinderte. So nah stand sie hinter mir, dass ich manchmal ganz leicht ihren Busen an meinem Rücken spürte.

Sanft legten sich ihre Hände jetzt auf meine Hüften, schoben sich zwischen Armen und Körper hindurch behutsam nach vorn. Atemlos sah ich ihre langen, schlanken Finger auf Höhe meines Bauchnabels auftauchen und geschickt den Stoffgürtel aufbinden. Da nichts mehr sie hielt, glitten die beiden Hälften des Kimonos langsam auseinander, Luft streifte meine Haut. Dann spürte ich Chloés Finger erneut im Nacken. Sie griffen nach dem Kragen und zogen den Seidenstoff über meine Schultern Arme herab, aufreizend langsam, immer weiter, bis ich schließlich unbekleidet dastand.

Erst in diesem Moment entdeckte ich an der gegenüberliegenden Wand einen großen Spiegel. Staunend betrachtete ich die Person, die sich darin zeigte. Sonnengebräunt war sie und sehr schlank. Das sollte ich sein? Wo waren die Fettpolster an Bauch, Brust und Hüften? Dieser Mensch dort wirkte durchtrainiert, gut in Form, nur Muskeln und Knochen. Es musste an den Speisen liegen. Schon im Hotel war alles frisch zubereitet worden, aber es hatte auch viel Fettes und Zuckerhaltiges gegeben – anders als hier, auf Chateau de Montardit.

Chloé studierte mich wieder eingehend, erst von vorn, dann schritt sie um mich herum und nahm meine Rückseite in Augenschein. Es gefiel mir, auf diese Weise von ihr betrachtet und begutachtet zu werden. Ich stellte mich noch mehr in Positur, spannte die Bauchmuskeln an, versuchte auch, die Muskeln der Hinterbacken spielen zu lassen. Offenbar wirkte es: An der Wand konnte man ihren Schatten sehen, ihre Arme, die nach mir zu greifen begannen, immer aufs Neue, sich erst im letzten Moment wieder zurückzogen. War sie unschlüssig? Wollte sie und traute sich nicht? Oder gehörten diese Bewegungen zu einem Ritual, das sie an mir vollzog? Jedenfalls pochte mein Herz immer schneller, immer stärker. Was, wenn die schöne Chloé… ? Alles in mir schrie danach; ich wäre nur noch Wachs unter ihren den Händen gewesen.

Als hätte sie meine Gedanken gelesen, meinen innersten Wunsch erhört, stellte Chloé sich wieder vor mich und begann, ihr Kleid im Nacken zu öffnen. Ich hörte das leise Ratschen des Reißverschlusses, beobachtete ungläubig, wie sie sich zu mir beugte, die beiden Stoffhälften hinabgleiten ließ und ihre formvollendeten, wunderbar glatten Schultern entblößte. Mit geübten Bewegungen zog Chloé die Arme ganz aus dem Kleid, hielt den leichten Stoff nur noch mit den Händen vor dem Busen. Endlich ließ sie los, rauschend glitt der Stoff an ihr herab zu Boden. Sie stand nackt vor mir.

Nun war ich es, der sie betrachten durfte, betrachten sollte. In einer Mischung aus Verzauberung und Lüsternheit nahm ich sämtliche Details ihrer Erscheinung in mich auf, saugte alles gierig in mich hinein: die makellose Figur, die bronzefarbene, sanft schimmernde Haut, die schwellenden Brüste, die Scham, die bis auf einen Streifen in der Mitte rasiert war.

Ich konnte meine Lust längst nicht mehr verbergen und wollte es auch nicht. Im Wandspiegel sah ich, wie mein Glied wuchs, wie es prall und steinhart wurde – und fand mich schön. Anziehend. Erotisch. Es gab nichts, dessen ich mich hätte schämen müssen. Ich genoss es, dass Chloé mich ansah, diese atemberaubende, unendlich begehrenswerte Frau. Es machte mich glücklich, ihren Blick auf meinen erregten, zitternden Körper geheftet zu sehen. Eine intensive Spannung entstand zwischen uns, die in knisternden Blitzen von einem Körper auf den anderen überzuspringen schienen.

Als ich beobachtete, wie Chloé sich vor mir hinkniete, konnte ich es kaum fassen. Aber sie beugte sich wirklich und wahrhaftig zu meinen Füßen hinab, berührte sie mit den Lippen, küsste sie unendlich sanft und liebevoll, erst den einen, dann den anderen. Die Weichheit ihres Mundes, der warme Atem – es war fast zu viel, die Berührung so intensiv, dass es geradezu schmerzte.

Sie kam wieder empor. In der Hand hielt sie jetzt eine Stoffbinde, die sie mir um die Augen legte. Wie einen Blinden führte sie mich zum Futon und bedeutete mir, mich auf den Bauch zu legen. Zum Glück hatte sich meine Erektion wieder etwas abgeschwächt, und ich konnte tun, wie mir geheißen. Wohlig streckte ich mich auf den frisch duftenden Frotteetüchern aus. Eine Weile geschah nichts, und ich fragte mich schon, ob Chloé überhaupt noch anwesend war, als plötzlich etwas Heißes, Öliges über meinen Rücken strömte. Hände folgten der Flüssigkeit nach und verteilten sie auf meiner Haut, raue, kräftige Hände, die genau wussten, wie Verspannungen zu lösen waren – körperliche ebenso wie seelische. Allmählich geriet ich in einen Trancezustand. Wie aus weiter Ferne drang Chloés Stimme an mein Ohr: „Dreh dich bitte um.“ Das heiße Öl ergoss sich nun über Brust und Bauch, kurz darauf folgten wieder die Hände nach und verteilten es, diesmal jedoch sehr sanft und zärtlich – mir kamen fast die Tränen vor Wonne.

Dann endeten die Bewegungen unerwartet. Ich konnte hören, wie Chloé aufstand, hinter mich trat und sich wieder setzte. Ihre pfirsichweichen Schenkel berührten nun meine Wangen. Gespannt erwartete ich den Fortgang der Dinge. Bekam ziemliches Herzklopfen, als sie meine Hände ergriff und sehr langsam, fast ritualistisch nach hinten führte – bis sie sich auf ihren wogenden Busen senkten! Starr vor Aufregung spürte ich die straffen Rundungen unter mir, die sich aufrichtenden Nippel. Chloé atmete tief ein und aus; es klang, als würde sie seufzen vor Lust. Meine Erektion war längst zurückgekehrt, stärker als zuvor. Unkontrolliert, fast konvulsivisch bewegten sich meine Hüften auf und nieder. Immer wieder ging ein Beben durch meine Finger, war ich versucht, zuzupacken, die Brüste unter meinen Handflächen zu massieren und zu kneten. Ich war halb besinnungslos vor Lust, konnte mich kaum noch im Zaum halten, und doch verharrten meine Hände, wo sie waren – ich hatte verstanden, dass ich in diesem Ritual der Nehmende sein sollte.

Welch eine Erlösung es war, als endlich kühle Finger mein Glied umschlossen und mich zu stimulieren begannen. Aber wer war dort? Chloé konnte es nicht sein, sie saß nach wie vor hinter mir, ich umfasste ihre Brüste, spürte ihre Schenkel an den Wangen. War Lucienne zurückgekommen? Hatte Chloé diese Situation arrangiert, damit endlich geschah, was längst hätte geschehen müssen? Es konnte nur so sein!

Statt der Finger spürte ich jetzt etwas Warmes, Feuchtes an meinem Geschlecht… die Lippen eines Mundes? Nein, die Unbekannte setzte sich auf mich, begann mich zu reiten… es war unsagbar schön. Pure Lust ließ mich endgültig alle Zurückhaltung vergessen; ich presste Chloés Brüste zusammen, strich mit beiden Händen über ihren Körper, griff dann nach vorn, wo ebenfalls Brüste waren, wippend, mit harten Nippeln, hörte beide Frauen vor Erregung stöhnten… und schließlich kam ich.

Als die Wellen des Orgasmus allmählich abklangen, streichelten mich wieder Hände, viele Hände, sie schienen überall zu sein. Endlich wurde mir die Augenbinde abgenommen; ich sah Chloé, deren eingeölter, bildschöner Körper im Kerzenlicht glänzte. Dann richtete ich den Blick langsam nach vorn – Vivienne hockte dort, nackt und schweißnass!

Eisiges Entsetzen durchzuckte mich. Ein Wutschrei stieg in mir hoch, aber bevor er herauskonnte, hatte Vivienne bereits ihre Lippen auf meine gepresst. Eine Zunge schob sich mir in den Mund, drang immer weiter vor, bis in den Rachen; ich begann zu würgen. Blitzschnell zog das glitschige Organ sich wieder zurück, wie ein Fühler oder Tentakel. Im nächsten Moment spürte ich Zähne an meinem Hals, spitz und scharf. Immer tiefer senkten sie sich in meine Haut, bis der Schmerz kaum noch auszuhalten war. Ich wagte nicht mehr, mich zu rühren, wusste plötzlich, dass ich stillhalten und es ertragen musste, sonst…

Vor meinen Augen begann alles zu verschwimmen, der Raum, Vivienne, Chloé… während im Hintergrund allmählich Gestalten auftauchten. Lucienne stand dort, in der Hand einen Sektkelch. Angeregt plauderte sie mit jemandem außerhalb meines Sichtfeldes. Sie trug ein schwarzes, hinten tief ausgeschnittenes Abendkleid, das ihren Rücken und die schmalen Schultern betonte. Das Bild des schwarzen Stoffes auf ihrer hellen, seidig-matten, von rötlichem Abendlicht übergossenen Haut, der Anblick des formvollendeten Rückens, der langen, schlanken Arme – er trieb mir Tränen in die Augen. Maßlose Trauer ergriff mich ob dieses einen, so wichtigen Momentes in der Bibliothek, des vielleicht wichtigsten meines Lebens, der jetzt unwiederbringlich verloren war…

Als hätte sie etwas von meiner Gefühlsaufwallung gespürt, hielt Lucienne unvermittelt im Sprechen inne. Sie drehte sich nach hinten, sah mir direkt in die Augen… aber ihre Miene blieb reglos, zeigte keine Spur des Erkennens. Desinteressiert wandte sie sich wieder ab und setzte die Unterhaltung mit ihrem unsichtbaren Gegenüber fort.

Ich hatte das Gefühl, abzustürzen, in ein tiefes, schwarzes Loch zu fallen – und plötzlich biss Vivienne zu. Die Schmerzen wurden furchtbar, unerträglich; gellend schrie ich auf, aber sie kannte kein Erbarmen. Immer tiefer gruben ihre Zähne sich in mein Fleisch, dazu setzte nun widerwärtiges Schmatzen, Kauen und Nagen ein. Stimmen begannen in der alten Inselsprache miteinander zu reden; es klang, als würden einander kurze Sätze zugerufen, Anordnungen, Befehle…

Endlich ließ Vivienne von mir ab; Fleischfetzen hingen zwischen ihren Zähnen, an den Mundwinkeln triefte das Blut herab – und blankes Entsetzen übermannte mich. Mir wurde endgültig schwarz vor Augen.



***



Als ich aufwachte, trug ich einen Pyjama. Ich befühlte meinen Hals, suchte behutsam nach Wunden, Bissmalen, Blut… alles schien heil zu sein, nichts schmerzte. Meine Arme dufteten schwach nach Duschgel, Rückstände von Öl fand ich keine. Hatte ich alles nur geträumt – den Sex mit Vivienne, aber auch Chloés Massage?

Ich suchte Lennards Feuerzeug auf dem Nachttisch, um den Leuchter zu entzünden, fand aber nur irgendwelche Streichhölzer. Als endlich Kerzenlicht den Raum erhellte, wirkte zunächst alles wie immer: Meine Klamotten hingen über ihrem Stuhl neben dem Bett, an der Wand erkannte ich die klobige Holzkommode, darüber hing der Spiegel. Aber das Ölgemälde neben der Tür – woher kam das plötzlich? Eine Frau unbestimmten Alters war darauf zu sehen, in einem wallenden, altertümlichen Kleid. Nach kurzem Betrachten stellte ich verblüfft fest, dass die Porträtierte Viviennes Gesichtszüge trug; nur die Brille fehlte. Vivienne selbst konnte es allerdings nicht sein, wie die Jahreszahl der Bildsignatur bewies: 1850.

Nun bemerkte ich immer mehr Unterschiede: Das Bett, in dem ich lag, war deutlich breiter als noch am Vorabend; neben meinem eigenen Schlafplatz befand sich plötzlich ein zweiter, unbenutzter. Wo gestern noch der Kleiderschrank gestanden hatte, führte jetzt ein Durchgang in einen weiteren, mir völlig unbekannten Raum. Papiere waren dort auf einem großen, altmodischen Schreibtisch ausgebreitet, ein mit Aktenordnern gefülltes Regal bedeckte die Rückwand. Die angrenzende Raumseite wurde fast vollständig von einer Schrankwand eingenommen. Meine eigenen Klamotten hingen darin, exakt so sortiert wie im Kleiderschrank meines alten Zimmers. Unter dem T-Shirt-Stapel lag das Portemonnaie mit sämtlichem Bargeld und den Karten. Ich hatte es nach der Ankunft auf dem Schloss eigenhändig dort deponiert. Alles war, wie es sein sollte – bis auf den Schrank selbst. Ich öffnete eine der hinzugekommenen Türen und schaute auf Blusen, Tops, Kostüme – Frauenkleidung. Eine etwas aus der Mode gekommene Sommerjacke meinte ich wiederzuerkennen: Hatte Vivienne sie nicht getragen, damals bei unserer ersten Begegnung in Porto d'Arreccio?

Neben dem Schrank standen mein Rucksack und der Rollkoffer. In dessen Vorderfach steckten Straßenkarte und Reiseführer, ebenso die Rechnungen des Hotels und des Autoverleihs. Aber wo war die Rückgabequittung für den Mietwagen abgeblieben? Und die Streichholzschachtel des Café Swing? Auch Luciennes Armreif war unauffindbar! Mich überkam eine dunkle Vorahnung; rasch ging ich ins Zimmer zurück und sah mit Erleichterung Lennards Karte auf dem Nachttisch stehen, gegen den Reisewecker gelehnt. Aber sein Feuerzeug – es fehlte ebenfalls! Nur jene Streichholzschachtel ohne Aufdruck lag dort, aus der ich mich gerade bedient hatte.

Draußen begann es allmählich hell zu werden. Ich wollte das Fenster öffnen, wie jeden Morgen, fand aber nirgends einen Griff oder eine Entriegelung, anders als am Vortag. Etwas drückte mir schlagartig die Luft ab. Was hatte dies alles zu bedeuten? Was geschah hier? Ein Angstschub überkam mich; es war wie in einem Albtraum, wenn plötzlich der Fluchtweg abgeschnitten ist…

Ich zwang mich, ruhig zu bleiben. Auf keinen Fall würde ich mich wieder in dieses Doppelbett legen, so viel war klar! Ich beschloss, zu duschen und dann wie gewohnt zum Frühstück hinunterzugehen. Irgendjemand musste mir erklären, was hier eigentlich gespielt wurde.



***



Auch draußen auf dem Flur wirkte alles verändert. Die Bilder an den Wänden erschienen mir unbekannt, den Abzweig zu Stefanos Zimmer gab es nicht mehr. Nur vereinzelt brannten Kerzen in ihren Wandhaltern; der frühere Lichterglanz auf den Korridoren war einem düsteren Sepiaton gewichen.

Mein gewohnter Weg hinunter in die Halle endete unvermittelt in einer Sackgasse. Wütend rannte ich herum, ohne jegliche Orientierung, ohne System und Verstand, und erreichte schließlich irgendwie die Galerie. In der Halle duftete es nach Kaffee, wie jeden Morgen. Als ich das Speisezimmer betrat und mich setzte, kam Manon aus der Servierküche, das obligatorische Kaffeekännchen in der Hand.

Ich fragte nach Vivienne, möglichst unverfänglich, um meine Planlosigkeit zu kaschieren. Manon zog erstaunt eine Braue in die Höhe, dann antwortete sie gewohnt nüchtern und ungerührt: „Vivienne wollte morgen zurück sein. So hatte sie es vor der Abreise jedenfalls angekündigt – in Ihrem Beisein, wenn ich mich recht entsinne.“ Sie stellte das Kännchen vor mir auf den Tisch.

Ich blieb hartnäckig: „Und wo ist sie hingefahren?“

Nun schaute sie mich an, als hätte ich eine sehr dumme Frage gestellt. „Nach Paris, wie immer. Sie hat in ihrem Institut zu arbeiten.“

„Aber sie wollte doch nach Athen.“

„Davon ist mir nichts bekannt. Könnte es sich um eine Verwechslung handeln?“ Ein spöttisches Grinsen zuckte in ihrem Gesicht auf, dann drehte sie sich weg und und verschwand wieder in der Küche.

„Und seit wann wohne ich bei Vivienne?“, rief ich ihr hinterher. Auf keinen Fall durfte ich mich jetzt verunsichern lassen!

Sie tauchte wieder im Durchgang auf. „Pardon?“, fragte sie leise.

Plötzlich spürte ich erneut diese Enge im Hals, den Angstschweiß am ganzen Körper. Ich schluckte, räusperte mich. „Was ist mit meinem eigenen Zimmer?“ Fast hätte mir die Stimme versagt.

„Aber – Sie wohnen doch schon immer bei Vivienne.“ Einen kurzen Augenblick schien Manon verwirrt. Aber sie hatte sich bereits wieder gefangen und ihre übliche, sphinxhafte Miene aufgesetzt Alles, was ich jetzt noch sagte, würde daran abgleiten, das wusste ich plötzlich.

Das Bild! Das Ölgemälde, auf dem Viviennes Doppelgängerin zu sehen war: „Dieses Porträt in meinem, pardon: in unserem Zimmer – wer ist die Frau darauf?“

„Das ist Vivienne de Montardit…“

Also doch Vivienne? Mir schwirrte der Schädel. Weshalb dann dieses altertümliche Kleid? Und was sollte das Datum – 1850?

„… die Tochter von César de Montardit“, sprach Manon nach einer kurzen, offenbar kalkulierten Pause weiter. „Ein Familienoberhaupt alter Zeiten.“

„Dann… sind die Namen gleich?“ fragte ich, nun völlig konfus.

Wieder zeigte sich das Grinsen in Manons Gesicht. „Offensichtlich. Kann ich Ihnen noch irgendwie helfen?“ In ihrem Tonfall war jetzt blanker Hohn zu erkennen.

„Nein, danke“, murmelte ich. Sie ging hinaus und hinterließ eine Stille, die bedrohlich war.

„Sie wohnen doch schon immer bei Vivienne…“ Wieder und wieder glaubte ich ihre Worte zu hören. „Vivienne, Tochter von César de Montardit… Familienoberhaupt alter Zeiten.“ Ich hatte auf einmal das Gefühl, keinen Boden mehr unter den Füßen zu haben, in die Tiefe zu fallen, immer schneller…

Nein, nein, das konnte alles nicht sein! Ich würde jetzt frühstücken und danach zu meinem alten Zimmer gehen. Dort würde ich gründlich nach den verschwundenen Gegenständen suchen und ganz bestimmt alles wiederfinden. Es bestand absolut kein Grund, jetzt in Panik zu verfallen.

Nachdem ich gegessen und zwei Tassen Kaffee getrunken hatte, fühlte ich mich tatsächlich besser. Gefasst stand ich auf und verließ das Speisezimmer. In der Schlosshalle nahm ich die Haupttreppe und lief dann die gewohnte Strecke zu meinem Zimmer.

Aber der Flur, den ich schließlich erreichte, wirkte vollkommen fremd. Ein paar verlorene Kerzenleuchter verbreiteten allenfalls spärliches Licht. Die Gemälde, früher so zahlreich, waren großenteils von den Wänden verschwunden. Und vor allem: Es gab nirgends mehr Türen. Blank und leer dehnte sich der mit dunklem Holz getäfelte Korridor vor mir, bis ihn schließlich die Finsternis verschluckte.

War ich falsch? Blödsinn, ich kannte den Weg sozusagen im Schlaf. Dies war definitiv der Flur mit meinem Zimmer. Ich ging ein Stück zurück, bog in den Abzweig zu Stefano – und begriff endgültig nichts mehr: Statt nach kurzem Wegstück zu enden, wie bisher, setzte der Korridor sich fort, lief in unbekanntes Dunkel. Und wo sonst Stefanos Zimmertür war, prangte jetzt eines dieser riesigen, vielfarbigen Glasmosaike. Ich tastete das Gebilde vorsichtig ab – nichts, rein gar nichts ließ darauf schließen, dass hier einst eine Tür gewesen war.

Also musste ich doch falsch sein, eine andere Erklärung gab es nicht. Oder hatten sie rasch alles umgebaut? Wollten sie mich verunsichern, mir ihre Macht demonstrieren? Bei diesem Gedanken wurde mir plötzlich sehr flau…

Ich ging zurück in den Hauptflur, nahm erneut alles in Augenschein. Irgendwo da hinten, wo jetzt dieses Zwielicht herrschte, musste mein Zimmer sein. Ob sich dort noch Anhaltspunkte fanden? Vielleicht hatten sie etwas übersehen bei ihrer Umbauaktion, irgendein winziges Detail, das ihnen unwichtig vorkam, mich aber retten konnte. Ich musste hingehen und mich selbst überzeugen – obwohl mir im Augenblick alles andere lieber gewesen wäre als das. Eine unerklärliche Abneigung hatte plötzlich Besitz von mir ergriffen, ein Ekel geradezu. Der Korridor mit seinen leeren, dunkel getäfelten Wänden erinnerte auf einmal stark an einen glitschigen Schlund in die Tiefe…

Aber wenn ich jetzt einknickte, war mein Zimmer verloren, endgültig, unwiederbringlich! Ich zwang mich also vorwärts. Das Knarren des Parketts unter meinen Schritten war von ausgemachter Hässlichkeit. 'Geh nicht weiter!', schien es zu warnen. 'Kehr um, so lange du noch kannst!' Immer lauter schrillten meine inneren Alarmglocken, mit jedem Meter verstärkte sich das Gefühl, einen schweren Fehler zu machen.

Aus dem Tunnel strömte mir eisige Luft entgegen; dazu hob nun ein äußerst befremdliches Raunen und Flüstern an. Ich kniff die Augen zusammen, spähte konzentriert ins Dunkel… und meinte allmählich eine Öffnung vor mir zu erkennen, die sich dehnte, zusammenzog, wieder dehnte – gleich einem gigantischen, atmenden Rachen…

Ich spürte die Angst in mir aufsteigen wie kochende, glühende Lava. Plötzlich meinte ich mich selbst zu sehen, gelähmt den Abgrund anstarrend, verloren, hilflos; zugleich hatte ich das sichere Gefühl, nicht passiv bleiben zu dürfen. Etwas Gefährliches lauerte vor mir in der Tiefe, ich musste unbedingt hier weg, ehe es zu spät war! Glasklar begriff ich dies alles und konnte doch nichts tun, nur paralysiert das Ende erwarten, wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange, in deren Rachen es gleich verschwinden würde…

Mit letzter Kraft riss ich mich los und wich zurück, Stück für Stück, Meter für Meter. Jede Bewegung erschien unendlich mühsam, die innere Lähmung wollte nicht weichen. Bis ich schließlich einen Punkt erreichte, an dem der Sog mich losließ. So schnell es ging, entfernte ich mich.

Mir blieb nichts, als bis zum Abendessen zu warten und dort mit jemandem zu sprechen.



***



Ich hatte Glück: Beim heutigen Diner waren Sandrine und Justin anwesend. Rasch kam ich zum Thema, erklärte den beiden mit gespielter Selbstironie, dass ich den Weg zu meinem alten Zimmer seltsamerweise nicht mehr finden konnte.

„Dein altes Zimmer?“, fragte Justin in seinem ruhigen, demonstrativ entspannten Tonfall. „Du meinst das Zimmer von Vivienne und dir?“

Ging das schon wieder los? Hatten sich denn alle gegen mich verschworen? Aber ich versuchte, ruhig zu bleiben, mich nicht irritieren zu lassen. „Nein, nein. Ich spreche von jenem Zimmer, in dem ich zu Anfang gewohnt habe.“

Schweigen. Die beiden sahen mich mit betretenen Mienen an, wirkten aber nicht überrascht. Ob Manon ihnen von der Unterhaltung am Morgen berichtet hatte?

„Marc“, ergriff Sandrine das Wort, „du hattest nie ein separates Zimmer. Seit du mit Vivienne nach Chateau de Montardit kamst, wohntet ihr immer zusammen.“ Etwas Besänftigendes und zugleich Klarstellendes lag in ihrer Stimme, als spräche sie mit einem Kind, das etwas einsehen, sich von einer liebgewonnenen Illusion lösen sollte.

„Außerdem sind ein paar meiner persönlichen Sachen verschwunden.“ Ohne dass ich es wollte, war ich lauter geworden. Die Beklemmung, die mir auf der Brust lag, ließ sich nicht länger verbergen. „Überall hab ich danach gesucht – vergeblich.“ Ich nannte die Quittung des Autoverleihs, verschwieg aber Luciennes Armreif und Lennards Feuerzeug, sprach nur unbestimmt von 'weiteren anderen Dingen'. In diesem Moment erschien mir das klüger.

Justin sah mich streng an. „Du meinst, du bist bestohlen worden?“, fragte er mit einem Anflug von Härte in der Stimme.

Dieser Gedanke war mir bislang nicht gekommen. Konnte das sein? Ich dachte an die Brieftasche, das Geld und die Kreditkarten – ein Dieb hätte diese Dinge sicher zuerst genommen. Verzweifelt schüttelte ich den Kopf. „Nein, nein, danach sieht es nicht aus. Die Sachen müssen noch irgendwo sein. Wenn ich in mein altes Zimmer gehen und dort suchen…“

„Diese Quittung“, unterbrach mich Justin, „bist du sicher, dass du sie ins Schloss mitgenommen hast? Könnte sie vielleicht unterwegs verloren gegangen sein, in der Mietstation zum Beispiel oder im Wagen von Vivienne?“

„Garantiert nicht!“, wollte ich schon ausrufen – aber dann merkte ich, dass meine Erinnerung an diesem Punkt versagte. Bestimmt war die Quittung nicht in der Mietstation liegengeblieben, dessen war ich mir sicher. Aber was hatte ich anschließend damit gemacht, als ich zu Vivienne ins Auto gestiegen war? Sie auf die Ablage geworfen? Oder in die Hosentasche gestopft? Ich wusste es nicht mehr genau.

„Keine Sorge, Marc.“ Justin legte mir begütigend die Hand auf die Schulter. „Wir werden Manon bitten, die Augen offenzuhalten. Sie ist so viel im Schloss unterwegs – wenn jemand verlegte Gegenstände wiederfindet, dann sie.“

Im ersten Moment wusste ich nicht, ob ich lachen oder weinen sollte über diesen Vorschlag. Ausgerechnet Manon – meine Sachen hatte ich so gut wie zurück!

Es gab einfach keine Lücke, keinen Ansatzpunkt. Sie hatten sich perfekt abgesprochen, wollten mich komplett verunsichern, verwirren. Aber diesen Gefallen würde ich ihnen nicht tun, unter gar keinen Umständen!

Stefano kam mir in den Sinn. Mit ihm hatte es angefangen: seine verzweifelten Schreie in der Nacht, schließlich das leere Zimmer…

„Und Stefano – wo ist der?“ Ich konnte mir einen gewissen Triumph im Tonfall nicht verkneifen. Jetzt war ich auf eine Antwort gespannt!

Sandrine schien verwirrt bei der Erwähnung dieses Namens. Einen Moment später nahm ihr Gesicht einen gequälten Ausdruck an, als würde eine schmerzvolle, peinigende Erinnerung zurückkehren. Sie schniefte, fuhr sich unwirsch mit der Hand über die Augenwinkel… dann sprang sie auf und lief aus dem Speisezimmer.

„Musstest du davon sprechen?“, tadelte Justin mich.

Ich schaute ihn fragend an, hatte nicht die geringste Ahnung, was er meinte.

„Sandrine war inzwischen einigermaßen darüber hinweg. Aber so unvermittelt wieder darauf angesprochen zu werden, übersteigt einfach noch ihre Kräfte. Wenig erstaunlich, wenn man bedenkt, wie Stefano sie behandelt hat… kurzerhand abzureisen, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, sich einfach wie ein Dieb bei Nacht und Nebel aus dem Staub zu machen.“

Wie bitte? Stefano – abgereist? Das war endgültig zu viel! „Und sein Zimmer habt ihr ausgeräumt, um die Schande zu tilgen, oder was?“, fuhr ich ihn an.

„Wovon sprichst du jetzt, Marc?“, fragte Justin, nach wie vor die Ruhe selbst. „Stefano hatte kein eigenes Zimmer, genauso wenig wie du. Selbstverständlich lebte er bei Sandrine.“

„So?“, entgegnete ich wütend. „Und wer hat bitte den Raum bewohnt, den man über den toten Gang erreicht, wenn man von meinem Zimmer…“ Ich stockte, musste plötzlich an die heutigen Erlebnisse zurückdenken. Der tote Gang – war kein toter Gang mehr. Stefanos Zimmertür – hatte sich in ein Glasfenster verwandelt. Mein Zimmer – war plötzlich im Dunkel dieses fremden Korridors verschwunden.

„Ich verstehe kein Wort, Marc“, drang Justins Stimme an mein Ohr. „Aber um eines bitte ich dich: Erwähne in Sandrines Gegenwart zukünftig nie wieder Stefano, hörst du?“ Bei diesen letzten Worten bekam seine Stimme einen warnenden Unterton, der mir unwillkürlich Angst einflößte.

