„Du suchst Ruhe?“, hat mich Tim gefragt, ein Arbeitskollege. „Fahr raus nach Wedel, mach einen Spaziergang an der Elbe. Abends sind da außer dir nur noch Schafe.“
Als ich die Haustür öffne, bin ich wie geblendet. Greller Sonnenschein, wolkenloser Himmel, dazu eine fast unwirkliche Wärme. Ich will schon wieder kehrtmachen, in den kühlen, schützenden Hausflur zurückgehen, aber im letzten Moment nehme ich mich zusammen. Verdrossen mache ich mich auf den Weg.
Ich habe extra den Ausgang zur Wasserseite genommen, in der Hoffnung, dass hier nur wenig los sein wird. Irrtum! Etliche Leute sind unterwegs, bedecken die Kaimauern, ergießen sich über die hölzernen Pontons, verstopfen die Fußgängerbrücken. Der Sandtorhafen, an den Wochenenden sonst ein beschauliches Plätzchen, gleicht heute einem Bienenstock.
Dabei ist es hier schon unter der Woche recht ungemütlich, wegen des permanenten Baulärms. Gerade werden überall stählerne Duckdalben in den Boden des Hafenbeckens gerammt, um daran später alte, ausgediente Schiffe zu vertäuen – als Attraktion für Touristen. Am Fuß der Magellan-Terrassen hat eine erste, schicke Café-Bar eröffnet. Zahlreiche Leute sitzen auf der Terrasse in der Sonne. Sicher überwiegend Spaziergänger, aber möglicherweise sind auch Anwohner unter ihnen. Meine Nachbarn... bei dem Gedanken muss ich grinsen. Gleichzeitig macht sich ein Gefühl von Bitterkeit in mir breit.
Jenseits des Kleinen Grasbrooks ist alles noch Baustelle. Die Rohbauten ragen wie bleiche Skelette in den Himmel und lassen die Straße zu einer Schlucht werden. Ob die Häuser jemals fertig werden? Das scheint angesichts der sich rapide verschlechternden Wirtschaftslage fraglicher denn je.
Ich haste durch die Speicherstadt, ohne Blick für die pittoresken, backsteinernen Lagerhäuser zu beiden Seiten. Das Gebäude des „Spiegel“ lasse ich rechts liegen. Je weiter ich mich der Innenstadt nähere, desto mehr verdichtet sich das Menschengewühl. Schließlich sind es wahre Massen, die sich über die Straßen und Plätze schieben.
Wie kann es mitten im Oktober so warm sein? Aber die Herrlichkeit wird nicht lange währen: Bereits für heute abend hat der Wetterbericht Regen, Sturm und deutliche Abkühlung vorhergesagt. Der Winter naht, auch wenn man es angesichts des sonnendurchfluteten Straßenbildes gar nicht glauben mag.
„Und nimm besser nicht den Wagen“, hat Konrad mir geraten, ein anderer Arbeitskollege, „da stehst du bloß im Stau. Fahr lieber mit der S-Bahn.“
Jetzt nähere ich mich der Alster. An der Bahnstation werde ich Teil des Menschenstroms, der auf der Rolltreppe in die Tiefe gleitet. Die Sonne verschwindet, kaltes Neonlicht tritt an ihre Stelle.
Am Fuß der Treppe beginnt ein Labyrinth aus Tunneln und Treppen. Als ich halt mache und versuche, das Schilder-Wirrwarr zu verstehen, werde ich von Passanten angerempelt, zur Seite geschubst. Der Geräuschteppich zerrt an den Nerven. Ich bin kurz davor, endgültig die Geduld zu verlieren und umzukehren, als ich die rettende Aufschrift entdecke: „S1/S3“. Neue Hoffnung schöpfend arbeite ich mich weiter voran und finde schließlich den Bahnsteig.
Nun stehe ich zwischen den Wartenden: Shopper mit prall gefüllten Einkaufstüten, Gruppen von gackernden Teenies, eine Meute lärmender Touristen. Viele Leute klackern auf ihren Handys herum oder starren den Werbe-Bildschirm jenseits des Gleises an. Überall laufen Tauben pickend umher.
Wann habe ich zuletzt öffentliche Verkehrsmittel benutzt? In Hamburg jedenfalls noch nicht, obwohl ich hier nun schon vier Jahre lebe. Normalerweise nehme ich das Auto, egal ob ich ins Büro fahre oder zu einem Kunden will. Zum Flughafen rufe ich mir ein Taxi. Über die Jahre ist meine Abneigung, mich in Bussen und Bahnen unters Volk zu mischen, immer größer geworden. Außerdem kann ich mich im Taxi oder im eigenen Wagen besser auf die anstehenden Termine konzentrieren.
Endlich kommt die Bahn. Als ich sehe, wie die Leute ins Innere des Zuges drängeln, zögere ich wieder. Dann steige ich ebenfalls ein.
***
Die Luft im Zug ist zum Schneiden dick, obwohl alle Fensterklappen offen stehen. Ich sitze eingequetscht zwischen Menschen und Einkaufstüten. Von irgendwoher ertönt meckernder Sprechgesang, unterlegt von rhythmischem Zischen und Klappern. Ich versuche die Lärmquelle ausfindig zu machen, was sich als schwierig herausstellt: Kaum ein Ohrenpaar, aus dem nicht Kabel heraushängen. Besonders junge Leute stopfen sich, kaum dass sie den Zug betreten, fast automatisch die Stecker in die Gehörgänge. Offenbar die Standardausrüstung zum Bahnfahren...
Tim. Konrad. Noch immer denke ich an die beiden als meine Arbeitskollegen. Dabei wird es Zeit, dass ich mich an die neue Situation gewöhne: Sie sind meine ehemaligen Arbeitskollegen! Es ist vorbei. Ich bin raus.
Warum musste die Kündigung gerade jetzt kommen? Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich finanziell etwas gewagt, mich verschuldet. Eigentumswohnung, noch dazu eine so teure. Hätte es nicht etwas bescheidener ausfallen können? Ein schlichterer Stadtteil, in dem die Preise nicht so exorbitant hoch sind? Nein, es musste die Hafencity sein. Wenn schon, denn schon, habe ich mir gesagt. Aber ein gutes Gefühl hatte ich bei der Sache von Anfang an nicht.
Kaum hatte ich mein Vorhaben in die Tat umgesetzt, passierte es prompt: Die Turbulenzen an den Finanzmärkten erwischten unser Unternehmen. Krise – bislang hatte niemand im Kollegenkreis ernsthaft einen Gedanken an diese Möglichkeit verschwendet. Jahrelang immer nur Wachstum, Expansion, steigende Gewinne. Auch nach dem Crash sah es eine ganze Weile so aus, als würde der Kelch an uns vorübergehen. Aber dem war nicht so. Plötzlich hieß es: Die Kunden bezahlen ihre Rechnungen nicht mehr, stornieren die Aufträge reihenweise. Offenbar ging es nun auch bei uns bergab. Alle ahnten, dass bald Köpfe rollten würden.
Es war mein Telefon, das als erstes klingelte. Als ich die Nummer des Chefs auf dem Display las, konnte ich mir denken, was die Stunde geschlagen hatte. Ich ging in sein Büro wie zu einer Hinrichtung. Als erstes schloss er hinter mir die Tür, die sonst grundsätzlich offen stand. Dann kam er ohne Umschweife zur Sache: „Herr Bohland, wir können Sie nicht länger beschäftigen.“
Ich hätte gedacht, dass man bei einer solchen Nachricht von Emotionen schier überwältigt würde. Heillose Verzweiflung spürte, grenzenlose Wut oder etwas in der Art. Aber in mir war nur Leere.
Der Chef schaute mich mit einer maskenhaften, Betroffenheit simulierenden Miene an und wartete. Als offensichtlich war, dass es mir die Sprache verschlagen hatte, nahm er den Faden wieder auf. Er murmelte Plattitüden von Krise, der Notwendigkeit zu schrumpfen, einer auch für ihn unangenehmen Situation und dergleichen. Ich hörte kaum hin.
Erst als er seinen Vortrag mit den Worten „Sie sind ab sofort freigestellt“ schloss, erwachte ich aus meiner Erstarrung. Freigestellt. Das hieß ja wohl, dass ich gehen konnte. Feierabend. Für immer.
„Ihr Gehalt läuft selbstverständlich bis zum Vertragsende weiter.“ fügte er noch hinzu, aber da war ich schon wieder in Gedanken.
Der Gang zurück in mein Büro geriet zu einem Spießrutenlauf. Aus sämtlichen Türen wurden mir mitleidige Blicke zugeworfen. Jeder konnte sich denken, welche Art von Gespräch ich mit dem Chef geführt hatte.
Als ich nach Hause kam, so ungewohnt früh am Tag, machte es endlich „klick“. Ich betrachtete die unausgepackten Umzugskartons, die überall herumstanden, und fing plötzlich an zu zittern. Irgendetwas drückte mir die Luft ab, mir wurde schwindelig, ich bekam Schweißausbrüche. Nachts wurde es so schlimm, dass ich mir nicht mehr anders zu helfen wusste, als den Notarzt zu rufen. Der gab mir eine Beruhigungsspritze und riet mir, einen Psychologen zu konsultieren.
Das war vor vier Wochen. Mittlerweile geht es mir wieder besser. Aber noch immer fällt es mir schwer zu begreifen, was eigentlich passiert ist.
***
Der Zug hält an den Landungsbrücken. Angeblich ein beliebtes touristisches Ziel, aber es steigen nur ärmliche, abgerissene Gestalten ein. Einer der Typen stellt sich neben zwei Kinderkarren und öffnet eine Dose Bier. Die beiden dunkelhäutigen Kinder in den Karren schauen ihn aus großen Augen an. Ihre Mütter blicken betreten zur Seite. Anscheinend erleben sie eine solche Situation nicht zum ersten Mal. Es ist grotesk und abstoßend. Ich möchte aussteigen.
Dann wird mir mit Grausen klar, dass solche Situationen von nun an zu meinem Leben gehören werden. Ich kann ihnen nicht mehr ausweichen. Mein Auto, für das ich vor kurzem noch viel Geld bezahlt habe, ohne dass es mir sonderlich weh tat, werde ich wohl wieder verkaufen müssen. Der Wohnungskauf hat mein Konto komplett leer geräumt. Und nun arbeitslos. Ich bin so blank, dass nicht mal mehr ein alter, klappriger Gebrauchtwagen drin ist.
Ein lauter Rülpser. Die Gestalt mit ihrem Dosenbier wankt im Rhythmus des fahrenden Zuges hin und her. Welche Umstände mögen einen Menschen derart verwahrlosen lassen? Was muss passieren, damit man sich dreckstarrend zwischen die Leute stellt und billiges Bier säuft? Hat ein Schicksalsschlag den Kerl aus der Bahn geworfen?
Der Gedanke treibt mir den Schweiß aus den Poren. Da ist es wieder, das Gefühl der Beklemmung. Genau wie vor vier Wochen, als mir gekündigt wurde und ich vorzeitig nach Hause kam, niedergestreckt, gedemütigt.
***
Dabei bin ich längst nicht mehr der Einzige, den es erwischt hat. Mittlerweile verlieren die Leute reihenweise ihre Arbeit. Auch in meiner Branche, der Softwareentwicklung, hat der Jobabbau voll eingesetzt. Ich bin nur einer von vielen.
Aber warum musste ich der Erste sein? Warum haben sie nicht jemand anderen herausgepickt? Zum Beispiel Tim: Um Punkt 17 Uhr knipst er den Rechner aus und sucht das Weite, mögen die Termine und Deadlines noch so sehr drängen. Er macht nur, was man ihm sagt. Anregungen und Ideen für die Projekte kommen von ihm nie.
Oder Konrad: Ständig inszeniert er sich als den großen Unabkömmlichen, tut so, als liefe ohne seinen genialen Input gar nichts. Die eigentliche Arbeit aber überlässt er stets den Kollegen im Team.
Nein, die Wahl fiel auf mich, Sven Bohland. Und das, obwohl ich mich so reingehängt, oft bis an den Rand der Erschöpfung gearbeitet habe.
Vor allem beim letzten Projekt. Mein Baby! Ein Strategie-Tool zur Optimierung von Kundenansprachen im Finanzdienstleistungssektor. Das System konnte sowohl in Service-entern als auch im Außendienst auf Notebooks und auf Mobiltelefonen eingesetzt werden. In der Branche gab es noch kein vergleichbares Produkt. Ich sah uns schon zum Marktführer aufsteigen.
Aber der Finanzcrash hat alle meine Träume begraben. Plötzlich war Schluss. Nun gibt es kein fertiges Produkt, und einen Job habe ich auch nicht mehr. Ich stehe mit leeren Händen da.
Wie ein Spieler, der alles auf eine Zahl gesetzt hat. Leider ist es die falsche gewesen, und jetzt ist der gesamte Einsatz futsch, verloren, perdü.
***
Vor den Fenstern Schwärze. Der Zug arbeitet sich unter lautem Rattern und Quietschen durch den Tunnel. Nun verlangsamt er sein Tempo, stoppt schließlich ganz. Keine Station ist in Sicht. Wir sind einfach stehen geblieben, im Nichts.
Man hört Räuspern, Husten, ungeduldiges Seufzen. Dazwischen der nervtötende Geräuschteppich aus den diversen Ohrstöpseln. Die Kinder in ihren Karren werden unruhig. Der Trinker hat seine Dose geleert und blickt ins Nirwana. Dann knistert es in den Lautsprechern und eine Stimme ist zu vernehmen: „Liebe Fahrgäste, vor uns ist auf der Strecke ein Zug der Linie S3 liegengeblieben und muss abgeschleppt werden. Die Weiterfahrt wird sich leider um einige Minuten verzögern.“ Knack – Durchsage beendet.
Allgemeines Aufstöhnen, einige schimpfen. Aber schnell hat sich der Tumult wieder gelegt. Die Leute ergeben sich in ihr Schicksal, starren und brüten stumpf vor sich hin. Was bleibt ihnen anderes übrig? Einige Minuten kann viel heißen. Abschleppen – das ist ja wie beim Autofahren.
Jetzt fängt das erste der beiden Kinder an zu wimmern. Die Mutter versucht es zu trösten. Ohne Erfolg: Das Weinen schwillt an, wird zu gellendem Kreischen. Meine Sitznachbarn versuchen es mit Fassung zu tragen. Aus verschiedenen Ecken hört man die Kopfhörermusik lauter werden.