„Es ist spät“, sprach er in seiner gewohnt ruhigen Art weiter. „Wir wollen schlafen gehen. Bonne nuit, Marc.“ Mit diesen Worten stand er auf und ging ebenfalls.

Als ich allein dort saß, fühlte ich mich wie betäubt. Sie hatten alles erklären, mich in sämtlichen Punkten widerlegen können. Was sollte ich jetzt machen? Türmen? Wie hätte ich ins Freie kommen sollen, da sämtliche Türen auf einmal verriegelt und verrammelt waren? Mich irgendwo verstecken? In diesem verfluchten Gebäude, so endlos es auch war, hätten sie mich überall gefunden.

Es war totenstill; auch aus der Servierküche kamen keine Geräusche mehr. Beim Aufstehen merkte ich, dass mir sämtliche Glieder zitterten, hinter meiner Stirn wummerte es unablässig. So leise wie möglich, den Leuchter in der bebenden Rechten, durchquerte ich die dämmrige Halle. Permanent spähte ich umher – ich wollte eine Begegnung mit Manon vermeiden, sie durfte mich auf keinen Fall geschlagen sehen, am Boden liegend. Die kurze Szene unserer ersten Begegnung fiel mir wieder ein, als ich sicher gewesen war, die Wirtin des Dorfgasthofs vor mir zu haben. Ihr hinterhältiges Grinsen, dieser fiese Gesichtsausdruck, der zu sagen schien: Jetzt haben wir dich…

Wohin sollte ich gehen? Vielleicht konnte ich auf einer Chaiselongue übernachten, in einem der unbenutzten Räume. Es gab so endlos viele davon – nur mein eigenes Zimmer war plötzlich verschollen, inklusive der Gegenstände, die mir so wichtig waren.

Einige Zeit irrte ich umher – es waren Augenblicke der Hölle. Immer wieder kroch von hinterrücks dieser feucht-kalte Windzug heran, wie schon nach dem missglückten Treffen mit Lucienne. Die Flammen des Leuchters begannen zu flackern, neigten sich nach vorn, immer stärker. Und auf dem Höhepunkt des Sturms, wenn das Licht kurz vorm Erlöschen war, schien mich plötzlich etwas im Nacken zu berühren. Wie mit Eisfingern strich es mir über Nacken und Kopfhaut und verschwand schließlich vor mir im Dunkel, die Kerzenflammen beruhigten sich wieder. Kurz darauf begann alles von neuem. Was immer das auch sein mochte – es schien mich permanent zu umkreisen und zu belauern.

Die Kreaturen, die nachts durch das Schloss streiften, diese scheußlichen Spinnenmonster, die schon Stefano… waren sie in der Nähe? Ich durfte keinesfalls weiter hier herumlaufen, das war glatter Selbstmord!

Instinktiv spürte ich, dass einzig Viviennes Zimmer Schutz bot. Nur dort war ich vor diesen widerwärtigen Geschöpfen sicher…

Okay, sie hatten gewonnen, ich wusste einfach keinen Ausweg mehr. Zutiefst frustriert ging ich los. Überall entlang der Strecke brannten die Kerzen hell in ihren Leuchtern, während ansonsten alles längst im Finstern lag. Auch der unheimliche Luftzug hatte sich mit meiner Kapitulation schlagartig gelegt. Sie wollten es mir offenbar so angenehm wie möglich machen. Und doch ich fühlte mich den ganzen Weg über wie ein Todeskandidat, der zum Richtblock schreitet.

Schließlich betrat ich jenen Raum, in dem ich heute früh erwacht war. Eine brennende Nachttischkerze empfing mich – wer immer die auch entzündet hatte. Das Licht, so warm und hell, so willkommenheißend, löste einen abrupten Stimmungswechsel in mir aus: Plötzlich war das nagende Gefühl von Angst und Abwehr verschwunden, eine unerklärliche Ruhe kam über mich. Nach dem Entkleiden sank ich nur noch todmüde auf das Bett, das seit neuestem eine zweite Hälfte besaß. Kaum hatte ich mich zur Seite gedreht, schlief ich auch schon ein.



***



Mitten in der Nacht schreckte ich hoch und wusste im ersten Moment nicht, wo ich war. Allmählich kam die Erinnerung… und dann stürzte die furchtbare Gegenwart mit einem Schlag auf mich ein: das fremde Zimmer, das ich angeblich immer bewohnt hatte, der Schrank, in dem plötzlich auch Viviennes Klamotten hingen, meine verschwundenen Gegenstände…

Ein Geräusch drang an mein Ohr, ein gleichmäßiges Atmen. Neben mir zeichnete sich allmählich ein Körper unter dem Betttuch ab; ich erkannte ein Gesicht: Vivienne. „Hallo“, kam es verschlafen von ihr. Sie rückte an mich heran und legte den Arm um meinen Nacken. „Schön, wieder hier zu sein.“ Sehr eng schmiegte sie sich an mich; der Druck wurde immer fester, bis mir regelrecht die Luft wegblieb.

Ich probierte, mich zurückzuziehen, wenigstens ein kleines Stückchen, wusste aber schon vorher, dass der Versuch zum Scheitern verurteilt war. Keinen Zollbreit würde ich mich rühren können, exakt wie früher – mit Alexandra. Auch sie hatte sich regelrecht an mir festgeklammert, bis ich keinen Raum mehr zum Atmen hatte. Und so ergab ich mich in den eisernen Griff, starrte nur ins Dunkel, resigniert, ratlos.

Trotz aller Beengung, das konnte ich nicht verhehlen, lag auch etwas Warmes in Viviennes Umarmung, etwas Liebevolles… irgendwann spürte ich streichelnde Hände auf meinen Wangen, am Hals. Sie knöpften meinen Pyjama auf, schoben den Stoff beiseite, fuhren über meine Schultern, meine Brust; bald folgten ihnen feuchte, warme Lippen nach.

Es war unwahrscheinlich schön, ähnlich wie bei der Massage. Ich hielt die Augen geschlossen, gab mich den Berührungen hin. Wie sehr sie mir gefehlt hatten in all den Jahren der Isolation! Ich war so ausgehungert nach Nähe und Intimität, dass es mir fast gleichgültig war, welche Frau mich liebkoste. Inzwischen war ich komplett entkleidet; die Lippen erreichten mein Glied, umschlossen es, glitten daran auf und nieder. Wonneschauer durchliefen mich, unwillkürlich stöhnte ich auf.

Im selben Moment wurde mir klar, dass ich diese Zärtlichkeiten keinesfalls missen wollte, dass ich einiges zu geben bereit war, um sie zu bekommen. Und wenn mir der Weg zu einer Lucienne oder Sophia verwehrt war, musste es eben eine Alexandra tun oder…

Vivienne setzte sich jetzt auf mich; ich spürte, wie mein Glied langsam in sie hineinglitt. Ihre Brüste waren voll, hingen aber leicht. Schon vor dem Berühren wusste ich, dass sie zu weich waren, zu sehr nachgeben würden beim Kneten und Massieren – wie bei Alexandra. Als meine Hände die Halbkugeln umschlossen, war es exakt wie erwartet. Und doch doch erregte es mich auch.

Viviennes Bewegungen auf mir waren erst sanft und behutsam, wurden aber bald schneller. Ihre Finger krallten sich in meine Brust, die Nägel hinterließen rote Male auf meiner Haut. Sie beugte sich über mich, biss mir in die Schulter, in die Arme – und ich geriet darüber regelrecht in Ekstase. Schließlich kam ich, was auch sie zum Höhepunkt brachte; ich spürte die Zuckungen und Windungen ihres Körpers, hörte ihr Seufzen, das fast wie ein Weinen klang…

Dann lag sie erschöpft auf mir, schweißnass, am ganzen Leib zitternd; und auch ich bebte vor Lust. Diese Intensität, dieser regelrechte Rausch – so etwas hatte ich noch nie erlebt. Alexandra war beim Sex nie gekommen. Sie hatte mich während meines eigenen Höhepunktes nur angeschaut, verständnisvoll, aber auch ein bisschen gelangweilt. Dagegen Vivienne…

Noch lange verharrten wir in unserer Position, aufeinander liegend, in maximal engem Körperkontakt. Schließlich rollte sie sich, bereits halb im Schlaf, zur Seite. Bevor ich selbst wegschlummerte, sah ich, dass es draußen bereits hell wurde.



***



Als ich die Augen aufschlug, kam Vivienne gerade aus dem Bad, in einem dunklen Negligé. Sie beugte sich über mich, hauchte mir ein von Zahnpasta-Arom begleitetes „Bonjour“ ins Ohr und küsste mich sanft auf die Stirn. Diese liebevolle, ungewohnte Begrüßung rührte mich seltsam an.

Eigentlich wollte ich gern aufstehen, zögerte aber, da ich noch immer unbekleidet war. Dann gab ich mir einen Ruck und schlug die Decke zurück. Als ich nackt durch den Raum zum Bad ging, sah Vivienne kaum hin, als würde sie den Anblick längst kennen. Während des Duschens bemerkte ich Striemen und Blutergüsse auf der Brust. Rührten sie von Viviennes Bissen her? Richtige Verletzungen jedoch hatte ich nirgends – die schreckliche Wendung nach Chloés Massage musste definitiv ein Traum gewesen sein. Vielleicht hatte auch die gesamte Szene überhaupt nicht stattgefunden.

Auf dem Weg hinunter zum Frühstück nahm Vivienne meine Hand. Wie ein frisch verliebtes Paar durchquerten wir die weite Halle, traten schließlich ins Speisezimmer, wo uns leuchtender Kerzenschein empfing.



***



Vivienne wich nun nicht mehr von meiner Seite. Stets frühstückten wir gemeinsam und verbrachten anschließend den kompletten Tag zu zweit. Unternahmen Spaziergänge durchs Schloss, saßen in einem der vielen Lesezimmer zusammen, gönnten uns zwischendurch im Speisezimmer einen Imbiss.

Und jede Nacht hatten wir Sex. Lustvollen, intensiven Sex, ich konnte es nicht verhehlen. Meine Sehnsucht nach Berührungen hielt an, und Vivienne verstand es meisterhaft, sie zu befriedigen, sogar noch zu steigern. Wie schaffte sie es bloß, eine solche Gier in mir zu entfachen, obwohl ich keine tiefere Zuneigung für sie hegte, sie nicht einmal besonders attraktiv fand? Lag es daran, dass ich noch nie mit einer Frau zusammen gewesen war, die ich wirklich mochte, und mir schlicht der Vergleich fehlte? Vor Vivienne hatte es ja nur diese eine, eher zufällige Partnerschaft gegeben, aus der dann fast eine Ehe geworden war. Und seltsam: Obwohl Alexandra und Vivienne sich überhaupt nicht ähnelten, weder äußerlich noch von der Art her, erinnerte mich die eine immer stärker an die andere.

Und wie damals begann ich allmählich, die Situation als gegeben hinzunehmen. Mehr und mehr akzeptierte ich es, eine Beziehung zu führen, von der ich nicht wusste, wie sie eigentlich über mich gekommen war. Die „Belohnung“ erfolgte auf dem Fuße: Sandrine und Justin begegneten mir mit der alten Freundlichkeit. Jene peinliche Unterhaltung, als ich nach meinem früheren Zimmer und Stefano gefragt hatte, erwähnten sie mit keiner Silbe mehr. Auch Manon brachte mir wieder Respekt entgegen; der abschätzige Zug um ihren Mundwinkel war verschwunden, das höhnische Grinsen tauchte niemals mehr auf. Ganz offensichtlich hatte ich in ihren Augen die Seiten gewechselt: Vom Besucher niederen Standes, der überdies an temporärer geistiger Verwirrung litt, war ich zum Lebenspartner eines Familienmitglieds aufgestiegen, gehörte somit nun gewissermaßen zur Dynastie.

Es ließ sich leugnen: Seitdem ich die mir zugedachte Rolle akzeptierte, mich nicht mehr dagegen auflehnte, war das Leben bedeutend einfacher geworden. Man honorierte mein Wohlverhalten, mit Integration, Anerkennung, körperlicher Liebe. Die tiefe Verunsicherung der letzten Zeit existierte nicht mehr, mein Weg schien wieder klar vor mir zu liegen.

Dennoch: Wenn ich meine Lage in den wenigen Momenten innerer Klarheit überdachte, konnte ich mich einer gewissen Bitterkeit nicht erwehren.



***



Bei den Diners waren neben Vivienne und mir jetzt meistens Sandrine und Justin anwesend. Dass Vivienne endlich ihr langersehntes Liebesglück gefunden hatte, schien die beiden aufrichtig zu freuen. Offenbar war ich ihr erster richtiger Partner, wie ich aus den Tischgesprächen heraushörte. Bisher hatte sie wohl immer Pech gehabt.

Eines Abends schlug ich nach dem Essen vor, noch ins Kaminzimmer hinüberzuwechseln.

„Welches Kaminzimmer, Marc?“, fragte Sandrine. Auch die anderen blickten mich verwundert an, als hätten sie keine Idee, wovon ich sprach.

„Wieso welches Kaminzimmer? Das hinter jener Tür dort liegt, natürlich.“ Ich zeigte auf die Durchgangstür, die wir so oft benutzt hatten – früher, in anderen Zeiten.

„Die ist abgeschlossen“, erklärte Justin. „Ich habe sie noch nie offen gesehen.“

„Ich auch nicht“, stimmte Sandrine zu.

„Ich weiß gar nicht, was dahinter ist“, behauptete Vivienne.

Ging das jetzt von neuem los? Wollten sie mich wieder zum besten halten, mich mürbemachen?

„Aber wir haben doch früher so oft im Kaminzimmer gesessen!“, rief ich ungeduldig. „Waren das nicht immer tolle Abende?“

„Marc, keiner von uns hat diese Tür je benutzt“, versicherte Justin.

„Also – das ist doch Blödsinn, was ihr da erzählt!“, rutschte es mir heraus.

„Manon soll uns aufschließen, dann kannst du dich selbst überzeugen“, sprach Justin begütigend auf mich ein. „Manon, komm doch bitte kurz herüber“, rief er auf französisch in Richtung Küche. Sofort erschien die Angesprochene im Durchgang, als hätte sie alles mitgehört und bereits dort gewartet.

„Öffne bitte diese Tür“, wies Justin sie an.

Manon bedachte mich mit einem kühlen Blick, ihre Augenbraue zuckte kaum merklich nach oben. Sie holte einen Bund altmodischer Schlüssel hervor. Ein kurzes, energisches Klimpern, und die besagte Tür schwang nach hinten.

„Bitteschön, Marc.“ Justin machte eine einladende Geste mit der Hand.

Alle Augen richteten sich auf mich. Es war eine skurrile, absurde Situation: Eigentlich wusste ich doch, was ich gleich sehen würde, trotzdem war diese unbestimmte Furcht wieder da, der Knoten in der Kehle, das Zittern in den Knien…

Ich ging zur Türfüllung. Zögerte, atmete durch und wagte endlich einen Blick: Abgedeckte Möbel gähnten mir aus dem Halbdunkel entgegen wie bleiche Gespenster. Die Bücherschränke waren komplett leer, über das kahle Parkett trieben dicke Staubflocken. Nichts, rein gar nichts erinnerte an das, was ich mit diesem Raum verband: Licht, Wärme, Geselligkeit.

Schweigend trottete ich an meinen Platz zurück. Die lähmende Stille ringsherum wurde nur unterbrochen, als Manon, begleitet von metallischem Klirren, die Durchgangstür wieder verschloss. In ihrem Gesicht erkannte ich jetzt deutlich das altbekannte, verächtliche Grinsen. „Gib 's doch endlich auf“, schien sie mir zu sagen.



***



Viviennes nächste Dienstreise stand an. Mit unseren „glücklichen Tagen“ war es also einstweilen vorbei.

Zur Verabschiedung fand sich ein verlorenes Häufchen von fünf Leuten in der Schlosshalle zusammen: Vivienne, Sandrine, Justin, Manon und ich. Sandrine wurde von ihrer Schwester umarmt und bekam Bussis auf beide Wangen. Anschließend war ich an der Reihe: Energisch zog Vivienne mich zu sich und gab mir einen langen, leidenschaftlichen Kuss. Ein finaler Röntgenblick aus ihren dunkeln Augen, in dem ich eine unbestimmte Warnung zu erkennen glaubte, dann war es überstanden.

Justin trug Viviennes Taschen, sie selbst zog nur das lederne Rollköfferchen hinter sich her. Gravitätisch schwang ein Flügel des Portals auf, Tageslicht fiel in die Halle. Die Helligkeit war so ungewohnt, dass ich meine Augen mit der Hand abschirmen musste. Nur schemenhaft erkannte ich, wie zwei Gestalten nach draußen glitten und im dichten Nebel verschwanden. Dann schlug der Türflügel unter machtvollem Donnern wieder zu, das Dämmerlicht kehrte zurück.



***



Völlig aufgekratzt wanderte ich herum. Das geöffnete Portal, der Lichtschein, die frische Brise auf der Haut – diese fast vergessenen Sinneseindrücke hatten mich schlagartig wachgerüttelt und geradezu elektrisiert. Ich wollte ins Freie, unbedingt, schnellstmöglich! Und so streifte ich wie ein einsamer Wolf über die leeren Schlosskorridore.

Jedes Fenster entlang des Weges wurde einer gründlichen Prüfung unterzogen. Konnte man es öffnen? Drang Luft von draußen herein, durch Ritzen oder Spalte? Sämtliche Türen wurden ausprobiert und, falls verriegelt, vehement traktiert. Ich bearbeitete das Holz mit Fußtritten, warf mich dagegen – umsonst. Die Pforten von Chateau de Montardit waren massiv und unüberwindlich, jeder Einbrecher hätte sich an ihnen die Zähne ausgebissen.

Keine Wendeltreppe, die ich nicht hochstieg – möglicherweise gab es oben eine unverschlossene Tür, durch die man nach draußen kam. Ich würde mich an die Zinnen stellen und schauen; vielleicht hatten wir inzwischen wieder klare Sicht auf die Bergwelt, wie damals im Sommer. Aber stets wurde meine Hoffnung enttäuscht, war die fragliche Tür abgeschlossen, und ich musste unverrichteter Dinge den Rückzug antreten.

Die nächste Treppe: Stufen, die sich spiralförmig in die Höhe schraubten und im Halbdunkel verloren, an der Innenseite ein klappriges Holzgeländer. Auf Anhieb wusste ich, wo ich mich befand: im Hauptturm. So viel war klar: Ein Aufstieg würde in diesem Fall ewig dauern. Sollte ich es dennoch wagen?

Aber – stellte sich diese Frage sich ernsthaft? Der Hauptturm war oben offen; man konnte einfach ins Freie schreiten, keine Tür hinderte einen. Jedenfalls erinnerte ich es so. Was gab es also zu überlegen? Schon lief ich aufwärts, folgte der Spirale in den Himmel. Bald sah ich nichts mehr außer Stufen, über und unter mir nur Treppenstufen. Lange, sehr lange ging das so weiter, aber ich nahm die Anstrengung gern auf mich. Denn am Ende wartete ja die Belohnung. Diesmal musste es ganz einfach klappen!

Endlich tauchte oben die Öffnung auf. War sie beim letzten Mal nicht viel heller gewesen? Es musste am Wetter liegen, diesem ewigen, undurchdringlichen Nebel dort draußen, der einfach kein Licht hereinließ. Aber beim Näherkommen erkannte ich mit leichtem Schrecken: Eine Falltür versperrte den Durchgang. Bei meinem ersten Besuch im Sommer war sie noch nicht dort gewesen – jedenfalls hatte ich damals nichts dergleichen bemerkt. Massiv war sie, aus schweren Eichenbohlen gearbeitet. Aber sie würde sich öffnen lassen, das spürte ich. Ich hatte da diesen sicheren, untrüglichen Instinkt.

Siegesgewiss umfasste ich den Eisenknauf und drückte nach oben. Da war ein Widerstand, aber dennoch rührte sich das Türblatt, bewegte sich unter protestierendem Quietschen aufwärts, jedenfalls ein Stückchen.

Ein sehr kleines Stückchen, zugegeben. Die Scharniere waren offenbar eingerostet – kein Wunder bei der Luftfeuchtigkeit durch den elenden Dauernebel. Vor Anstrengung begann ich bald zu schwitzen, aber mein Einsatz schien sich zu lohnen: Ein Spalt wurde sichtbar; auch war jetzt deutlich ein frischer Luftzug zu spüren. Während ich mich abmühte, fuhr mein Blick unbewusst am Türblatt entlang, von einer Seite zur anderen. Und endlich entdeckte ich auf Höhe des Griffs die Unterbrechung im Lichtstreifen … ein Bolzen, ein Riegel – das konnte doch nicht wahr sein!

Panik erfasste mich, ich drückte noch stärker, rüttelte verzweifelt am Griff, wollte die Tür zur Not aufbrechen. Ein Gefühl des Ertrinkens hatte mich auf einmal gepackt, ich musste unbedingt an die Oberfläche! Allmählich wurde die Luft knapp, meine Kräfte begannen zu schwinden…

Und endlich begriff ich, dass es zu spät war. Ich würde es nicht mehr schaffen, es war vorbei. Verzweifelt sank ich auf die Stufen, Tränen standen mir in den Augen. Sie hatten an alles gedacht, nicht das winzigste Schlupfloch übersehen. Sämtliche Ausgänge waren abgeschlossen und verrammelt. Es gab keinen Weg mehr ins Freie, meine letzte Hoffnung hatte sich zerstoben.

Dieses Schloss – es war in Wirklichkeit ein Gefängnis!



***



Aber wenn sie dachten, dass ich jetzt kapitulierte, hatten sie sich getäuscht. Wie oft war ich auf dieser Reise schon in Sackgassen geraten, hatte nicht mehr weitergewusst. Und plötzlich war ein bis dato unsichtbarer Weg aufgetaucht, hatten sich völlig neue Perspektiven ergeben.

Ich beschloss, meine Recherchen wieder aufzunehmen, neue Hinweise zu finden, auf Lennard, aber auch auf Stefano. Mochten mir die Schlossbewohner auch alles weggenommen haben, was mit ihnen zu tun hatte, das Feuerzeug, die alte Streichholzschachtel – davon würde ich mich nicht beirren lassen, im Gegenteil: Mein Kampfgeist war jetzt erst richtig entfacht! Chateau de Montardit bot ungeahnte Möglichkeiten der Spurensuche, man musste nur die Augen offenhalten, seinen Einfallsreichtum nutzen, der eigenen Phantasie genügend Raum geben. Dann würden sich auch neue Indizien finden lassen, die einen weiterbrachten.

Gleich am nächsten Morgen, nach einem üppigen, stärkenden Frühstück, setzte ich mein Vorhaben in die Tat um. Als erstes steuerte ich den Lichthof an, wo ich Luciennes Armreif gefunden und Stefano zum letzten Mal gesehen hatte. Nichts hatte sich hier verändert: Da war die Sitzgruppe unter dem gewölbten Glasdach. Im Hintergrund bedeckten Bücherregale die Wände, auch das Klavier stand noch an seinem Platz. Palmen und Kakteen ragten überall in Tontöpfen auf.

Durch die Scheiben des Glasdachs sah man das gewohnte, gleichmäßige Grau. Dieser ewige Nebel – würde er sich jemals wieder verziehen? Auf dem Mahagoni-Tischchen lag ein Buch: Der Band von Poe. Lucienne hatte ihn hierher mitgenommen, am Abend unseres letzten Treffens… in meinen Schläfen begann es zu pochen; nur sehr langsam begriff ich, was dieser Fund bedeutete: Ihnen war ein Fehler unterlaufen, ein fataler Fehler! Wie konnte dieses Buch hier liegen, wenn doch eigentlich alles, was auf Lucienne, Stefano und Lennard hinwies, spurlos verschwunden war, als hätte es nie existiert? Plötzlich gab es einen handfesten Beweis, dass zumindest das Treffen mit Lucienne so stattgefunden hatte, wie ich es erinnerte. Und wenn dieses Ereignis kein Hirngespinst war, weshalb sollten es dann die anderen sein? Die abendlichen Zusammenkünfte im Kaminzimmer, der Korridor, auf dem Stefano und ich gewohnt hatten? Ha – dieser Lapsus hätte ihnen nicht unterlaufen dürfen! Er ließ ihr Konstrukt, ihr Lügengebäude in sich zusammenfallen wie ein Kartenhaus!

Wenn ich doch bloß ein Foto hätte machen können! Aber mein Handy-Akku war ja seit Ewigkeiten leer. Stattdessen schob ich den Poe-Band ins hinterste Regal, an die letzte Stelle. Wenn mich neue Zweifel packten, ob all das, woran ich mich zu erinnern glaubte, tatsächlich passiert und nicht bloß meiner Phantasie entsprungen war, würde ich einfach wieder herkommen. Das falsch einsortierte Buch war dann sozusagen meine Brücke in die Wirklichkeit.

Bestärkt und ermutigt durch dieses unverhoffte Erfolgserlebnis marschierte ich zurück zur Galerie. Nahm dort den gewohnten Weg zu meinem Zimmer und dem von Stefano, angetrieben von lebhafter Zuversicht, die Dinge wieder so vorzufinden wie ehedem. Der Bann – er war jetzt gebrochen, garantiert!

Als ich aber den altbekannten Flur betrat, zerplatzten meine kühnen Wunschträume wieder: Alles hier war noch genauso, wie ich es zuletzt gesehen hatte: vollkommen verändert und fremd. Es gab kaum Kerzenbeleuchtung, die wenigen Bilder an den Wänden erschienen mir unbekannt und noch immer waren sämtliche Türen verschwunden.

Frustriert bog ich zu Stefanos Zimmer ab: Dort prangte nach wie vor dieses verdammte Glasmosaik. Seine Farbenpracht schien meiner eigenen Misere Hohn sprechen zu wollen. Woher kam bloß dieser Lichtschein hinter den Glasscheiben? Lag dort ein Raum, auf den die Sonne schien? War dort Stefanos Zimmer?

Es half nichts, ich musste zu rabiateren Mitteln greifen, sprich: eine der Scheiben einschlagen, anders kam ich hier nicht weiter. Ich zog die Strickjacke aus, die ich der klammen Luft wegen jetzt immer trug, wickelte sie um Unterarm und Hand. Ob das reichte, die Splitter abzuhalten? Und wie musste man zuschlagen? Mit der Faust? Dem Handrücken? Oder lieber mit dem Ellenbogen?

Während ich noch überlegte, streifte mich von irgendwoher ein klirrend kalter Luftzug. Alarmiert blickte ich zum Hauptflur: Kam das von dort? Schlich jemand sich heran?

Aber in Wirklichkeit ahnte ich längst, wo die Quelle des Frosthauchs liegen musste. Es gelang mir fast nicht, den Kopf zu wenden, einen Blick hinter mich zu wagen, in jenen mysteriösen, stockfinsteren Korridor, den es hier früher nicht gegeben hatte: Irgendetwas regte sich da hinten, eine Art Vibrieren durchpulste das Dunkel. Als würde der Raum sich krümmen, winden und krampfen unter etwas äußerst Machtvollem. Rasch kam es näher; auf einmal spürte man eine starke Energie, die sehr an jene auf dem Hochplateau erinnerte – aber noch mehr an die dunkle, bedrohliche in der Schlosskapelle…

Eisige Furcht ergriff mich, wollte mich schier lähmen – dennoch tat ich instinktiv das Richtige: Ich verließ den Lichtkegel des Glasmosaiks, um nicht weithin sichtbar zu sein. Behutsam ging ich rückwärts, Schritt für Schritt. Gerade erreichte ich den Hauptflur, da begann das Glasmosaik – ich konnte es kaum glauben – zu verschwimmen, Wellen liefen darüber hin wie Kräuselungen über eine Wasserfläche. An einem bestimmten Punkt aber materialisierte sich schemenhaft eine Gestalt aus dem Lichtspiel… ein Greis mit wallendem, schlohweißem Haar, hoch gewachsen und von gerader, ehrfurchtgebietender Haltung. Langsam und majestätisch wandte er sich in meine Richtung, ein Röntgenblick aus stechenden Augen traf mich; dann tauchte die Gestalt in das Glasfenster – und war verschwunden!

Blankes Entsetzen durchfuhr mich wie ein Stromschlag; mein Gleichgewichtssinn versagte, ich taumelte zurück, suchte unwillkürlich nach Halt – und spürte plötzlich etwas Kaltes, Metallisches unter den Fingern. Panisch drehte ich mich nach hinten: Es war eine Messingtafel unter einem Ölgemälde, das an der gegenüberliegenden Wand hing.

Man musste weit zurücktreten, um das Bild, ein gewaltiges Tableau, in Gänze betrachten zu können: Ein Mann mit weißem Haupthaar sah auf mich herab, ernst und würdevoll, umfasst von einem kunstvoll gearbeiteten Rahmen, dessen Blattgold intensiv schimmerte, trotz des spärlichen Lichtscheins.

Aber der Porträtierte – ähnelte verblüffend der Erscheinung von eben! Dieselben Gesichtszüge, auch die Frisur passte: Schlohweißes Haar, das wallend über die Schultern fiel, hohe Geheimratsecken. Die Kleidung stimmte ebenfalls überein: dasselbe weiße Rüschenhemd, dessen Kragen hochgestellt war, darüber eine dunkle Samtjacke mit weiten Ärmeln, Kniebundhose und helle Strümpfe, Lackschuhe mit Schnallen… dieses Bildnis war wie ein Spiegel, eine nachträgliche Reflexion des gerade Geschauten!

Erst jetzt las ich die Inschrift auf der Messingtafel: „César de Montardit, Chef de Famille, 1850“. Ich schluckte, spürte Taubheit wie nach einem Schlag… und endlich begriff ich: Ein Geist – ich musste soeben einem Geist begegnet sein!

Erneut wehte mich das Grauen an, wie ein modriger Pesthauch aus finsterer, längst vergangener Zeit. Ich begann zu rennen – weg, nur weg von diesem furchterregenden Ort!



***



Einige Tage später stand ich doch wieder vor dem Glasmosaik. Inzwischen hatten sich die Eindrücke gesetzt, war ich darangegangen, das Erlebte zu sortieren und einzuordnen.

César – dieser Name begegnete mir immer wieder aufs Neue! Er war das letzte Familienoberhaupt der Montardits gewesen, bevor sie ihre feudalen Privilegien verloren. Der große Umbau des Schlosses Mitte des 19. Jahrhunderts ging auf sein Konto, ebenso die brutale Ausbeutung der Inselbewohner in jener Zeit. Auch Manon hatte diesen Namen genannt, als ich sie auf Viviennes Porträt ansprach. Letzteres trug zudem dieselbe Jahreszahl wie das Bild hier oben auf dem Korridor – 1850.

Der Geist, den ich zu sehen geglaubt hatte, war sicher ein Produkt überreizter Nerven gewesen. Vermutlich hatte ich das Wandgemälde bereits vorher wahrgenommen, ohne mir dessen bewusst zu sein, und den Eindruck später auf die fragliche Situation übertragen. Dass hinten im Korridor etwas gewesen war, konnte ich mir dagegen schon vorstellen. Dieser kalte Luftzug – vielleicht hatte er irgendwelche Vorhänge oder Tapisserien im Dunkel bewegt? Jedenfalls galt es nun, weiterzumachen, wo ich neulich unterbrochen worden war: eine der Scheiben des Mosaiks einzuschlagen und zu prüfen, was dahinter war. Das würde vieles klären, dessen war ich mir nach wie vor sicher.

Gerade wickelte ich erneut die Strickjacke um den Unterarm… als von irgendwoher Schritte ertönten! Mir blieb fast das Herz stehen vor Schreck. Eingebildet hatte ich mir das Geräusch bestimmt nicht, also musste jemand in der Nähe sein!

Wieder war meine erste Reaktion, aus dem Lichtkreis herauszutreten. Ich zog die Jacke über, schlich zum Hauptflur zurück und lugte vorsichtig um die Ecke: Jemand kam aus Richtung der Galerie heran. Erst nach einer Weile konnte ich im Dämmerlicht erkennen, wer es war: Manon! Sie hantierte mit einem Staubwedel herum, säuberte Möbel und Gegenstände an der Seite des Korridors.

Viel fehlte nicht, und ich hätte losgelacht. Abstauben – von wegen! Manon war das Auge und Ohr dieses Schlosses; sie durfte mich auf keinen Fall entdecken. Wenn die anderen erfuhren, dass ich noch immer nach Spuren und Hinweisen suchte, war es aus. Sie würden – das begriff ich plötzlich – mit mir dasselbe anstellen wie zuvor mit Stefano…

Welch ein Glück, dass ich Manon rechtzeitig gehört hatte und gewarnt worden war. So konnte ich noch rechtzeitig verschwinden. Nur wohin? Wieder in den Korridor mit dem Glasmosaik? Dort in den finsteren Tunnel schlüpfen? Aber schon der bloße Gedanke war abscheulich: Die Schattenwesen waren von dort gekommen, um Stefano zu erledigen, genauso die geisterhafte Erscheinung – mochte sie stattgefunden haben oder nicht.

Und wenn ich mich in Richtung meines alten Zimmers vorarbeitete? Unwahrscheinlich, dass Manon mich da hinten sah, bei der Finsternis, die dort herrschte. Möglicherweise kam sie nicht einmal so weit, bog vorher in den Abzweig zu Stefano oder machte ganz kehrt. Ich musste es versuchen, eine andere Chance blieb mir nicht.

Lautlos huschte ich an der Wand entlang auf jene Stelle zu, wo früher meine Tür gewesen war. Als ich das Gefühl hatte, von Manons Standpunkt aus unmöglich noch sichtbar zu sein, stoppte ich und presste mich gegen die Wandtäfelung… aber zu meinem Entsetzen fühlte ich Holz und Mauerwerk hinter mir nachgeben, es war, als würde ich einsinken wie in Gummi! Auch ein Pulsieren war auf einmal zu spüren, rhythmisch, regelmäßig, dazu eine seltsame, geradezu groteske Wärme. Himmel, konnte das wirklich eine Wand sein? Es fühlte sich fast organisch an, wie lebendiges, von Blut durchpulstes Gewebe!

Manon hatte inzwischen die Ecke erreicht. Prüfend blickte sie in den Abzweig zu Stefano, wirkte unschlüssig… ich begann schon zu hoffen. Vielleicht klappte es und sie ließ sich täuschen – aber dann entschied sie, auf dem Hauptflur weiterzugehen, genau in meine Richtung!

Was jetzt? Mich noch tiefer in den Tunnel zurückziehen konnte ich nicht: Da hinten war erneut diese Öffnung aufgetaucht, die sich zusammenzog, weitete, erneut zusammenzog. Etwas atmete dort ein- und aus, gleichmäßig, rasselnd, keuchend. Doch damit nicht genug: Die Bewegung in der Tiefe und meine eigene Atmung schienen synchron zu laufen! Stieß ich die Luft aus, kam es aus dem Dunkel herangeweht; atmete ich wieder ein, kehrte auch die Drift ihre Richtung um, wurde zu einem gefährlichen Sog ins Nichts…

Derweil kam Manon immer näher. Ich erstarrte zur Salzsäule, machte mich flach wie ein Blatt Papier, versuchte sämtliche Regungen und Körperfunktionen aufs absolute Minimum zu reduzieren. Auch die Luft hielt ich an – und registrierte mit Schrecken, dass der Lufthauch aus dem Tunnel sich ebenfalls legte! Es wurde still, so totenstill, dass ich mein Herz zu hören glaubte, das längst wie verrückt hämmerte. Aber – konnte es sein, dass auch mein Herzschlag und das Pulsieren hinter mir zusammenhingen? Erst mochte ich es nicht glaubten, aber bald gab es keinen Zweifel mehr: Jeder Schlag wurde aus der Wand beantwortet!

Manon rückte mir immer dichter auf die Pelle. Nun begann sie zu wittern, als hätte sie eine Fährte aufgenommen. Ahnte sie, dass ihr Opfer in der Falle saß? Ausgerechnet in diesem Moment wurde mir der Sauerstoff knapp; ich musste unbedingt atmen, sonst erstickte ich! Mit einem tiefen Zug füllte ich meine Lungen – und spürte im selben Moment einen Windstoß, so immens, dass es mich fast von den Beinen riss. Zugleich setzte hinten im Tunnel wieder die Bewegung ein, dieses Öffnen und Schließen. Der Rachen, der ungeduldig seine Beute erwartete… kaum hatte ich diesen Gedanken, begann der Parkettboden abzukippen, sich der Tiefe entgegenzuneigen. Das konnte einfach nicht angehen, musste eine Sinnestäuschung sein, meiner nervlichen Anspannung geschuldet, die nun endgültig in handfeste Halluzinationen umschlug… aber ich sah es doch! Sah mit eigenen Augen, wie der Flur immer stärker in Schräglage kam, wie bei einem kenternden Schiff. Spürte den Sog abwärts, während der glitschig-schleimige Boden keinerlei Halt mehr bot.

Entsetzt drehte ich mich nach hinten: Manon stand dort, im Gesicht ein triumphierendes, erwartungsfrohes Grinsen. Jetzt tauchte neben ihr Sandrine aus dem Dunkel auf. Und Justin. Seelenruhig beobachteten die drei das Geschehen, und endlich begriff ich: Alles sollte genau so passieren! Sie hatten mich dort, wo sie mich haben wollten!

Ich rutschte weg, stürzte endgültig zu Boden und begann in die Tiefe zu gleiten, ohne es noch verhindern zu können. Kleiner und kleiner wurden hinter mir die drei Gestalten; immer schneller raste ich dem wartenden Schlund entgegen. Dann zog sich etwas blitzschnell um mich zusammen, presste mir die Luft aus den Lungen; der Druck wurde allmählich so stark, dass mir die Sinne schwanden…

Das letzte, was ich sah, war ein nahezu weißglühender Lichtschein.



***



Helligkeit… über mir ein Himmel aus fließender Seide, schneeweiß, im Luftzug sich bauschend und wieder zusammenfallend.

Staubfäden, in den Sonnenstrahlen tanzend. Ein offenes Fenster, dahinter leuchtendes Azur. Am Boden eine Fläche aus Licht, unter den nackten Sohlen das Gefühl rauer, erwärmter Holzdielen. Endlich der Blick ins Freie – ein Versinken in Helligkeit, ein Atmen und Trinken von Sonnenschein. Und als die Sicht sich klarte, ein überwirkliches, fast verstörendes Erleben von Weite und Raum.

Jenseits des Abgrunds schoss die Felswand aus zyklopischer Tiefe nahezu senkrecht empor, dahinter dehnte sich die Gipfelwelt bis in unabsehbare Fernen. Eine makellose Himmelskuppel übergoss alles mit flirrendem Glanz. Hatte endlich der Frühling begonnen? Kam jetzt eine neue, bessere Zeit?

Ich schaute zurück ins Zimmer. Das Bett, in dem ich gerade erwacht war – es hatte keinen zweiten Schlafplatz. Auf dem Nachttisch, neben Reisewecker und Ansichtskarte, lag Lennards Feuerzeug – deutlich erkannte man die darin eingravierten Initialen: „LF“! Der Kleiderschrank besaß nur eine Tür! An der Wand war mein Rollkoffer abgestellt – beim Öffnen des Vorderfachs flatterte mir prompt die Quittung des Autoverleihs entgegen. Und hinter Karte und Reiseführer fand sich die Streichholzschachtel mit dem verblassten Café-Swing-Logo.

Erleichterung packte mich, so intensiv, dass mir schwindelte. Alles war nur ein Traum gewesen, ein böser Traum… ich hatte es immer gewusst!

Auf dem Regal im Bad stand nur mein eigenes Waschzeug, kein anderes. Beim Duschen suchte ich vergeblich nach Bissen und Blutergüssen am Körper. Ich war kurz davor, einen Freudenschrei auszustoßen. Die bestürzenden, albtraumhaften Entwicklungen der letzten Zeit – sie hatten niemals stattgefunden! Frei! Endlich, endlich frei!

Bloß dass Luciennes Armreif nach wie vor fehlte, war komisch, aber darüber konnte ich mir später Gedanken machen. Draußen auf dem Korridor war ebenfalls alles, wie ich es von früher kannte. Die Kerzen leuchteten jeden Winkel hell aus, das bedrückende Zwielicht war verschwunden. Der Abzweig zu Stefano endete nach kurzem Wegstück in einer Sackgasse, und wo zuletzt das Glasmosaik geprangt hatte, befand sich wieder eine Tür. Ich war versucht, hinzugehen und anzuklopfen; ein sicherer Instinkt sagte mir, dass das Zimmer bewohnt war. Aber dann war der Drang, in die Halle hinunterzugehen, stärker.

Ich nahm die alte Route, und bald tauchte erwartungsgemäß die Galerie vor mir auf. Am Fuß der Haupttreppe empfing mich ein weit geöffnetes Portal, hinter dem die Sonne blendend hell leuchtete. Ungehindert konnte ich ins Freie hinausgehen, und endlich war es soweit: Nach einer Ewigkeit in in Finsternis und Hoffnungslosigkeit spannte sich über mir wieder der blaue Himmel, wärmten Sonnenstrahlen meine Haut. Als ich die Stufen hinabging und den Schlosshof betrat, wirbelte Sand auf. Er stieg als lichte Wolke in die Höhe und wurde vom Bergwind davongetragen. Auf einmal zitterten meine Lippen, Tränen schossen mir in die Augen. Es war, als würde ich nach endloser Irrfahrt doch noch zurückkehren.

Als nächstes meldete sich mein Magen mit deutlichem Knurren – Zeit, zu frühstücken! Wieder in der Halle nahm ich den Säulengang, der zum Speisezimmer führte. Helles Lachen drang aus dem Raum auf den Flur. Als ich eintrat, begrüßten mich Justin, Chloé und Sandrine in bester Laune. „Ein wundervoller Tag, nicht wahr, Marc?“, fragte Justin. Sandrine wollte wissen, ob ich gut geschlafen hätte. Dann kam auch schon Manon aus der Küche und schenkte mir Kaffee ein.

Während ich frühstückte, setzten die anderen ihre Unterhaltung fort. Es ging um Vivienne. Sie war auf einer ihrer Dienstreisen, ließ aber, ganz unüblich, mit der Rückkehr auf sich warten.

„Der Kongress in Athen ist offenbar spannender als geahnt“, meinte Justin.

„Na ja, es gibt dort vermutlich gewisse Ablenkungen…“, überlegte Sandrine. „Aber für Vivienne wohl eher nicht. Bei ihr bleibt sicher alles platonisch, wie immer. Halt typisch Vivienne.“ Alle drei lachten aus vollem Herzen.

Chloé sah wieder zauberhaft aus. Seit der Massage hatte ich sie nicht mehr gesehen. Vollkommen entspannt saß sie zwischen den anderen, schwätzte und lachte mit ihnen, als sei sie einfach eine normale, junge, attraktive Frau und nicht die geheimnisvolle Chloé, die mir ein so intensives Erlebnis erotischer Art beschert hatte.

Ich nahm all meinen Mut zusammen: „Wo ist Stefano?“, fragte ich. Auf einmal beschleunigte sich mein Herzschlag: Hatte ich den Bogen überspannt? Folgte nun jähes Erwachen? Ich duckte mich innerlich zusammen, erwartete jeden Moment den großen Knall…

„Stefano?“, fragte Sandrine, offenbar nicht im mindesten verwundert. „Den hat 's in den Schlosspark gezogen. Ich glaube, Lucienne ist mitgegangen. Wird ihr guttun, sie kommt viel zu selten raus.“

Der bloße Klang dieses zweiten Namens löste ein Glücksgefühl in mir aus, das fast zu intensiv war. Passierte dies alles wirklich? Am liebsten wäre ich sofort losgelaufen, um die beiden zu suchen; aber ich riss mich zusammen und blieb ruhig, ließ mir nichts anmerken. Scheinbar ungerührt setzte ich das Frühstück fort, während in mir ein regelrechter Sturm der Emotionen tobte.

Irgendwann verlor ich doch die Selbstbeherrschung: Wenig vornehm sprang ich auf und stieß dabei fast den Stuhl um, vergaß überdies, mich zu verabschieden. Egal! Im Laufschritt eilte ich zur Parkpforte – seltsamerweise erinnerte ich mich wieder exakt an die Strecke. Noch immer befürchtete ich, dass die ganze Schönheit jeden Moment zerplatzen könnte wie ein Traumbild, ein Luftschloss. Aber alles blieb, wie es war: licht, schwebend, harmonisch.

Endlich kam es, das unscheinbare Türchen; es ließ sich problemlos öffnen. Die Steinbrücke lag friedlich im Sonnenschein, dahinter erkannte man den Durchgang in der Mauer. Ich ging hinaus ins Licht, überquerte den Schlossgraben. Dann umfing mich das üppige, erfrischende Grün des Parks.

Luciennes Armreif – wie hätte wohl er in meinem Gepäck sein können? Sie war ja überhaupt nicht abgereist, spazierte im Gegenteil gerade mit Stefano irgendwo hier herum! Wenn ich die beiden gefunden hatte, musste ich versuchen, einen Moment allein mit ihr zu sprechen. Vielleicht konnte ich eine neue Verabredung treffen. Jedenfalls durfte ich diese Gelegenheit keinesfalls wieder ungenutzt verstreichen lassen.

Der Schlosspark war so labyrinthisch, wie ich es erinnerte. In diesem Areal jemanden finden zu wollen ergab eigentlich keinen Sinn, aber wozu sich jetzt den Kopf zerbrechen, anstatt alles zu genießen – die Natur, das traumhafte Wetter, überhaupt die ganze wundervolle Stimmung? Sobald es an der Zeit war, das fühlte ich, würden die beiden Menschen, die mir so sehr am Herzen lagen, meinen Weg kreuzen.

Und genau so kam es. Ich erreichte eine ausgedehnte Lichtung, und am anderen Waldrand, im hellen Sonnenschein miteinander plaudernd, fast eine Vision, ein Bild von überirdischer Schönheit: Stefano und Lucienne. Bei ihm keine Spur mehr von der tiefen Erschöpfung, wie zuletzt, stattdessen sichtbare Entspanntheit, pure Lebensfreude. Und Lucienne – welch ein Genuss, endlich ihr fein geschnittenes, schönes Gesicht wiederzusehen. Das wunderbar dunkle, schimmernde Haar und die aristokratische, an ein barockes Gemälde erinnernde Blässe ihrer Haut.

Vollkommen versunken wirken die beiden, ganz dem Licht und der Leichtigkeit hingegeben, durch nichts in dieser Welt zu stören… aber als ich aus dem Schatten treten und zu ihnen gehen will, wenden sie sich unvermittelt ab – und verschwinden zwischen den Bäumen! Angst lodert in mir auf, Angst, sie im Wald nicht mehr wiederzufinden, sie beide zu verlieren, wie schon einmal. In Panik renne ich über die Lichtung, dahinter auf einen Pfad. Große Erleichterung, als ich die zwei Gestalten schließlich wiedersehe, ein gutes Stück vor mir, energisch voranschreitend.

Endlos dehnt sich das Grün, unentwirrbar scheint das Labyrinth der Pfade. Ohne Stefano wäre ich hier hoffnungslos verloren. Hat er in der Zwischenzeit neue Entdeckungen gemacht? Wie kaum ein Zweiter kennt er den Park und weiß um sein Geheimnis. Will er mir etwas zeigen?

Konturen eines Bauwerks tauchen nun inmitten des Dickichts auf. Die beiden Schatten bewegen sich zielstrebig und rasch darauf zu, ich kann ihnen kaum folgen. Endlich lichtet sich der Wald, grau-weißes, verwittertes Mauerwerk ist zu erkennen: Gotische Fenster, die unter dem Staub zahlloser Jahre verschwinden, ein von Moos überwuchertes Dach… die Kapelle, das Familiengrab der Montardits!

Eine Aura des Verfalls liegt über diesem Ort, man spürt seinen Zauber, seine unheilvolle und zugleich erregende Ausstrahlung. Als ich eintrete, setzt wieder das rhythmische Klopfen ein; am Boden prangen blutrot die gotischen Umrisse der Fenster. Aber wohin sind Stefano und Lucienne gegangen? Nirgends zeigen sich Fußstapfen, die Staubschicht auf den Steinplatten ist unberührt.

Während ich noch mit Blicken alles absuche, ertönt von irgendwoher ein metallisches Quietschen. Das Gitter! Die Nische mit den Särgen und der Treppe – sind die beiden dort? Wie hypnotisiert folge ich dem Geräusch, tauche ins Halbdunkel des Seitenschiffs. Machtvoll brandet das Hämmern und Schlagen auf, der Boden unter mir erzittert, ich bin auf einmal wie blind. Instinktiv taste ich meine Hosentaschen ab – und finde das Feuerzeug, Lennards Feuerzeug! Ein kurzes Anreißen, flackernder Lichtschein wandert über die Wände und das Deckengewölbe: Die Gittertür – sie steht einen Spaltbreit offen!

Aber im Gelass dahinter ist niemand. Die Särge sind ebenfalls verschwunden, bis auf einen einzigen, der noch offen auf dem Steinpodest wartet, sein Deckel lehnt an der Rückwand. Also wird es noch ein letztes Begräbnis geben… Todesangst greift plötzlich mit eisigen Klauen nach mir. Und doch weiß ich, dass ich die Nische betreten, in die Krypta hinabsteigen werde. Ich muss! Dort unten wartet die Lösung auf mich, endlich werde ich alles sehen, alles verstehen!

Meine Finger umfassen die rostigen Stäbe des Gitters. Ein hässliches Kreischen beim Öffnen, von den Stufen kommt etwas eisig herangeweht. Modergeruch hüllt mich ein, dann erlischt das Flämmchen – ich stehe erneut im Finstern.

Einen Moment später jedoch erkennt man überall samtiges Schimmern an den Wänden: Wassertröpfchen, winzig wie Eiskristalle. Sie reflektieren das Licht aus der Kapelle, tragen es bis hierher und weiter abwärts. Ein verzaubert leuchtender Tunnel in die Tiefe liegt vor mir.

Ich stecke das Feuerzeug ein und beginne die Stufen hinabzugehen. Bald ist mein Atem als Dampfwolke zu sehen, ich friere erbärmlich. Hätte ich bloß einen Pulli oder eine Jacke mitgenommen! Und immer druckvoller und gewaltiger werden die Donnerschläge aus dem Erdinnern. Indes – wenn man genau hinhört, lassen sich inmitten des Lärms Stimmen vernehmen; manchmal ertönt auch helles Lachen.

Nach einiger Zeit steigt die Temperatur wieder, gottlob! Mein Frösteln verschwindet, und mit ihm die drohende Aussicht, alles abbrechen und wieder umkehren zu müssen. Auch das Wummern und Krachen, vorhin noch von ohrenbetäubender Lautstärke, hat nachgelassen. Gleichzeitig ist es dumpfer geworden, klingt jetzt nicht mehr wie eine Maschine, sondern eher wie – leichter Ekel überkommt mich bei diesem Gedanken – ein klopfendes, pumpendes Herz. Zwischen den Schlägen jedoch hört man nach wie vor Menschen plaudern und lachen. Zwei Menschen, um genau zu sein: einen Mann und eine Frau.

Ich frage mich bereits, wie lange der Abstieg wohl noch dauern wird, da sehe ich mit Schrecken in der Tiefe das Band aus Licht abreißen. Kurz darauf erreiche ich das Ende der Treppe. Im flackernden Schein des Feuerzeugs enthüllt sich ein enger, finsterer Schlauch. Sind seine Wände von anderer Beschaffenheit als auf der Treppe? Oder ist mittlerweile die Entfernung zur Oberfläche einfach zu groß?

Aber bloß nicht stehenbleiben und zögern, sonst verliere ich den Kontakt! Das Feuerzeug in die Höhe haltend wage ich mich ins Dunkel – und zucke zurück wie vom Schlag getroffen: Irgendetwas ist dort in der Wand, das mich beobachtet! Ich gebe mir einen Ruck und traue mich näher heran – ein menschlicher Schädel glotzt mir aus dem Dunkel mit leeren Augenhöhlen entgegen. Daneben ein weiterer… sie sind überall, an den Seiten, auch an der Decke: zahllose Knochengesichter, gleichförmig, starr. Der Tunnel ist komplett aus ihnen gebildet, eine Röhre aus bleichen, zähnebleckenden Totenköpfen. Und wo sind Stefano und Lucienne abgeblieben? Ihr Reden und Lachen ist verstummt, sie sind fort!

„Eine Falle!“, schießt es mir durch den Kopf. Ich muss umkehren, schleunigst wieder hinaufgehen, bevor… aber als ich mich nach hinten drehe, ist die Treppe verschwunden; statt ihrer befindet sich dort eine glatte Steinwand! Fassungslos taste ich über den Fels, leuchte ihn ab – aber ich finde keinerlei Fugen, nichts. Die Wand ist vollkommen massiv!

Würgende Panik drückt mir die Kehle zu. Ich schnappe nach Luft, will am liebsten schreien… aber es gelingt mir, ruhig zu bleiben. Ich atme tief und regelmäßig, muss jetzt unbedingt einen kühlen Kopf bewahren. Irgendetwas will offenbar, dass ich weitergehe. Und diese Gewissheit, dass etwas auf mich wartet, etwas ungeheuer Wichtiges, Erhellendes – sie ist nach wie vor da, trotz allem.

Zaghaft setze ich einen Fuß vor den anderen. Jeder Schritt erzeugt Vibrationen, die sich ins Dunkel fortsetzen. Mir ist, als bewegte ich mich auf dünnem Eis; jeden Augenblick kann es brechen. Die Strukturen am Boden sehen aus wie Blutgefäße, fein verästeltes Geäder. Behutsam taste ich darüber hin – alles ist grotesk warm, auch spürt man ein regelmäßiges Pulsieren. Erst jetzt wird mir bewusst, dass das Schlagen und Klopfen aus der Tiefe komplett verstummt ist. Stattdessen nun dieses widerwärtige Zucken…

Eine Stimme in mir mahnt, nicht weiterzugehen; auf einmal wittere ich Unheil, ernste Gefahr. Zu spät: Unter mir hat sich der Grund aufgetan wie ein gieriges, heimtückisches Maul. Ich fühle mich fallen, ins Bodenlose stürzen! Maßloses Entsetzen überspült mich, füllt alles aus… und als es nicht weiterwachsen kann, kommt der Aufprall.

Er ist unerwartet sanft, ein kleiner Ruck bloß, und alles ist vorbei. Als hätte etwas mich im Sturz abgefangen. Allmählich weicht der Schock aus meinen Gliedern, ich begreife, dass der Todesschmerz ausbleiben wird. Vorsichtig setze ich mich auf, taste Arme und Beine ab – alles scheint heil geblieben zu sein.

Dann befühle ich den Grund unter mir. Ist es Sand? Staub? Irgendetwas liegt da – das Feuerzeug! Und es funktioniert noch, gottlob! Im Lichtschein sehe ich, dass der Boden wie Asche ist, eine Art Abraum oder Schlacke, sehr fein und trocken. Jetzt nehme ich auch den schwachen Geruch nach Moder und Verwesung wahr. Was ist dies für ein Ort? Beim Aufstehen schwankt und vibriert alles unter mir, ähnlich wie vorhin im Tunnel.

Ich klopfe die pudrige Substanz aus der Kleidung, so gut es geht. Kann wirklich diese Schicht meinen Sturz abgefangen haben? Allmählich erkenne ich meine Umgebung: ein Gewölbe, eine riesige Höhle. Und vor mir windet sich ein Pfad durch den Staub ins Dunkel: Also habe ich mein Ziel noch nicht erreicht.

Ich bin dem Weg erst ein kurzes Stück gefolgt und überlege, was wohl diesen Verwesungsgeruch erzeugt, als zur Rechten etwas von oben herabkommt und polternd auf die Halde fällt. Eine Wolke des feinen Substrats steigt auf; für einen Moment wird der beißende Gestank schier unerträglich. An der Aufschlagstelle ist ein unförmiger Haufen entstanden, der aber schon wieder in sich zusammensackt und mit dem umliegenden Grund verschmilzt.

Mittlerweile hat sich ein geheimnisvolles, rötliches Leuchten über das Deckengewölbe ausgebreitet. Der Anblick lässt an Lava denken, deren Oberfläche bereits abgekühlt ist und einen dünnen Film bildet, während im Innern Feuer und Verderben lauern. Und inmitten dieses Glühens und Glosens zeichnet sich allmählich Gewebe ab, komplexes, fein verzweigtes Geäst, sich dehnend, wieder schrumpfend, atmend. Das lebt, erinnert an Muskeln, Zellen, Blutgefäße, Venen, Arterien, Kapillaren… ein Organismus! Ich wandle durchs Innere eines Lebewesens, bin im Verhältnis zu dessen Größe ein Winzling, eine Mikrobe.

An vielen Stellen weist das Gespinst Verdickungen auf, Stauungen, gigantische Thrombosen, die ihrerseits durchzogen sind von pulsierendem Geäder… und was ist es, das überall aus diesen Knoten herausragt? Plötzlich fühle ich mich, als hätte mir etwas einen Faustschlag versetzt – es sind Körperteile: Arme, Beine, auch Köpfe! Dort hängen Menschen, eingewoben in riesige, unförmige, blutige Klumpen!

Benommen taumle ich zurück; starkes Würgen packt mich. In einem ersten Impuls will ich kehrtmachen, flüchten… doch unvermittelt breitet sich eine Art Gefühllosigkeit in mir aus. Der Abstieg in die Gruft, die verschwundene Treppe, das teuflische Loch im Boden, der Todessturz… mein Horror hat eine innere Grenze erreicht; es gibt keine Steigerung mehr. Auf einmal bin ich wie betäubt; völlige Abgeklärtheit hat sich meiner bemächtigt.

Mit analytischer Kühle erfasse ich meine Umgebung: Die Unglücklichen dort oben müssen bereits tot sein, jedenfalls zum Teil; nur so lässt sich der pestilenzialische Gestank erklären. Wie zur Bestätigung stürzt seitlich des Wegs eines der Geschwulste in den Staub. Gebeine ragen aus dem Haufen, Oberschenkel- und Schienbeinknochen, ein Stück vom Becken, der Schädel… und schon fällt alles in sich zusammen, versinkt brodelnd in der Asche. Der Boden unter mir besteht aus Knochenstaub! Ich laufe über eine Halde der Verwesung!