Ein Fahrrad kracht mit lautem Scheppern um. Die ganze Zeit ist es stehen geblieben, trotz des Gerüttels während der Fahrt, aber nun, da der Zug sich nicht mehr rührt, fällt es einfach lang hin. Eine Tüte Äpfel kippt dabei aus, die Früchte rollen über den Boden. Kurz darauf sieht man eine junge Frau zwischen den Beinen der Leute herumsteigen und, Entschuldigungen murmelnd, das Obst wieder einsammeln.
***
Ein Spieler, der sich nicht mehr losreißen kann, der durchdreht und alles auf eine Zahl setzt... welche Ironie, dass ausgerechnet mich dieses Schicksal ereilt. Mich, den kühlen Analytiker, den Perfektionisten. „Kontrollfreak“ werde ich gern genannt. Nicht ohne Grund: Herr der Situation zu bleiben ist für mich eigentlich essentiell, lebensnotwendig.
Und jetzt? Wie soll ich die Hypothek für die Wohnung abbezahlen? Von meinem Arbeitslosengeld bestimmt nicht. Und durch die Finanzkrise purzeln die Immobilienpreise gerade ins Bodenlose. Wenn ich jetzt verkaufe, mache ich einen Riesenverlust, den ich im Leben nicht wieder hereinhole.
Verdammt, ich muss doch nur einen neuen Job finden, um aus dem Tief zu kommen!
Aber gerade das erscheint mir auf einmal vollkommen unmöglich.
Ich denke an letzte Woche. Endlich hatte ich mich etwas gefangen. Ich recherchierte im Netz über moderne Strategien zur Stellensuche, brachte meine digitale Bewerbungsmappe auf Vordermann, begann auf Anzeigen zu antworten. Vorgestern hatte ich ein Telefoninterview mit einem Unternehmen in Berlin, nächste Woche fahre ich nach Frankfurt und stelle mich dort vor.
Die Resonanz ist also gut. Trotzdem liegen die Dinge anders als früher.
Bislang habe ich Bewerbungsgespräche immer als Herausforderung gesehen. Kann ich die andere Seite überzeugen? Halte ich dem Druck stand, wenn ich „gegrillt“ werde? Aber plötzlich nervt mich alles, was irgendwie nach Business riecht: die gelackten Managertypen, die protzigen Büros in den Innenstädten, das ganze Karriere-Sprech, in dem es von Floskeln wie „Herausforderung“, „persönlicher Marktwert“ und „gut aufgestellt sein“ nur so wimmelt.
Schlimmer noch: Ich habe Angst. Angst, im nächsten Job in eine ähnliche Situation zu geraten wie beim letzten Mal. Angst, mich wieder zu übernehmen, den Überblick zu verlieren und am Ende zu scheitern. Sind die Anforderungen in diesem Beruf vielleicht zu hoch für mich? Bringe ich es nicht? Bin ich am Ende doch bloß Mittelmaß, wie Tim und Konrad?
Auf einmal wird mir bewusst, wie allein ich bin. Ich habe mich nie um Kontakte zu anderen Menschen gekümmert, nie einen Freundeskreis aufgebaut, mich immer nur auf mich selbst verlassen. Wo ich hinkam, blieb ich Einzelgänger. Für mich gab es nur die Arbeit, alles andere zählte nicht, hielt bloß auf. Ich war mir stets meiner eigenen Kraft und Energie sicher, das genügte. Nicht mal die Stadt, in der ich gerade lebte, interessierte mich. Auch in Hamburg kenne ich bis auf meine Wohnung, das Büro, die Niederlassungen unserer Kunden und den Flughafen nichts.
Von der geplanten Hafencity las ich in der Zeitung. Ich fand das Vorhaben interessant, wagemutig. Im Internet konnte man in aufwändigen 3D-Animationen die geplanten Loft-Wohnungen bestaunen und virtuell durchwandern.
Vor gut einem Jahr fuhr ich zum ersten Mal hinunter an den Hafen und schaute mir die Gegend an. Ich sah die abgeräumten Hafenflächen, sah überall neue Gebäude entstehen, neue Straßen und Kaianlagen, und war beeindruckt. Offenbar wurden die mit viel Pomp angekündigten Pläne tatsächlich umgesetzt. Erst der Potsdamer Platz in Berlin, nun das – endlich musste man nicht mehr bis nach China, Singapur oder Dubai reisen, um Dynamik und Veränderung zu erleben.
Vor vier Monaten schließlich, als die Wohnungen fertiggestellt waren, kontaktierte ich den Makler, um in der Realität zu besichtigen, was bis dato nur im Rechner existiert hatte. In dieser Zeit lief gerade mein Projekt aus dem Ruder, begannen die vielen Nachtschichten, und ich war bereits deutlich angezählt. Wahrscheinlich ließ ich mich bloß deshalb auf den Handel ein.
Denn was am Bildschirm noch so hell und großzügig gewirkt hatte, entpuppte sich sich in Wirklichkeit als klein und eng. Außerdem war das Ganze unverhältnismäßig teuer. Aber ich glaube, ich wollte einmal das Gefühl haben, mein ganzer Einsatz lohne sich. Also schloss ich ab.
Und jetzt habe ich keine Ahnung, wie ich da wieder rauskommen soll. Diese geheimnisvolle innere Kraftquelle, die unerschöpflich schien – plötzlich ist sie versiegt. Alle Dämme scheinen zu brechen, und nichts hält mehr das Gefühl zurück, das eigentlich die ganze Zeit da war: Einsamkeit. Wie ein zäher, kalter Nebel kriecht sie heran...
Mit einem Ruck setzt sich die Bahn wieder in Bewegung. Befreites Aufatmen unter den Fahrgästen. Nur noch ein kurzes Stück Fahrt, dann haben wir die nächste Station erreicht: Altona. Die Türen öffnen sich, die Leute strömen ins Freie. Am gegenüberliegenden Bahnsteig fährt eine weitere Bahn ein. Auch dort quillt ein ganzer Pulk Menschen aus dem Zug, viele kommen zu uns herüber. Sie tragen Funktions- oder Sportkleidung, haben Rucksäcke geschultert, halten Wasserflaschen in den Händen. Die Zahl der Fahrräder im Gang wird noch größer. Offenbar ist dies die Ausflugslinie. Ich bin richtig.
Weiter geht die Fahrt. Wir verlassen den Tunnel, sehen nach fast halbstündiger Dunkelheit endlich wieder Sonnenlicht. Alte Fabrikgebäude ziehen vorüber, zum Teil renoviert und zu Lofts umgebaut. Für einen Moment verdunkelt der Schatten eines riesigen Bürokomplexes das Wageninnere. Es folgen Neubaublöcke und ein Gewerbegebiet, das von einer weiten, leeren Rasenfläche umgeben ist. Nun überqueren wir die Autobahn. Links ist die Einfahrt in den Elbtunnel zu sehen, vor der sich der Verkehr staut.
Dann scheinen wir in eine andere Welt einzutauchen. Herbstlich eingefärbte Bäume sausen vorbei, Villen, deren weitläufige Gärten bis an den Bahndamm heranreichen. Man sieht Menschen, die sich sonnen, Kinder, die ein Fest feiern, eine Frau deckt Beete ab, jemand mäht den Rasen. Einmal vernebeln blaue Rauchschwaden die Sicht, als in einem Garten gegrillt wird. Immer neue Szenerien gleiten heran, bleiben für Sekundenbruchteile stehen wie von einem Fotoapparat gebannt und verschwinden wieder...
...und auf einmal merke ich, dass dort meine eigene Vergangenheit an mir vorüberzieht. Auch ich habe früher in einem solchen Garten gespielt, bin in einem ähnlich großen Haus aufgewachsen. Dieses wohlhabende Viertel am Fuß der Bahnstrecke könnte das meiner eigenen Kindheit und Jugend sein.
Schon sehe ich mich auf meinem Rad durch die Straßen fahren. Das habe ich damals oft gemacht. Ich fuhr einfach herum, ohne Ziel und ohne festgelegte Route. Im Herbst knisterte welkes Laub unter meinen Reifen, im Frühjahr war die Luft erfüllt von lautem Vogelzwitschern.
Das Viertel lag im Süden meiner Heimatstadt, am Fluss. Die Häuser waren weitläufig, viele Räume in ihnen wurden so gut wie nie benutzt. Alles war reinlich. Putzfrauen, die nur gebrochen deutsch sprachen, machten sauber und verschwanden unauffällig wieder, sobald sie ihre Arbeit verrichtet hatten.
Die Kinderzimmer waren üppig eingerichtet und angefüllt mit dem vielfältigsten Spielzeug. Ich besuchte die Grundschule des Stadtteils und wechselte später auf ein nahe gelegenes Gymnasium. Mein Tagesablauf war, ähnlich wie bei allen anderen, strikt durchgeplant. In der Schule nahm ich an verschiedenen AG's teil, unter anderem Schach. Ich erhielt Unterricht für Klavier und Gitarre. Zudem belegte ich ab der siebten Klasse einen täglichen Kursus in Latein. Das war obligatorisch für Schüler, die Französisch als zweite Fremdsprache gewählt hatten. Ohne Latein, hieß es, hätte man später an der Universität einen deutlichen Wettbewerbsnachteil.
In der wenigen freien Zeit beschäftigte mich mit meinem Homecomputer. Zu meinem zehnten Geburtstag hatte ich einen C64 bekommen, der später durch einen Amiga 500 abgelöst wurde. Mithilfe einer Computerzeitschrift, die ich regelmäßig las, brachte ich mir das Programmieren bei. Nach und nach baute ich meine Kenntnisse aus. Meine Anwendungen, die anfangs noch sehr simpel waren, gewannen bald zunehmend an Komplexität.
Eines dieser Programme simulierte die Funktionsweise eines Getränkeautomaten. Der Benutzer konnte eines der angebotenen Getränke auswählen und dann Geldmünzen verschiedener Größe einwerfen, bis die erforderliche Summe erreicht war. Kleine Münzen wurden nicht angenommen und fielen durch. Nach der Getränkeausgabe wurde sogar Restgeld zurückgegeben. Alles virtuell, versteht sich. Per Zufallsgenerator ließ ich von Zeit zu Zeit bestimmte Getränke ausgehen. Alles sollte so realistisch wie möglich sein.
Später stellte ich die Abläufe eines doppelten Aufzugsystems in einem Hochhaus nach. Wieder setzte ich den Zufallsgenerator ein, um die Bewegungen im Gebäude zu simulieren. Wuselnde Bildpunkte symbolisierten Menschen, die nach oben oder unten wollten und dafür wahlweise den Aufzug oder die Treppe benutzten.
Computerspiele hingegen reizten mich überhaupt nicht, was ungewöhnlich war. Fast alle meine Bekannten, ob in der Schule oder der Nachbarschaft, verbrachten einiges an Zeit mit ihren Adventures, Jump&Runs, Ballerspielen. Aber ich wollte den Rechner lieber für ernsthafte Dinge verwenden, nicht zur Zerstreuung. Das digitale Universum, das ich mir selbst geschaffen hatte, war interessanter als alle Games, es gehorchte nur den Gesetzen meiner eigenen Phantasie, nicht denen irgendwelcher Spieleprogrammierer.
Aber letztlich konnte es mir auch nicht das bieten, wonach ich mich insgeheim sehnte. Etwas fehlte mir. Ich vermochte es kaum in Worte zu fassen. All die Ordnung und Perfektion meiner Umgebung, dazu der Überfluss... es schien, als könne ich dem Ganzen nichts mehr hinzufügen. Alles war bereits da.
Immer wieder gab es Momente, da mir die vier Wände meines Zimmers zu eng, die Leere und Stille der vielen Räume unseres Haus unerträglich wurden. Ich musste hinaus, ins Freie. Ohne einen konkreten Plan setzte ich mich aufs Rad und fuhr ziellos herum. Ließ die Häuser an mir vorüberziehen, deren Eingänge mit Blumentöpfen verziert waren, die gepflegten Auffahrten, die chromblitzenden Autos in ihren Garagen. Beobachtete Nachbarn, die Treppe und Bürgersteig fegten, Hecken akkurat zurechtstutzten, Beete wässerten. Sah, wie der Gärtner im Park seine Runden auf dem Rasenmäher drehte, in gekonnten Manövern Sträuchern und Blumenrabatten auswich.
Irgendwann hatte ich mich wieder beruhigt und kehrte zurück an meinen Computer. Außer es war inzwischen Zeit für den Klavierunterricht, die Schach-AG, die Lateinstunde oder sonst einen der diversen Pflichttermine.
Ungefähr ab dem zwölften Lebensjahr traf ich mich nachmittags manchmal mit Kindern aus dem Viertel. Einfach so, außerhalb des strikten Wochenplans. Wir liefen herum und wussten nicht recht, was wir anfangen sollten. Ich glaubte zu spüren, dass wir alle auf der Suche nach etwas waren, von dem wir ahnten oder hofften, dass es existierte. Oder täuschte ich mich? Bildete ich mir Gemeinschaft ein, wo keine war? Nie sprach ich mit den anderen über dieses Thema.
Dann zog ein Neuer zu uns. Mit ihm drehte sich der Wind, unter seiner Führung wagten wir plötzlich Dinge, die wir uns vorher nie getraut hätten.
Zum Beispiel erkundeten wir heimlich die Gegend jenseits des Flusses. Dieser begrenzte unser Viertel, und natürlich war uns seine Überquerung strengstens untersagt. Wir hatten alle eine Höllenangst bei unserer Expedition ins Unbekannte. Ertappt zu werden, uns schmutzig zu machen, unsere Fahrräder zu beschädigen – genau konnten wir es gar nicht sagen. Der Neue lachte über uns „Hasenfüße“ und winkte verächtlich ab.
Wenig später initiierte er eine weitere Mutprobe. Wir sollten zusammen zur Jahn-Siedlung fahren, einem weithin berüchtigten Viertel, das wir nur vom Hörensagen kannten. Es lag im Norden, jenseits des städtischen Autobahnrings. Diesen hatte bislang noch keiner von uns zu passieren gewagt. Aber wer jetzt kniff, lief Gefahr, sein Gesicht zu verlieren und als Memme abgestempelt zu werden.