Je weiter ich dem Pfad folge, desto tiefer senkt es sich herab, das Geflecht der eingeschlossenen Körper. Schließlich ist es mit mir auf gleicher Höhe; mein Weg wird zu einem Wandelgang des Grauens. Ich sehe seltsam verdrehte Hände aus ihrem Kokon ragen, mit gekrümmten, im Todeskampf erstarrten Fingern. Augenpaare, erfüllt in maßlosem Entsetzen, starren ins Nichts. Mittlerweile lässt sich auch erkennen, wie stark die muskelartigen, klebrigen Fibern sind, wie unbarmherzig sie ihre Beute fixieren. Sie dringen in sämtliche Körperöffnungen, Mund, Nase, Ohren, Anus, das Geschlecht, offenbar um ihr Opfer auszusaugen, ihm langsam die Nährstoffe zu entziehen, den Lebenssaft. Ich sehe diverse Grade der Auszehrung und Austrocknung. Einige der Bedauernswerten müssen gerade erst in Gefangenschaft geraten sein: Ihre Finger zucken noch, als versuchten sie nach mir zu greifen, ihre Augen fixieren mich hilfesuchend, flehend. Bei anderen hat die Haut sich längst lederartig zusammengezogen, so stark ist das Fleisch darunter bereits geschwunden. Diese Unglücklichen werden bald von ihrem Elend erlöst sein – wenigstens das.

Die kürzlich Gestorbenen halten ihre Augen friedvoll geschlossen, als durchlebten sie einen schönen Traum, aus dem sie keinesfalls mehr erweckt werden wollen. Die Gesichtszüge der schon länger Dahingeschiedenen sind nicht mehr zu erkennen, überall treten die Knochen unter dem Gewebe hervor. Meistens aber hängen dort bloß noch Skelette, nach wie vor umschlungen von den Fangarmen, die ihnen den Tod gebracht haben. Letztere jedoch – und das ist das Merkwürdigste – durchlaufen offenbar denselben Zerfallsprozess wie ihre vormalige Nahrungsquelle: Sie trocknen allmählich aus, verlieren Farbe und Kraft, werden brüchig und grau. Bis nur noch totes Gewebe bleibt, das seinen Zweck erfüllt hat und schließlich mitsamt dem dahingeschiedenen Wirtskörper abgestoßen wird.

Wieder stürzt eines dieser bleichen Bündel herab und zerfällt, zergeht auf dem endlosen Todesacker. Wo die Tentakel sich vom fleischigen Deckengewölbe getrennt haben, sind Löcher entstanden, Wunden, die aber schon wieder verschlossen, mit frischer Substanz aufgefüllt werden. Es scheint wie ein Kreislauf…

Ein neuer Angstschub packt mich; es ist, als erwachte ich schlagartig aus meiner lindernden Narkose. Auf einmal ist die innere Taubheit fort, diese steinerne, unerschütterliche, wohltuende Ruhe. Ich möchte nicht mehr weitergehen, möchte nicht sehen, was diese Horrorgalerie noch zu bieten hat! Ich werde einfach umkehren und mir einen anderen Weg suchen…

Etwas huscht an meinen Füßen vorbei – Ratten? Mit zitternden Fingern hole ich das Feuerzeug hervor, drehe die Flamme hoch, um die Biester zu vertreiben. Im Lichtschein sehe ich über mir neue Triebe aus dem Gewebe hervorschießen; ihr Rot ist heller und frischer als das des Hauptkörpers, sie sind noch jung, flink. Blitzschnell haben sie meine Fußgelenke gepackt; ich kann nicht mehr fort. Um mich ist jetzt ein einziges Keimen und Treiben, Ausschlagen und Wuchern. Immer neue Arme kommen aus der Dunkelheit heran, umkreisen und packen mich, schlingen sich um meinen Rumpf. Panisch versuche ich die Monstren abzuwehren, sie von meinem Körper zu lösen, aber sie sind stark wie Baumstämme! Nun gleiten sie unter meine Kleidung, reißen sie in Fetzen; ich spüre sie auf meiner Haut, warm, pulsierend, zuckend… sie erreichen mein Gesicht; feine Triebe dringen in Ohren, Nasenlöcher, Mund und Hals; der Brechreiz setzt ein… aber schon ist alles blockiert. Etwas windet sich meine Speiseröhre hinab, breitet sich aus, schwillt, wächst…



***



Luft, Luft! Das verzweifelte Gefühl, zu ersticken! Etwas Glitschiges, Qualliges in meinem Mund – eine Zunge, sehr tief, wühlend und arbeitend. Über mir Dunkelheit, klebriger Dunst – und eine unförmige, schwitzende Masse, tonnenschwer, mich fast zerquetschend… Hilfe!

Endlich Bewegung! Arme, von mir ablassend, sich wie Tentakel zurückziehend. Ein wegrutschender Körper, gefolgt von einem kühlen, befreienden Luftzug auf der Haut… schließlich Licht, eine flackernde Kerze.

Über mir tauchte ein Gesicht auf – Vivienne! „Verzeih“, hörte ich sie murmeln, „es tut mir leid. Ich war zu stürmisch, hätte dich vorher wecken sollen.“ In ihrer Miene zeichneten sich Schrecken und Schuldbewusstsein ab.

Völlig verwirrt blickte an mir herab, sah, dass ich nackt war. Ich befand mich in Viviennes Zimmer, auf ihrem Bett, dem Doppelbett… Blutergüsse zierten meinen Körper, auch einige Bissmale erkannte ich.

Alles war wieder da…

„Bist du okay?“, fragte Vivienne. „Sag doch bitte etwas.“

„Ja, ja. Es ist nichts, gar nichts“, stammelte ich. „Nur ein übler Traum…“ Ich war unglaublich erleichtert, jenem furchtbaren Alb entronnen zu sein – und zugleich erschüttert, niedergeschmettert.

Neben der Tür zum Arbeitszimmer stand Viviennes lederner Rollkoffer. Sie musste irgendwann in der Nacht zurückgekommen sein, wie bereits häufiger. Trauer und Entsetzen brachen sich nun endgültig in mir Bahn. Der Sonnenschein, der grüne Park, Stefano und Lucienne… fort! Warum? Warum?

Aber konnte eine bloße Phantasie so eindringlich sein, so kraftvoll und realistisch wie dieser vermeintliche Traum? Ich hatte deutlich gespürt, wie diese pulsierenden Arme sich auf meiner Haut festsaugten und in mich eindrangen, hatte den Moder und die Verwesung in jenem Gewölbe definitiv gerochen, genauso wie vorher den Duft nach Nadelhölzern im Park.

Und konnte umgekehrt dies hier die Wirklichkeit sein? Das passte doch alles nicht zusammen! Sie hatten ein Lügengebäude um mich errichtet, das ich zum Einsturz bringen musste, unbedingt, irgendwie!

„Wo ist Stefano?“, fragte ich mit lauter, entschlossener Stimme.

Er und Lucienne im Schlosspark… sie hatten mir etwas zeigen, das Geheimnis dieses Ortes enthüllen wollen, ganz sicher!

„Stefano?“ Vivienne schien überrascht. „Wie kommst du jetzt darauf? Stefano ist abgereist.“

„Wann?“, versetzte ich. Plötzlich war ich sicher, einen roten Faden gefunden zu haben. Vielleicht konnte ich jetzt endlich alles aufdecken!

„O je“, seufzte Vivienne, „lass mich überlegen, das ist schon so lange her…“

Ich hatte sie am Haken! Sie versuchte, auszuweichen, mir doch noch zu entwischen. Ich beschloss, einen Schritt weiterzugehen: „Es war kurz nach Jérômes Abreise, oder?“

„Welcher Jérôme?“ Sie schaute mich verständnislos an.

Wie bitte? Was hatte sie jetzt vor? Ich blieb hartnäckig, ließ mir die Überraschung nicht anmerken: „Dein Bruder. Der Oxford-Student.“

„Ich habe keinen Bruder, der Jérôme heißt“, antwortete Vivienne.

Dieser Schlag hatte gesessen. Kein Bruder, der Jerome hieß – was meinte sie? Wie konnte das sein? Sie wollte mich in die Ecke treiben, mich endgültig fertigmachen. Meine Sicherheit war erschüttert, verzweifelt suchte ich nach einem Ausweg…

„Und was ist mit Lucienne?“ Mein Herz tat einen Sprung, als ich diesen Namen aussprach.

„Wer soll das sein?“, kam es umgerührt von Vivienne. „Der Name sagt mir ebenfalls nichts.“

„Deine Kollegin, deine Assistentin am Institut in Paris. Du hattest sie hierher aufs Schloss eingeladen.“ Es kostete mich fast übermenschliche Anstrengung, die Stimme ruhig zu halten. Keinesfalls durfte Vivienne merken, dass ich taumelte, kurz vorm Knockout war. Lucienne war meine letzte Hoffnung; wenn auch die zerstob, dann…

„Marc, wovon redest du eigentlich?“ Vivienne lachte auf. „Ich wäre froh, wenn ich am Institut endlich eine Assistentin hätte. Du glaubst gar nicht, wie lange ich schon darum kämpfe.“

Nun war ich versucht, selbst loszulachen. Das war alles so absurd, so vollkommen irrsinnig…

Vivienne sah mich nachdenklich an. „Lass uns weiterschlafen, okay?“, sagte sie leise. „ Ich hatte einen anstrengenden Tag, und morgen wartet wieder viel Arbeit auf mich.“ Sie gähnte, zog das Betttuch hoch und deckte uns beide zu.

Allmählich löste sich meine Erstarrung, Müdigkeit und Resignation breiteten sich in mir aus. Sie hatten an alles, einfach an alles gedacht. Es gab keinen Ausweg mehr!

„Lucienne…“, murmelte es neben mir, „ich weiß nicht, wo du diesen Namen aufgeschnappt hast, Marc. Wenn überhaupt, gibt es diese Lucienne nur in deiner Phantasie.“

Mit diesen Worten erlosch die Kerze, neues Dunkel breitete sich aus.



***



Als ich am nächsten Morgen frische Wäsche aus dem Kleiderschrank nehmen wollte, rutschte zwischen den T-Shirts die Brieftasche hervor und fiel zu Boden. Beim Aufheben schien es mir, als wäre sie dünner und leichter geworden. Ich prüfte den Inhalt: Das Bargeld war nicht angerührt, aber der Personalausweis und die Kreditkarten fehlten.

Was hatte das jetzt zu bedeuten? Ein unbestimmter Verdacht geisterte mir durchs Hirn, während ich den Koffer in Augenschein nahm: Natürlich waren Lennards Feuerzeug und die Streichholzschachtel wieder verschwunden, während Straßenkarte und Reiseführer wie erwartet im Vorderfach steckten. Aber die Hotelrechnung aus Plage d'Aiola – wo war die abgeblieben? Ich wusste ganz sicher, dass sie mit mir in diese neue, fremde Welt übergewechselt war, und nun hatte sie sich plötzlich in Luft aufgelöst.

Auf einmal machte es 'klick': Mein Name – auf der Hotelrechnung fand sich mein Name, genauso wie auf dem Personalausweis und der Kreditkarte! Sie wollten meine Identität auslöschen, mich als Person endgültig vernichten! Alles, was den Schriftzug 'Marc Simon' enthielt, musste im Orkus verschwinden.

Ich drehte mich weg, wollte über diesen ganzen Irrsinn nicht mehr länger nachdenken. Dann sah ich Lennards Karte auf dem Nachttisch – und mein Herz begann zu rasen: Eine Ansichtskarte war üblicherweise mit Namen und Adresse versehen! Offenbar hatten sie ein weiteres wichtiges Detail nicht bemerkt, wie schon beim Buch von Edgar Allan Poe! Mit einem Gefühl diebischer Freude ging ich zum Nachttisch. Gleich würde alles auffliegen – ich war sehr gespannt auf Viviennes Gesicht, wenn ich ihr die Karte unter die Nase hielt…

Aber als ich den vergilbten, welligen Karton unter den Fingerkuppen spürte, den feuchten Geruch wahrnahm, war es mit meinem Hochgefühl schlagartig wieder vorbei. Ich wendete die Karte, wusste aber schon vorher, was ich sehen würde… da war das Blau der zerlaufenen Tinte, die unleserlich gewordene Anschrift. Mit einem Schlag verließ mich alle Kraft, meine Finger öffneten sich, die Karte segelte zu Boden – ich merkte es nicht.

Vivienne kam herein, sah mich. „Ist dir nicht gut, Marc?“, fragte sie mit – wie mir schien – leisem Triumph in der Stimme. „Oh, da ist etwas heruntergefallen.“ Sie trat zu mir, hob die Ansichtskarte auf und legte sie behutsam wieder auf den Nachttisch.



***



Nach einem kurzen, wortkargen Frühstück zog Vivienne sich zurück, um zu arbeiten. Ich blieb im Speisezimmer und hing, nunmehr allein, meinen Gedanken nach.

Was würde noch alles kommen? Welche Maßnahmen waren als nächste für mich vorgesehen? Wie wollten sie mich endgültig brechen?

Auf einmal stiegen, als wollten sie Trost spenden, die Bilder der vergangenen Nacht in mir empor: der zurückgekehrte Sommer, die Üppigkeit des Schlossparks, Stefano und Lucienne auf der Lichtung… ganz kurz hatte es so ausgesehen, als wäre der Kokon, der mich gefangen hielt, endlich zerrissen – und nun hatte er sich doch wieder geschlossen, unerbittlicher und fester als zuvor.

Einen letzten Versuch wollte ich noch machen, einen allerletzten. Ohne viel Hoffnung lief ich nach oben, erreichte den Flur, in dem sich früher mein Zimmer befunden hatte… und fand hier alles vor wie einstmals: strahlend heller Kerzenschein, kostbare Gobelins, Brokatvorhänge, Kunstgegenstände, Ölgemälde. Und César de Montardits Porträt – es war nirgends zu sehen!

Ich betrat den Abzweig, der zu Stefanos Zimmer führte… und sah eine Tür! Kein Glasmosaik, sondern eine Tür! Und sie stand einen Spaltbreit offen! Sofort rannte ich hin, stürzte mich verzweifelt in den Raum – und hatte das Gefühl, in einem riesigen, klebrig-weichen Wattebausch zu versinken. Aber es war keine Watte, es waren – Spinnweben! Sie füllen das Zimmer komplett aus, schlucken sämtliches Licht!

Schon hatte ich mich verheddert. Ich zerrte und kämpfte, aber je größer meine Panik, desto tiefer verstrickte ich mich. Und auf einmal waren es kraftvolle Stränge, die mich umschlossen und fixierten, zuckende, pulsierende Tentakeln. Sie umfassten meinen Rumpf, rissen mir die Beine weg, zogen sich erbarmungslos um mich zusammen…

Die Todesangst mobilisierte ungeahnte Kräfte; irgendwie schaffte ich es, dem Gewimmel aus Fangarmen zu entfliehen. Auf Knien robbte ich dem Ausgang entgegen, erreichte die Schwelle, kroch auf den rettenden Flur – und schlug die Tür mit lautem Knall hinter mir zu. Es war vorbei, ich hatte mich befreit.

Noch immer bedeckten mich Spinnfäden, auf der Kleidung, im Haar – sie waren einfach überall, sogar in meinem Mund. Angewidert spukte ich aus, wischte mir über Gesicht und Arme – es war einfach nur scheußlich, ekelerregend!

„Suchen Sie etwas?“, hörte ich über mir eine Stimme. Ich hob den Kopf – Manon sah auf mich herab, in ihrem Blick eine Mischung aus Staunen und Verachtung! „Kann ich helfen?“, fragte sie in ihrem spöttischen Tonfall früherer Zeiten.

„Äh nein, alles in Ordnung, danke“, erwiderte ich, völlig perplex über ihr abruptes Auftauchen. Erneut prüfte ich meine Kleidung – und fand kein einziges Spinnenfädchen mehr! Rasch erhob ich mich, versuchte so entspannt wie möglich zu wirken. Aber meine Knie zitterten wie Espenlaub – hoffentlich bemerkte sie nichts…

„Ich wollte rasch einen Blick in Stefanos Zimmer werfen, schauen, ob er…“

„Stefanos Zimmer?“, fragte sie entgeistert. „Hier?“

„Ich war nur ganz kurz drinnen“, versicherte ich. „Konnte ja nicht wissen, dass dort…“

Sie starrte mich an, hatte augenscheinlich keine Ahnung, wovon ich sprach. Ich drehte mich nach hinten, wollte auf die Zimmertür zeigen – aber dort war keine Tür mehr. Dort prangte erneut das verhasste Glasmosaik!

Zum ersten Mal bemerkte ich jetzt die feinen Linien, die in seine Scheiben eingeritzt waren. Ich trat einen Schritt zurück und erkannte endlich das Muster, das diese Gravuren in ihrer Gesamtheit bildeten: ein riesiges Spinnennetz. Ein stilisiertes Spinnennetz vielmehr, dessen Umrisse – mir gefror das Blut in den Adern – exakt denen dieser Insel entsprachen! Diverse Male hatte ich das Eiland auf Karten gesehen, im Reiseführer, dem Straßenplan – es gab keinen Zweifel!

Manon beobachtete mich wortlos. Als sie sah, wie bei mir endlich der Groschen fiel, entstand auf ihrem Gesicht das altbekannte, abschätzige Grinsen. Ich wandte mich um und lief, wollte nur noch weg von diesem Ort. Und wusste, dass ich niemals mehr wiederkommen würde!

Selbst als der Flur längst hinter mir lag, glaubte ich noch Manons verächtlichen Blick im Nacken zu spüren. Er schien sich in meine Haut zu brennen, tiefe Male zu hinterlassen, gleich denen, die ich nächtens von Vivienne erhielt.



***



Erst nach dieser Szene gab ich mich endgültig geschlagen. Ich sah keinen Ausweg mehr. Sie konnten mit mir verfahren, wie es ihnen beliebte; ich war ihr Gefangener.

Das Schloss, dieses alte Gemäuer, anfangs so aufregend und geheimnisvoll – auf einmal war es mir feindlich gesinnt, verhöhnte mich geradezu. Sie wollten mich offenbar demütigen, mir meine Winzigkeit und Bedeutungslosigkeit aufzeigen, meine völlige Irrelevanz.

Und permanent veränderte das Gebäude seine Struktur: Vertraute Sitzecken waren plötzlich verschwunden, Lesezimmer, in denen ich kürzlich noch Muße gefunden hatte, existierten nicht mehr. Wo Treppen in die Höhe gestiegen waren, zogen sich jetzt Galerien endlos hin. Korridore hatten sich verlängert oder verkürzt, führten jäh um Ecken, wo sie immer schnurgerade gewesen waren, hatten sich begradigt, wo ich Ecken erinnerte. Vormals glatte Wände wiesen plötzlich Fenster oder Türen auf, vertraute Durchgänge waren verschwunden. Raumdecken lagen auf einmal unerwartet hoch oder hatten sich bedrohlich herabgesenkt, wie um einen erdrücken.

War dies überhaupt ein Schloss, ein steinernes Konstrukt? War es nicht vielmehr etwas Organisches, eine lebende, amorphe Masse, die sich ausdehnte und wieder zusammenzog, die Öffnungen bildete und wieder schloss, Flure entstehen ließ und wieder abwarf wie eine Pflanze ihre Triebe? Oder sogar etwas jenseits der materiellen Welt? Eine Erscheinung, eine Phantasmagorie?

Wieder musste ich an Stefano denken, seine verstörte Art bei unserer letzten Begegnung, seine Resignation und Ausgezehrtheit. Hatte er Ähnliches durchlebt wie ich jetzt, bevor ihn schließlich die Spinnenwesen holten? Und Lennard? Was war mit ihm geschehen? Wofür stand dieser Ort?

Die Tage kamen und gingen, grau, eintönig, endlos, leer. Ich war in der Regel mir selbst überlassen; Vivienne hatte zu arbeiten oder befand sich auf einer ihrer zahllosen Geschäftsreisen. Aber mochte sie nun körperlich anwesend sein oder nicht: Ihre Präsenz war jederzeit spürbar. Sie verfolgte mich auf Schritt und Tritt, wich niemals von meiner Seite. Sie nicht und genauso wenig das Gefühl eines drohenden Unheils, eines Damoklesschwertes, das über mir baumelte, nur an einen seidenen Faden hängend.

Meistens hielt ich mich im Lichthof auf, dem Schauplatz meiner letzten Begegnungen mit Lucienne und Stefano. Nichts hatte sich hier seit jenen lange zurückliegenden Tagen verändert: Da war die Sitzgruppe unter dem gewölbten Glasdach, eingerahmt von Marmorsäulen. Im Hintergrund ragten die Bücherregale auf, auch das Klavier stand an seinem gewohnten Platz. Zum Glück existierte dieser Ort noch; er schien wie das Auge eines Orkans, eines gigantischen Malstroms, der ringsum alles verwüstete, umpflügte, komplett veränderte.

Sobald ich herkam, hob sich eine schwere Last von mir. Ich machte es mir auf einer der Chaiselongues bequem und hing meinen Gedanken nach. Oder ich schaute einfach nur durchs Glasdach ins bleierne Grau, das dort endlos über uns hinwegzog. Längst hatte ich die Hoffnung aufgegeben, dass der Nebel sich jemals wieder lichten, dass man dereinst wieder blauen Himmel sehen würde. Und musste ich noch erwähnen, dass auch das Buch von Edgar Allan Poe, der sichere Beleg für mein Treffen mit Lucienne, meine Brücke in die Realität, längst wieder sauber ins Regal eingeordnet war, als hätte niemand es je dort herausgenommen? Aber was spielte das alles noch für ein Rolle? Ich war nur froh, hier sein zu können. Wenigstens dieses Refugium hatten sie mir gelassen.

Manchmal hatte ich die Hoffnung, dass man mich vielleicht vermisste. Aber schnell kam die Gegenfrage: Wer hätte mein Verschwinden wohl bemerken sollen? Freunde? Die alten Kollegen? Möglicherweise meine sich sorgenden Eltern? Ich lachte innerlich auf: Die würden frühstens in einigen Jahren registrieren, dass ihr lieber Sohn sich gar nicht mehr meldete. Vielleicht die Nachbarn in meiner alten Wohnung, die sich fragten, ob der Mieter nebenan überhaupt noch lebte. Ja, vielleicht. Allerdings hatte man schon mehr als einmal gehört, dass Gestorbene jahrelang zu Hause verwesten, ehe man sie entdeckte…

Am Ende solcher Überlegungen stand stets die bittere Erkenntnis, dass die Welt da draußen mich schlicht vergessen hatte. Offenbar ging das schnell in diesen Zeiten. Wer nicht permanent klapperte und für Sichtbarkeit sorgte, geriet rasch aus dem Blickfeld, hörte bald auf zu existieren. Aber letztlich war genau das ja mein Ziel gewesen: nicht mehr da sein, sich auflösen. Genauso hatte ich es gewollt, genauso hatte ich es arrangiert. Nun war es tatsächlich geschafft – und fühlte sich komplett anders an als erhofft… an diesem Punkt riss mein Gedankenstrom jedes Mal ab und ließ mich ausgelaugt zurück, mit einem Gefühl kompletter Leere.

Erst wenn es zu dämmern begann, erhob ich mich unter Mühen von meiner Liegestatt. Ich musste machen, dass ich fortkam, denn mit Anbruch der Dunkelheit erschienen überall die schwarzen Schatten mit ihren spinnenartigen Beinen. Aus sämtlichen Winkeln starrten mir plötzlich ihre glühenden Augenschlitze entgegen. Sie belauerten und überwachten mich, kontrollierten jeden meiner Schritte. Es war eine Mahnung, eine unverhohlene Drohung, des Nachts die vorgesehenen Routen nicht mehr zu verlassen. Nur das Wegstück von der Halle zu meinem Zimmer war mir dann noch gestattet, der Rest des Schlosses gehörte jetzt ihnen.

Diesem ehernen Gebot musste ich gehorchen, keinesfalls durfte ich ihre Kreise stören, sonst…



***



Längst vermied ich jeden Gang, der nicht unbedingt notwendig war, versuchte mich strikt an die erlaubten Wege zu halten, selbst tagsüber, wenn eigentlich keine Gefahr drohte. Dennoch fand ich mich häufig an fremden Orten wieder, ohne zu wissen, wie ich hierher geraten war. Plötzlich stand ich in irgendeinem verlassenen Raum, einem Lese- oder Rauchzimmer, einem prachtvollen Saal, einer weiten, leeren Halle – und war kurz zuvor definitiv noch woanders gewesen. Auch an die Rückwege erinnerte ich mich später nicht mehr. Unvermittelt erreichte ich wieder den Lichthof oder die Schlosshalle; manchmal erwachte ich auch im Zimmer, mitten in der Nacht, neben mir die schlafende Vivienne oder ihr leeres Bett, wenn sie auf Reisen war.

Schlafwandelte ich? Oder waren meine Aussetzer mittlerweile so vehement geworden, so massiv? Verlor ich langsam die Kontrolle über mein Handeln? Betäubte man mich gar und verfrachtete mich an fremde Plätze im Schloss? Das erschien mir durchaus denkbar angesichts all der Bosheiten, die ich hier bereits erlebt hatte.

Wobei es im Grunde keine Rolle spielte, ob ich mich tatsächlich durchs Schloss bewegte oder die verschiedenen Punkte nur in meiner Vorstellung aufsuchte. Außen und innen verschmolzen zusehends, ich war im Schloss und gleichzeitig war das Schloss in mir; es breitete sich immer weiter aus, besetzte immer mehr Raum, in meinen Eingeweiden und meinem Bewusstsein. Deshalb machte es überhaupt keinen Sinn, sich gegen die Orts- und Zeitsprünge wehren zu wollen. Sie kamen über einen wie der Wind und das Wetter; man konnte sie bloß hinnehmen, musste mit ihnen leben.

Und wie bei allem, was den Unbilden des Wetters ausgesetzt war, nahmen auch bei mir Erosion und Verfall ihren langsamen, aber stetigen Lauf.



***



Erneut fand ich mich an einem unbekannten Platz wieder. Ringsum waren sämtliche Möbel mit Tüchern zugedeckt. Tücher, die einst weiß gewesen sein mochten, jetzt aber unter zentimeterdickem, dunkelgrauem Staub verschwanden. Zahllose Spinnweben hingen von der Decke, spannten sich zwischen den Wänden, versperrten Durchgänge – wie die Netze, die ich im Schlosspark gesehen hatte und während meiner Wanderungen rund ums Bergdorf, damals, vor ewigen, besseren Zeiten. Das Licht war seltsam: dämmrig, trist, fast gelblich, als sei draußen gerade ein Unwetter niedergegangen.

Mit zittrigen Knien stand ich auf und musste einige Sekunden warten, bis das Feuerwerk vor meinen Augen zerstob, der Schwindel sich gelegt hatte. Mir klebte die Zunge am Gaumen, ich hatte höllischen Durst. Aufs Geratewohl entschied ich mich für eine Richtung, hoffend, dass alles kommen würde wie immer. Dass ich irgendwann einen bekannten Punkt erreichte oder wohlbehalten in meinem Zimmer aufwachte, gebettet auf die weiche Matratze, warm umhüllt von meiner Decke…

Ich durchmaß leere Säle, Flure, Gemächer, stieg Treppen hinauf, wanderte über verlassene Galerien und Emporen. Alle Gegenstände waren mit diesen bleichen Tüchern abgedeckt. Brokatvorhänge hingen halb zerrissen vor Fenstern ohne Scheiben; draußen sah man die gewohnten, undurchdringlichen Nebelschwaden wabern. Gobelins lagen zerbröckelnd am Boden, Ölgemälde waren unter Schmutz und Spinnweben nicht mehr zu erkennen. Dicke Staubteppiche bedeckten überall den Boden, in denen sich meine Fußspuren abzeichneten. Einmal kam ich in eine Bibliothek, aber in den Regalen fanden sich nur noch zerfallene Reste von Büchern. Einen einzigen erhaltenen Band entdeckte ich, aber als ich danach griff, zerbröselte auch er. In einem Zimmer drehte ich den Wasserhahn auf, um endlich meinen Durst zu löschen – aber nichts geschah.

Alles hier schien dem Verfall anheimgegeben. Befand ich mich überhaupt noch in meiner eigenen Zeit? Oder war irgendetwas geschehen, das mich herausgerissen, in die Zukunft katapultiert hatte? Waren die Bewohner dieses Schlosses und mit ihnen die der ganzen Welt vielleicht längst gestorben? Gab es nur noch mich und sonst keinen Menschen mehr auf diesem Planeten?

Meine Kräfte ließen allmählich nach, dazu dieser Durst… ich fühlte mich wie ein Sterbender in der Wüste. 'Wasser!' war bald das einzige Wort, das mir noch durch den Kopf geisterte. Ich riss die staubbedeckten Tücher von einer Chaiselongue, um mich auszuruhen, wieder zu Kräften zu kommen, aber plötzlich wusste ich: Wenn ich mich jetzt hinlegte, würde ich niemals wieder aufstehen. Ich würde einschlafen – und sterben.

Und so schleppte ich mich weiter, ohne Idee, wohin ich gehen sollte. Längst war ich über und über bedeckt mit Staubflocken, Schmutz und Spinnfäden, ein Abbild meiner Umgebung, dieser Szenerie von Auflösung und Zersetzung.

Mittlerweile hatte die Dämmerung eingesetzt; kaum erkannte ich noch, wohin es mich trieb. Ich wollte so gern aufgeben, wollte schlafen, aber ich ging weiter, einfach immer weiter, ins Ungewisse, in die Irre. Ein Untoter, gefangen in einer Endlosschleife der Zeit…



***



Ich musste zusammengebrochen sein, jedenfalls lag ich irgendwann am Boden, auf kühlen, glatten Steinfliesen. Mein Durst war nicht mehr so schlimm, ich konnte schlucken, die Zunge wieder bewegen. Hatte mir jemand während der Bewusstlosigkeit Wasser oder sonst eine Flüssigkeit verabreicht?