Allen war unglaublich beklommen zumute, als wir aufbrachen. Selbst unser Anführer schien plötzlich Angst vor der eigenen Courage bekommen zu haben – er wirkte genauso eingeschüchtert wie wir anderen. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr.
Wir durchquerten tatsächlich den engen, dunklen Fußgängertunnel, der unter der Autobahn durchführte. Wieder im Freien fühlten wir uns wie Entdeckungsreisende, die unbekanntes Land betraten. Es begann ein Gewerbegebiet mit Zweckbauten und Fabrikhallen, das sich endlos hinzog. Wir hatten Wochenende, und die Straßen waren wie ausgestorben. Es ging über alte, verwitterte Schienenstränge, vorbei an Autofriedhöfen, wo die Wracks einsam vor sich hin rosteten. Unser Ziel wollte und wollte nicht auftauchen. Missmut machte sich breit; die ersten Leute schlugen vor, das Ganze sein zu lassen und lieber umzukehren, damit man nicht zu spät zum Abendbrot käme.
Irgendwann wurden Wohnblöcke sichtbar, graue, eintönige Altbauten. Der Anblick dieser massigen, hoch aufragenden Kästen hatte etwas Einschüchterndes, Bedrohliches. Je näher wir herankamen, desto verwahrloster wirkten die Häuser. Man sah an vielen Stellen den Putz von den Wänden abblättern, oft waren die Fensterscheiben blind von Schmutz. Viele Ausländer sollten in diesem Viertel wohnen, dazu Punks und allerhand wildes Volk. Eine fremde Welt, die wir bislang höchstens aus den Fernsehnachrichten kannten, wenn von Demonstrationen berichtet wurde. Dort wollten wir uns also hineinwagen...
Die ersten Straßenzüge begannen, und ihr Anblick widersprach all meinen Erwartungen: nirgends herumliegender Hausrat oder Sperrmüll, keine Horden von Punkern und anderen Wilden, die über uns herfielen. Stattdessen, soweit das Auge reichte, Kinder. Kinder, die mitten auf der Straße Fußball spielten. Kinder, die auf einem Spielplatz unbeaufsichtigt im Sand buddelten. Kinder, die in Horden um die Ecken rannten. Herumtollende, schreiende, tobende Kinder. Sie achteten nicht darauf, ob ihr Ball gegen parkende Autos sprang, es interessierte sie nicht, dass sie sich beim Spielen schmutzig machten. Die Straßen waren regelrecht okkupiert von ihnen. Durch ihre schiere Masse hatten die Kinder den Autoverkehr einfach verdrängt.
Ab und zu öffneten sich in den grauen Mietskasernen an verschiedenen Stellen Fenster. Frauenköpfe, oft mit einem Tuch bedeckt, schoben sich heraus, warfen prüfende Blicke nach unten und verschwanden wieder, wenn alles in Ordnung war. Manchmal wurden Anordnungen erteilt, Streithähne mit knappen Worten getrennt oder weinende Kinder getröstet. Nie kam wegen ein paar Tränen eine Mutter von oben auf die Straße herab. Zur Not schritten ein paar Jugendliche ein, die auf einem nahe gelegenen Schulgelände Basketball spielten, wahrscheinlich die großen Geschwister. Ansonsten blieben all diese Kinder sich selbst überlassen. Niemand schrieb ihnen vor, was sie als nächstes machen sollten, niemand kontrollierte und lenkte ihr Tun.
In mir war plötzlich alle Angst wie fortgeblasen. Ich stand nur noch da und betrachtete fasziniert das bunte Treiben. Fast hätte ich vergessen, mit den anderen zurückzufahren.
Noch Tage später ließ mich der Anblick nicht los. Ich entschloss mich, die Fahrt auf eigene Faust zu wiederholen. Als ich zum zweiten Mal den Tunnel durchquerte, diesmal ganz auf mich gestellt, war mir wieder sehr beklommen zumute. Aber jetzt kannte ich die Strecke und wusste, dass sie lang war.
Die Jahn-Siedlung war wieder so faszinierend, so aufregend wie beim ersten Mal. Von nun an fuhr ich regelmäßig hin, postierte mich mit meinem Rad an einem unauffälligen Fleck und beobachtete heimlich das Geschehen in den Straßen.
Mitzumachen traute ich mich nicht. Insgeheim spürte ich, dass dies nicht meine Welt war. Die grauen, verwahrlosten Mietskasernen erdrückten mich, und die Gerüche nach Essen und überquellenden Müllcontainern, die an warmen Tagen durch die Straßenschluchten zogen, stießen mich ab. Auch fand ich die vielen dunkelhaarigen, oft in fremden Sprachen miteinander redenden Kinder unheimlich. Dennoch stellte sich durch mein Zuschauen ein unbestimmtes Gefühl von Zugehörigkeit und Teilhabe ein. Das genügte mir.
Irgendwann wurden die Kinder natürlich auf den stillen, brav angezogenen Jungen aufmerksam, der da mit seinem Rad hinter den Büschen stand und guckte. Einige kamen angelaufen und riefen mir irgendwas zu. Zuerst dachte ich, sie wollten mich auffordern, mitzumachen, nicht abseits zu stehen. Dann verstand ich ihre Worte: „Hau ab“, „was willst du hier“, „Scheiß Streber“. Inzwischen waren auch die großen Jungen vom Sportplatz angelaufenen gekommen. Einer baute sich vor mir auf, packte mich an den Jackenaufschlägen und zog mich ohne jegliche Anstrengung in die Höhe. Das Rad fiel mit lautem Scheppern zu Boden. Der Typ fragte in die Menge, ob er mir den Pimmel abschneiden sollte. Ich sah den Bartflaum unter seiner Nase, die Goldkette um den Hals. Alles johlte und schrie zustimmend. „Du hast gehört“, sagte er zu mir, „Strafe muss sein.“ Mit einer Hand zerrte er mich in ein nahes Gebüsch. In der anderen hielt er plötzlich ein geöffnetes Klappmesser. „Pimmel ab und du darfst weiterfahren.“ grinste er. Beim Anblick des Messers bekam ich Panik und fing an zu heulen. Das Geschrei der Kinder verstärkte sich noch. „Pimmel ab, Pimmel ab!“ grölten sie.
Da ließ mich der Anführer los. „Also gut“, sagte er, „ich hab heute meinen großzügigen Tag. Aber du haust jetzt ab und lässt dich hier nie wieder blicken, verstanden?“ Ich nickte eilig und stolperte zu meinem Fahrrad. Von hinten hagelte es Tritte in den Hintern.
Als ich losfahren wollte, waren die Räder blockiert. Erst jetzt sah ich, dass im Vorderrad eine Acht war. Alles lachte. Ich stieg ab, hängte mir das Rad über die Schulter. Ein Bein wurde mir gestellt, ich schlug samt Fahrrad zu Boden, zerriss mir dabei die Jacke. Das Lachen schwoll an, wurde zu hysterischem Kreischen. Ich rappelte mich hoch, schulterte erneut das Rad und rannte weiter. Diesmal ließen sie mich fort. Aber noch lange verfolgten sie mich, ertönte das höhnische Geschrei in meinem Rücken.
Endlich erreichte ich den Tunnel. Auf der anderen Seite war außer dem Autobahnlärm nichts mehr zu hören. Ich hatte ihr Gebiet offenbar verlassen.
Mit der Erleichterung kam die Scham. Ein Gefühl tiefer Erniedrigung durchflutete mich. Zugleich ärgerte ich mich über meine eigene Dummheit. Obwohl ich insgeheim das Unheil längst hatte kommen sehen, war ich immer wieder in die Jahn-Siedlung gefahren. Ich hatte dieser seltsamen Sehnsucht nachgegeben, die doch nicht gestillt werden konnte. Und nun war es passiert.
Trotz aller Verletztheit und Wut war da auch Traurigkeit. Ich durfte nicht mehr wiederkommen. Die schöne, unheimliche Welt der Jahn-Siedlung war mir von nun an verschlossen.
Ob es wegen des kaputten Rades und der zerrissenen Jacke zu Hause Ärger gab, weiß ich heute nicht mehr.
***
Die S-Bahn hält am Botanischen Garten. Viele Wanderer und Radfahrer verlassen hier den Zug, aber genauso viele steigen neu ein. Es wird kaum leerer, auch die Zahl der abgestellten Räder in den Gängen nimmt nicht ab.
Weiter geht es. Die Anwesen entlang der Strecke werden immer ausgedehnter, scheinen langsam zu einem einzigen, großen Park zusammenzuwachsen. Und die Häuser darin ähneln zusehends verwunschenen Schlössern...
***
Als es bei uns mit den Mädchen losging, entwickelte ich zum ersten Mal etwas wie Ehrgeiz. Ich hatte bereits viel gehört über „Liebe“, im Fernsehen, von Bekannten oder sonst woher. Dieses Thema, das spürte ich, ging mich an, hier konnte ich möglicherweise das finden, wonach ich schon die ganze Zeit suchte. Und so biss ich die Zähne zusammen, überwand meine Schüchternheit und suchte mir Freundinnen, meistens aus der Schule. Sobald die Formalitäten geregelt waren, wir also miteinander „gingen“, probierte ich hastig alles aus, wovon meine diversen Quellen berichteten. Es war, als habe ein Supermarkt der Lüste seine Pforten geöffnet, in dem man alles bekommen konnte.
Aber schon bald merkte ich, dass es nicht funktionierte. Irgendetwas fehlte – wie immer. Ich tauschte mich mit den anderen Jungen aus, lautstark und zugleich verkrampft, und erfuhr indirekt, dass es ihnen nicht viel anders ging als mir. Vielleicht ist die Richtige noch nicht dabei gewesen, dachte ich, vielleicht muss ich nur warten, bis es endlich klappt. Ich wartete vergeblich. Liebe – etwas so Großes, Intensives verirrte sich nicht in unsere durchorganisierte, sterile Umgebung.
Schließlich hatte ich genug mit dem anderen Geschlecht herumexperimentiert, um mir sicher zu sein, dass es die Mühe nicht wert war. Ich schloss dieses Kapitel – endgültig, wie mir damals schien.
Auch wenn ich es nicht zugeben wollte: Ich war enttäuscht. Wieder hatte ich mich von einer Sehnsucht leiten lassen, die im wahren Leben nicht gestillt werden konnte. Wieder war ich einer Illusion aufgesessen.
Von nun an wollte ich nur noch meine eigenen Wege gehen. Ich begann mich dem strikten Wochenschema zu entziehen, nahm nicht mehr an den Schul-AG's teil, hing Lateinstunde und Musikunterricht an den Nagel. All diese Dinge hatten nie zu mir gehört, waren von Leuten arrangiert worden, die mich nach irgendeinem Bild formen wollten. Einem Bild, dem ich nicht entsprach, das musste die Welt einfach akzeptieren.
Stattdessen unternahm ich jetzt oft Radfahrten und Wanderungen ins Umland. Je besser ich die Gegend kennen lernte, desto länger dehnte ich meine Touren aus. Bald entdeckte ich den Elm, ein nahe gelegenes Landschaftsschutzgebiet, in dem das Grün endlos ist. Ich stellte das Rad ab und wanderte durch die Einsamkeit. Es konnte Stunden dauern, ehe ich einer Menschenseele begegnete. Die Natur zog mich magisch an. In ihrer Stille und Tiefe glaubte ich mich selbst wiederzuerkennen.
Zum achtzehnten Geburtstag bekam ich ein Auto und fuhr nun bis in den Harz und den Solling. Ich verbrachte ganze Wochenenden dort, wanderte tagsüber und schlug zur Nacht irgendwo in der Wildnis mein Zelt auf. Manchmal nahm ich nicht mal Proviant mit, ernährte mich von dem, was ich fand: Pilze, Nüsse, Beeren. Es war ein Spiel, eine Mischung aus Askese und Survivaltraining. Würde ich mit dem auskommen, was die Natur mir gab? Würde ich standhaft bleiben, wenn sie mich leer ausgehen ließ, den Hunger aushalten und nicht geschlagen nach Hause zurückfahren? Meistens schaffte ich es. Und fühlte mich hinterher wieder ein Stück abgehärteter, gestählter.
Das Grün entlang der Bahnstrecke zieht sich langsam zurück. Die Dichte der Häuser nimmt wieder zu, ein neuer Ort entsteht. „Nächster Halt Blankenese“, ertönt es aus den Lautsprechern. Von rechts sieht man ein einzelnes Gleis heranlaufen, das sich mit unserer Strecke zu einem breiten Schienenstrang vereinigt. Der Zug rumpelt über ein Geflecht aus Weichen, schließlich fahren wir in eine Station ein, die der Bahnhof einer Kleinstadt sein könnte. Es gibt mehrere Bahnsteige, die von jagdgrün gestrichenen, hölzernen Baldachins geschützt werden. Weiter hinten spannt sich eine gläserne Fußgängerbrücke über die Gleise, die zu einem stattlichen, wenn auch renovierungsbedürftigen Bahnhofsgebäude führt.
Die meisten Fahrgäste steigen aus, plötzlich ist es sehr still. Sonnenschein fällt auf die leeren Sitzbänke. Durch die offenen Fensterklappen hört man Fetzen eines Gesprächs, das auf dem anderen Bahnsteig geführt wird. Seltsam losgelöst irrlichtern die Stimmen durch die drückende Mittagsluft.
Auf der Rückbank des Wagens sitzt noch immer diese blonde Frau, die in Altona zu uns umgestiegen ist. Eigentlich ist nichts besonderes an ihr. Sie dürfte ungefähr in meinem Alter sein, ist weder auffallend attraktiv noch ungewöhnlich gekleidet. Aber wieso muss ich andauernd hinsehen? Liegt es am hellblonden Haar, das in der Sonne leuchtet? Oder ist es eher wegen des großen, schwarzen Hundes, der zu ihren Füßen ausgestreckt liegt und von weitem an einen flauschigen Bettvorleger erinnert?
Die Frau dreht sich zum Fenster, schaut hinaus. Im Halbprofil bekommt ihr Gesicht einen Zug ins Melancholische, die Augen wirken auf einmal traurig. Dieser Eindruck ist es, der mich gefangen nimmt. Ich kenne diesen Gesichtsausdruck, diese großen, traurigen Augen...
Sabine – ist sie es? Kann das sein? Ich wage kaum, es zu glauben.