Als ich aufstand, blieb das erwartete Schwindelgefühl aus. Zu beiden Seiten zogen sich Säulen ins Dunkel, die ein Kreuzgewölbe trugen – wie in einer Kirche. Einer Kathedrale vielmehr, so gewaltig waren die Dimensionen ringsherum. Silbriges Mondlicht fiel durch himmelhohe, gotische Fenster herein. Der Blick ging, wie ich feststellte, in den Schlosshof: Gegenüber sah man in einem der Türme ein einsames, erleuchtetes Viereck. Wer mochte dort noch auf sein, zu dieser nächtlichen Stunde?

Über Zinnen, Turmspitzen und Dachfirsten stand ein abnehmender Halbmond, umwallt von Dunstschwaden. Der Nebel musste sich also gelichtet haben. Ging der ewige Winter allmählich vorüber? Begann bald endlich ein neuer Frühling?

Das einfallende Mondlicht zog sich quer über den Steinboden bis zur gegenüberliegenden Wand. Dort fiel es auf ein Ölgemälde, ein Gruppenbildnis gewaltigen Ausmaßes. Als ich die Porträtierten genauer ins Auge fasste, stockte mir der Atem: Ich erkannte Sandrine, mit langem, altmodisch aufgestecktem Haar, das aber dieselbe rotblonde Farbe hatte wie jetzt! Neben ihr Justin, in Kniebundhosen und Rüschenhemd; sein hellblondes Haar wellte sich sanft an den Ohren und im Nacken. Auf der anderen Seite des Bildes stand Manon, in der Kleidung einer Kammerzofe des 19. Jahrhunderts, mit Schürze und Haube. Um ihre Mundwinkel spielte ganz schwach ein spöttisches Lächeln. Vivienne trug dasselbe Kleid wie auf dem Porträt in unserem Zimmer. Ein etwas älterer, gebildet wirkender Herr an ihrer Seite erschien mir unbekannt. Vermutlich handelte es sich um Cyrano; Vivienne hatte mir im Bergdorf von ihm erzählt. Im Zentrum des Ensembles aber, umgeben von den Seinen, thronte der Patriarch: César de Montardit – er war es, definitiv! Derselbe weißhaarige, würdevolle Herr wie auf dem Bildnis im Obergeschoss.

Mein eigener Schatten, vom Mondschein auf die Leinwand geworfen, wirkte zwischen all den Familienmitgliedern wie umzingelt, eingewoben, fixiert. Ein Lichtreflex huschte über das Bildnis und ließ das goldene Täfelchen darunter für Sekundenbruchteile aufleuchten, man erkannte eine Jahreszahl „1850“.

In meinem Kopf begann es zu arbeiten; allmählich fügten die Puzzleteile sich ineinander, eines zum anderen: „Sie haben es geschafft, das Schloss und die Umgebung dem Zeitfluss zu entziehen“, hörte ich erneut Stefanos Worte. „Alles hier driftet immer weiter ab, verschwindet allmählich aus der Welt…“



***



Als ich das nächste Mal die Augen öffnete, lag ich im Bett, neben mir ertönten die gleichmäßigen Atemzüge der schlafenden Vivienne. Ich hatte meinen Albtraum überstanden! Alles war erneut gutgegangen, am Ende hatte mich der Irrsinn doch wieder in die Freiheit entlassen, wie stets.

Nein, etwas war diesmal anders: Mein Magen knurrte erbärmlich, ich starb vor Hunger. Wie lange mochte ich fort gewesen sein? Lang genug jedenfalls, um das heutige Diner zu verpassen. Das hatte es noch nicht gegeben, bislang war ich immer rechtzeitig zurückgekehrt. Zum ersten Mal hatte meine innere Uhr versagt, mein innerer Kompass.

Was hatte das zu bedeuten? Sollte es eine Warnung sein? Eine ultimative Aufforderung, mich endlich zu fügen, nicht länger nach Erklärungen und Lösungen zu suchen? Würde es das nächste Mal keine Rückkehr mehr für mich geben? Wollten sie mich dann endgültig versinken lassen in meinem Seelensumpf?

Dieses Gemälde – ob es wirklich existierte, irgendwo in den Tiefen des Schlosses? Oder war es nur eine innere Metapher gewesen, ein Sinnbild? Alles schien sich immer mehr zu verwirren – und zugleich auf geheimnisvolle Weise allmählich zu lichten und zu ordnen…

Ein Augenpaar beobachtete mich aus dem Dunkel… Vivienne war aufgewacht! Ich mied ihren Blick, starrte gegen die Zimmerdecke. Als sie mich an der Schulter berührte, zuckte ich zusammen. 'Geh weg', dachte ich, so heftig und innig, dass man es einfach hören musste! Aber sie zeigte keine Reaktion.

„Wo warst du nur?“, frage sie. „Ich habe die ganze Nacht gewartet.“

Sie entzündete die Nachttischkerze, und nun sah ich den Schmerz in ihren Augen, das brennende Flehen. Endlich verstand ich: Es war die innige Bitte, bei ihr zu bleiben, sie nicht zu verlassen. Diese Frau, so erfolgreich sie in ihrem „normalen“, bürgerlichen Leben auch sein mochte – falls dieses existierte –, war in Wirklichkeit zutiefst verzweifelt. Der einsamste Mensch der Welt, vollkommen allein in einem leeren Universum, driftend zwischen kalt funkelnden, unerreichbaren Sternen.

Ich war geschockt, ja, erschüttert: Vivienne – sie hatte doch ihre Geschwister, ihre Familie! Konnte sie ernsthaft so abgekapselt sein, so komplett isoliert wie ich selbst? Waren ihre vermeintlich schützenden, identitätsstiftenden Familienbande bloß Selbsttäuschung, Illusion? Alles nur schöner Schein, hier auf Chateau de Montardit wie überall, auf der gesamten Welt?

Ich musste an die Zeit vor dieser Reise zurückdenken, die abendlichen Rundgänge durch mein Viertel, die herausgeputzten Häuser, die perfekten Familienidyllen, die man dem Draußen präsentierte, – und dahinter diese völlige Leere und Verlorenheit. Meine kurze Phase des Eintauchens ins Berliner Nachtleben… all die einsamen Vögel dort, die Schönlinge und Selbstdarsteller, Gaukler, Steppenwölfe. Schließlich mein altes Zuhause… die monotone, trostlose Stimmung, die alles bedeckt und eingetrübt hatte wie Mehltau – es lief mir kalt den Rücken hinab bei diesen Erinnerungen.

Noch immer starrte Vivienne mich an, und plötzlich war ich zu Tränen gerührt. Ihr hoffnungsloser, unerfüllbarer Wunsch nach Nähe, Wärme, Geborgenheit – ich musste ihn bereits in Porto d'Arreccio gespürt haben, spätestens aber in La Parètte, als ich hatte abhauen wollen, dann aber doch mit ihr gefahren war. Vermutlich hatte ich zu jenem Zeitpunkt längst begriffen, dass sie und ich Verwandte im Geiste waren. Eine Flucht wäre mir wie Verrat an mir selbst erschienen.

Mit Alexandra war es genauso gewesen. Auch zwischen uns hatte es nur ein einziges verbindendes Element gegeben: die Gewissheit, dass der andere genauso abgeschnitten und allein war wie man selbst, ohne jeglichen Kontakt zur Außenwelt. Dieses Bewusstsein hatte uns und sämtliche Leidensgenossen aneinandergekettet wie Sträflinge in einem Gefangenenzug…

War es immer wieder dasselbe? Gab es in unserer Gesellschaft überhaupt noch Bindungen zwischen den einzelnen Menschen? Oder war alles, was nach dergleichen aussah, reine Fassade? Hatte das Leben bei uns in Wahrheit längst keinen Sinn mehr, keine Tiefe? Ging es tatsächlich bloß noch um Konsum und Zerstreuung, ums Anhäufen von Besitz, gleichgültig ob Dinge oder Menschen?



***



Beim Frühstück am nächsten Morgen war Vivienne wieder ganz die Kühle, Beherrschte. Sie umarmte Justin, gab Sandrine links und rechts Küsschen, erteilte Manon mit freundlicher, ruhiger Stimme auf französisch Ordres fürs Diner.

Über mein Fehlen beim gestrigen Abendessen, mein langes Ausbleiben in der Nacht und vor allem unsere stumme Unterredung im Bett verlor sie kein einziges Wort mehr. Trotzdem war das Gefühl von Unheil präsenter denn je. Deutlich und klar stand Viviennes unausgesprochene Warnung im Raum, mich nie wieder so weit von ihr zu entfernen.



***



Eines Abends herrschte Aufregung: Wir erwarteten im Schlosshof die Ankunft des jüngsten Familienmitgliedes, Corinne. Ich hörte diesen Namen zum ersten Mal. Als der Wagen einfuhr und die junge Frau auf der Fahrerseite ausstieg, war ich mir sicher, sie nicht auf dem Wandporträt gesehen zu haben. Wer oder was mochte sie also sein? Eine Vision, die irgendwann wieder verschwand und dann angeblich nie stattgefunden hatte? Oder begann gerade eine weitere Realitätsebene? Wo war die Wirklichkeit? Ich durchschaute es nicht mehr.

Corinne kam nicht allein; ihr Begleiter hieß Ettore. Die beiden studierten in Mailand und lebten dort zusammen in einer WG. Eigentlich hätte ich mich freuen können über die Veränderung, diesen unverhofften Einbruch der Außenwelt in mein gleichförmiges, lebensfernes Dasein. Stattdessen spürte ich Misstrauen und sogar eine unbestimmte, nagende Angst. Musste ich in den Augen dieser beiden Neuankömmlinge nicht völlig weltfremd erscheinen? Würden sie nicht rasch erkennen, dass ich mich aufgegeben und in mein Elend gefügt, es mir darin sogar bequem gemacht hatte?

Aber beim Diner löste sich meine Nervosität rasch. Corinne war locker und erfrischend, ihre bloße Anwesenheit genügte, um die morbide Atmosphäre des Schlosses zurückzudrängen. Eine kleinwüchsige, hübsche Frau dunklen Typs, die es schaffte, mit ihrer guten Laune alle anzustecken. Sie saß direkt neben mir, wie seinerzeit Jérôme – dessen Existenz sämtliche Schlossbewohner abstritten. Und wie mit Jérôme lag ich auch mit Corinne auf einer Wellenlänge. Problemlos fanden wir Gesprächsthemen, erst allgemeiner Natur, über Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, das Studium, später auch persönliche: Sie erzählte vom Leben in Mailand, ich plauderte ein bisschen über meine Berliner Zeit.

Je länger der Abend dauerte, desto mehr zerstäubte sich mein negatives Grundgefühl; auch dies eine Parallele zu den geselligen Runden früherer Tage. Ein lange vergessenes Selbstbewusstsein kam zum Vorschein, auch mein Humor kehrte zurück. Ich nahm mich selbst nicht mehr so ernst, konnte endlich wieder über mich lachen – wie gut das tat!

Und so wagte ich es zum ersten Mal seit langem, ein Stück von Vivienne abzurücken, damit ihre Hand mich nicht mehr erreichte. Endlich spürte ich wieder, wie störend und beengend diese permanente Nähe war. Auf einmal wollte ich Abstand zwischen uns, wollte die Vereinnahmung durch sie nicht mehr passiv über mich ergehen lassen.

Prompt kamen mir die Szenen in den Sinn, die sich zwischen Stefano und Sandrine abgespielt hatten: seine ständigen Fluchten, ihre Versuche der Wiederannäherung, schließlich dieses bedrückende Schweigen zwischen den beiden. Und kurz darauf war er verschwunden…

Ob auch Lennard einst hier gesessen und Vergleichbares durchlebt hatte? Lennard mit seinem angeborenen Drang nach Unabhängigkeit und Freiheit – es hätte eigentlich nicht gepasst. Trotzdem hatte er sich seinerzeit von den Eltern aushalten lassen. Und er war hierher geraten, nach Chateau de Montardit, was ebenfalls seinen Grund haben musste…

Ettore stellte sich als ziemlich langweilig heraus. Die meiste Zeit blieb er stumm und saß völlig reglos auf der vorderen Kante seines Stuhls, zuckte nicht einmal mit den Wimpern. Wirklich seltsam, zumal für einen Italiener. Nur, wenn man ihn direkt ansprach, sagte er ein paar Worte in vollkommen akzentfreiem Englisch. Er war das totale Gegenstück zu Corinne, sowohl von seiner steifen, zurückhaltenden Art her als auch äußerlich: hellhäutig, deutlich älter wirkend, mit schütterer Stirn und angegrautem Seitenhaar.

Gleichviel: Einen derart angenehmen Abend wie den heutigen hatte ich hier auf dem Schloss schon lange nicht mehr erlebt.



***



Die positive, optimistische Atmosphäre hielt an. Als Vivienne uns eines Abends zudem mitteilte, dass sie ein weiteres Mal verreisen würde, „aufs Festland, um wichtige Dinge zu erledigen“, hob das meine Laune zusätzlich. Sogar die gefürchteten Tagträume hörten jetzt auf, diese unerklärlichen Ortssprünge, das Erwachen an fremden Plätzen im Schloss. Ich hatte endlich meine Ruhe wieder, meinen Frieden.

Nach wie vor verbrachte ich die Stunden zwischen Frühstück und Diner im Lichthof. Ich las, hing meinen Gedanken nach oder legte mich auf die Chaiselongue, um durchs Glasdach in den Himmel zu schauen. Was Corinne und Ettore tagsüber trieben, entzog sich meiner Kenntnis. Zwar wusste ich, dass sein Zimmer ganz in der Nähe von Viviennes und meinem lag, und dass er allein wohnte – wie ich zu Beginn. Aber nie begegneten wir uns, nie sahen wir uns zu anderen Gelegenheiten als dem Diner.

Nach dem Abendessen blieben wir oft alle noch ein Weilchen zusammen, tranken Wein und plauderten. Es war fast wie früher. Und seltsam: Corinne erinnerte mich immer stärker an Jérôme, in puncto Offenheit und Neugier, aber auch von ihrer Art her: den Gesten, der Sprache, den Redewendungen, den Satzbetonungen. Sie wirkte ein bisschen wie Jérômes weibliches Pendant, eine Art Doppelgängerin. Das konnte eigentlich nichts Gutes bedeuten. Würde sie am Ende ebenso verschwinden wie er? Zumal sie auch auf dem Familienporträt fehlte – von dem ich letztlich aber gar nicht wusste, ob es seinerseits existierte.

Corinne fehlte dort und genauso Chloé. Wo war die abgeblieben? Weshalb tauchte sie gar nicht mehr auf, während Justin bei nahezu jedem Diner anwesend war? Eines Abends, als Corinne, Ettore und ich nach dem Essen unter uns waren, wagte ich mich aus der Deckung: Ob sie eine Person namens Jérôme kennen würde, fragte ich Corinne. Sie verneinte und wirkte, als würde ihr der Name rein gar nichts sagen.

„Und Chloé?“

„Wer ist das?“ Jetzt schien sie noch verwunderter.

„Die Partnerin von Justin.“ Mein Herz begann heftig zu klopfen.

„Justin? Partnerin?“ Corinne lachte laut auf. „Nicht dass Justin nicht jede Frau dieses Planeten haben könnte – aber dazu müsste er endlich mal hier herauskommen, sich unter die Menschen trauen.“

„War er denn nicht in Tibet?“, entgegnete ich verblüfft.

„In Tibet?“ Wieder lachte sie, aber ohne Hochmut, eher wie nach einem guten Witz. „Höchstens in Gedanken! All das buddhistische Zeugs, mit dem er sich umgibt – das ist seine eigene Welt. Mein lieber Bruder Justin ist Single, seit ich ihn kenne. Und schon immer etwas wunderlich gewesen.“

Ich gab es auf. Das überstieg alles meinen Horizont. Wer sollte da noch durchblicken? Am besten nahm ich das Geschehen einfach, wie es kam, und Schluss. Wozu sich die gute Stimmung durch permanente Zweifel und ewiges Nachbohren verderben?

Ettore blieb unzugänglich und spröde; er wollte einfach nicht auftauen. Mit Mühe und Not entlockte ich ihm, dass er eigentlich aus Neapel stammte. In Mailand studierte er neben Physik noch Philosophie und Theologie – aus reinem Interesse. Mehr war aus ihm beim besten Willen nicht herauszubekommen. Was er wohl hatte? Lag es wirklich nur an seiner Schüchternheit? Nein, ich spürte, dass da noch etwas anderes im Spiel sein musste.

Trotzdem empfand ich seine Anwesenheit als beruhigend. Endlich war ich nicht mehr der einzige Fremde auf Chateau de Montardit. In Ettore hatte ich unverhofft einen Bundesgenossen bekommen.



***



Eines Abends erfuhr ich, dass er und Corinne tagsüber einen Ausflug an einen besonderen See gemacht hatten: Er war ganzjährig warm und zum Baden geeignet; gleichzeitig hielt die aufsteigende Luft den Nebel ab. Man schwamm unter einem wolkenlosen Himmel durch spiegelglattes Wasser, während ringsum alles im Dunst lag. Die Szenerie musste beeindruckend gewesen sein; Ettore wirkte sichtlich aufgewühlt, als er das Erlebte schilderte – so dynamisch und mitteilsam hatte man ihn bislang noch nicht gesehen.

„Warte erst, bis der Frühling kommt“, lachte Corinne.

Schlagartig verschwand die Offenheit aus Ettores Gesicht. „So lange wollte ich eigentlich nicht bleiben“, murmelte er und blickte zu Boden.

„Sicher?“, fragte Sandrine. Ich glaubte, etwas wie leisen Spott in ihrer Stimme zu hören.

„Lass die Dinge einfach auf dich zukommen, Ettore“, meinte Justin in seinem gewohnt ruhigen, vermittelnden Tonfall. Dann wandte er sich an Corinne: „Wann geht morgen Dein Flug?“ Sie wollte für einige Tage nach Sardinien reisen, zu einer Freundin. Ettore hatte sich vorgenommen, während dieser Zeit die Schlossbibliothek in Augenschein zu nehmen.

„Erst um 12“, antwortete sie. „Zeit genug also, um auszuschlafen.“

Ich hatte dem Gespräch mit Interesse zugehört und gönnte Ettore das schöne Erlebnis des Ausflugs von Herzen. Trotzdem: Warum hatten er und Corinne mir morgens, als ich gemeinsam mit ihnen frühstückte, ihre Tagespläne verschwiegen? Es wäre die perfekte Gelegenheit gewesen, von hier zu verschwinden, endlich diese erdrückenden Kerkermauern hinter sich zu lassen.

Aber hätte ich es wirklich gewagt? Was sollte ich dort draußen überhaupt noch anfangen? Hätte das Leben mich nicht komplett überfordert? Vermutlich wäre ich völlig verloren gewesen, so ganz allein und auf mich gestellt. Trotzdem schnürte ein Gefühl tiefer Enttäuschung mir die Kehle zu. Chance verpasst! Wann sich eine neue ergeben würde, wussten die Götter.

Auf einmal merkte ich, dass Manon mich vom Durchgang her beobachtete. Für Sekundenbruchteile glaubte ich ein verächtliches Grinsen über ihr Gesicht huschen zu sehen, bevor sie wieder in der Küche verschwand.



***



Ein weiterer, eintöniger Tag war vorüber; ich befand mich auf dem Weg zum Abendessen. Fast hatte ich die Haupttreppe erreicht, als hinter mir Ettore aus einem dunklen Winkel hervortrat. Er wirkte angespannt, sein Gesicht war bleich, unter seinen Augen zeichneten sich Ringe ab. Hatte er auf mich gewartet, um ein Gespräch unter vier Augen zu führen? Wollte er die günstige Gelegenheit nutzen, so lange Corinne unterwegs war?

Ich spielte das Spiel mit, ging einfach weiter, verlangsamte aber meine Schritte, um ihn herankommen zu lassen. Fast hatte er mich erreicht, er hob bereits zum Sprechen an, als plötzlich neben uns eine Zimmertür aufging – und Manon auf den Flur heraustrat! Ihre Pupillen zuckten zwischen Ettore und mir hin und her, hatten in Sekundenbruchteilen die Situation erfasst. Der Stapel Tücher oder Laken, den sie über dem Arm trug, wirkte wie ein bloßer Vorwand.

Einige Sekunden verstrichen, ohne dass etwas geschah. Dann räusperte sich Ettore, murmelte ein „Buona sera“ und eilte an uns vorüber zur Treppe.

Während des Diners bot sich partout keine neue Gelegenheit zu einem Austausch. Stets waren Familienmitglieder um uns, räumte Manon ab oder trug neue Speisen auf. Es wirkte wie koordiniert; offenbar wollten sie verhindern, dass wir miteinander sprachen. Ettore gab sich heute noch schweigsamer als sonst, aber ich konnte förmlich spüren, wie es in ihm arbeitete. Hatte er eine Entdeckung gemacht, von der er mir, dem anderen Besucher, berichten wollte? Lag Gefahr in der Luft?

Als ich nach dem Diner in Richtung Zimmer zurückging, sah ich ihn erneut hinter mir herkommen. Niemand war in der Nähe, diesmal musste es einfach klappen! Ich betrat das Treppenhaus, das in den zweiten Stock führte, und wartete auf den weißen Marmorstufen. Schritte waren von draußen zu hören, die schwere Eichentür öffnete sich, Licht fiel herein… und in der Türfüllung erschien Sandrine!

„Ach, du bist 's, Marc“, sagte sie, scheinbar überrascht, mich auf den Stufen zu erblicken. „Weißt du zufällig, wo Ettore abgeblieben ist?“

Ich schüttelte den Kopf; es hatte mir die Sprache verschlagen. Noch vor wenigen Sekunden war er hinter mir gewesen, ganz bestimmt! Wie konnte er so plötzlich verschwunden sein? Steckten sie dahinter? Hatten sie ihn…?

„Falls er dir noch über den Weg läuft“, meinte Sandrine, „sag ihm doch bitte, dass Justin ihn morgen um acht in der Halle erwartet, um ihn zur Bibliothek zu führen.“

„Okay“, entgegnete ich, noch immer völlig verdattert. Der Auftrag Sandrines erschien mir wie eine Ablenkung: Ich sollte keinen Verdacht schöpfen, nicht merken, dass Ettore die Bibliothek niemals mehr würde besuchen können…

„Bonne nuit, Marc“, lachte Sandrine. Der Türflügel schlug hinter ihr zu, das Licht verschwand.

Ich wartete noch einige Minuten, aber Ettore tauchte nicht mehr auf.

Flucht in die Finsternis

Endlich im Bett. Ich möchte nur noch loslassen, über nichts mehr nachdenken. Das Nachbarbett ist leer, Vivienne befindet sich noch immer auf Reisen – ein Glück!

Rasch kommt der Schlaf, das Hinübergleiten ins Nichts… ein langer Schlauch nimmt mich auf, ein leerer, finsterer Korridor. Eng stehen die Wände zusammen, überall blättert der Putz ab, das Mauerwerk lugt hervor – wie Knochen eines verwesenden Körpers. Das nächtliche Gespinst aus Treppen und Gassen entfaltet sich; es wächst, treibt aus, wuchert, sprießt. Das Pflaster ist tückisch glatt von der Feuchtigkeit, man muss bei jedem Schritt höllisch achtgeben. Aber ich darf keinesfalls die Gestalt verlieren, die vor mir durch die Straßen wandelt, alles andere ist egal.

Zugleich bin ich klar und hellwach; deutlich ist das Zimmer zu erkennen, der Seidenbaldachin über mir, die Holzkommode an der Wand und die kleine Sitzgruppe, der Durchgang zum Arbeitsraum, auch Viviennes Bildnis, daneben die Zimmertür… deren Klinke nun zu ruckeln beginnt, sich herabsenkt. Die Tür geht auf, schwenkt langsam nach innen, gelbliches Licht fällt in den Raum…

Immer tiefer verliere ich mich im Wirrwarr der nächtlichen Gassen. Den Wanderer habe ich längst aus dem Blick verloren, aber man hört Schritte, das Klacken von Schuhsohlen auf dem Steinpflaster. Oder bin ich das selbst? Nun beginnt die Kirchturmuhr zu schlagen – Mitternacht. Der Klang der Glocken irrt zwischen den Mauern umher, verstärkt sich tausendfach, wird zu einer Welle, einer gewaltigen Wand aus Lärm…

Durch die Türfüllung strömen die Schatten herein, es nimmt kein Ende. Bald ist das Zimmer verschwunden, um mich schwappt ein Meer aus rot-glimmenden Augenpaaren. Von überall kann man die kehligen, zischenden Laute der alten Inselsprache hören – wie Zurufe, knappe Befehle. Was wird jetzt passieren? Sie nehmen mich in ihre Mitte, zwingen mich, mitzugehen. Ich muss gehorchen, mir bleibt keine Wahl. Nach langem Marsch durch die Finsternis erscheint zwischen den Hausmauern ein Leuchten. Endlich gleiten die Wände zurück wie Vorhänge, Portieren von einem sonnenbeschienen Tor. Grelles Schlaglicht trifft mich – dann werden allmählich die Ränge eines Amphitheaters sichtbar.

Sie sind dicht besetzt mit Menschen, die Luft knistert vor Spannung und Begeisterung; sämtliche Blicke richten sich auf einen bestimmten Punkt im Raum… den Seiltänzer! Diesmal bin ich viel weiter oben, fast auf einer Höhe mit ihm. Ich kann jedes Detail ausmachen, seinen durchtrainierten Körper, das Spiel der Muskeln unter der dunklen, glänzenden Haut. Und endlich, endlich erkenne ich den geheimnisvollen Akrobaten: Es ist Stefano.

Aber was hat dieser Blick zu bedeuten, dieser irre Ausdruck in seinem Gesicht? Schlagartig wird mir klar: Was ich beim letzten Mal noch für Trance gehalten habe, für einen Zustand von Harmonie und Kontemplation, ist in Wahrheit tiefe Verzweiflung. Stefano kann sich offenbar kaum noch in der Luft halten; das Ausharren dort draußen scheint ihn geradezu übermenschliche Anstrengung zu kosten. Und allmählich treiben Ermattung und Hoffnungslosigkeit ihn in den Wahnsinn. Weshalb geht er nicht zurück? Was erwartet ihn an den Enden des Seils? Sie befinden sich außerhalb des Lichtkreises, man kann sie von hier aus nicht sehen. Aber irgendetwas muss dort sein, das ihm den Rückweg abschneidet.

Die Pupillen der Zuschauer wirken im Streulicht auf einmal wie glimmende Schlitze. Gierig nehmen sie Stefanos erschöpfte Züge in sich auf, sein hohlwangiges Gesicht, die Ringe unter seinen Augen. Alle scheinen nur sehnsüchtig darauf zu warten, dass den Tänzer die Kräfte verlassen, dass er endlich aufgibt und sich ins Unvermeidliche fügt. Was ich beim letzten Mal noch für ehrfürchtige Bewunderung gehalten habe, entpuppt sich jetzt als reine Sensationsgier, grimmige Vorfreude, Todeslüsternheit.

Stefano öffnet die Augen, lässt den Blick suchend über die Menge gleiten. Er findet mich, schaut mich lange an. Erneut wirkt es, als wolle er sich entschuldigen, als täte ihm etwas unendlich leid. Als er sich abwendet, wirkt er ruhig und gefasst – offenbar ist er mit sich im Reinen. Ein Lächeln entsteht auf seinem Antlitz, aber es ist nicht das typische Stefano-Lächeln, herausfordernd, leicht spöttisch, sondern ein glückliches und befreites, eines, das aus tiefster Seele kommt. Er breitet die Arme wie ein Vogel, der zum Flug ansetzt… und beginnt nach vorn zu fallen, wie in Zeitlupe. Ein Aufatmen geht durch die Menge, man hört Schreie des Entsetzens, der Begeisterung. Stefano löst sich vom Seil, schwebt kopfüber dem Pflaster entgegen, dreht sich im Fallen einmal um sich selbst… dann ein hässliches Aufklatschen, das Geräusch brechender Knochen. Blut beginnt unter dem zerschmetterten Körper hervorzusickern und sich in einer Lache über das Pflaster auszubreiten. Ein letztes Zucken, dann hat Stefano endgültig sein Leben ausgehaucht.

Es ist totenstill, die Szenerie wirkt wie eingefroren. Bis plötzlich etwas pfeilschnell von den Rängen herabgeschossen kommt – ein Schatten, an eine riesige Spinne erinnernd! Rasch folgt ihm ein zweiter nach. Ich denke an die Kreaturen im Schloss – bis ich Sandrine und Manon erkenne! Mit flinken, trippelnden Bewegungen umkreisen sie Stefanos Leichnam, aber schlagartig erstarren sie und blicken schweigend auf dem Toten herab, jede auf einer Seite, wie im Gebet, in stiller Andacht. Nach einer Weile sieht man, dass beide Frauen von Weinkrämpfen geschüttelt werden. Niemand im Publikum wagt es, sich zu rühren; kein einziger Laut stört diese merkwürdige Trauerzeremonie.

Unversehens blitzt ein Messer in Sandrines Hand auf. Die beiden knien sich hin und beginnen an Stefanos Körper herumzuarbeiten. Alles geht rasend schnell, man kann es mit bloßem Auge kaum verfolgen; mehr als zwei Paar Arme scheinen dort am Werke zu sein… sie drehen Stefano auf die Seite, man sieht seinen Rücken, die Wirbelsäule unter der dunklen, sonnengebräunten Haut. Die Klinge wird angesetzt, ein Schnitt, einige rasche Drehungen des leblosen Torsos; schließlich eine ruckartige Bewegung, ein Wegreißen – und Sandrine hält triumphierend einen leeren, schlaffen, zerknitterten Stefano am Haarschopf in die Höhe. Auf dem Boden indes bleibt ein mit blutigen Muskelstrukturen überzogenes Bündel zurück, dessen Augäpfel nach wie vor ins Nichts starren, voll des Entsetzens, als sei noch Leben in ihnen…

Mir wird schwarz vor Augen, ich bin kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren… 'Enttarnt!', schießt es mir durch den Kopf, und: 'Demaskiert!'. Das also erwartet diejenigen, die sich nicht fügen, nicht ablassen wollen von ihrer Suche nach Antworten, Erklärungen, Wahrheit… ich beginne zu würgen, will mich übergeben.

Als ich langsam wieder klar werde, sind Stefanos sterbliche Überreste verschwunden. Aber noch immer bedeckt sein Blut die Platzmitte; daneben liegt das Messer. Gegenüber jedoch hat das Bild sich verändert: Hausdächer sind über den Rängen aufgetaucht, breiten sich bis in dunstige Fernen. Oft hat man sie zu üppigen Gärten ausgebaut, grünen Oasen. Auf einer dieser Dachterrassen findet gerade eine Gesellschaft statt. Lachen und Musik sind zu hören, Gäste stehen in Grüppchen zusammen, Sektgläser klirren, Cocktail-Schirmchen flimmern in der Abendsonne.

Die Temperaturen sind angenehm, die Männer tragen helle, leichte Anzüge, die Frauen rückenfreie Abendkleider. Lucienne ist unter den Gästen, man sieht, wie sie sich angeregt mit einer Person unterhält, die außerhalb des Blickfeldes steht. Einmal dreht sie sich in Richtung des Amphitheaters und blickt hinab auf die Ränge, aber das Geschehen scheint sie nicht sonderlich zu interessieren; schon wendet sie sich wieder ab und setzt den Smalltalk mit ihrem unsichtbaren Gegenüber fort.

Wie zufrieden sie inmitten all der feinen Leute wirkt; sie passt perfekt in diese illustre Gesellschaft. Habe ich wirklich geglaubt, dass sie all das hinter sich ließe? Dass sie ernsthaft riskierte, von den Ihren verstoßen zu werden, sämtliche Privilegien zu verlieren, um mit einem Nichts wie mir neu zu beginnen? Wie abwegig das jetzt erscheint, wie komplett abstrus! Schlicht zum Narren gemacht habe ich mich mit meiner Hoffnung, vielleicht bei ihr landen zu können. Ein Gefühl unsagbaren Elends und tiefer Scham durchflutet mich.

Aber Lucienne – ihre Signale waren doch eindeutig! Warum hat sie das getan? War es ein Spiel? Wollte sie ihre Macht auskosten, hat es ihr Spaß bereitet, mich zu locken? Nein, das kann einfach nicht sein, irgendetwas ist zwischen uns passiert, ganz bestimmt! Aber all das spielt auf einmal keine Rolle mehr, hier zählen nur Konventionen, Zugehörigkeiten, Überlieferungen.

Zorn schießt mir durch die Nervenbahnen wie ein explosives Gift. Ist es nicht immer wieder dasselbe? Überall verfolgt einen dieses Muster aus Äußerlichkeiten und Blenderei, aus Macht- und Ränkespielen. Wer sich nicht fügt, wird verstoßen. Diese scheinheilige, hohle Gesellschaft – sie erstickt sämtliche Phantasie, verachtet und verlacht jedes Gefühl. Auch Lucienne ist wieder komplett von ihr absorbiert. Was zwischen uns geschehen ist, hat sie lange vergessen…

Wut und Verbitterung wachsen über alle Maßen. Nicht länger Herr meiner Handlungen finde ich mich plötzlich in der Platzmitte wieder; in der Hand halte ich das Messer, an dem noch immer Stefanos Blut klebt. Die Waffe scheint mit mir zu verschmelzen, ein Teil meines Körpers zu werden. Wie von Sinnen stürme ich zur Galerie hoch, wo das Dachgartenfest seinen Lauf nimmt. Ich möchte zerstören, töten…

Keiner der Feiernden würdigt mich eines Blickes; es ist, als sei ich unsichtbar. Erst als ein Lichtstrahl die bluttriefende Klinge beleuchtet, erwachen die Gäste. Die Illusion der fröhlichen, leichten Stimmung zerstäubt sich, zerplatzt mit unhörbarem Knall, und die Wirklichkeit bricht über die Feierenden herein… Augen voller Entsetzen richten sich nun auf mich, die ersten Leute ergreifen die Flucht.

Lucienne ist bis zuletzt in ihre Plauderei vertieft, aber die Panikschreie in der Menge lassen schließlich auch sie aufhorchen. Sie dreht sich zu mir – und schaut mich an wie einen Fremden. Dieses Nichterkennen, dieses völlige Desinteresse – es treibt mich endgültig zur Raserei. Sämtlicher Frust, aufgestaut in den langen, demütigenden Jahren der Unsichtbarkeit, des passiven Dahindämmerns, will sich mit einem Schlag entladen. Impulsiv hacke ich zu, treibe die Klinge hinein in die schimmernd-glatte Haut am Hals, schlage dort eine tiefe Kerbe. Zwei helle Lappen entstehen, die sich rasch rot färben; dann schießt der erste Schwall hervor… und der nächste… Lucienne blickt mich noch immer an, jetzt überrascht, verwirrt, ihre Pupillen drehen sich nach oben, sie schwankt, streckt hilfesuchend die Arme nach ihrem Gesprächspartner aus, aber der weicht zurück, in einer Mischung aus Entsetzen, Hilflosigkeit, Ekel.

Allmählich registriere ich, was geschehen ist, was ich getan habe, während Lucienne taumelt und fällt… aber das ist nicht länger Lucienne, das ist – Sophia! Die junge, kindhafte Sophia mit ihren schwarzen Zöpfen, meine heimliche Liebe in Kinderzeiten! Rücklings liegt sie auf dem Pflaster, ins Nichts starrend, konvulsivisch zuckend. Der Mund öffnet und schließt sich, will offenbar Worte formen, aber kein Laut ertönt, während immer neue Blutstöße aus ihrer Halswunde quellen…

Das Bild brennt sich in mich ein; ich begreife die Endgültigkeit meiner Aktion und ahne: Dieser Moment wird fortan mein Leben bestimmen, es blutrot einfärben. Inzwischen erreicht die Lache meine Füße; Abscheu und grenzenloser Horror füllen alles in mir aus… das Messer gleitet mir aus der Hand, fällt klirrend zu Boden. Ich drehe mich um, renne, so schnell ich kann – und weiß doch: Der Blutstrom wird sich nicht abschütteln lassen. Wo immer ich mich verstecke – er wird mich finden!

Auf der Treppe, beim Hinunterlaufen zum Platz, höre ich endlich das Johlen, die begeisterten Rufe. Ich schaue zurück: Das Publikum auf den oberen Rängen ist euphorisiert, ekstatisch, geradezu entfesselt; die Menge wogt hin und her wie eine dunkle, aufgewühlte See. Schon schwappen die ersten Wellen auf die Stufen und vermischen sich dort mit dem Blut; eine schwarz-rötliche, breiige Masse entsteht, ein kochender Sud, blasig, gallertartig, der sich auf mich zu wälzt. Besinnungslos vor Angst fliehe ich abwärts. Unten auf dem Platz steht jemand in meinem Laufweg; schützend reiße ich die Arme hoch, aber ich streife die Gestalt bloß und bin vorbei. Endlich – die Treppe auf der anderen Seite! Der dunkle, tödliche Schwarm klebt mir weiterhin hartnäckig an den Fersen, jagt mich die Stufen hoch. Oben stürze ich mich in den nächstbesten Spalt zwischen Hauswänden und irre durchs Dunkel. Die ganze Zeit höre ich hinter mir die wütende, brüllende Masse; sie lässt sich einfach nicht abschütteln.

Endlich sehe ich ein: Es ist hoffnungslos. Früher oder später werden mich die Kräfte verlassen, und dann kriegen sie mich. Auf einmal verlässt mich alle Kraft, ich resigniere, füge mich in mein Schicksal. Es gibt sowieso kein Entrinnen mehr.

Da kommt er, der Mob, wie eine reißende, tobende Flut, die alles verschlingt. Aber was aus der Ferne noch so kompakt gewirkt hat, zerfällt beim Näherkommen plötzlich in einzelne Teile, dunkle Schatten, spinnenartige Kreaturen. Sie bilden einen Ring, der sich allmählich um mich zusammenzieht. Immer zudringlicher werden die Spinnentiere, es raunt, quiekt, zischelt ohne Unterlass. Zahllose Augenpaare blitzen mir feindselig entgegen, neugierige Fühler streichen an meinen Knöcheln entlang, umschließen sie, ziehen sich wieder zurück. Lange, klebrige Zungen lecken nach mir.

Dann ein Schnappen, ein Biss, brennender Schmerz – und alle Dämme brechen. Die schwarze Meute kommt endgültig über mich, es gibt kein Halten mehr. Bizarr geformte Kiefer schlagen sich in mein Fleisch, reißen Stücke heraus, Fetzen von Sehnen und Fasern. Blut trieft, mein Blut; ich höre mich aufschreien, jammervoll stöhnen, in schier grenzenloser Qual.

Noch Ewigkeiten scheinen zu vergehen, bis mir endlich die Sinne schwinden und Bewusstlosigkeit mich erlöst.



***



Als ich im Morgengrauen aufwachte, war ich völlig zerschlagen, wie stets nach diesen Albträumen. Und ein weiteres Mal fragte ich mich, ob ein Traum wirklich so stark, so realistisch sein konnte. Ich hatte alles gespürt, hatte Schmerzen erlitten erlitten wie nie zuvor in meinem Leben. Prüfend schaute ich an mir herab, betastete mich. Nein, alles war noch heil, noch ganz. Dann ging mein Blick zur Tür: Sie war fest verschlossen.

Abends saß ich im Bett und versuchte mich auf ein Buch zu konzentrieren. Ich musste unbedingt wach bleiben, denn das Einschlafen, dessen war ich mir bewusst, bedeutete loslassen. Mein Schutzwall würde fallen, die dünne Schicht der Vernunft sich auflösen, und nichts mehr die Flut aus Albträumen, Ängsten, Visionen zurückhalten. Alles würde erneut über mich hereinbrechen und diesmal vielleicht mit sich reißen…

Ettore hatte ich seit dem Abend, als er Kontakt mit mir aufnehmen wollte, nicht mehr gesehen, weder zum Frühstück noch zum Diner. Ein weiteres Mal dachte ich mit Schaudern an den Gastwirt – hatte Ettore dasselbe Schicksal ereilt? Aber irgendetwas daran erschien mir unlogisch, wollte nicht ins Bild passen.

Unablässig tickte neben mir der Reisewecker auf dem Nachttisch. Windböen rüttelten am Fenster, ließen das Kerzenlicht flackern, schickten bizarre Schatten über die Wände. Und manchmal hatte ich den Eindruck, als würde Vivienne sich in ihrem Ölporträt rühren und mir heimlich zublinzeln…

Aber was war das für ein merkwürdiges Knarzen? Kam es vom Korridor? Ja, es waren Schritte… und sie näherten sich! Vivienne? Kehrte sie von ihrer Reise zurück? Das Geräusch wurde immer lauter… und riss direkt vor der Tür plötzlich ab!

Einen Augenblick geschah nichts. Schließlich ertönte leises Pochen. „Marc!“, flüsterte es heiser. „Bist du wach?“

Das Blut gefror mir in den Adern! Wurden meine Träume jetzt Realität? Kamen sie, um mich endgültig zu holen? Erst nach einer Weile begriff ich, dass es Ettores Stimme war, die ich gehört hatte.

Auf zittrigen Beinen ging ich zur Tür, öffnete einen Spaltbreit. Sein Gesicht tauchte auf, durch eine einzelne Kerze von unten beleuchtet und geisterhaft verzerrt. „Bin ich froh, dass du wach bist“, flüsterte er und atmete sichtlich durch. Dann blickte er rasch hinter sich. „Darf ich einen Moment reinkommen?“

„Ja, natürlich!“ Ich trat zur Seite, ebenfalls erleichtert, ihn zu sehen, zu wissen, dass er lebte und bei Gesundheit war. Ettore blickte sich misstrauisch im Zimmer um. „Scusi“, murmelte er und ging an mir vorbei, sorgsam darauf bedacht, dass die Kerze seines Handleuchters nicht verlöschte. Vor dem Bad hielt er kurz inne, dann riss er blitzschnell die Tür auf und leuchtete alles ab.

Sichtlich beruhigt schloss er die Badezimmertür wieder. „Scusi“, sagte er noch einmal, diesmal etwas lauter. „Ich war mir plötzlich sicher, dass…“ Er versuchte ein Lächeln, aber es missglückte. Seine Finger zitterten, als er den Kerzenleuchter auf dem Tisch abstellte. Was war los? Wovor hatte er Angst? Und wo war er die ganzen letzten Tage gewesen?

„Porca vacca! Was für ein Ort! Hier muss man einfach irre werden.“ Er lachte kurz. „Mann, jetzt brauch ich was zum Durchspülen. Hast du Lust, mit rüberzukommen? Ich habe einen guten Tropfen auf dem Zimmer – Grappa aus Napoli.“ Allmählich kehrte die Farbe in sein Gesicht zurück.

Ich überlegte: Nach allem, was ich wusste, lag sein Zimmer ganz in der Nähe. Und sowohl Vivienne als auch Corinne waren noch auf Reisen. Man konnte es also wagen… „Ja, gut“, meinte ich.

Er nahm seine Kerze, öffnete leise die Tür und spähte hinaus. „Alles okay.“ Er winkte mir, ihm zu folgen. Schnell schaute ich nach rechts und links über den Korridor: Waren rötliche Augenpaare im Dunkel zu sehen? Huschten irgendwo Schatten über den Parkettboden? Was würden sie tun, wenn sie uns hier draußen entdeckten? Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt.

Aber wir erreichten wohlbehalten Ettores Zimmer, das tatsächlich nicht weit entfernt lag. Sorgfältig schloss er die Tür, dann entzündete er einen mehrarmigen Leuchter. Warmer, behaglicher Lichtschein breitete sich aus. Ich hatte den Eindruck, in mein altes Zimmer zurückzukehren, so vertraut wirkte hier alles: das Baldachinbett, die Kommode, der Wandspiegel, der Durchgang zum Bad, das große Sprossenfenster ohne Vorhänge. Aber vielleicht ähnelten die Wohnräume im Schloss einander.

Ettore machte sich an einem recht teuer aussehenden Hartschalenkoffer zu schaffen, kramte eine Flasche daraus hervor und füllte zwei Gläser. „Salute“, prostete er mir zu und stürzte den Inhalt in einem Zug herunter. Ich betrachtete einen Moment die klare Flüssigkeit, dann tat ich es ihm gleich. Das Brennen im Hals löste einen Hustenanfall aus. Ettore lachte und klopfte mir auf den Rücken. „Nimm noch einen“, meinte er und füllte erneut mein Glas. „Härtet ab.“

Ich rieb mir die Augen und trank. Angenehme Wärme breitete sich in der Magengegend aus. Das Zeug tat wirklich gut, es beruhigte die Nerven.

Wir setzten uns an den Tisch. „Wo bist du die letzten Tage abgeblieben?“, fragte ich.

Er winkte ab. „Frag besser nicht! Ich war hier drinnen. Manon hat mir das Essen gebracht.“ Wieder sein kurzes, schnaubendes Lachen. „Was ist dies nur für ein Gebäude? Riesig, endlos, wie ein Labyrinth! Also, mir ist das alles nicht mehr geheuer…“

Diesmal war ich es, der auflachte. In Wahrheit schauderte es mich bei seinen Worten: Wenn sogar der spröde, nüchterne Ettore es hier mit der Angst bekam…

Doch allmählich wich das Unbehagen. Die Stimmung löste sich, das Gespräch wurde offener. Wie gut es tat, einfach hier zu sitzen und sich mit jemandem auszutauschen. Auch Ettore schien es zu genießen, auch er wollte offenbar vergessen, böse Geister vertreiben. Mittlerweile waren seine Wangen vom Grappa leicht gerötet; er hatte den Pullover ausgezogen, saß im T-Shirt dort.

Den Sardinien-Trip, erklärte er mir, hatten Corinne und er eigentlich gemeinsam machen wollen. Anschließend wäre er von dort aus direkt wieder nach Mailand geflogen, während sie aufs Schloss zurückkehrte und noch einige Zeit mit ihrer Familie verbrachte. Aber dann hatte er von den sagenhaften Schätzen der hiesigen Bibliothek gehört und war hiergeblieben, entgegen der ursprünglichen Planung. Inzwischen bereute er seine Entscheidung bitter.

„Am liebsten würde ich sofort abreisen. Hätte ich bloß den Mietwagen noch“, ärgerte er sich.

„Lass mich raten: Du hast ihn zurückgegeben. Der Wagen, mit dem ihr gekommen seid, ist der von Corinne. “

„Stimmt.“ Er sah er mich stirnrunzelnd an: „Du und Vivienne auch?“

Ich nickte nur stumm. „Weshalb meintest du vorhin, dass man hier irre werden muss?“

Ein Anflug von Unsicherheit zeigte sich in seiner Miene. „Hier stimmt doch irgendwas nicht“, antwortete er mit deutlich gesenkter Stimme. „Ich meine – dass das Radio keinen mehr Empfang hat und mein Handy nicht mehr funktioniert, lässt sich zur Not ja noch erklären. Aber wieso bleibt meine Uhr plötzlich stehen? War immer total zuverlässig, das Ding.“ Er hielt mir seine Armbanduhr hin: Zehn vor sieben, und der Sekundenzeiger stand wie eingefroren auf der Stelle – genau wie bei mir!

„Weshalb sind sämtliche Kontakte zur Außenwelt abgerissen? Das ist doch nicht normal, sag selbst!“ Auf einmal begriff er, dass er zuletzt sehr laut geworden war. Er hielt einen Moment inne, blickte nervös zur Tür. Dann sprach er flüsternd weiter: „Kennst du eigentlich die Geschichte dieses Schlosses? Hast Du von den Gerüchten gehört, die sich um die Montardits ranken?“

„Ich hab darüber mal irgendwas gelesen“, gab ich vorsichtig zurück. Worauf wollte er hinaus? Wie viel wusste er?

„In der Bibliothek ist mir ein hochinteressantes Buch untergekommen“, meinte Ettore. „Vermutlich hätte ich es niemals finden dürfen. Es berichtet über Ereignisse, die Corinne mir verschwiegen hat, als wir über die Historie ihrer Familie und des Schlosses sprachen. Sagt dir der 'Orden der Reinheit' etwas?“

„Erzähl!“, forderte ich ihn auf, jetzt sehr gespannt.

„Mit Arsène hatte um 1600 wohl eine spät-feudale Lebensweise auf Chateau de Montardit Einzug gehalten“, so Ettore. „Immer aufwändiger und verschwenderischer wurde das Leben, bis die Prasserei unter César ihren Höhepunkt erreichte, Mitte des 18. Jahrhunderts. Seine Kinder jedoch stellten all das jäh infrage: Sie wollten zurückkehren zu den Traditionen und Regeln, die einst auf dem Schloss gegolten hatten, den Regeln des 'Ordo Puritas'. Chateau de Montardit sollte wieder das werden, was es früher gewesen war: eine Stätte ohne den irdischen, verderbten Materialismus, ein Refugium des Geistes.“

Ettore hielt inne und blickte mich an. „Sie sperrten César weg und übernahmen selbst die Regentschaft. Ungefähr seit dieser Zeit, munkelt man, stimme mit dem Schloss etwas nicht, angeblich gelten hier die Gesetze von Raum und Zeit nicht mehr. Auch sollen immer wieder Menschen verschwinden, die sich Chateau de Montardit zu sehr nähern, manchmal ganze Gruppen…“

Ich musste an Jérômes Erzählung von den revoltierenden Bauern denken: Sie waren zum Schloss gezogen und hatten es niemals erreicht, bis heute jede Spur von ihnen. Ein weiteres Mal hörte ich innerlich Stefanos Worte: „Wer den Bannkreis des Schlosses einmal betreten hat, wird ihn niemals mehr verlassen…“

„Inzwischen hab ich manchmal das Gefühl, allmählich Halluzinationen zu bekommen“, flüsterte Ettore. „Sehe in der Dunkelheit Schatten, die über die Flure huschen. Kompletter Unsinn, ich weiß es ja selbst! Und trotzdem…“

Mit zitternden Fingern füllte er sich erneut das Glas und stürzte den Grappa hinab. Erst jetzt sah ich die Blutergüsse auf seinen Armen. Auch ein paar Bissmale waren zu erkennen, von kleinen, sehr spitzen Zähnen…

„Weißt du was?“ Er lachte unvermittelt auf. „Letzte Nacht hab ich ernsthaft gedacht… ich meine, es sah so aus, als ob… diese komischen Dinger, diese kleinen Ungeheuer – als ob sie in dein Zimmer laufen würden. Eine ganze Horde, wahre Massen. Ich konnte förmlich spüren, wie der Boden vibrierte. Es wollte einfach nicht aufhören. Und dann…“ Er stockte, rang mit sich. Offensichtlich war es ihm unangenehm, diesen Punkt anzusprechen: „… dann gingen die Schreie los.“

Mir wurde auf einmal schwummrig, ein heftiges Zittern durchlief mich von oben bis unten. Schemenhaft wischten die Gedanken durch meinen Kopf: Schwarze Schatten, die in mein Zimmer strömten… also doch kein Traum… sie waren wirklich gekommen!

Mein Blickfeld wurde wieder klar, ich sah den Tisch, das Zimmer, die Anrichte, von der Ettore die Gläser genommen hatte. Noch etwas lag dort, ein Stück Karton, eine Postkarte mit Bildmotiven: Ein alter Hafen, eine staubige Hochebene, ein Berg, dessen Gipfel in Wolken gehüllt war… ich sprang auf, griff nach der Karte, wendete sie: Handschriftliche Zeilen auf italienisch waren dort zu sehen. Ich verstand nichts, aber die Unterschrift konnte ich entziffern: Stefano.

Erneut kam der Schwindel, das Blut hämmerte mir durch die Schläfen, ich spürte Schweiß auf der Stirn. Endlich wurde der Zusammenhang klar: Ettore – er suchte nach Stefano! Sie stammten beide aus Neapel, kannten sich vermutlich von früher. Stefano war irgendwann von einer Urlaubsreise nicht zurückgekehrt. Und schließlich hatte Ettore diese Karte bekommen…

Schatten… Schatten, die ins Zimmer schlüpften, dann Schreie – exakt so war es bei Stefano gewesen! Davor hatte es den Wirt erwischt. Und Lennard vermutlich ebenso. Das Bild der lebenden Höhle stand mir wieder vor Augen, diesem Gewölbe aus Muskeln, Fleisch und Blut mitsamt der eingewobenen Menschen, der fixierten, von sehnigen Tentakeln durchdrungenen Bündel, denen langsam der Lebenssaft abgezapft wurde. Und wenn die Beute schließlich leer und vertrocknet war, stieß man sie ab, ließ sie einfach zu Boden fallen…

Jetzt kam also ich an die Reihe. Danach war Ettore dran. Aber warum, warum? Welchen Sinn hatte das alles?

„Alles klar mit dir?“, hörte ich plötzlich Ettore sagen. Ich spürte seine Hand auf der Schulter.

Diese Berührung, die Besorgnis in seiner Stimme… etwas begann sich in mir zu lösen, ein Kloß in der Magengegend, ein riesiger Eisblock. So lange ich zurückdenken konnte, steckte er dort fest, aber nun taute er auf, kam ins Rutschen, wollte hinaus. Meine Umgebung verschwamm hinter einem Vorhang aus Tränen…

Auf einmal hatte ich das Gefühl, am Grund eines Wassers zu sein. Weit über mir war das Licht, die Rettung, dorthin musste ich gelangen. Ich arbeitete mich nach oben, kraftvoll, zielstrebig…nichts war im Weg, nichts konnte mich aufhalten, hell schien über mir die Sonne. Aber der Weg war weit, sehr weit, und allmählich wurde mir die Luft knapp. Ich durfte nicht aufgeben, alles würde gut werden, bloß ein Stückchen noch, eine kurze Strecke … dann stieß ich an eine Barriere. Sie war nachgiebig, elastisch und doch undurchdringlich. Ich tastete mich an ihr entlang, suchte nach einer offenen Stelle, einer Lücke zum Durchschlüpfen. Meine Lungen schrien nach Sauerstoff, ich brauchte Luft, unbedingt, der Atemreflex ließ sich kaum noch unterdrücken… aber diese Substanz, dieses transparente Plasma – es war hermetisch abgeschlossen, bot kein Durchkommen. Ich konnte nichts mehr tun, resignierte, ergab mich meinem Schicksal. Ich würde ertrinken, es sollte so sein, ich hatte alles versucht…

Und auf einmal war es vorbei; mein Blick hatte sich aufgeklart, der Raum war zurückgekehrt, Neben mir stand Ettore, in seinem Blick zeigte sich eine Mischung aus Besorgnis und Befremden. Seine Hand hatte er weggezogen.

„Alles klar?“, fragte er wieder.

Ein Gefühl grenzenloser Scham packte mich und überlagerte alles andere; es wollte mich schier erdrücken. Kein Mensch auf der ganzen Welt durfte mich sehen in dieser Verfassung! Ich wollte weit weg sein, allein auf meiner Insel, in meinem eigenen, abgeschlossenen Universum…

„Sorry!“ Ich sprang auf, taumelte zur Tür. Raus, bloß raus hier! Fliehen vor dem, was in diesem Zimmer war. Etwas hatte mir eine Falle gestellt, und beinahe wäre ich hineingetappt!

Dabei war es nur Ettore, der dort stand und mich ratlos anstarrte. „Wir können ja ein andermal weiterreden“, rief er mir hinterher. „Sollte man viel öfter machen – miteinander reden…“

Ich achtete nicht mehr auf seine Worte, lief wie besinnungslos über den dunklen Korridor davon. Endlich erreichte ich mein eigenes Zimmer und konnte die Tür hinter mir zuschlagen.



***



Beim Frühstück am nächsten Morgen traf ich niemanden an. Manon brachte Kaffee und zog sich wieder zurück.

Das Alleinsein war mir mehr als recht, ich wollte jetzt niemanden treffen, vor allem Ettore nicht. Mit Abstand erschien mir mein Aussetzer während unseres nächtlichen Zwiegesprächs mehr als peinlich, fast schon bedenklich. Verlor ich allmählich den Verstand?

Ich bekam kaum einen Bissen hinunter, war völlig aufgekratzt und ruhelos, ein einziges, zitterndes Nervenbündel. Zugleich fühlte ich mich zerschlagen und müde, sehnte mich nach einem Bett, nach Liegen und sanftem Entschlummern – und wusste doch, dass ich kein Auge zugetan hätte.

Das alles konnte nicht mehr lange so weitergehen.

Permanent tönten aus der Servierküche Arbeitsgeräusche herüber. Sie schienen heute lauter als sonst, bedeutend lauter. Und hektischer, geradezu nervenaufreibend! Wollte Manon mich zermürben, endgültig fertigmachen? Schließlich hielt ich es nicht mehr aus, rannte fast panisch aus dem Speisezimmer. Draußen wusste ich nicht, wohin, also marschierte ich einfach los, ohne Ziel, ohne Plan. Die schiere Bewegung, so meine Hoffnung, würde vielleicht dieses Gefühl der Enge vertreiben, das mir allmählich die Luft abschnürte. Luft, Licht, Weite – wo fand ich das bloß?

Zum ersten Mal seit langem blieb ich nicht auf den gewohnten, erlaubten Routen – egal! Ich ließ mich einfach treiben, ignorierte hartnäckig das wachsende Gefühl von Beklemmung, wanderte ohne Sinn und Verstand durchs Halbdunkel dieses irrsinnigen, amorphen Gebildes, das vorgab, ein Schloss zu sein. Es kam, wie es hatte kommen müssen: Ich verfranzte mich komplett. Hier hatte sich wirklich alles verändert, ich erkannte rein gar nichts mehr wieder.

Schließlich stand ich in einem engen, mit Kalk geweißten Treppenhaus. Über mir Stufen, spiralförmig nach oben laufend und im Zwielicht verschwindend, am Rand notdürftig durch ein klappriges Holzgeländer geschützt. Der Hauptturm! Er existierte also noch, im Gegensatz zu den vielen Orten, die sich plötzlich in Luft aufgelöst hatten.

Ob es einen Grund dafür gab, dass ich ausgerechnet hier gelandet war? Ach, wozu lange nachgrübeln? Schon hetzte ich nach oben – diesmal würde ich die Falltür aufbekommen, mit Wucht und nackter Gewalt, mit List und Tücke, irgendwie! Heute musste sie mich einfach durchlassen, meine Entschlossenheit kannte keine Grenzen!

Unerwartet rasch tauchte über mir das Viereck aus dunklen, schweren Holzbohlen auf. War der Turm nicht mehr so hoch wie früher? Oder hatte mein Zeitgefühl sich verändert? Ich rannte die letzten Stufen hinauf, umfasste den klobigen Eisengriff mit beiden Händen und stemmte die Falltür mit aller Kraft nach oben, in Erwartung des bekannten Widerstandes – aber das Türblatt schwang federleicht zurück, es schnellte geradezu hoch, klappte über und fiel auf der anderen Seite krachend zu Boden.