Ich überwinde meine Scheu, sehe genauer hin. Falls sie es wirklich ist, hat sie sich sehr verändert. Sie ist um einiges voller geworden. Um die Augen und Mundwinkel zeichnen sich deutliche Faltenmuster ab. Schließlich ihre Wangen – früher waren sie glatt und frisch, jetzt wirken sie aufgeschwemmt und gerötet, wie bei jemandem, der gern zu tief ins Glas schaut. Mit der Sabine meiner Erinnerung hat die alternde Frau dort hinten nicht viel gemein.
Aber die Augen, sie sind dieselben geblieben, sie haben allem Verfall getrotzt.
Es ist Sabine, jetzt bin ich mir sicher. In meinem Kopf arbeitet plötzlich alles durcheinander. Unglaublich, dass wir uns hier begegnen, in dieser Stadt, diesem Zug! Ich muss sie ansprechen, muss die Gelegenheit unbedingt nutzen. Welche Möglichkeiten sich durch diesen unwahrscheinlichen Zufall eröffnen! Wie viele abgerissene Fäden, die ich vielleicht wieder aufnehmen könnte...
Es ist nicht zu fassen!
***
Der Zug hat die Richtung gewechselt, ich fahre jetzt rückwärts. Erneut rumpeln wir über das Weichengeflecht. Es geht in eine langgezogene Kurve, wir gewinnen wir an Fahrt. Blankenese schnurrt in sich zusammen und verschwindet.
Am Ende des Wagens sitzt nach wie vor diese fremde, vertraute Frau. Ich habe Sabine noch immer nicht angesprochen. Soll ich es wirklich tun? Würde sie sich überhaupt an mich erinnern? Es ist alles so lange her...
Nichts deutet darauf hin, dass sie meine Gegenwart bemerkt. Sie schaut beharrlich aus dem Fenster, mit ihrem typischen, melancholischen Gesichtsausdruck, den traurigen Augen. Diese Augen – selbst aus der Entfernung kann ich ihre blaugraue Farbe erkennen. Wie sehr sie denen ihrer Schwester ähneln, Katja...
Endlich gebe ich meinen inneren Widerstand auf. Katja – sie war es, an die ich sofort denken musste, als ich Sabine erkannte. Auf einmal stehen längst verblasste Bilder wieder in aller Deutlichkeit vor mir: der historische Saal voller festlich gekleideter Menschen, die prachtvollen Kronleuchter, unter denen Katja mit sich selbst tanzt, traumversunken, ganz der Musik hingegeben...
Der große Abschiedsball, am Ende des Studiums. Danach liefen die Kommilitonen in Windeseile auseinander... nichts ist geblieben aus dieser Zeit, rein gar nichts, auch keine Erinnerungen. Wenigstens dachte ich das bis eben. Aber plötzlich scheint es, als habe sich alles gestern zugetragen und nicht vor zehn Jahren.
Wo Katja jetzt wohl sein mag? Ob ihre Träume sich erfüllt haben? Ob ihr Leben sich so entwickelt hat, wie sie es sich damals wünschte? Da vorn sitzt die Person, die mir alle Fragen beantworten könnte. Ich muss nur hingehen und sie ansprechen. Das Leben kann so einfach sein.
Vor den Fenstern des Zuges wachsen jetzt Hochhäuser wie riesige Steinfinger aus dem Boden. Eine Betonwüste breitet sich ringsumher aus, eine Plattenbausiedlung. Plötzlich ist die Stadt wieder da. Man hatte nach den üppigen Stadtgärten vor Blankenese schon nicht mehr daran gedacht. Wir fahren in die nächste Station ein, wieder verlässt ein Schwung Fahrgäste den Zug. Einsteigen tut niemand. Offenbar wohnen hier keine Leute, die Ausflüge ins Grüne unternehmen.
Das Leben mag einfach sein. Aber es ist auch ernüchternd, wie man an der rapide gealterten Sabine sehen kann. Was, wenn Katja sich ebenso sehr zum Nachteil verändert hat? Will ich mir meine Erinnerungen zerstören lassen durch eine möglicherweise graue, trostlose Realität?
Außerdem: Ist es klug, die alten Geschichten wieder aufwärmen, nach allem, was damals passiert ist? Sollte man die Vergangenheit nicht besser ruhen lassen?
Die Siedlung endet, das Grün fängt wieder an. Aber nun sind es keine Parklandschaften mehr, sondern die ersten Felder und Koppeln, die an uns vorüberziehen. Neben den Schienen verläuft ein Weg, auf dem viele Radfahrer unterwegs sind. Wir passieren eine hölzerne Scheune, vor der man Kinder in Reitkleidung auf Pferden sieht. Wieder fahren wir in einen Bahnhof ein. „Sülldorf“ heißt er. Bis Wedel dürfte es jetzt nicht mehr weit sein.
Nun kommt Leben in das schwarze Bündel zu Sabines Füßen. Der Hund springt auf, zieht Sabine an der Leine hinter sich her in Richtung Tür. Dann sind die beiden verschwunden.
Das war's. Chance vertan. Ich wollte es ja so.
Außer mir ist niemand mehr im Wagen. Still tröpfeln die Minuten dahin. Warum fahren wir nicht weiter? Dann fällt mir ein, dass seit Blankenese die Strecke eingleisig ist. Vielleicht müssen wir einen entgegenkommenden Zug durchlassen.
Ich blicke zur Tür. Noch steht sie offen, noch kann ich hinaus....
Gegenüber fährt nun tatsächlich ein Zug ein. Kaum hat er gehalten, ertönt bei uns das Signal zum Schließen der Türen. Im letzten Augenblick springe ich auf und laufe zum Ausgang. Die Türflügel gleiten bereits nach innen, aber ich kann noch hindurchschlüpfen. Draußen trifft mich gleißendes Sonnenlicht. Die Luft ist erfüllt vom Lärm der abfahrenden Züge, dem Kreischen der Räder, dem Rumpeln der Wagen.
Dann ist es wieder still. Der Bahnsteig liegt leer und verwaist da. In der aufsteigenden Hitze zittert die Luft. Irgendwo dudelt ein Radio vor sich hin. Es riecht nach frischem Heu und ganz schwach nach Rauch.
Ich blicke über den Bahnsteig, erkenne an seinem Ende ein kleines Stationsgebäude. Gerade öffnen sich dort die Schranken, die Traube der Wartenden beginnt sich aufzulösen. Als ich das Gebäude erreiche, ist niemand mehr da. Hastig durchquere ich eine enge, dämmrige Passage, komme auf eine dicht befahrene Straße. Ich blicke mich suchend um und entdecke Sabine auf der anderen Seite. Sie geht mit ihrem Hund gerade an einem Eiscafé vorüber, vor dem sich eine Warteschlange gebildet hat. Die beiden verschwinden um eine Hausecke.
Endlich springt die Fußgängerampel auf Grün. Ich laufe über die Straße, vorbei an dem Café, achte nicht auf die verwunderten Blicke der Wartenden, haste um die Ecke.
Da ist sie. Nur ein kurzes Stück vor mir geht sie durch eine schmale Vorortstrasse, neben sich den den Hund an der Leine. Erleichtert atme ich aus. Jetzt werde ich sie nicht mehr verlieren.
Die beiden biegen nach links ab, steuern auf einen kleinen, unbenutzten Parklatz zu. Dahinter beginnt dichter Wald. Sabine beugt sich hinab und lässt den Hund von der Leine. Sofort rennt er los und verschwindet zwischen den Bäumen. Sie geht langsam hinterher. Bald ist auch sie nicht mehr zu sehen.
Ich warte noch einige Sekunden und erreiche dann selbst den Parkplatz. Seitlich des Pfades, der in den Wald führt, registriere ich an einem Baum ein kleines, mit weißer Farbe aufgemaltes Kreuz.
Bislang hätte ich nicht sagen können, was ich hier eigentlich treibe. Ich war nur darauf bedacht, Sabine nicht aus den Augen zu verlieren. Als ich aber dieses Kreuz sehe, formt sich in meinem Kopf verschwommen eine Idee...
Im Wald ist es herbstlich kühl und feucht. Mächtige Laubbäume wechseln sich mit hochgewachsenen Fichten ab. Der Boden ist mit einer Schicht aus Tannennadeln und Blättern bedeckt, die unter jedem meiner Schritte nachfedert. Vereinzelt hört man das Zwitschern von Vögeln, ansonsten ist es still.
Ich entdecke ein neues, weißes Kreuz an einem der Stämme. Wie ein Zeichen, eine Spur. Natürlich, es ist die Markierung eines Wanderweges! Bereits früher, auf meinen Expeditionen in den Elm oder Harz, sind mir solche Wegweiser aufgefallen. Sie symbolisierten für mich immer die vorgezeichneten, festgelegten Routen. Gerade die wollte ich verlassen und mich ins Dunkel des Waldes hineinwagen, wo niemand einem den Weg vorgab, wo man auf sich selbst gestellt war, seine Angst vor dem Unbekannten überwinden musste.
Aber heute wird es anders sein. Mein bislang nur schemenhafter Einfall hat sich konkretisiert. Ich bin ein Spaziergänger, ein Wanderer, der das schöne Herbstwetter nutzt und diesen Weg erkundet. Mehr nicht.
Weiter geht es, jetzt durch jungen, lichten Birkenwald. Die schlanken, weißen Stämme werden von der schräg einfallenden Herbstsonne beleuchtet. Am Boden liegt erstes Laub. Bald taucht ein gutes Stück vor mir wieder die Gestalt einer Frau auf. Der große, schwarze Hund an ihrer Seite hält von Zeit zu Zeit inne, reckt den Kopf in die Höhe, schnüffelt kurz und läuft dann weiter.
***
Wann habe ich Sabine und Katja zum ersten Mal getroffen? Ich weiß nur noch, dass es ziemlich bald nach Studienbeginn gewesen sein muss.
Oder vielmehr: nach meinem Studienortwechsel. Zunächst hatte ich mich ja, nach Abitur und Zivildienst, zu Hause an der Technischen Universität eingeschrieben. Für Diplominformatik – aus Mangel an besseren Ideen.
Ich hatte in dieser Zeit einfach kein Interesse an all den Veränderungen, die anstanden, den Lebensentscheidungen, die gefällt werden mussten. Zukunftsplanung und Berufswahl – diese Dinge nervten, ich wollte mich nicht damit befassen. Auch den überfälligen Auszug von zu Hause schob ich vor mir her. Meinen Zivildienst absolvierte ich bei der örtlichen Arbeiterwohlfahrt, wo ich Essen auf Rädern ausfuhr. In dieser Situation bedeutete eine Einschreibung an der heimatlichen TU größtmögliche Kontinuität.
Aber ich sollte schnell merken, dass ich einer Illusion aufgesessen war. Von Beginn an hatte ich das Gefühl, in der Anonymität der Massen-Uni, wie es die TU nun mal war, regelrecht zu verschwinden. In den Vorlesungen saß man mit 200 Leuten und mehr, auch die Übungsgruppen waren hoffnungslos überlaufen. Kontakt zum Lehrpersonal gab es so gut wie keinen. Endlos irrte ich durch die riesigen Betongebäude, schleppte mich von Lehrveranstaltung zu Lehrveranstaltung, und hatte doch keine Hoffnung, je irgendwo anzukommen, weder räumlich noch in Sachen Studienziel. Mit jedem Tag wuchs das Gefühl der Resignation. So konnte es nicht weitergehen. Ich musste mich nach Alternativen umsehen.
In dieser Zeit suchten die Hochschulen der neuen Bundesländer gerade händeringend nach Studenten, auch im Westen. Sie hofierten einen geradezu mit ihren Infoständen, den bunten Broschüren auf Mensa-Tischen und an Schwarzen Brettern. Sogar Zeitungsanzeigen schalteten sie. Gleichzeitig waren die West-Hochschulen froh über jeden Schulabgänger, der sich nicht bei ihnen einschrieb. Was gab es da noch zu zögern und zu zaudern?
Aber war nicht allein schon der Gedanke, in den Osten zu gehen, absurd, komplett verrückt? Wer wollte da schon hin, nach allem, was man hörte über die Provinzialität der dortigen Menschen, ihren Hass auf alles Fremde und über Horden von Nazis, denen die Straße überlassen war? „Wilder Osten“ – diese Bezeichnung schien mir passend. Würde man dort überhaupt mit heiler Haut wieder rauskommen?
Ich beschloss, mir selbst ein Bild zu machen. Fuhr nach Leipzig, Dresden und in einige kleinere Städte mit Hochschulen. Es gab wirklich überall das berüchtigte Grau. Die Bausubstanz zeigte Stadien des Verfalls, die ich bis dahin nur aus Filmen über die Kriegs- und Nachkriegszeit kannte. Und häufig sah ich Gruppen kahlgeschorener Gestalten in Bomberjacke und Springerstiefeln auf öffentlichen Plätzen herumsitzen, in Fußgängerzonen, auf Bahnhöfen. Es schien alles so schlimm zu sein wie anfangs befürchtet.
Hätte es nicht zugleich diese aberwitzige Bautätigkeit gegeben. Es wurde renoviert, restauriert, ausgebessert, neu errichtet was das Zeug hielt. Der Osten schien sich vorgenommen zu haben, der bessere Westen zu werden. Eine derartige Dynamik hatte ich noch nicht erlebt in meiner fest gefügten, erstarrten, müde gewordenen Welt.
Wessis schienen an den Hochschulen der neuen Länder Mangelware zu sein, trotz der massiven Werbekampagnen. Mir lief kein einziger über den Weg. Im Gegenteil: Fast alle Studenten kamen aus der näheren Umgebung. Und so hörte ich auf meiner zweiwöchigen Rundreise fast ausschließlich sächsische und thüringische Idiome. Am Schluss hatte ich mich daran gewöhnt – ein kleines Wunder, wenn man bedachte, wie schauderhaft alle Ost-Dialekte vorher für mich geklungen hatten.
Jetzt fand ich es gemütlich, es passte zu den Menschen. Man kam leicht mit ihnen in Kontakt, in den Hochschulen, den Geschäften, beim Zugfahren. Ihre Gutmütigkeit, die manchmal ein bisschen naiv wirkte, war mir ungemein sympathisch. Nirgends erlebte ich Hochnäsigkeit oder Arroganz. Ich fühlte mich, als sei ich vierzig Jahre oder mehr in die Vergangenheit zurückversetzt worden.
Was mich am Osten regelrecht begeisterte, waren die Studienbedingungen. Sie „gut“ zu nennen wäre eine glatte Untertreibung gewesen. Bezeichnend war eine Szene, die ich in Jena erlebt hatte. Ich wollte mir dort die Vorlesung „Einführung in die Informatik“ anschauen. Vorlesungen, so kannte ich es von zu Hause, waren in der Regel Massenveranstaltungen. Niemand merkte es, wenn man sich dazusetzte, niemand fragte nach.
Ich fand den Weg problemlos, öffnete die Tür – und betrat einen Raum von der Größe eines Klassenzimmers, in dem eine Handvoll Menschen zusammensaß. Alle schauten mich an, offenbar in der Annahme, ich hätte mich verirrt. Stammelnd trug ich mein Anliegen vor und wurde prompt eingeladen, mich dazuzusetzen.
Es handelte sich tatsächlich um die fragliche Vorlesung. Wo an der heimatlichen TU Heerscharen von Studis den größten Hörsaal füllten und zum Teil auf Treppen und Fensterbänken saßen, fanden sich hier ganze sechs Leute – der Dozent eingeschlossen. Letzterer war sich auch nicht zu schade, mit den Studis die kürzlich geschriebene Klausur zu besprechen und die Aufgaben persönlich zu erläutern.
Und so wie hier schien es überall zu sein. Lehrveranstaltungen von – vorsichtig gesprochen – übersichtlicher Größe, modernste Ausstattungen und neueste Technik in den Seminarräumen und Hörsälen, frisch renovierte oder gleich ganz neu errichtete Gebäude. Oft sah man keinen Menschen auf den Fluren, es herrschte gespenstische Stille. Nur zum Ende der Lehrveranstaltungen öffneten sich überall die Türen, und meist kleinere Gruppen von Studenten traten aus den Räumen. Das Ganze erinnerte eher an Schule als an Uni.
Bald gab ich meine letzten Vorbehalte auf und beschloss, in den Osten zu gehen. Vielleicht konnte ich hier doch noch etwas aus meinem Leben machen. Nach Hause zurückgekehrt, verschickte ich sofort Bewerbungen an fast alle Hochschulen, die ich mir angeschaut hatte. Ich hatte mir in den Immatrikulationsbüros die nötigen Formulare gleich mitgenommen, sodass ich nun keine Zeit mehr verlor.
Ob Leipzig, Dresden oder Chemnitz – ich bekam überall nur Zusagen. Meine Wahl fiel schließlich auf Wirtschaftsinformatik an der Fachhochschule in Mittenwerda, einem sächsischen Provinznest. Den entscheidenden Ausschlag gab das Beratungsgespräch, das ich dort mit Professor Spengler geführt hatte.
Er besetzte den Lehrstuhl „Mathematik für Informatiker“. Als ich in sein Büro trat, brütete er gerade über irgendeinem Problem. Ein vor ihm liegendes Blatt Papier war mit Formeln und Figuren bedeckt. Sein Haar war zerzaust, in der Rechten hielt er eine fast abgebrannte Zigarette. Seine kauzige, humorvolle Art war mir auf Anhieb sympathisch. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, als würde sich durch ihn in meinem Leben einiges ändern.
Auch eine Unterkunft fand ich rasch, im Studentenwohnheim am Schwanenpark. Dort kostete das Zimmer lächerliche 100 D-Mark monatlich.
Ich packte zwei Reisetaschen, setzte mich in mein Auto und zog um.
Kaum zu glauben, dass dieser Wald noch Hamburger Stadtgebiet sein soll! Es ist so einsam, dass ich mich genauso gut im Harz oder Elm befinden könnte, auf einer jener ausgedehnten Wochenendtouren, wie ich sie früher so oft unternommen habe.
Sabine habe ich längst wieder aus den Augen verloren. Aber sie ist bestimmt noch vor mir und folgt den weißen Kreuzen am Wegrand. Wie ich.
***
Das erste Semester in Mittenwerda begann. Tatsächlich erinnerte hier vieles an die Schule: der feste Stundenplan, die strikte Einordnung der Studenten in Jahrgänge, die in der Regel bis zum Diplom zusammenblieben, und schließlich das Selbstverständnis der Dozenten, nicht in erster Linie gute Fachwissenschaftler sein zu wollen, sondern auch und vor allem Wissensvermittler, Lehrer. Sie waren aufrichtig bemüht, in uns ein grundlegendes Verständnis für ihr Fachgebiet zu erzeugen. Welch ein Unterschied zu meiner alten Hochschule, wo die Profs oft nur pflichtschuldig und gelangweilt von der Kanzel herab doziert hatten!
Der Studienbetrieb wurde in den unterschiedlichsten Formen abgehalten, von denen Vorlesungen und Seminare bloß zwei waren. Oft arbeitete man im Rahmen von Projekten an Themen, zudem es gab zahlreiche Praktika. Diese fanden anfangs noch innerhalb der Fachhochschule statt, sollten später aber in Unternehmen oder Behörden durchgeführt werden.
In Mittenwerda interessierten sich die Dozenten zum ersten Mal dafür, was man an Grundlagen für das Studium mitbrachte. Es zeigte sich, dass mir viele der anfänglichen Studieninhalte schon von meiner Beschäftigung mit dem Computer her bekannt waren. So hatte ich mir neben der Programmierung, ohne es zu ahnen, bereits wichtiges Basiswissen für Logistik und Geschäftsprozessmanagement erarbeitet.
In diesem Klima blühte ich auf. Zum ersten Mal brachte mir Lernen Spaß. Plötzlich gehörte ich zu den Guten, denjenigen, die es „drauf“ hatten. Ich konnte es kaum fassen.
Das Herumirren in labyrinthischen Betonbunkern, das für mich bislang den Uni-Alltag symbolisiert hatte, gehörte nun der Vergangenheit an. Die Seminargebäude waren klein und übersichtlich und lagen nie weit voneinander entfernt.
Auch zum Wohnheim war es nur ein Katzensprung. Wir Informatiker brauchten aus unserem Fachbereichsgebäude sogar nur über den „Schulhof“ zu gehen und hatten schon das Quarrée erreicht, das eine Handvoll dreistöckiger Wohnheimgebäude bildeten. Zurzeit wurden die Häuser renoviert, eines nach dem anderen. Mein Haus war das letzte, das sich noch in seinem alten, hinfälligen Zustand befand, daher die günstige Miete. Es war interessant zu beobachten, wie unterschiedlich die Ossis und die wenigen Wessis, die außer mir hier wohnten, mit dieser Situation umgingen. Die Wessis hatten an allem etwas auszusetzen. Sie fluchten über die einfach verglasten, zugigen Fenster, monierten die verkalkten Klos und Waschbecken, störten sich an den rostigen Armaturen, den altersschwachen Möbeln und Gerätschaften, der maroden Hauselektrik. Die Studenten aus dem Osten hingegen fügten sich ohne großes Murren in die gegebenen Umstände.
Und seltsam: Auch mir, der ich doch in einigem Wohlstand aufgewachsen war, genügte völlig, was ich an meinem Zimmer hatte. Das Baufällige, Improvisierte des Wohnheims lag mir irgendwie. Ich fand es geradezu befreiend, endlich der Rundum-Sorglos-Situation entronnen zu sein, die ich von klein auf gewohnt gewesen war.
Überhaupt schien mir der Osten viel näher und vertrauter zu sein, als es meine Heimat je gewesen war. Vielleicht war das der Grund, weshalb ich in Mittenwerda zum ersten Mal seit langer Zeit wieder Interesse am Gemeinschaftsleben entwickelte. Gleich in den ersten Tagen kam ich mit Christoph und Rico ins Gespräch, meinen unmittelbaren Zimmernachbarn zur Rechten und Linken. Christoph hielt ich zuerst für einen Dozenten. Er war jenseits der 30 und hatte sich erst jetzt zu einem Sozialpädagogik-Studium entschlossen. Seine gemütliche Art erinnerte ein wenig an Professor Spengler. Wie ich stammte er aus dem Westen. Bei Rico hingegen verriet schon der Name den Ossi. Er war Fußballer und hatte angeblich ernsthafte Aussichten auf eine Profikarriere. Aber zunächst wollte er ein „ordentliches Studium hinlegen“, wie er in breitestem Sächsisch erläuterte. Er war für BWL eingeschrieben.
Nach und nach entstand ein kleiner Kreis von Leuten. Auch René gesellte sich in dieser Zeit zu uns. Er studierte E-Technik und kam aus der näheren Umgebung von Mittenwerda. Für mich war er ein typischer Vertreter des grundsoliden, herzensehrlichen Ossis ohne Allüren und Eitelkeiten.
Was unternahm man in einer Kleinstadt wie Mittenwerda? Es gab hier fast keine Kneipen und Clubs, abends waren die Straßen der Innenstadt wie ausgestorben. Studentisches Flair suchte man vergebens.
Man traf sich im Wohnheim, zum Quatschen und gemeinsamen Kochen. Oder man ging zusammen in die „Filmbühne“, Mittenwerdas einziges Kino. Einige Kilometer außerhalb fand sich der „Grüne Hund“, ein alter Dorfkrug, den ein mutiger Gastronom nach der Wende in eine Musikkneipe verwandelt hatte. Anfangs war dort wohl so gut wie nichts los gewesen. Aber nach und nach hatte sich die Existenz des Grünen Hundes herumgesprochen, immer mehr Leute waren gekommen. Inzwischen lief es bestens. Der große, fast unverändert belassene Gastraum war fast jeden Abend voll, nur saßen dort jetzt keine Landwirte mehr, sondern fast ausschließlich junge Leute aus der Region. In einer angrenzenden, ehemaligen Scheune wurde am Wochenende getanzt, auch fanden hier zahlreiche Konzerte statt.
Einen bedeutenden Nachteil hatte der Grüne Hund: Man kam nur schlecht hin. Zu Fuß war es zu weit, eine Busverbindung gab es nicht. Wenn man mit dem Auto fuhr, konnte man nichts trinken. Also nahmen wir meistens das Rad.
Und schließlich gab es in Mittenwerda die Gartenstadt. Sie lag nicht weit entfernt von Hochschule und Wohnheim, in Richtung des Bahnhofs, und bildete eine kleine Welt für sich. Die niedrigen Reihenhausblöcke des Viertels waren zur Jahrhundertwende für die Bediensteten der Hochschule errichtet worden. Aber schon zu DDR-Zeiten war ein Großteil der Bausubstanz verfallen. Nach der Wende hatten viele der Alteinwohner das Weite gesucht, und Studenten waren an ihre Stelle getreten, Künstler und „zwielichtiges Volk“, wie es hieß. Jetzt gab es hier überwiegend WG's, Kommunen und andere, zum Teil recht exotische Wohnprojekte.
Die Gartenstadt war wie geschaffen für die zahlreichen Feten und Picknicks, die zu Semesterbeginn stattfanden. Jedes Haus hatte eine geräumige Terrasse, die sich zum Grillen anbot. Hinzu kam das großartige Wetter. Bis in den Oktober hinein blieb es warm, auch abends konnte man sich lange im Freien aufhalten. Und so schien eine Gartenparty auf die nächste zu folgen. Als es schließlich zu kalt wurde, verlagerte sich das Geschehen kurzerhand in die geräumigen Wohnzimmer. Gerade wir Neuen waren wie berauscht von der ungewohnten Freiheit, die der Auszug von zu Hause mit sich gebracht hatte. Alles schien zu passen, fügte sich harmonisch und leicht ineinander. Wie im Traum.
Es muss in dieser Zeit gewesen sein, da ich Katja und Sabine kennenlernte. War es bei einem der besagten Grillfeste? Oder war es auf der Einweihungsparty, die die beiden selbst gaben? Denn sie wohnten zusammen in einer der Gartenstadt-WG's. Von Beginn an hatten mich die ungleichen Schwestern interessiert.
Wie ich gehörten sie zur seltenen Spezies der Wessis, die sich zum Studieren in den „Wilden Osten“ aufgemacht hatten. Sie kamen von der Küste, aus einer kleinen Stadt an der Ostsee in der Nähe von Kiel. Sabine studierte bereits seit einem Jahr in Mittenwerda. Zu Beginn des Wintersemesters war das Zimmer ihrer Mitbewohnerin freigeworden, und kurzentschlossen war Katja, die sich ebenfalls für Mittenwerda entschieden hatte, dort eingezogen.
Katja wirkte auf den ersten Blick unauffällig und zurückhaltend, fast schüchtern. Als ich noch nicht viel über sie wusste, hatte ich das Gefühl, man müsse ihr jede Schwierigkeit abnehmen, sie vor des Lebens Unbilden beschützen. Aber rasch stellte sie sich als sehr resolut und zupackend heraus. Vor dem Studium hatte sie einige Zeit in einer Autowerkstatt gejobbt und wollte das in den Semesterferien weiterhin tun, um sich einige Extragroschen zu verdienen. Sie studierte BWL, und anfangs hatten wir viele gemeinsame Lehrveranstaltungen.
Sabine war ein ganz anderer Typ: extrovertiert, laut, immer vorn dabei. Vehement vertrat sie ihre Ansichten und setzte sich meistens durch. Man hatte Respekt vor ihr. Die Zeit des Studiums wollte sie voll auskosten, sie wollte feiern, Spaß haben. Aber auch das politische Engagement kam nicht zu kurz. Die Region um Mittenwerda galt als rechtsradikale Hochburg, und Sabine war Aktivistin in der lokalen Antifa. Als eine der wenigen in meinem Bekanntenkreis setzte sie sich mit diesem Thema auseinander, nahm an Kundgebungen teil, veranstaltete Infoabende. Ich bewunderte insgeheim ihren Mut. Gleichzeitig fand ich sie manchmal anstrengend. Wer sich nicht eindeutig links äußerte, war bei ihr schnell unten durch. Ihr Studienfach nannte sich „Soziale Arbeit“, was mir nicht viel sagte.