Fassungslos starrte ich auf die Öffnung über mir und musste die Augen mit der Hand schützen, weil die Helligkeit zu stark war. Die Falltür war nicht verriegelt gewesen! Ich tastete mich die letzten Stufen hoch, stolperte wie blind ins Freie, Wind strich mir über die Haut, sauerstoffreiche Luft strömte in meine Lungen…

Schließlich nahm ich die Hand weg: Der Steinboden war feucht, überall hatten sich kleine Pfützen gebildet, wie nach einem Schauer. Jenseits der Turmzinnen wallte noch immer zäher Nebel und verschluckte die Welt. Dennoch: Ich war draußen, im Freien! Wie würzig die Luft roch, wie frisch und gereinigt vom kürzlich niedergegangenen Regen – es glich einem Wunder! Kalt war mir überhaupt nicht. Ich zog Pulli und T-Shirt aus, legte den Kopf zurück, stand einfach nur dort, mit freiem Oberkörper, und genoss: den Wind auf meiner Haut, die über mich hinwegziehenden Nebelschwaden, das Gefühl von Weite.

Hörte man nicht manchmal Vögel krächzen? Wurden ihre Rufe nicht von den umliegenden Felswänden reflektiert? Und was war das für ein Rauschen, das mit jeder neuen Bö aufbrauste? Kam es möglicherweise aus dem Schlosspark, wenn dort der Wind durch die Baumkronen fuhr? Falls der Park wirklich noch dort unten war. Falls da draußen überhaupt noch irgendetwas war und das Schloss nicht längst verschwunden, versunken in den Nebeln der Zeit…

Zum ersten Mal seit Ewigkeiten sah ich mich wieder bei Tageslicht – und war geschockt. Das Haar fiel mir in langen Zotteln über die Schultern, man erkannte erste graue Strähnen darin. Unter meinem Brustkorb zeichneten sich die einzelnen Rippen ab, an Ellenbogen und Händen standen die Gelenke deutlich hervor. Schließlich meine Haut: Sie war kreidebleich, wächsern – und übersät mit Bissmalen. Die meisten hatten sich gelblich gefärbt, einige leuchteten giftig grün oder dunkelrot. Nichts, absolut gar nichts war geblieben von dem gutgebauten, sonnengebräunten Mann, der mir bei Chloé aus dem Spiegel entgegengeblickt hatte!

Allmählich begann ich zu frieren, aber das machte mir nichts aus. Im Gegenteil: Es bewies mir, dass ich noch existierte, noch ein Mensch war, ein lebendes, empfindendes Wesen. Und so blieb ich dort stehen, zitternd und halbnackt, gedankenverloren in die bleiche, undurchdringliche Nebelwand schauend. Manchmal schienen die Dunstschwaden sich zu lichten, kleine Fenster zu entstehen, die einen Blick auf die Bergwelt erlaubten… aber es war mehr Hoffnung denn Wirklichkeit.

Schließlich wurde die Kälte zu stark. Ich schlüpfte in T-Shirt und Pulli, tat einen letzten Blick über die Zinnen und ging wieder zur Treppe, mittlerweile vollkommen durchgefroren.

Und plötzlich überkam mich das starke Gefühl, gerade zum letzten Mal bei Tageslicht im Freien gewesen zu sein.



***



Der Abstieg zog und zog sich. Als würde das, was mir vorhin an Weg erspart geblieben war, jetzt unten dran gehängt. Und natürlich hatte in der Zwischenzeit die Dämmerung eingesetzt, sodass man immer weniger sah. Eine Kerze wäre jetzt Gold wert gewesen!

Immer weiter schraubte die Treppe sich in die Tiefe, Runde folgte auf Runde, es war unfassbar trostlos – und ebenso kraftraubend. Schließlich konnte ich nicht mehr. Erschöpft setzte ich mich auf die Umfassung einer Fensterluke, um ein paar Minuten zu verschnaufen. Der Rücken tat mir weh, meine Füße schmerzten und noch immer spürte ich die Kälte in den Gliedern. Wie lange mochte ich oben auf dem Turm gewesen sein? Nur ein paar Minuten? Oder doch eher Stunden? Ob mir jemals wieder warm werden würde?

Die Vision der vergangenen Nacht stand plötzlich wieder vor mir, jener beklemmende Wachtraum, den ich in Ettores Zimmer gehabt hatte. Die transparente Barriere, die das Auftauchen verwehrte, mein langsames Ertrinken… und endlich fiel der Groschen: Der Wirt, beim Anblick von Lennards Karte – er musste Ähnliches durchlebt haben wie ich! Genauso Stefano, als ihm die Herkunft seines Feuerzeugs klar wurde. Beide hatten völlig weggetreten gewirkt, wie gepackt von etwas Tödlichem, das sie langsam zu sich hinabzog…

Inzwischen war es so gut wie dunkel geworden. Ich warf einen Blick durch die Luke hinter mir, um abzuschätzen, wie viel Weg ich noch vor mir hatte. Große Erleichterung: Ich befand mich bereits auf einer Höhe mit den gegenüberliegenden Dächern. In einem der Schlosstürme leuchtete ein einzelnes Fenster – sofort kam mir die mysteriöse Säulenhalle meines Traums in den Sinn, wo ich dieses einsame Licht zum ersten Mal gesehen hatte. Existierte jener Ort also doch? Gab es dann auch jenes gewaltige Ölporträt der Montardits, allesamt in historischer Kleidung und den Patriarchen umringend? Aber was hieß hier Phantasie, was Realität? Sich darüber den Kopf zu zerbrechen war schlicht sinnlos.

Und doch glaubte ich auf einmal zu wissen, wer drüben in dem Turmzimmer saß: César de Montardit – es konnte nur er sein! Bei ihm liefen die Fäden zusammen, ganz offensichtlich war er das Epizentrum all der seltsamen Ereignisse, die sich hier zutrugen. Er musste mir helfen! Er würde das Rätsel, mein Rätsel endlich auflösen…

Obgleich – was hatte Ettore herausgefunden? César war als Patriarch abgesetzt. Seine eigenen Kinder hatten ihn weggesperrt, um zu den Traditionen des 'Ordo Puritas' zurückzukehren. Sie wollten das alte Chateau de Montardit wiederauferstehen lassen, das ein Refugium des Geistes gewesen war, ein Stück Himmel auf Erden… aber irgendetwas musste schiefgelaufen sein. Ja, es war ihnen gelungen, das Schloss dem Gefüge von Raum und Zeit zu entziehen; Stefanos Eindruck des Abdriftens, des allmählichen Verschwindens traf zu. Und doch hatte jene verhängnisvolle Macht, die uns dazu brachte, uns allmählich gegenseitig zugrunde zu richten und den Planeten zu zerstören, ihren Weg hierher gefunden.

Auch hier gab es diesen Verlust von Spiritualität und Sinnhaftigkeit, diese Unfähigkeit, sich selbst als Ganzes zu erleben, sich zu öffnen und Bindungen einzugehen. Auch für Vivienne und ihre Geschwister waren Beziehungen nurmehr ein Besitzgut, ein Ding. Man begehrte eine Person, wollte sie haben, unbedingt. Und wenn man sie schließlich bekam, vergnügte und schmückte man sich mit ihr, bis sie nichts mehr hergab. Dann entsorgte man sie auf dem Todesacker wie auf einer Müllhalde und holte sich eine neue.

Nichts schien diese tödliche Leere aufhalten zu können, überall breitete sie sich aus, erreichte jeden Winkel dieser Erde, mochte er auch noch so weltabgewandt sein. Nirgends war man vor ihr sicher, auch hier nicht. Sie war wie eine Seuche, wie der Schwarze Tod bei Edgar Allan Poe.

Vielleicht hatte das Wissen um die Magie des Ordo Puritas bei Césars Nachfahren nicht mehr ausgereicht. Vielleicht waren seine Kinder bereits zu sehr geprägt von der anderen, der materiellen Welt, um Chateau de Montardit noch wirksam schützen zu können, mochte der Wille auch vorhanden gewesen sein. Jedenfalls lebten die Schlossbewohner genauso einsam nebeneinander her wie der Rest der Menschheit, alle komplett in sich selbst eingekapselt und nur verbunden durch die Gewissheit, dass es den anderen nicht besser erging. Alle waren alleingelassen mit ihren Ängsten und bösen Träumen, ihrem Schmerz, ihrem ganz persönlichen, inneren Horrorszenario. Einen gewichtigen Unterschied gab es aber: Die Menschen draußen segneten irgendwann das Zeitliche und hatten es hinter sich; die Montardits dagegen würden bis in alle Ewigkeit Gefangene ihrer eigenen Welt bleiben…

Und ich war der Nächste auf ihrer Liste. Sie würden mich ebenso anzapfen und leersaugen, wie sie es mit all den anderen taten, die ich gesehen hatte in dieser lebenden Höhle, diesem Gewölbe aus Muskeln, Fleisch und Blut. Erst wenn ich nichts mehr hergab, wenn ich vollständig ausgetrocknet war, würden sie von mir ablassen, mich wegwerfen und endlich sterben lassen.

Mir blieb nichts als zu warten, bis sie kamen und mich holten.



***



Unter Mühen erhob ich mich und stieg weiter abwärts, bis der Bauch der Finsternis mich wieder aufnahm. Wie vorhin ließ ich mich einfach über die Flure treiben, in der Hoffnung, irgendwie zurückzufinden. Zum Glück brannten die Kerzen in den Wandhaltern noch. Ein bisschen Zeit blieb mir also, ehe die Spinnenmonster wieder aus ihren Löchern hervorkrochen…

Bald zog ein angenehmer Duft nach Räucherstäbchen durch die Luft. Er wirkte wie ein letzter, wehmütiger Hauch von Schönheit inmitten all der Finsternis und Hoffnungslosigkeit. Ich ließ mich von ihm leiten, verführen… er weckte geheime Wünsche in mir, nach Nähe, Sinnlichkeit, Erotik. Mein Herzschlag beschleunigte sich, die nagende Angst verschwand. Ich spürte Erregung, unbändige Sehnsucht. Chloé… ihr Zimmer musste sich in der Nähe befinden! Ich wollte mit dieser schönen Frau zusammen sein, sie berühren, von ihr berührt werden. Vielleicht war es die letzte Gelegenheit, noch einmal Sex zu haben…

Die Umgebung begann sich zu verändern: Fernöstliche Tuschezeichnungen zierten nun die Wände, man sah Buddhastatuen auf kniehohen Sockeln, illuminiert von flackerndem Kerzenlicht. Sanfte, metallische Töne von Windglockenspielen erklangen, die Luft war erfüllt vom Arom ätherischer Öle. Ich fühlte mich jetzt geradezu berauscht, nahm alles nur noch wie durch einen Vorhang wahr. Chloé war das Zentrum all meiner Gedanken und Wünsche, es gab niemand anders mehr für mich. Ich wollte die Massage mit ihr von Neuem erleben, unbedingt, um jeden Preis! Und diesmal würde ich nicht passiv bleiben, mich nicht mit der Rolle des Untätigen zufriedengeben. Chloé und ich – heute Nacht würde es passieren!

Meine Erregung steigerte sich, wurde bald zur puren Gier. Bis ich schließlich eine Gestalt vor mir zu sehen meinte, eine schlanke Frau, deren blondes Haar offen über die Schultern nach hinten fiel. War das enge Kleid, das sie trug, nicht durchsichtig? Zeichnete sich unter dem groben Stoff nicht deutlich der wohlgeformte Körper ab, der Rücken, der nackte, volle Po? Konnte man nicht ihre Brüste an der Seite erkennen, wenn das Kerzenlicht darauf fiel?

Da war endlich Chloés Zimmer. Ich trat ein, sah im Hintergrund den japanischen Wandschirm, in der Raummitte den Futon. Frische Handtücher waren auf ihm ausgebreitet, daneben standen die Fläschchen mit Massageöl in ihrem Wasserbad. Aus dem Nebenraum hörte man es plätschern. Ich schob den Vorhang beiseite, mittlerweile vor Erregung zitternd: Aus der Wanne stieg Dampf kräuselnd empor – alles war bereit. Welch ein Genuss, sich zu entkleiden und ins heiße, duftende Wasser zu steigen. Welche Freude, das Nass über die Haut perlen zu sehen. Meine Leichenblässe schien verschwunden; im Kerzenlicht wirkte ich wieder so bronzefarben und gut gebaut wie einst. Auch Bissmale fand ich keine mehr.

Nach und nach wich die Kälte aus meinen Gliedern, zugleich wurde die Müdigkeit immer stärker. Es musste am Schlafmangel liegen, der sich jetzt, im Augenblick der Entspannung, nicht mehr unterdrücken ließ. Immer schwerer wurden meine Lider… aber ich durfte auf keinen Fall einschlafen, alles würde sonst wiederkommen… das Blut, das hinter mir die Treppe herabspült, unter meinen Füßen schmatzt, langsam an den Knöcheln emporsteigt … Nein! Ich muss wach bleiben, muss es verhindern… aber ringsherum schwappt und blubbert alles nur noch. Ich stapfe, wate durch ein Meer aus Blut, habe selbst diesen Strom ausgelöst, bin schuld an allem. Der Schwarze Korridor beginnt, und dort wartet bereits der Schlund, öffnet und schließt sich gierig, trinkt alles in sich hinein, schluckend, saugend, geifernd… ich habe den Halt verloren und stürze, rutsche hilflos die schleimige Schräge hinab, dem Abgrund entgegen. Werde eingesogen, schwebe plötzlich durch ein stockfinsteres Nichts…



***



… und schlage auf. Langsam werde ich wieder klar. Ich habe keine Schmerzen, mir ist nichts geschehen. Als ich aufstehe, wirbelt feiner Staub hoch; beißender Gestank nach Fäulnis und Verwesung breitet sich aus. An den Wänden lässt sich allmählich ein glutrotes Leuchten erkennen; das Gewebe aus Kapillaren tritt hervor, spannt sich über mich wie ein gigantisches, endloses Spinnennetz. Feines, rot schimmerndes Geäder, in dem es fortwährend pulsiert und zuckt… und dazwischen hängen überall die geschwulstartigen Knoten, die klebrigen Beutel, aus denen Arme und Beine ragen, Köpfe mit starrenden Augenpaaren.

Ich bin zurück in der Höhle, meiner Höhle! Vor mir liegt der schmale Weg über die Halde des Todes, getreten von den Unzähligen, die bereits hier gewesen sind. Alles ist wie beim ersten Mal. Als hätte jemand die Zeit zurückgedreht, damit ich den Weg, meinen Weg, zu Ende gehe…

Also tue ich, wie mir geheißen. Schreite den Pfad entlang und betrachte die eingewobenen Bündel zu beiden Seiten. Menschliche Körper, die vollständig umhüllt sind, durchdrungen, vereinnahmt. Von Zeit zu Zeit stürzt irgendwo in den Tiefen des Gewölbes eines der menschlichen Pakete herab. Ausgeschiedenes Material, das nun im gewaltigen Ozean der Verwesung versinkt. Mir ist, als würde mit jedem Schritt eine weitere Schicht dieser ekelerregenden Schlacke an meinen Sohlen kleben bleiben. Das Gehen fällt schwerer und schwerer. Etwas Furchtbares wird passieren, eine Erschütterung erwartet mich, wie ich sie noch nie erlebt habe. Und doch kann ich nicht zurück. Ich stehe kurz vor der Auflösung des Rätsels, muss weitergehen… und will es auch. Ich will endlich der Wahrheit ins Auge blicken, mag sie noch so entsetzlich sein.

Die nächste Gestalt am Wegrand, eingesponnen, fixiert. Dunkles, fettiges Haar, lange Bartstoppeln auf totenbleichen Wangen, ein Tuch um den Hals… der Gastwirt! Trotz der Tentakeln, die sich brutal in seine Nasenlöcher, den Mund und beide Ohren gebohrt haben, ist er deutlich zu erkennen.

Und ein weiterer Körper. Erneut dunkles Haar, diesmal gelockt und nach hinten gekämmt. Das Antlitz eines jungen Mannes, um dessen Mundwinkel noch im Todeskampf ein entrücktes, fast glückliches Lächeln spielt… Stefano.

Aber ich bin noch nicht entlassen aus diesem Theater des Grauens. Als nächstes führt die Reise zu einem der Bündel, die kurz vorm Ausscheiden stehen – bleich, halb verwest, fast nur noch ein Gerippe. Die umschlingenden Fibern sind gleichfalls weiß und porös. Der Schädel mit den leeren Augenhöhlen neigt sich stark zur Seite, die Knochenhände baumeln schlaff herab. An einem der Handgelenke glitzert ein goldenes Armband mit einer Gravurplatte in der Mitte. Zwei Buchstaben sind darauf zu erkennen: „LF“.

Lennard… er hat das Armband von seinen Eltern bekommen, zum 14. Geburtstag, und seitdem nie wieder abgelegt. Er trägt es noch immer.

Obwohl meine Füße auf dem aschigen Pfad deutlich zu erkennen sind, fühle ich mich, als würde ich allmählich einsinken und verschwinden, wie in einem Sumpf. Schließlich versagen meine Beine ihren Dienst, ich kann keinen Schritt mehr tun. Etwas nötigt meinen Blick nach unten; ich komme endgültig nicht länger an gegen das, was auf mich einstürmt, mich bedrängt.

Ein Schatten fällt vor mir auf den Boden, mein Weg hat genau darauf zugeführt. Langsam, unter großer Anstrengung, schaue ich auf: eine Kreatur, eingewoben wie alle anderen, nackt, zerstört. Widerwärtige Fangarme, die sich gnadenlos in sämtliche Körperöffnungen krallen. Die Haut ist übersät mit Bissmalen, auf dem ausgemergelten Rumpf zeichnen sich die einzelnen Rippen ab, die langen Haare sind verfilzt und mit grauen Strähnen durchsetzt. Ein Augenpaar fixiert mich, hilflos, abwehrend, anklagend.

Zwischen unseren Blicken entsteht eine Verbindung, eine Brücke aus Energie, rot schimmernd, fast glühend. Etwas schmilzt in mir, verschmilzt, vereint sich… und plötzlich sehe ich mich selbst auf der Todeshalde stehen, am Ende eines staubigen Pfades, voller Entsetzen das anstarrend, was vor ihm ist, vor ihm hängt. Ich spüre maßlosen Ekel, Trauer, Bitterkeit. Und Schmerzen, schier unerträgliche Schmerzen. Es zerreißt, zerfrisst mich… wann hört das auf, wann ist das endlich vorbei?

Ich pralle ab, taumle, falle rückwärts in den Staub der Ebene. Plötzlich kann ich nichts mehr fühlen, bin ich innerlich wie taub. Es ist, als sei ich gerade gestorben.



***



Aber ich zwinge mich, erneut hinzuschauen. Ich will die Augen nicht verschließen vor der entsetzlichen, niederschmetternden Realität – und sehe Vivienne!

Vivienne, die mich aufmerksam betrachtet, prüfend, nachdenklich. Zum ersten Mal erkenne ich nun etwas wie Abschätzigkeit in ihrer Miene, Enttäuschung, Überdruss. Und auch zarte Spuren der Alterung: Unebenheiten in der Haut, feine Risse und Falten. Wie Farbe auf einer Leinwand, die langsam brüchig wird und abzublättern beginnt. Wie bei einem Gemälde, alt und verwittert. Einem Ölporträt…

Wände tauchen jetzt ringsherum auf, eine Kommode mitsamt einem Spiegel, daneben der Durchgang in einen weiteren Raum. Hinter mir schimmert das Himmelbett fahl im Dunkel. Viviennes Hälfte ist unbenutzt, meine hingegen stark zerwühlt.

Ich bin wieder zurück, stehe vor Viviennes Porträt! Oder bin ich nie fort gewesen? Alles wieder bloß ein Traum? Oder ein Traum in einem Traum? Ein Tagtraum? Oder?



***



Hatte ich jetzt die Grenze zum Irrsinn überschritten? War mir definitiv nicht mehr zu helfen? Was ich da gerade gesehen hatte, entbehrte jeder Logik: Wie konnte ich hier stehen und zugleich eingewoben sein in das widerwärtige Netz? Das ergab doch überhaupt keinen Sinn, war kompletter Nonsens!

Oder nicht? Bedeutete es, dass ich bereits… dass ich längst… auf einmal schien mir ein gigantischer Schraubstock den Schädel brutal zusammenzuquetschen.

César – ich musste zu ihm! Musste sein Turmzimmer finden! Und dann würde ich ihn zwingen, mich gehen zu lassen. Ihm ein Messer an die Kehle halten und ihn, falls er sich weigerte, umbringen, kaltmachen, so wie ich letzte Nacht… war das wirklich nur eine Vision gewesen, eine üble Phantasie, nichts weiter? Wenn ich gleichzeitig hier und in dem Geflecht sein konnte – wer sagte mir dann, dass der vermeintliche Wachtraum nicht doch stattgefunden hatte? War ich in Wirklichkeit ein jähzorniger, blutiger Schlächter? Hatte ich einen Menschen… hatte ich Lucienne… ?

Irgendetwas in mir lief jetzt über, drehte endgültig durch. Wütend riss ich die Zimmertür auf, wollte nur noch weg, raus aus diesem Gemäuer, diesem Gespinst des Irrsinns! Auf den Korridoren brannten fast keine Kerzen, aber es reichte, um den Weg zu finden. Den Weg über die Flure, durchs Treppenhaus, schließlich auf die Galerie. Unter mir lag die Schlosshalle im Dämmerlicht; Leute waren dort, Justin mit Taschen, Manon, die ebenfalls Gepäck auf den Armen trug… und das Portal stand offen, ein kleines Stückchen!

Ich raste die Haupttreppe hinab, vorbei an verwunderten, erschrockenen Gesichtern, und hechtete mit einem Satz zwischen den Türflügeln hindurch. Ich war im Freien!

„Hallo Marc“, hörte ich auf einmal eine Stimme aus dem Dunkel. Ich erstarrte, dann drehte ich mich langsam, ohne es zu wollen, wie ferngesteuert, zur Seite: Vivienne stand dort, den Reisemantel über dem Arm, hinter sich den kleinen, ledernen Rollkoffer. Ihr Lächeln war ganz klar eine Fassade, deutlich erkannte man den Überdruss dahinter, die Verachtung – wie eben auf dem Ölgemälde! Ich glaubte schon die Handbewegung zu sehen, mit der sie mich bald beiseite wischen würde wie ein lästiges Insekt. Wer mochte mein Nachfolger sein, wer stand als nächstes auf ihrer Liste der Ablenkungen und oberflächlichen Zerstreuungen? War er bereits hier und trat aus dem Dunkel, sobald Vivienne es wünschte?

Die Situation dauerte nur einen winzigen Augenblick, dann hatte ich mich gelöst und rannte wie von Furien gehetzt über den Schlosshof. Gerade kam der Mond hinter den Wolken hervor, und man sah, wie das Fallgitter langsam nach unten glitt, ächzend und quietschend. Sie versuchten wirklich alles, brachten selbst das lange eingerostete Gitter wieder in Bewegung, um irgendwie meine Flucht zu vereiteln und noch den letzten Tropfen Leben aus mir herauszuquetschen. Diese Gier, diese Maßlosigkeit – es war schlicht unfassbar! Wut und Panik ließen mich ungeahnte Kräfte entwickeln; im letzten Moment schaffte ich es, unter den spitzen Eisenstäben durchzuschlüpfen, bevor sie hinter mir krachend in den Boden fuhren. Nichts versperrte jetzt mehr den Weg; ungehindert konnte ich über die Schlossbrücke ins Dunkel hinauslaufen.

„Marc, komm zurück!“, rief Vivienne. „Nachts ist es in den Bergen gefährlich!“

Ihre Stimme war bloß ein zusätzlicher Antrieb; wie mit Siebenmeilenstiefeln jagte ich davon. Ich musste mich endlich befreien von alldem hier, musste es abschütteln, von mir abtrennen, es durfte mich nicht länger fesseln und ausbeuten! An der Seite des Weges verlief die Schlossmauer, über deren Sims die Kieferwipfel im Sturmwind rauschten. Und der Nebel – er hatte sich offenbar gelichtet, bis auf einzelne Schwaden, die neben mir über den Boden glitten wie bleiche Gespenster.

Im nächsten Moment verschwand der Mond hinter Wolken, man sah nicht mehr die Hand vor Augen. Notgedrungen machte ich halt. Jetzt vom Weg abzukommen und sich im Bergland zu verirren wäre purer Selbstmord gewesen. Hätte ich doch bloß Lennards Feuerzeug noch gehabt! Aber anders als in den vielen vorangegangenen Träumen waren meine Hosentaschen jetzt leer – natürlich…

„Marc!“, hörte man erneut Viviennes Stimme, jetzt schon sehr weit entfernt. „Kehr um, bitte!“ Und dann lief ein Schrei über die Ebene, wie ich ihn nie zuvor gehört hatte, abgrundtief verzweifelt und zugleich erfüllt von maßlosem Zorn, ein Geräusch mehr als ein menschlicher Laut, ein dissonantes, ohrenbetäubendes Kreischen, das mir Schauer des Entsetzens über den Rücken trieb.

Es war, als würden sich die Tore zur Hölle öffnen.

Und ohne mich umzudrehen wusste ich auf einmal, dass sie hinter mir waren: kleine, flinke, trippelnde Schatten, eine einzige, brodelnde Masse. Sie wollten mich einfangen, um jeden Preis wieder zu sich holen. Und sie waren schnell, rasend schnell! Jetzt explodierte die Todesangst in mir; blind floh ich in die Nacht hinaus. Stolperte über Felsvorsprünge, geriet auf losem Grund ins Rutschen, schlug mehrmals lang hin, hielt mich an allem fest, was ich greifen konnte – Gestrüpp, Grasbüschel, Dornen.

Als der Mond wieder auftauchte, sah ich mich über Steine und Geröll laufen – ich hatte den Weg verloren! Instinktiv rannte ich zu einem Felsüberhang und duckte mich dort gegen die Wand. Mein Atem raste, ich war längst nassgeschwitzt.

Immer wieder drohte die Panik in mir überzukochen, aber gerade jetzt durfte ich nicht durchdrehen, musste unbedingt einen kühlen Kopf bewahren. In welche Richtung konnte die Piste liegen? Oder die Mauer des Schlossparks? Ich brauchte irgendeinen Orientierungspunkt, hier draußen in der Bergwüste hatte ich keine Chance! Leider ließ sich kaum etwas erkennen: Die Windböen trieben permanent Sandwolken in die Höhe, auch schien der Nebel wieder dichter geworden zu sein.

Aber selbst wenn ich die Straße irgendwo ausgemacht hätte: Wie lange hielt ich diese Flucht durch? Wann würden mich die Kräfte verlassen? War es nicht ratsamer, irgendwo einen Schlupfwinkel zu finden und dort bis zum Morgengrauen auszuharren? Sie kamen nur im Dunkeln heraus, das wusste ich, bei Sonnenaufgang verschwanden sie. Aber bis dahin war es noch lange hin – viel zu lange, um sich dauerhaft vor ihnen zu verbergen! Es half nichts, ich musste weiter. Alles war besser als hier in Bewegungslosigkeit zu verharren und aufs Ende zu warten.

Der Hang schien die Ebene vollständig einzuschließen, bis auf die schmale Öffnung, durch die ich gekommen war. Ich musste wieder herausfinden aus diesem Kessel, irgendwo einen Durchlass suchen, einen Fluchtweg. Am besten auf der anderen Seite, so weit von meinem jetzigen Standpunkt entfernt wie möglich. Dann konnte ich die Monstren vielleicht abhängen und mich in Sicherheit bringen. Behutsam arbeitete ich mich an der Felswand entlang vor. Verbarg mich zwischendurch in Spalten, Rissen, kleinen Höhlen.

Just in diesem Augenblick wurde es wieder dunkel – die perfekte Gelegenheit! Ich ging jetzt volles Risiko, rannte quer über die Ebene, erreichte bald die gegenüberliegende Seite. Mein Optimismus kehrte zurück – jetzt bloß noch einen Ausgang finden, dann würde alles gut werden!

Der Mond begrub mit einem Schlag alle meine Hoffnungen: Wie ein Suchscheinwerfer flammte er plötzlich auf, nagelte mich regelrecht gegen den Hang. Ich machte mich flach wie ein Stück Papier, spürte die scharfkantigen Vorsprünge im Rücken – es war zwecklos. Vermutlich war ich kilometerweit sichtbar. Ein Versteck, ich brauchte irgendein Versteck, um aus dieser Helligkeit herauszukommen! Aber Spalten oder Nischen waren hier drüben keine zu entdecken, überall ragte nur die glatte, kalte Felswand auf.

Es war vorbei, ich saß endgültig in der Falle.

Aus welcher Richtung würden sie angreifen? Jeden Moment ging es los, das spürte ich… und dann sah ich sie, fast an der Stelle, wo ich selbst gerade noch gekauert hatte: Sie ergossen sich dort über den Klippenrand in die Tiefe, zu Hunderten, Tausenden, und brodelten mit der Urgewalt einer Lawine heran!

Mein letztes Quäntchen Selbstbeherrschung zerstob; ich preschte vorwärts, getrieben von nichts als maßlosem Grauen. Da – ein Durchlass im Fels mit dem gesuchten, ersehnten Aufstieg! Ich kletterte, die Panik verlieh mir Flügel. Oben ein glattes Felsplateau, auf dem die Profilsohlen meiner Schuhe guten Halt fanden. Ich spürte, wie ich schneller wurde, und neue Hoffnung keimte auf. Der Mond wollte mich offenbar zusätzlich bestärken: Heller denn denn je stand er jetzt am Nachthimmel, beschien die Bergwüste, die zahllosen Gipfel… und übergoss am Horizont eine Wasserfläche mit silbrigem Licht.

Konnte das die See sein?