Trotz aller äußerlichen Unterschiede – die zurückhaltende Katja, unscheinbar gekleidet, mit dunkelblondem, unauffälligem Haar, neben der lauten, offensiven Sabine mit ihren bunten, alternativen Klamotten und dem strohgelb leuchtenden Haarschopf – erkannte man bei genauerem Hinsehen die Verwandtschaft zwischen den beiden. Sie hatten die gleichen blaugrauen Augen, die ihr Gegenüber neugierig und zugleich scheu musterten. Und beider Schwestern Gesichtsausdruck bekam im Halbprofil diesen Hauch ins Melancholische, fast Traurige. Wenn man eine der beiden länger betrachtete, vergaß man fast, wen man vor sich hatte: Katja oder Sabine.
***
Wieder frage ich mich, ob ich noch in Hamburg bin oder unbemerkt, durch eine Störung im Raum-Zeit-Gefüge, in eine fremde Wildnis versetzt wurde. Der Weg durch den Wald hat sich zu einem Berg-und-Tal-Parcours entwickelt, wie man ihn im Harz nicht beeindruckender vorfände. Ich bin außer Atem, Schweiß steht mir auf der Stirn. Wie lange ist es her, dass ich eine Wanderung dieser Art unternommen habe?
Das Blätterdach der Bäume lichtet sich bereits, an vielen Stellen scheint der Himmel durch. Zwischen den Stämmen sieht man Spinnenfäden im Sonnenlicht glänzen.
Offenbar nähern wir uns nun einem belebten Ort. Stimmengewirr ist zu hören, das langsam lauter wird. Ich sende ein heimliches Stoßgebet in den Äther, dass unser Weg seine Richtung ändern, von der Geräuschquelle wegführen möge. Vergebens. Der Lärm steigert sich immer weiter, bis schließlich ein großes Gebäude zwischen den Bäumen auftaucht.
Es ist ein Ausflugslokal mit einem weitläufigen Biergarten an seiner Rückseite. Gäste sitzen dicht gedrängt an langen Holztischen, essen und trinken, genießen den vielleicht letzten warmen Tag des Jahres. Als ich an ihnen vorübergehe, fühle ich mich, als käme ich geradewegs aus der Wildnis. Ein Waldschrat, der sich in die Zivilisation verirrt hat.
Der Weg führt um das Lokal herum. An der Vorderseite des Hauses liegt eine breite Veranda, die ebenfalls bis auf den letzten Platz gefüllt ist. Zahlreiche Spaziergänger kommen mir entgegen, auf einer schmalen Pflasterstraße rumpeln Familienkombis an mir vorüber. Die Straße endet an einem Wendekreis, wo ein Linienbus wartet.
Sabine und ihr Hund haben sich bereits durch die Flut von Ausflüglern gearbeitet und biegen auf einen neuen Weg ein. Ich folge ihnen. Auf einem Baum am Wegesrand ist das nächste Kreuz zu sehen. Wir befinden uns also noch immer auf demselben Wanderweg. Durch die Markierungen scheint ein heimlicher Kontakt zwischen uns entstanden zu sein, eine Verbindung, die mich immer weiter in alte Zeiten zurückführt...
***
Die Lehrveranstaltungen wurden immer spannender. Alles interessierte mich, von der Mathematik über die Informatik bis zu den Wirtschaftswissenschaften. Ich wollte die Dinge grundlegend verstehen, sie ganz und gar durchdringen und im Zweifel kritisch hinterfragen. Als zum Beispiel in der Mathe-Vorlesung der Begriff der unendlichen Menge eingeführt wurde, bemerkte ich als Einziger den Widerspruch. „Menge“ als etwas Abgeschlossenes, Ganzes in einem Zug mit „unendlich“, dem Inbegriff des Unfertigen – das konnte nicht korrekt sein. Ich reklamierte meine Bedenken. Der Dozent lieh mir daraufhin einen schmalen Band über die Arbeiten von Cantor, dem Begründer der modernen Mengentheorie. Unter großen Mühen arbeitete mich durch die sehr abstrakten Darlegungen und begriff schemenhaft, dass unter bestimmten Voraussetzungen so etwas wie eine „unendliche Ganzheit“ denkbar ist. Ich war fasziniert: Auch scheinbar absolute Dinge wie „Unendlichkeit“ ließen sich also hinterfragen und in ihrer Bedeutung weiterentwickeln.
Die Profs, sichtlich dankbar für mein Interesse an ihrer Materie, begannen mich immer stärker zu fördern. Nie zuvor habe ich so viel Zuspruch und Ermutigung erfahren wie in Mittenwerda. Das Studium bekam einen geradezu sinnstiftenden Charakter für mich. Klausuren-Punkte und Scheine spielten dabei nur eine untergeordnete Rolle, es ging mir ums Lernen an sich, ums Erweitern meines Horizonts. Dementsprechend hoch war mein Einsatz. Immer mehr Energie wurde in die Hochschule investiert.
Gleichzeitig hatte ich den Anspruch, keine der zahlreichen Freizeitaktivitäten zu versäumen, die in dieser Phase stattfanden. Der Kontakt zum sozialen Geschehen, den ich gerade erst hergestellt hatte, sollte nicht schon wieder abreißen. Ich versuchte, Lernen und Leben unter einen Hut zu bekommen, aber das war ein anstrengendes Unterfangen. Das mich schon bald überforderte.
Zuerst merkte ich beim Sport, dass etwas nicht stimmte. Ich spielte Basketball, und wir trainierten wöchentlich in der Hochschulsporthalle. Dass ich überhaupt Sport trieb, war erstaunlich genug. Und dann machte es noch richtig Spaß. Ich konnte leidlich mithalten, trotz meiner durchschnittlichen Größe und der Schnelligkeit des Spiels, der vielen, kurzen Pässe und verwirrenden Dribblings.
Aber bald zog ich in den Zweikämpfen oft den Kürzeren. Ich war zu langsam, mein Gegner spielte mich aus, rannte mir weg. Irgendetwas war mir in die Knochen gefahren, eine seltsame Erschöpfung ergriff immer stärker von mir Besitz. Ich fühlte mich schwerfällig, kraftlos, überfordert. Als liefe ich nur noch auf Reserve.
Dann war da noch eine andere Sache, die mir langsam unheimlich wurde. Zu vielen Vorlesungen gab es so genannte Übungsgruppen, in denen man, angeleitet von wissenschaftlichen Assistenten oder Studenten höherer Semester, das Gehörte nachbereitete. Mochte es nun Zufall sein oder nicht: Fast alle dieser Übungen hatte ich mit Katja zusammen. Auch während der Projektphasen fand ich mich oft mit ihr im selben Team wieder.
Eines Abends gab es ein Kennenlern-Treffen der Übungsgruppe „Einführung in die Wirtschaftswissenschaften“ bei einer Kommilitonin zu Hause. Auch Katja und ich nahmen teil. Wenn ich heute die Bilder dieses Abends an mir vorüberziehen lasse, kann ich mich an keine Szene erinnern, in der nicht Katja irgendwo in meiner Nähe war. Sogar die Radfahrt zurück in die Stadt machten wir gemeinsam. Wir trennten uns erst auf dem letzten Stück. Sie musste weiter in die Gartenstadt, ich fuhr hinauf zum Wohnheim am Schwanenpark.
Warum überraschte es mich so, dass sie meine Nähe suchte? Dass etwas Derartiges passieren würde, war doch eigentlich zu erwarten gewesen. Und wollte ich es nicht selbst? Von Beginn an hatte ich Katja gemocht.
Aber es konnte nicht sein, war absurd, undenkbar! Diese Dinge hatte ich lange hinter mir gelassen. Jetzt wieder damit anzufangen würde alles durcheinanderbringen, was ich mir zwischenzeitlich aufgebaut hatte. Und am Ende würde ich wieder mit leeren Händen dastehen. Ich verbot mir schlicht, noch weiter darüber nachzudenken.
***
Langsam neigte das erste Semester sich dem Ende zu, die Klausuren standen an. Eigentlich kein Grund für mich, in Panik zu verfallen. Bisher war alles perfekt gelaufen, ich galt als einer der Jahrgangsbesten. Doch auf einmal ging mir die Muffe.
Für die anderen mochte es wirken, als schüttele ich die hervorragenden Leistungen einfach aus dem Ärmel. Ich bemühte mich selbst nach Kräften, diesen Eindruck zu erzeugen und zu nähren. In Wirklichkeit plagte und quälte ich mich schier bis zum Umfallen. Ich war nie ein guter Schüler gewesen und war es nach wie vor nicht. Jede gute Note musste ich mir hart erkämpfen.
Jetzt nahte die Stunde der Wahrheit. In den Klausuren, wo ich keine Hilfsmittel zur Verfügung hatte, wo zudem die Zeit knapp bemessen war, musste ich beweisen, ob ich es wirklich drauf hatte. Gut möglich, dass mein Ruf demnächst ruiniert war und ich einpacken konnte.
Ein weiterer Aspekt kam hinzu, und gerade diesen mochte ich mir kaum eingestehen: Ich wollte die Profs, die auf mich und meine vermeintlichen Fähigkeiten ach so große Stücke hielten, nicht enttäuschen. Besonders Professor Spengler nicht, der die Grundlagenvorlesung in Mathematik hielt und einer meiner eifrigsten Förderer war. Musste ich nicht damit rechnen, dass er mir die Zuwendung entzog, wenn ich in seinem Fach versagte? Und hätte er nicht recht gehabt? Täuschte ich ihn und den Rest der Welt nicht bloß? Wann legte ich endlich meine Maske ab und ließ die anderen sehen, wie mittelmäßig ich in Wirklichkeit war?
Ich büffelte wie ein Bekloppter. Jedenfalls versuchte ich das. Leider eignen sich gerade Fächer wie Mathematik oder Informatik nur schlecht fürs Pauken. Es gilt, Lösungsalgorithmen für Problemstellungen zu entwickeln, Zusammenhänge herzuleiten, Sätze zu beweisen. Auswendig zu lernen gab es hier so gut wie nichts. Also kramte ich alte Übungsaufgaben wieder hervor, suchte mir neue in Büchern, die ich mir aus der Hochschulbibliothek lieh. Immer wieder probierte ich die verschiedenen Beweisverfahren durch, zeichnete UML-Diagramme für diverse EDV-Probleme, setzte in Beispielanwendungen die gängigen Entwurfsmuster um. Ich versuchte mich auf jede Eventualität vorzubereiten und konnte dennoch die Panik nicht abschütteln.
Dann lag die erste Klausur hinter uns. Es war die von Professor Spengler gewesen, und natürlich hatte mich keine der Aufgaben vor größere Probleme gestellt. Am Abend – es war ein Freitag –wollten einige von uns eine „Erste-Klausur-Überstanden“-Party im Grünen Hund feiern.
Anfangs hatte mich die aufgeladene, hektische Atmosphäre des Ladens sehr fasziniert. Alle wollten etwas erleben, rauslassen, wollten breit sein, verrückt sein. Man trank viel, quatschte, tanzte, hing auf den Sofas ab, die überall herumstanden, qualmte und kiffte.
Aber mir war schnell klar geworden, dass ich im Grünen Hund fehl am Platz war. Zum Tanzen hatte ich keine Lust, zum Reden fand ich es zu laut. Es blieb mir ein Rätsel, wie die anderen sich in diesem Krach verständigen konnten Ich klinkte mich immer schnell aus der Unterhaltung aus. Stand nur noch untätig herum, trank Bier, glotzte. Die Stunden verstrichen, der Alkohol tat seine Wirkung, erst angenehm, später lähmend. Es war, als würde mich dieser Ort gefangenhalten. Ich war seiner Düsternis, dem Stress, den menschlichen Ausdünstungen hilflos ausgeliefert. Nur der Abmarsch meiner Truppe, der häufig erst im Morgengrauen erfolgte, konnte den Bann brechen und mich aus meiner Paralyse befreien.
An diesem Freitagabend nach der überstandenen Mathe-Klausur war es besonders schlimm. In der zurückliegenden Nacht hatte ich schlecht geschlafen, war aus Angst vor der Prüfung immer wieder hochgeschreckt. Jetzt, da alles vorbei war und die Spannung von mir abfiel, fühlte ich mich wie gerädert. Ich hätte also besser zu Hause bleiben und den versäumten Schlaf nachholen sollen. Aber in letzter Zeit hatte ich mich schon zu oft ausgeklinkt, deshalb mochte ich nicht kneifen. Außerdem war an den Wochenenden oft Remmidemmi im Wohnheim und an Schlaf eh nicht zu denken. Ich fuhr also mit Rico, Christoph und René in den Grünen Hund.
Obwohl es regnete, hatten wir das Rad genommen, wahrscheinlich aus purer Gewohnheit. Bereits nach kurzer Strecke spürte ich, wie die Nässe durch meine Klamotten drang. Im Grünen Hund war es wie immer: voll und laut. Ich verlor die anderen schnell aus den Augen. Bereits nach zwei Bieren war mir stark schwindelig. Ich verzog mich in den schmalen Durchgang zwischen der Tanzfläche und der Scheunenrückwand, wo sich immer die Fertigen sammelten. Krampfhaft lehnte ich mich gegen die Wand, in der ernsthaften Befürchtung, jeden Moment umzukippen. Jedes Zucken des Stroboskop-Lichtes auf der brechend vollen Tanzfläche traf mich wie ein Blitz.
Zum Glück ging es mir bald wieder besser. Ich fasste den Entschluss, die anderen zu suchen. Am Tresen begegnete ich Katja, zusammen mit Ferdinand und Doreen, zwei ihrer Kommilitonen. Freudiges Hallo. Sie waren mit Ferdinands altem Trabbi hier, wegen des Regens. Bald tauchten auch Christoph, Rico und René wieder auf. Doreen schlug vor, bei ihr weiterzufeiern. Eigentlich wollte ich am liebsten in mein Bett, aber irgendwas versperrte mir den Mund. Stattdessen folgte ich den anderen zum Ausgang.
Draußen großes Durchatmen. Der Regen hat aufgehört, über dem Dach des Grünen Hundes leuchtet der Vollmond. Christoph und Rico sind augenscheinlich nicht mehr fahrtauglich, und Ferdinand bietet an, sie in seinem Trabbi mitzunehmen. Allerdings müsse eine der Frauen dann bei uns auf dem Gepäckträger mitfahren. Katja meldet sich freiwillig.