Aber – der Flüchtende, die Berge, die dunklen Schatten, die See im Mondschein… das war mein Traum! Ich befand mich in meinem eigenen Traum! Der dort um sein Leben rannte, war überhaupt nicht Lennard gewesen – ich hatte immer mich selbst gesehen, hatte meine eigene Zukunft geschaut!

Und als würde das Land meinen Gedanken folgen, erschien jetzt zwischen mir und dem Wasser eine dunkle, beunruhigende Linie. Beim Näherkommen sah man, was es war: Eine Schlucht gähnte vor mir, so gewaltig und tief, dass ihr Grund nicht auszumachen war, trotz des taghellen Vollmonds. Anders als der Fliehende im Traum durfte ich mich also nicht der Illusion einer baldigen Rettung hingeben, sondern musste der schrecklichen, der unfassbaren Wahrheit ins Auge blicken: Meine Reise endete an diesem Punkt. Es ging definitiv nicht mehr weiter.

Sämtliche Kraft schien jetzt meinen Körper zu verlassen; die Beine knickten mir weg, verzweifelt sank ich zu Boden, krümmte und wand mich wie unter Schmerzen… und dann schrie ich. Schrie die Angst aus mir heraus, den Frust. Brüllte den grinsenden Vollmond an, die Sterne, die in unermesslicher Zahl über mir glommen, kalt und völlig ungerührt.

Abrupt wurde es wieder pechschwarz, als hätte jemand einen riesigen Vorhang zugezogen. Ich schleppte mich hinter ein paar verkrüppelte Sträucher. Was konnte ich jetzt noch tun? Es gab keinen Ausweg mehr, sie würden mich kriegen. In der Finsternis fühlte ich mich vollkommen hilflos und verloren. Ich machte mich bereit. Hoffentlich ging es schnell…

Die Wolken wanderten weiter. Neues Licht perlte herab und beschien die gewaltige Schlucht, die Bergwüste dahinter, auch das Wasser am Horizont, scheinbar so nah und doch unerreichbar… und ein neuer Gedanke zuckte mir durchs Hirn: Was, wenn der Flüchtende gar nicht irrtümlich auf den Abgrund zugelaufen war? Wenn die Schlucht kein Hindernis darstellte, keine unüberwindliche Barriere, sondern… das Ziel seiner Sehnsucht? Weil er wusste, dass sie ihm endlich Frieden bringen würde, den Frieden, den er schon so lange suchte. Den ich schon so lange suchte…

Die Erkenntnis kam wie ein Schlag, die Druckwelle einer heftigen Detonation. Es riss mich weg, alles prasselte, hämmerte plötzlich auf mich ein, Bilder, Erinnerungen, Träume, Sehnsüchte, Hoffnungen, Enttäuschungen, Verluste, Ängste – wie Felsbrocken trafen sie mich, herabstürzende Trümmer eines kollabierenden Hauses…

Im Innern der Insel

… aber allmählich ging das Inferno vorüber, die Donnerschläge wurden leiser, der Orkan flaute ab. Und als der Staub der Verwüstung sich gelegt hatte, blieb nur noch Weiß. Lichtes, reines, klares Weiß, wie eine Leinwand, auf der sich – endlich! – die entscheidenden, wirklich wichtigen Gedanken entspinnen konnten.

So lange ich zurückdenken konnte, fühlte ich mich schwach, angsterfüllt, verzagt. Als hätte mir von Beginn an ein entscheidendes Element gefehlt, ein Gefühl von Urvertrauen und Geborgenheit, ohne das sich in der Folge keine Selbstachtung entwickeln konnte, kein Selbstbewusstsein und kein Lebensmut. Zwar hatte ich immer wieder gegen meine Ängste angekämpft und versucht, Anschluss zu finden, Teil einer Gemeinschaft zu werden, aber nie war aus diesen Bemühungen etwas Tragfähiges, Nachhaltiges erwachsen – am Ende hatten mich Resignation und Apathie stets wieder eingeholt. Jetzt war der Moment gekommen, sich einzugestehen: So würde es auch künftig bleiben. Der Zug war abgefahren. Aus, vorbei.

Warum ich und die anderen nicht? Wir hatten doch alle dieselben Startbedingungen gehabt, in Elternhaus, Schule und Gesellschaft. Weshalb war ich als Einziger so früh aus dem Rennen ausgeschieden? Erst jetzt begann ich, die Ursachen und Zusammenhänge zu verstehen. Die Dinge wollten sich allmählich ordnen, nach langen Jahren in Wirrnis und Dunkelheit. Endlich konnte ich erkennen, wo ich stand, verschwommen noch, aber die Konturen wurden zusehends schärfer.

Die Lebensangst war das Eine gewesen. Hinzu kam, dass mir von Beginn an die etablierten Lebensmodelle nicht eingeleuchtet hatten: ein Elternhaus, geprägt von fremdbestimmter Arbeit, fokussiert auf Konsum, Betäubung und ein möglichst intaktes, glattes, perfektes Erscheinungsbild nach außen. Dazu ein schulisches Umfeld, das vor allem auf Leistung und Konkurrenz setzte, auf Einzelkämpfertum und Hackordnung, aber kaum Angebote machte, die Gemeinsinn vermittelten, ein Gefühl für Solidarität, das große Ganze. Schließlich eine Gesellschaft, die Wachstum und ein permanentes Mehr an Wohlstand regelrecht verklärte, die Selbstoptimierung und Ego-Pflege über alles stellte. Und jenseits von Sonntagsreden die Folgen ihres Tuns geflissentlich ignorierte: Vereinzelung, Aussortierung der Schwachen, Umwelt- und Klimazerstörung, den allmählichen Kollaps unserer physischen Lebensgrundlagen.

Zwar waren mir im Lauf der Zeit Leute begegnet, die mein Unbehagen teilten, beispielsweise während des Studiums und insbesondere in Berlin. Aber die Front bröckelte immer schnell, sobald es um konkretes Handeln ging, darum, sich nicht länger zu beteiligen. Also endlich abzulassen von Bequemlichkeit und Überfluss, von der Gier nach neuen Gütern, vom Leben in überdimensionierten Wohnungen oder Eigenheimen, von Vielreiserei und -fliegerei, ob nun pauschal oder als Rucksack-Touristen. Vor allem aber schien es mir, als wäre ich nahezu allein mit meiner Grundüberzeugung, dass Wachstumsdenken und Nachhaltigkeit schlicht nicht zusammengingen. Dass unser gesamtes Gesellschaftsmodell nicht mehr funktionierte und sich eigentlich um 180 Grad hätte drehen müssen. Selbst die Mitglieder der einstmals links-alternativen Szene, inklusive meiner früheren Berliner Kommilitonen, hatten großenteils resigniert und sich eingereiht in die Fraktion der Wachstumsanhänger. Allerdings sprach man nun von 'nachhaltigem Wachstum' – ein absurdes Gegensatzpaar, das wie ein Feigenblatt wirkte, ein reiner Euphemismus, um den fehlenden Veränderungswillen zu kaschieren. Mittlerweile schien sich über alle politischen und sozialen Grenzen hinweg ein fauler Konsens herausgebildet zu haben, der da sagte: Nichts offen aussprechen, sich lieber in Notlügen flüchten und ansonsten weitermachen wie bisher, irgendeine Lösung findet sich schon, ganz bestimmt, es muss einfach.

Stefano – er hatte recht gehabt mit seinen Aussagen über 'verlorene Gestalten', die all das nicht nicht länger mitmachen wollten und sich ausklinkten. Ja, wir gehörten tatsächlich nirgends mehr dazu. Unser Anspruch war schlicht zu groß gewesen, zu grundsätzlich: Wir hatten nicht bloß nach einer individuellen Alternative gesucht, sondern uns gleich eine komplett andere Welt gewünscht. Eine Welt, in der Lebenszeit nicht überwiegend darin bestand, im Hamsterrad zu strampeln – tagsüber auf der Arbeit, abends auf dem Laufband des Fitness-Studios – und sich zum Ausgleich mit Konsum zu bedröhnen. In der nicht alle ihren eigenen, hermetisch abgeschlossenen Kosmos bewohnten und sich gegenseitig höchstens noch benutzten, um Zwischenmenschlichkeit zu simulieren. In der nicht jeder neu geborene Mensch sofort und zwingend Teil eines allumfassenden Zerstörungsprozesses wurde.

Und jetzt waren wir vollständig isoliert, saßen buchstäblich zwischen allen Stühlen. Denn eine solche Welt war unter den gegebenen Umständen natürlich irreal, eine reine Utopie, Äonen von der Wirklichkeit entfernt. Schon in der frühesten Kindheit hatte man mir dies unmissverständlich klar gemacht. Im Lauf der Zeit war die Erkenntnis dann immer unwiderlegbarer geworden, hatte sich immer höher um mich aufgetürmt, wie die Mauer eines Gefängnisses. Ein Ausbruch indes wäre einem Kampf gegen den Rest der Welt gleichgekommen, und ein solcher Kampf konnte nicht gewonnen werden.

Welche Möglichkeiten blieben mir? Sollte ich aufgeben, mich resigniert einreihen in die träge Masse? Mich fügen in ein weitgehend fremdbestimmtes Dasein? In meiner Blase driften, ohne echte Verbindung zu irgendwem, irgendetwas? Vor allem: Sollte ich akzeptieren, in einer Gesellschaft zu leben, die im Endeffekt auf der Vernichtung ihrer eigenen Grundlagen basierte, sich also langsam selbst zerstörte?

Allein der Gedanke erzeugte in mir puren Widerwillen. Dazu Verachtung, abgrundtiefe Verachtung. Niemals würde ich das tun, und eigentlich wusste ich es seit langem. Die zwingend aus dieser Erkenntnis resultierende Konsequenz hatte ich allerdings immer verdrängt – bis zu diesem Moment. Erst jetzt wagte ich, die einzige Möglichkeit ins Auge zu fassen, die blieb, um auszubrechen, endlich diesem grenzenlosen Irrsinn zu entfliehen: Man konnte komplett verschwinden, sich in Luft auflösen, selbst auslöschen. Auf diese Weise gab man der Erde wenigstens ein Quäntchen ihrer Gesundheit zurück, ihres natürlichen Gleichgewichtes.

Die Erkenntnis am Ende des Weges wäre erschütternd, hatte Stefano gesagt, sie würde alles für Menschen Erträgliche übersteigen. Erschütternd – das stimmte, aber anders als von ihm gedacht: Es war Erschütterung im Sinne von Ergriffenheit. Ich hatte etwas Wesentliches verstanden, einen fundamentalen Zusammenhang und meine eigene Rolle darin, meine Bestimmung. Endlich fügten die Dinge sich zusammen, alles ergab jetzt Sinn: Der Abgrund – er war Befreiung, Erlösung!

Vermutlich war Stefano noch nicht an diesem Punkt gewesen, als wir zuletzt miteinander sprachen. Er hatte nur den bevorstehenden Schock der Erkenntnis vorausgeahnt, ähnlich wie ich vor wenigen Augenblicken. Aber nun, da es überstanden war, stellten die Dinge sich vollkommen anders dar. Gewissheit und Vertrauen erfüllten mich, so felsenfest, so unerschütterlich, wie ich es bislang nicht erlebt hatte. Nur noch ein kurzes Stück Weg, dann war der Horror endlich vorbei, das Elend überwunden. Und weitere Gleichgesinnte würden mir nachfolgen, so wie ich umgekehrt nicht der Erste war: Lennard, Stefano und unzählige andere hatten bereits vorgelegt.

Sehr lange schien ich in meinem Versteck zu verharren, hinter mir die Ebene, voraus die Todesklippe und am Himmel die leuchtende Mondscheibe. In Wirklichkeit waren es vermutlich Sekundenbruchteile, in denen all diese Ideen und Gedanken auf mich einströmten, gleich einem Erkenntnisblitz, der grell aufschien und schon wieder erloschen war, ehe es einem richtig bewusst wurde. Aber egal, wie lange es letztlich gedauert hatte – am Ende war ich mit mir im Reinen. Sie würden mich nicht wieder einweben in ihr trostloses Netzwerk, ihren Kokon des Elends, der Sedierung und Fremdsteuerung. Ich würde frei sein, zum ersten Mal im Leben. Ja, meine Zeit war abgelaufen, aber nicht, weil sie es wollten, sondern weil ich mich dafür entschieden hatte. Weil ich jetzt endlich wusste, dass es das Beste war. Für mich selbst und – dieser Gedanke erfüllte mich mit tiefer Zufriedenheit – für die Welt.

Ruhig und gefasst erhob ich mich. Ich wollte die Sternenflut am nächtlichen Himmel noch einmal bewundern, den Wind auf der Haut spüren, sein Rauschen hören, das plötzlich wie Musik klang. Die frische, würzige Bergluft einatmen, sie auf der Zunge schmecken. Alles noch einmal mit sämtlichen Sinnen wahrnehmen, bevor sie für immer erloschen…

Dann lief ich los.

 

***



 Ein metallischer, äußerst fremdartiger Glanz, den ich aus den Augenwinkeln wahrnahm, ließ mich instinktiv innehalten: Ungefähr 100 Meter entfernt ragten an der Seite einige Felsbrocken auf, zwischen denen etwas Großes, Kastenförmiges steckte. Von ihm kam dieses eigenartige Schimmern, das inmitten der Natur wie ein Fremdkörper wirkte, definitiv nicht hierher passte.

Irgendein siebter Sinn sagte mir, dass dieses seltsame, besondere Phänomen unbedingt in Augenschein genommen werden musste. Falls die Kreaturen des Schlosses wieder auftauchten, würde ich schneller sein – der Abgrund lag bloß noch ein kurzes Stück entfernt.

Geduckt arbeitete ich mich der Felsgruppe entgegen und erreichte bald die ersten Ausläufer. Der Wind legte sich, es wurde auf einmal totenstill – als hätte ich ein unsichtbares Tor passiert und eine vollkommen andere Region betreten. Ich pirschte weiter, beschrieb einen Bogen, um den Blickwinkel zu verbessern, und wagte schließlich, zwischen hochgewachsenen Grasbüscheln hindurch auf die fragliche Stelle zu spähen: Ein großer Quader klemmte dort inmitten der Felsen, aus Metall oder Glas, irgendeinem Material, das im Mondlicht schimmerte… und endlich erkannte ich: Das Objekt, das von ferne so geheimnisvoll gewirkt hatte, war schlicht ein Auto.

Natürlich! Stefano hatte nicht phantasiert, seine Story vom versteckten Wagen stimmte aufs Wort! Vorsichtig näherte ich mich dem Fahrzeug. Es war ein Renault Twingo, wie das Mietauto, das mich seinerzeit von der Küste in die Berge gebracht hatte. Eine Staubschicht überzog das Blech, die Scheiben waren so gut wie blind. Auf den Trittbrettern lag feiner, weißer Bergsand, um die Reifen hatten sich kleine Verwehungen gebildet.

Die Tür an der Fahrerseite ließ sich umstandslos öffnen – und plötzlich war ich mir sicher, in eine Falle zu tappen! Irgendetwas Schreckliches wartete da drinnen, ein Haufen dieser Bestien würde mich angreifen, mit ihren Tentakeln fesseln und zum Schloss zurückbringen oder mich gleich kaltmachen… aber nichts geschah, das Wageninnere war leer. Neben dem Lenkrad baumelte der Zündschlüssel, wie Stefano gesagt hatte. Ungläubig vor Staunen nahm ich Platz und versuchte den Motor zu starten – es klappte auf Anhieb. Als wäre das Fahrzeug vor nicht allzu langer Zeit noch bewegt worden.

Ich stellte den Motor wieder ab; die Gedanken schwirrten in meinem Kopf durcheinander. 'Finde den Pfad, der von der Zufahrtsstraße zum Schloss abgeht', hatte Stefano gesagt – und tatsächlich ließ sich im Mondlicht eine staubige Spur erkennen, die aus der Ebene herankam und hier inmitten der Felsen endete. Ich musste offenbar nur zurückfahren, um die Straße zu erreichen, jene Piste entlang der Parkmauer, die ich vorhin im Dunkeln verloren und so verzweifelt gesucht hatte. Dann konnte ich vermutlich meiner Wege ziehen…

Erst jetzt wurde mir bewusst, dass man das Rauschen von Wellen hörte; manchmal kreischten Wasservögel. Und die kleinen Felsbuckel ringsum – erinnerten sie nicht an jene Erhebungen auf dem Plateau über Porto d'Arreccio, die ich seinerzeit für Grabhügel gehalten hatte? Schon bei meinem ersten Besuch, ganz zu Beginn dieser Reise, hatte ich ja geahnt, nein, ich hatte gewusst, dass ich eines Tages dorthin zurückkehren würde. Um mir erneut die Frage zu stellen, ob ich es wirklich tun, ob ich mein Leben auslöschen sollte.

Sollte ich? War das sinnhaft? War ich als Einzelner automatisch schlecht, weil ich das Unglück hatte, in eine Kultur des reinen Materialismus, der kompletten Vereinzelung und Abstumpfung, des besinnungslosen Raubbaus hineingeboren worden zu sein? Wer bestimmte, bewertete so etwas? Musste ich nicht weitermachen, weiterleben, trotz der unaufhaltsamen Zerstörung und Selbstzerstörung? Hatte ich nicht die verdammte Pflicht, meine Existenz zu akzeptieren und zu beschützen, mehr noch: sie zu würdigen? War das nicht eine Frage der schieren Menschlichkeit? Wenn ich stattdessen jetzt Hand an mich legte, kam dann nicht – der Gedanke ließ mich unwillkürlich zusammenzucken – dasselbe destruktive, lebensfeindliche Prinzip zur Anwendung, das ich doch so sehr kritisierte und verachtete?

Auf einmal erschien mir, was gerade noch wie unumstößliche Wahrheit ausgesehen hatte, wieder äußerst fraglich.

Aber was würde ich tun, wenn ich tatsächlich zurückfand in die andere, „normale“ Welt? Mir an der Küste wieder ein Zimmer in einem der Touristenhotels nehmen? Oder gar nach Hause fliegen und in meiner Wohnung weiter dahinvegetieren? Meine abendlichen Spaziergänge wieder aufnehmen, durchs Viertel streifen wie ein Schatten und den Leuten in ihre Fenster starren? Die Endlosschleife von Neuem beginnen lassen?

Andererseits: Musste es so kommen? War es ein Automatismus, dass dort draußen alles wieder von vorn losging? Konnte ich nicht versuchen, anders zu leben als früher? Mir Leute meinesgleichen suchen? Welche das waren, hatten die Geschehnisse hier auf dem Schloss doch eindrücklich gezeigt: Stefano, Lucienne, Pepe, Sophia… wenn ich Menschen wie sie fand, wiederfand, gab es – das spürte ich plötzlich – eine reelle Chance, endlich Grundvertrauen zu entwickeln, zu glauben, ans Leben, sich selbst. Ich konnte vielleicht dieses Gefühl abschütteln, dass auch Kontakte und Beziehungen längst ausgehöhlt waren, bloß noch Fassade, schöner Schein. Dass im Zweifel nur Leistung zählte, die bessere Performance. Und auch Menschen letztlich Objekte waren, Gegenstände, die einem Zerstreuung und Selbstaufwertung bringen sollten. Und entsorgt wurden, sobald sie diesen Zweck nicht mehr erfüllten.

Gemeinsinn, Achtsamkeit, Respekt, Geborgenheit, all das Gute, das verlorengegangen war, mir und so vielen anderen in dieser menschenverachtenden Kultur der Dinge – es musste einfach noch irgendwo zu finden sein. Es musste etwas geben jenseits von Besitz und Anspruchsdenken, von Konsum und Betäubung. Etwas Emotionales, Seelenvolles, das uns mit der Welt verband. Wenn man es schaffte, dieses fragile Etwas in sich wiederzuerwecken, es zu befreien, würde auch das Leben wieder lebenswert sein!

Und der Gegensatz, der darin bestand, dass man keiner Kreatur etwas Böses wollte und trotzdem so viel zerstörte, einfach dadurch, dass man existierte, Teil dieser lebensverachtenden, destruktiven Gesellschaft war?

Ein Dilemma, zweifelsohne. So viel jedenfalls schien klar: Auf sich gestellt würde man diese Herausforderung epischen Ausmaßes keinesfalls stemmen. Man musste sich unbedingt organisieren, zusammentun mit den wenigen noch existierenden Gleichgesinnten, die 'nachhaltiges Wachstum' ebenfalls für eine Chimäre hielten, eine billige Ausflucht, schlicht ein Paradoxon. Die wie man selbst eine fundamental andere Gesellschaft im Sinn hatten, mit Fokus auf Solidarität und Gemeinwohl, auf Maßhalten und Teilen anstelle von Egoismus, Konkurrenz und entfesseltem Wachstum. Nur gemeinsam ließ sich solche eine Bewegung voranbringen – war es nicht wenigstens einen Versuch wert?

Allerdings erschien es inzwischen sehr zweifelhaft, ob sich eine solche Gemeinschaft überhaupt noch würde zusammenbringen lassen, so weit, wie der Prozess des Auseinanderdriftens und der Vereinzelung bereits fortgeschritten war. Was, wenn wir uns längst komplett eingesperrt und verbarrikadiert hatten in unsere jeweiligen Wahrnehmungsblasen? Wenn das Gerede von Fakten und so genannten „alternativen Fakten“ inzwischen weitestgehend hingenommen wurde, entweder weil man es selbst so sah oder weil man schlicht resigniert hatte? Sprich: Weil wir uns längst hatten auseinanderdividieren lassen?

Großenteils traf dies vermutlich zu – aber eben nicht in Gänze, das spürte ich deutlich. Trotz allem hatte ich meinen Glauben nicht verloren, dass es auf diesem Planeten, unter all diesen Milliarden an Bewohnern, immer noch Gesinnungsgenossen gab. Menschen, die genug hatten von der Wachstumsfixierung, die sich keine Illusionen machten über dessen Destruktivität. Die in der Lage waren, eine Post-Wachstumsgesellschaft zu denken und umzusetzen. Und auch die Phase des Übergangs dorthin mitbedachten. Menschen, mit denen man sich auf die entscheidenden Grunderkenntnisse einigen und diese als Ausgangspunkt für weiteres, abgestimmtes Handeln nutzen konnte.

Wobei die Widerstandskräfte in Politik, Wirtschaft und – vor allem – der Gesellschaft ja enorm waren, zweifelsohne. Diverse Vorgängerbewegungen hatten sich daran schon die Zähne ausgebissen. Weshalb sollte es diesmal anders laufen? Zugegeben, das war keinesfalls sicher, trotzdem durfte uns das nicht abhalten. Mindestens so wichtig wie ein Erfolg in der Sache war es doch, die eigene Passivität abzuschütteln. Endlich diese unerträgliche, unwürdige, von Resignation geprägte Haltung loswerden und sich wehren, nach allen Kräften auflehnen gegen den Wahnsinn, der täglich seinen Lauf nahm – allein dieses Motiv schien mir aller Mühen wert!

Und vielleicht schafften wir am Ende ja doch das Unmögliche, gelang uns, woran derartige Bewegungen bisher immer gescheitert waren: eine kritische Masse zu erreichen und mit ihr, in ihr den Teufelskreis aus Trägheit, Luxusbedürfnissen und Naturzerstörung zu durchbrechen.

Meine Perspektive hatte sich mit einem Schlag komplett verschoben, alles war wieder unentschieden, offen. Ich konnte Schluss machen, aber ich konnte auch von hier abhauen und versuchen, mir etwas Neues aufzubauen. Ich hatte die Wahl.



***



Erneut schien eine lange Zeitspanne zu vergehen, in der ich meinen Gedankengängen folgte, während es vermutlich nur ein kurzer Augenblick war, ein Blitz der Erleuchtung…

Mit seinem Erlöschen kehrte auch die Dunkelheit in mir selbst zurück. Konnte diese zweite Möglichkeit wirklich funktionieren? Und trotz aller positiven Ideen, die mich gerade bestürmt hatten: Da war noch immer der starke Wunsch, einfach nicht mehr da zu sein, nicht mehr zu existieren. Die Überzeugung, dass es schlicht geschehen musste, nach all den Jahrzehnten der Erniedrigungen und der Entfremdung.

Zum ersten Mal hielt ich nun Ausschau nach dem Schloss, seinen Zinnen und Türmen, der Felsenzunge in der Schlucht – vergebens. Alles blieb verschwunden, peu à peu schien ich aufzuwachen, aus einem langen Traum ins Diesseits zurückzukehren. Immer deutlicher trat ringsherum die Landschaft hervor, konnte man das Meeresrauschen hören, das Kreischen der Wasservögel. Und immer klarer sah ich meine eigenen Optionen.

Was sollte ich tun? Zur Klippe laufen? Sie lag nicht weit entfernt; in weniger als einer Minute wäre ich dort gewesen. Oder mich in dieses Auto setzen und losfahren? Beide Möglichkeiten standen einander gegenüber, schienen gleichermaßen richtig und sinnvoll.

Mit Blicken verfolgte ich den Weg, über den vermutlich das Fahrzeug hergeschafft worden war. Er schlängelte sich in Serpentinen durch die Ebene; wobei einige seiner Kurven dem Felsabbruch ziemlich nahekamen. Gefährlich nahe, wie ich nun feststellte! Dazu die schlechten Sichtverhältnisse, die Staubfontänen, die Nebelschwaden. Und was, wenn der Mond wieder verschwand, womit man durchaus rechnen musste?

Ein Fluchtversuch mit dem Auto erschien unter diesen Bedingungen ziemlich sinnlos, das musste ich einsehen. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde er scheitern. Wozu noch ein solches Risiko eingehen? Sollte man es nicht besser sofort durchziehen, einen sauberen Schnitt machen, anstatt eine weitere Schleife zu drehen und das Ende, das letztlich ja doch kommen musste, unnötig hinauszuzögern?

Oder ich wartete bis Tagesanbruch, ehe ich losfuhr. Aber die Vorstellung, noch so lange hierbleiben zu müssen, trieb mir den Angstschweiß aus allen Poren. Der Alb mochte vorüber sein, aber gänzlich gebrochen war seine Kraft nicht, sie reichte bis hierher in diese Welt. Noch immer quälte und peinigte mich die Angst davor, von Neuem eingewoben zu werden in jenes furchtbare, albtraumhafte Netz, aus dem ich mich gerade erst befreit hatte. Nein, Ausharren schien keine Option. Starten oder Schluss machen – eins von beiden musste passieren, jetzt und hier.



***



Wieder zogen Wolken auf, wanderten rasch weiter und wurden von neuen abgelöst. Bleiche, kristallene Helligkeit und tiefstes Dunkel wechselten nun in rascher Folge, als hätte jemand begonnen, einen großen Schalter zu betätigen, ihn verzweifelt zu traktieren, in der Hoffnung auf die große Erleuchtung… und dann kam mir abrupt ein neuer Gedanke, ein Geistesblitz: Diese merkwürdige Situation – ergab sie nicht Sinn? Angenommen, ich entschied mich, das Auto zu nehmen, erreichte tatsächlich die Straße und konnte von hier flüchten – das wäre der unmissverständliche Fingerzeig gewesen, sein Leben zu verändern und andere Menschen zu finden, Weggenossen. Stürzte ich dagegen die Klippe hinab, war es vorbei, definitiv; bei 50 Metern Höhe gab es nicht viel zu hoffen. Wenigstens würde es schnell gehen…

Möglicherweise passierte auch etwas völlig Anderes, Unvorhergesehenes – wer wusste das? Ich stand vor einem kompletten Nichts: Alles konnte geschehen, die Welt sich öffnen, genauso aber alles abrupt vorbei sein.

Leben, Dasein, Existenz – was war das eigentlich? Ein Programm, das sich abspulte, kontrolliert und überwacht durch unsichtbare Operateure im Hintergrund? Irgendwelche Gottheiten, Majestäten, Führer, Konzerne, die einem Sicherheit boten, von denen man sich am Gängelband halten ließ, damit sie einen vor allen Lebensgefahren schützten? Oder war es eher das, was ich gerade erlebte, dieser Zustand völliger Offenheit und Leere, in dem ich selbst entscheiden musste, was ich tat, ohne jegliche Vorgaben? In dem ich, komplett auf mich allein gestellt, eine Wahl zu treffen hatte zwischen verschiedenen Alternativen, mit allen daraus erwachsenden Konsequenzen? Es schien wie eine wie eine tonnenschwere Last, unter der man einfach zusammenbrechen musste, und im nächsten Augenblick wie ein nie gekanntes Freiheitsversprechen. Es war furchteinflößend – und zugleich aufregend, glückverheißend.

Das Flackern am Himmel hatte aufgehört, der Mond schien wieder hell und klar. Eine große innere Ruhe überkam mich jetzt und die unerschütterliche Gewissheit, dass meine Wahl sich schlussendlich als richtig herausstellen würde.

Am Wagenboden fand ich einen alten Lappen, mit dem ich die Windschutzscheibe einigermaßen sauber bekam. Bevor ich einstieg, betrachtete ich ein letztes Mal den Ort, der mir so viele neue Einsichten beschert hatte, diese merkwürdige Felsgruppe inmitten der steinigen Ebene mit ihrem spärlichen Bewuchs. Dann schaute ich wieder auf das von Staub überzogene Auto: Es konnte mich in die Freiheit bringen oder in den Tod. Tatsächlich war es dasselbe Modell wie der Wagen, den ich in La Parètte zurückgelassen hatte, in jener Mietstation, die es nicht gab…

Ich sank in den Fahrersitz, schloss die Tür so leise wie möglich und startete den Motor. Die Reifen knirschten im Sand, als der Wagen langsam losrollte.

 

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Tag der Veröffentlichung: 31.03.2024

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