Mir schwant Unheil. Inständig hoffe ich, dass René sich ihrer erbarmt. Aber natürlich geschieht, was ich befürchtet habe: Sie will zu mir. Ein Ruck, und schon hat sie sich auf den Gepäckträger gesetzt. Na denn. Ich steige auf, will losfahren – und verliere auch schon das Gleichgewicht, kann nur im letzten Moment einen Sturz verhindern. Neuer Versuch – wieder vergeblich. Diese Lähmung ist plötzlich zurück, diese innere Kraftlosigkeit, wie beim Sport. Möglicherweise liegt es auch schlicht am Alkohol. Gerade will ich ein drittes Mal ansetzen, als ich spüre, wie Katja absteigt. „Lass mich mal“ sagt sie, schiebt mich kurzerhand vom Sattel und setzt sich.
„Worauf wartest du noch?“ Sie zeigt auf den Gepäckträger. Betreten lasse ich mich nieder, dann geht auch schon die Post ab. Schnell haben wir René eingeholt, der gemütlich dahinradelt, freihändig, sich eine Zigarette drehend. Seine verdutzte Miene, als Katja und ich mit vertauschten Rollen an ihm vorbeiziehen, das Grinsen, das sich anschließend auf seinem Gesicht breit macht – die Bilder brennen sich unauslöschlich in mein Gedächtnis ein. Dann überholen wir Ferdinands Trabbi, der vor einer roten Ampel wartet. Und natürlich überholt er uns bald wieder. Die Lichthupe blinkt, aus dem Wageninnern ertönt lautes Gejohle. Es ist ein regelrechter Albtraum.
Wir kommen in die Oststraße, wo Doreen in einem der prachtvoll renovierten Gründerzeitbauten wohnt. Der Trabbi parkt bereits vor der Haustür. Katja sagt nichts, sie scheint die Sache ganz locker zu sehen. Im Grunde hat sie ja recht; ich weiß selbst nicht, wieso ich mich in diesem Moment so blamiert fühle. Als würde ich es nicht bringen, als sei ich ein kompletter Versager.
Drinnen ist die Party bereits in vollem Gange. Die Wohnung ist riesig und mit den edelsten Designermöbeln eingerichtet. Doreen macht ihr BWL-Studium nur nebenbei, arbeitet in der Hauptsache als Event-Managerin im neu eröffneten Aqua-Wunderland und scheint damit richtig Kohle zu verdienen. Nichts an ihr verrät, dass sie aus dem Osten kommt. Mit ihren modischen Klamotten, dem stylishen Haarschnitt und der sonnengebräunten Haut ist sie für mich der West-Yuppie schlechthin.
Jetzt kramt sie einen Likör hervor, den sie aus ihrem Brasilien-Urlaub im letzten Jahr mitgebracht hat. Er heißt „103“ und ist dort drüben wohl ein ziemlicher Schlager. Alle müssen mindestens ein Glas trinken. Schon als mir das Zeug die Kehle hinabrinnt, merke ich, wie es einschlägt. In meinem Kopf startet jetzt endgültig die Berg- und Talbahn, bald dämmere ich nur noch vor mich hin. Katja scheint auch heute immer in meiner Nähe zu sein. Aber selbst wenn ich gewollt hätte: Zu einer Reaktion, einem Auf-Sie-Zugehen wäre ich definitiv nicht mehr in der Lage gewesen. Ich wäre sozusagen wieder vom Rad gekippt.
Dann nicke ich ein. Es kommt mir wie ein Sekundenschlaf vor, aber als ich die Augen wieder öffne, sitzen dort nur noch Doreen und Ferdinand. Rückt er ihr auf die Pelle? Eigentlich kann das nicht sein, denn er ist in einer festen Beziehung, spricht ständig von Heiraten und Kinderkriegen. Nein, ich muss mich täuschen.
Irgendwann raunzt Ferdinand mich an: „Sag mal, Sven, willst du nicht endlich mal gehen?“ Sein genervtes Gesicht spricht Bände. Ich bin schlagartig nüchtern, jedenfalls für einige Sekunden. Hastig murmle ich ein „Sorry!“ und sehe zu, dass ich wegkomme.
Draußen hat es mittlerweile wieder zu schütten angefangen. Ich steige aufs Rad und lasse mich von der Oststraße bergab rollen, direkt in die Innenstadt. Am Markt stoppe ich und spähe zum Kirchberg hinauf, versuche den Zeigerstand auf der großen Uhr der Schlosskirche zu entziffern. Normalerweise ist das von hier aus kein Problem, aber jetzt gelingt es mir nicht mehr. Mein Zustand ist mindestens grenzwertig. Dass es mir dennoch gelingt, einigermaßen sicher wieder aufs Rad zu kommen und sogar eine gerade Linie zu fahren, erfüllt mich regelrecht mit Stolz.
Plötzlich glaube ich hinter mir ein Polizeiauto hinter mir zu sehen. In meinem Zustand nehmen die mir glatt den Führerschein ab! Geistesgegenwärtig biege ich in die Quergasse, die für Autos zu schmal ist. Ich beglückwünsche mich innerlich noch zu meiner Raffinesse, als ich plötzlich gegen den Kantstein krache. Ein Satz, und ich liege auf dem regennassen Pflaster. Schmerzen spüre ich keine, vermutlich dank des Alkohols. Da sehe ich die Bescherung: Das Vorderrad ist regelrecht verknüllt.
Ich habe das Rad geschultert, trage es im strömenden Regen die dunkle Straße entlang. Zum Wohnheim ist es noch ein gutes Stück. Niemand ist zu sehen, aber immer wieder meine ich von irgendwoher Gelächter zu hören, schallendes Gelächter. „Streber“, scheinen die Stimmen zu rufen, „hau endlich ab“.
***
Die Klausurenphase wollte nicht enden. Zwar lagen die härtesten Fächer – Mathe und Informatik – inzwischen hinter mir, genauso die eher entspannten Prüfungen in Politik und Englisch, aber es würde noch die Klausur in Wirtschaftswissenschaften folgen, die gleichfalls nicht zu unterschätzen war.
Zunächst aber ging es ins nächste Wochenende, und das hieß: Die Feierei brandete wieder auf. Ständig schallte Musik über den Flur, es herrschte permanente Unruhe. Mir blieb nichts als die Zähne zusammenzubeißen, Ohropax in meine Gehörgänge zu stopfen und mich noch dichter über Bücher und Papiere zu kauern. In Wirtschaftswissenschaften mussten wir erstmals Fakten pauken, und Auswendiglernen war nie meine Stärke gewesen. Der Lärm machte die Sache nicht eben leichter.
Samstagabend war es besonders schlimm. In brachialer Lautstärke plärrte Hans-Albers-Musik aus dem gegenüberliegenden Zimmer auf den Gang. Schließlich hatte ich genug. Ich stürmte hinaus, wollte denen da drüben mal ordentlich gegen ihre Tür treten. Aber als ich rauskam, war da gar keine Tür. Vielmehr: Sie stand weit offen, und niemand war im Raum.
Nach einer Sekunde der Verblüffung hörte ich Lachen und Gläserklirren. Aus der Küche quoll blauer Zigarettendunst auf den Flur. Langsam begriff ich: Die hatten ihre Musik so aufgedreht, damit sie dort hinten, in gut 20 Metern Entfernung, gut zu hören war.
Jetzt platzte mir endgültig der Kragen. Wutschäumend stapfte ich den Gang hinab.
Als ich die Küche betrat, achtete zunächst niemand auf mich. Ungefähr zehn Leute saßen dort, unter ihnen der Typ aus dem Zimmer gegenüber und einige der schlimmsten Wohnheim-Chaoten. Letztere waren, soweit ich wusste, allesamt Wessis, die drüben keinen Studienplatz gefunden hatten. Es roch nach Bier, hartem Alk und Shit, unter der Decke hing dichter Qualm.
Auch Sabine war unter den Feiernden. Klar, sie mischte überall mit, unsere Clique war für sie nur eine von vielen, man sah sie bald hier, bald dort. Deshalb überraschte mich ihr Anblick nicht. Aber er dämpfte meinen Elan erheblich.
Zwischen uns hatte es immer ein heimliches Misstrauen gegeben. Anfangs hatte ich es nicht wahrhaben wollen, mir eingeredet, dass ich Gespenster sah. Aber inzwischen glaubte ich eindeutig zu spüren, dass sie etwas gegen mich hatte. Bestimmt sah sie in mir bloß einen Spießer und Streber, der lieber auf seiner Bude hockte und lernte, anstatt zu feiern.
Auf einmal brachte ich nur noch ein halbherzig entrüstetes „Könnt ihr wohl bitte die Musik leiser machen?“ hervor.
Die Gespräche verstummen, alle glotzen mich an.
„Ist doch wohl Wochenende, oder was?“, stöhnt Sabine genervt. Die Verachtung steht ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.
Plötzlich kehrt meine Wut zurück. „Na und?“, fauche ich sie an. Zugleich bin ich über mich selbst erschrocken.
Jetzt ist es passiert. Mit einem Schlag ist der feine Riss zwischen uns aufgebrochen und zu einem tiefen Graben geworden. Ich muss mich mäßigen, muss die Wogen irgendwie glätten, andernfalls ist alles vorbei.
Irgendwie schaffe ich es, einen Moment innezuhalten und durchatmen. Dann spreche ich in ruhigerem Tonfall weiter: „Macht das bitte leiser, das hält man ja nicht aus.“
Arne tritt vor mich. Er wirft die lange, blonde Metaller-Mähne hinter die Schultern zurück, knackt mit den Fingern, präsentiert die Tattoos auf seinen Unterarmen. „Nö.“
„Wie – nö?“, entgegne ich verdutzt.
„Du bist einer, wir sind viele. Damit ist die Sache doch wohl klar, oder sehe ich das falsch?“
Diese Feststellung lässt mir glatt die Kinnlade herunterklappen. Was soll ich jetzt machen? Mich mit denen prügeln? Auf einmal fühle ich mich vollkommen hilflos. Ich resigniere, schleiche betreten von dannen.
Wie paralysiert hocke ich in meiner Bude. Registriere nur noch beiläufig, dass nach einiger Zeit die Musik verstummt, eine Tür zugeknallt wird und die Runde geschlossen abzieht. Zurück bleibt eisige Stille. Immer wieder sehe ich Sabines wütendes Gesicht vor mir, sehe die blaugrauen Augen, Katjas Augen, die mich voller Verachtung anblitzen. Ich fühle mich vom Rest der Welt wie abgeschnitten.
In den folgenden Tagen nahm ich mir immer wieder vor, die Angelegenheit mit Sabine zu klären. Aber ich brachte es nie über mich. Und Sabine zeigte ihrerseits wenig Eifer, mit mir zu reden. In unserer Clique ließ sie sich nur noch selten blicken, man sah sie jetzt meistens mit den Chaoten aus der Wohnheimküche herumhängen. Allem Anschein nach wollte sie nicht mehr mit mir zusammentreffen.
Wir haben seit jenem fatalen Abend kein Wort mehr miteinander gesprochen.
***
Kirsten, eine Kommilitonin, bot mir eine Wohnung an. Sie hatte bereits den Zuschlag erhalten, wollte nun aber doch nicht dort einziehen.
Ich überlegte bereits seit längerem, mir eine andere Bleibe zu suchen. Kirstens Angebot erschien mir in dieser Situation wie ein Wink des Schicksals. Ich verabredete einen Termin mit dem Vermieter und war nach der Besichtigung recht angetan: eine gemütliche, helle Einliegerwohnung in einem Zweifamilienhaus, 35 qm groß, ein Raum plus Küche. Alles komplett renoviert und neu möbliert, und trotzdem vergleichsweise günstig zu haben. Der Vermieter, ein Wessi, war der Alteigentümer des betreffenden Hauses. Eigentlich hatte er das Ganze als Ferienwohnung vermieten wollen, aber bisher waren die Gäste ausgeblieben. Jetzt musste er sich neu orientieren.
Einen Haken hatte die Sache allerdings: Die Wohnung lag ein gutes Stück außerhalb, in Kreuzthal. Es gab nur eine enge, kurvenreiche Straße nach Mittenwerda, die zudem keinen Radweg hatte. Blöderweise hatte ich gerade meinen Wagen verkauft. In Mittenwerda, wo alles zu Fuß erreichbar war, stand er nur herum. In Kreuzthal hingegen würde ich ohne ihn ziemlich abgeschnitten sein. Vermutlich hatte Kirsten, die ebenfalls kein Auto besaß, genau deshalb nicht selbst zugegriffen.
Aber blieb mir eine andere Wahl? Im Wohnheim hielt mich nichts mehr. Das Improvisierte, Baufällige, das ich am Anfang noch so reizvoll gefunden hatte, stand in meinen Augen inzwischen für Verwahrlosung und Gleichgültigkeit. Die permanent verdreckten Küchen stanken buchstäblich zum Himmel; einige Leute wollten dort sogar Ratten gesichtet haben. Wenn man Lebensmittel in den Gemeinschaftskühlschränken aufbewahrte, konnte man sicher sein, dass sie am nächsten Tag verschwunden waren. Dazu der allabendliche Partylärm, der besonders an den Wochenenden die Grenze des Erträglichen deutlich überschritt. Ich sehnte mich nur noch nach Ruhe.
Die würde ich in Kreuzthal zur Genüge haben. Obwohl der Ort offiziell zu Mittenwerda gehörte, befand man sich dort eigentlich schon auf dem Land, mitten in der schönsten Natur. Einige Kilometer weiter nördlich lag die Talsperre Kriebfels, wo der Fluss zu einem langgezogenen See aufgestaut war. Ein waldreiches Landschaftsschutzgebiet begann dort, in dem sich sogar eine alte Burgruine fand.
Ein weiterer Pluspunkt war die im Vergleich zu meinem Wohnheimzimmer kaum höhere Miete. Für eine Bleibe in der Stadtmitte hätte ich deutlich mehr hinblättern müssen. Im Grunde war der Fall also klar. Trotzdem zögerte ich, denn ein solcher Schritt würde sich nur schwer rückgängig machen lassen. Er hatte etwas Endgültiges.
Schließlich verscheuchte ich alle Bedenken. Ich unterschrieb den Mietvertrag, lieh mir Ferdinands Trabbi und siedelte mit Sack und Pack nach Kreuzthal über.
Von nun an war ich also durch Fluss und Entfernung von der Stadt getrennt. Es kam wie bereits geahnt: Ich scheute die anstrengende, bei Dunkelheit sogar gefährliche Radfahrt nach Mittenwerda, unternahm sie nur noch, wenn sie unbedingt notwendig war. Sprich: Ich fuhr zu den Lehrveranstaltungen, alles andere schraubte ich auf ein Minimum herunter. Mehr und mehr Freizeitaktivitäten blieben nun auf der Strecke. In den Grünen Hund ging ich überhaupt nicht mehr, auch den Sport hing ich endgültig an den Nagel. Allenfalls zum Kino in der Filmbühne konnte ich mich hin und wieder noch aufraffen. Ansonsten blieb ich lieber in meiner gemütlichen Wohnung, meiner Exklave, und scherte mich nicht um die Welt dort draußen.
Das Gruppenleben lag mir einfach nicht. Dass ich anfangs versucht hatte, mit den Kommilitonen Schritt zu halten, erschien mir jetzt schlicht lächerlich. Dieses Experiment war doch immer zum Scheitern verurteilt gewesen, dachte ich jetzt.
Ganz anders die Lehrveranstaltungen. Die Seminare, Übungen und Vorlesungen waren meine Domäne, hier fühlte ich mich sicher und kompetent. Ich mochte die Profs, sie mochten mich. Besonders zwischen Professor Spengler und mir hatte sich eine regelrechte Vertrautheit eingespielt. Wir kamen häufig nach seiner Vorlesung noch zusammen und plauschten vertieft über das gerade Gehörte.
Natürlich war mir bewusst, dass mein Leben mittlerweile zu einseitig aufs Studium ausgerichtet war, dass ich jeglichen Anschluss ans soziale Geschehen zu verlieren drohte. Aber daran ließ sich nichts ändern. Warum sollte ich die Freizeit mit belanglosen Gemeinschaftsaktivitäten vergeuden, wenn da zugleich etwas war, das mir wirklich Wichtiges vermittelte, meinem Leben Tiefe und „Sinn“ gab?
Und so zog ich mich mehr und mehr zurück, tauchte in meine eigene Welt ab.
Anscheinend geht es doch nicht hinunter zur Elbe, wie ich gedacht habe. Der Weg führt auf gleichbleibender Höhe einen bewaldeten Hang entlang. Tief unter uns kann man von Zeit zu Zeit die Uferpromenade erkennen. Stimmengewirr tönt herauf, Kindergeschrei, Hundegebell, das Klingeln von Fahrrädern. Aber der Lärm bleibt seltsam fern und entrückt, als klinge er aus einer anderen Welt zu uns herüber, einer anderen Dimension.
Immer wieder lichtet sich der Wald, und man blickt weit über das Elbtal. Jenseits des mächtigen Stroms liegt das Alte Land, flach und sattgrün. Frachter ziehen durchs Bild, auf denen sich die Container turmhoch stapeln. Einmal pflügt ein Kreuzfahrtschiff heran, grellbunt bemalt und hektisch tutend. Die Decks sind schwarz von Passagieren, die den Zuschauern an Land eifrig zuwinken. Dann schließt sich der grüne Vorhang wieder, die Bilder verschwinden.
Nach einer Weile macht der Weg einen Bogen, führt vom Wasser ins Landesinnere. Stille senkt sich herab, es riecht nach Herbst, feuchtem Untergrund, vermoderndem Laub. Seit dem Ausflugslokal habe ich Sabine und ihren Hund noch nicht wieder zu Gesicht bekommen. Vielleicht sind sie längst abgebogen, auf einem Nebenpfad im dunklen Wald verschwunden. Aber merkwürdig: jedes Mal, wenn ich auf einem Baumstamm am Wegrand ein weißes Kreuz entdecke, spüre ich, dass die beiden noch vor mir sind.
***
Während des Sommersemesters überlegte ich ernsthaft, der Informatik den Rücken zu kehren und mich ganz dem Studium der Mathematik zu widmen. Diese Disziplin kam mir reiner vor, exakter und grundsätzlicher in ihrem Ansatz. Besonders die Logik hatte es mir angetan, die die Grundlage bildet für so viele andere Wissenschaften, ja für das wissenschaftlich-analytische Denken überhaupt. Der Professor, der die Vorlesung „Algorithmen und Datenstrukturen“ hielt, galt als Größe in diesem Fach, und das mit gerade mal 38 Lenzen. Obendrein spielte er hervorragend Klavier und Orgel. Die Fugen, Kantaten und Toccaten von Bach hatten es ihm besonders angetan. Man entdeckte seinen Namen häufiger auf Plakaten für irgendwelche regionalen Musikveranstaltungen. Einmal ging ich zu einem seiner Konzerte in die Mittenwerdaer Schlosskirche. Sein Orgelspiel war schlicht beeindruckend.
Das Erlebnis ließ mich nicht mehr los. Offensichtlich konnte man seinen Sinn für Mathematik und Logik auch kreativ ausleben. Dagegen war ich wie ein Lernsoldat, der das akademische Wissen gehorsam in sich aufnahm und brav wiederkäute. Meinem Streben fehlte das Spielerische, Eigenständige. Es wirkte aufgesetzt, wie ein Substitut.
Vor allem dieser letzte Gedanke löste Unbehagen in mir aus, und ich versuchte ihn nach Kräften zu verdrängen. Meistens gelang mir das. Aber nicht immer.
Besagter Prof erzählte in einer nachmittäglichen Übungsstunde, dass er sich auch mit der Kunst des Menuetts beschäftigte und sogar entsprechende Kurse an der Volkshochschule gab. Ein Menuett, legte er dar, war ähnlich wie die Musik von Bach stets nach logischen Regeln aufgebaut. Er begann die Grundfiguren des Tanzes anhand eines Schaubildes an der Tafel zu erklären, das mit zunehmendem Eifer immer konfuser und verworrener wurde. Ich war mir sicher, dass sich alle längst ausgeklinkt hatten und ihren eigenen Gedanken nachhingen, aber als ich mich im Saal umschaute, entdeckte ich nur aufmerksame Gesichter. Offensichtlich übte der Gedanke, die Logik nicht „nur“ in den Wissenschaften, sondern auch in den Künsten zu suchen und anzuwenden, großes Interesse bei meinen Kommilitonen aus.
Katja war unter ihnen. Auch sie lauschte fasziniert den Worten des Professors. Es hieß, sie spiele Geige, was ich mir nie recht vorstellen konnte. Wenn ich sie ansah, dominierte bei mir mittlerweile der Eindruck des Praktischen, Handwerklichen. Und doch war sie nun völlig versunken in des Meisters Ausführungen über Schritte, Knickse, Kratzfüße und Handküsse.
Draußen schien die Sonne. Die erste Schönwetterperiode dieses Sommers war angebrochen, aber ich hatte bislang nur wenig davon mitbekommen. Es standen wieder diverse Klausuren an, und die Vorbereitungen darauf absorbierten alle meine Reserven. Da blieb keine Zeit, müßig und faul in der Sonne zu liegen.
Ich konnte dem Prof längst nicht mehr folgen. Das war meine Schwäche: Wenn vom strikten Schema abgewichen wurde, zum Beispiel wegen eines spontanen Exkurses in ein Randgebiet, war ich schnell verwirrt und kam nicht mehr mit. Mir fehlte der Mut zur Lücke, die Gabe, mich sozusagen in ein Thema hineinfallen zu lassen. Oft fand ich den verlorenen Faden bis zum Ende der Veranstaltung nicht wieder. Ich konnte dann nur noch dumpf und ohne Verständnis mitschreiben und musste das Gehörte zu Hause mühselig nacharbeiten.
Was ich natürlich nur bei wichtigen Dingen tat, und dazu zählte der Menuetttanz definitiv nicht. Ich saß also gelangweilt herum und starrte ins Leere, fast wie früher in der Schule. Insgeheim packte mich Wut auf den Prof. Wollten wir uns nicht mit den Grundlagen der Aussagen- und Prädikatenlogik beschäftigen? Ich hätte gern meinen Lösungsweg für eine besonders schwere Aufgabe des letzten Übungsblattes vorgestellt, der mich viel Anstrengung und Mühe gekostet hatte.
„Was würden Sie davon halten“, schreckte mich der Prof aus meinen Gedanken, „wenn wir das Gehörte bei diesem schönen Wetter einfach mal zusammen ausprobierten?“
Wie bitte? Was für ein alberner Vorschlag! Sicher würden ihn alle so lächerlich finden wie ich. Aber ich täuschte mich gewaltig: Zustimmendes Raunen machte sich breit, das immer mehr zu offener Begeisterung wurde. Typisch Studenten! Sobald etwas sie vor Mühen und Anstrengung schützte, wurden sie schwach und gingen von der Fahne.
Dann schöpfte ich wieder Hoffnung: Wie sollten wir wohl ohne Musik tanzen?
Als hätte er meine unausgesprochene Frage gehört, erklärte der Prof: „Am Anfang kommt es vor allem auf die Grundformationen an. Das geht auch ohne Musik.“
Unruhe entstand, es wurde zusammengepackt, laut durcheinander geredet. Alles strebte der offenen Tür zu, hinter der heller Sonnenschein zu sehen war. Die Übungsräume befanden sich in provisorischen Pavillons gegenüber dem alten Direktoren-Palais. Heute steht an ihrer Stelle, soweit ich weiß, ein Neubau. Wie mild draußen die Luft war! In den muffigen Unterrichtsräumen konnte man glatt vergessen, dass der Sommer begonnen hatte. Auf einmal packte mich große Lust, in den nahen Schwanenpark zu verschwinden und am Ufer des Teichs den Tag zu genießen. Wenn sich schon so unverhofft die Gelegenheit bot...
Wir versammelten uns auf dem Platz zwischen den Pavillons. Der Professor forderte uns auf, zwei Reihen zu bilden. Es sollten sich möglichst immer ein „Kavalier“ und eine „Dame“ gegenüberstehen. Alle blickten suchend um sich, und irgendwie wusste ich sofort, was passieren würde: Katja fand mich in der Menge und schaute mich mit großen Augen an, fragend und zugleich auffordernd.
Ich empfand ihre Annäherungsversuche mittlerweile als gefährlicher denn je. Trotzdem schaffte es nicht, zwischen uns für Klarheit zu sorgen, dem Ganzen ein für allemal ein Ende zu setzen. Irgendein innerer Widerstand hinderte mich. So war es auch diesmal. Obwohl sich alles in mir sträubte, ging ich zu ihr.
Natürlich kam die Aufteilung nicht hin, es blieben einige rein männliche Paare über. Aber davon ließen sich weder unser Prof noch die betroffenen Kommilitonen beirren. Es ging los. Je zwei und zwei „Damen“ und „Kavaliere“ mussten aufeinander zu schreiten, sich in der Mitte treffen und als Quartett einen Kreis gehen. Das Ganze wurde einige Male wiederholt, bis es klappte.
In der nächsten Figur sollten die Leute, die an den ungeraden Plätzen in der Reihe standen, vortreten, sich nach rechts drehen und Hand in Hand zwischen dem benachbarten Paar hindurchschreiten. Schließlich sollten sie sich am Platz des übernächsten, ebenfalls weitergerückten Paares wieder einreihen. Dann machten die stehen gebliebenen Paare dieselbe Bewegung, bis am Ende alles wieder in der alten Formation da stand, allerdings ein gutes Stück verschoben.
Katja und ich gingen aufeinander zu. Gleich würde ich sie das erste Mal berühren müssen. Auf der nächtlichen Radfahrt vom Grünen Hund zu Doreen hatte ich mich mit Müh und Not an der Sattelstange festgeklammert, um jedweden Kontakt zu vermeiden. Aber jetzt konnte ich nichts mehr tun. Ich schluckte, streckte die Hand aus und nahm die ihre, die bereits auf mich wartete. Die Haut ihrer Handfläche war unerwartet weich, und etwas Warmes ging von ihr aus, das in mich einzudringen schien wie Elektrizität. Wir drehten uns nach vorn und nahmen, der Bewegung der Menge folgend, die Position des übernächsten Paares ein. Dann trennten sich unsere Handflächen wieder voneinander. Um sich kurz darauf erneut zu berühren.
Nun verkomplizierte sich das Ganze. Die Figur blieb dieselbe, aber die Damen mussten nun Knickse machen, die Herren Kratzfüße. Als auch noch die Geschwindigkeit erhöht wurde, spürte ich, wie ich durcheinander zu kommen drohte. Es schien, als würde mir langsam der Boden unter den Füßen weggleiten. Da war sie wieder, die gefährliche Lähmung meiner Kräfte.
Der Prof gab seine Kommandos, wir liefen aufeinander zu, drehten uns nach vorn, vollführten unsere Figuren und traten wieder zurück ins Glied. Hin und her ging es, Figuren bildeten sich und lösten sich wieder auf. Vermutlich sah es aus wie in einem Historienfilm, was wir hier trieben. Es war erstaunlich, mit welchem Eifer die Kommilitonen bei der Sache waren und wie schnell alle außer mir die Formationen zu begreifen schienen.
Mittlerweile hatte sich ringsum immer mehr Publikum versammelt, das uns neugierig beobachtete. Auch Sabine war unter den Schaulustigen. Sie verfolgte Katjas Bewegungen mit jenem melancholischen Blick, der dem ihrer Schwester so verblüffend ähnelte. Aber plötzlich schob sich bei mir ein anderes Bild dazwischen, die Erinnerung an jenen Freitagabend im Wohnheim. Das Lächeln schien von Sabines Gesicht zu verschwinden und ihre Miene Unwillen und Verachtung auszudrücken. „Was will dieser Spießer von meiner Schwester?“ schien sie zu denken.
Schon kam ich durcheinander, ging zur falschen Dame, während Katja vergeblich auf meine Rückkehr wartete. Ich irrte zwischen den Tanzenden umher, fing mich erst im letzten Moment, fand Katjas Hand wieder und ordnete mich in den Reigen ein. Gerade noch mal gutgegangen...
Jetzt wurde es noch komplizierter. Wieder bildeten wir Quartette. Die sich diagonal gegenüberstehenden Damen und Herren sollten aufeinander zu gehen, sich an beiden Händen fassen, zusammen eine Drehung um 180 Grad vollführen und wieder zurücktreten, sodass sie am Ende ihre Standpunkte gewechselt hatten. Dann tat das andere Paar des jeweiligen Quartetts dasselbe. Nach insgesamt vier Durchgängen würde alles wieder beim Alten sein. Der Prof hatte diese Figur vorhin an der Tafel in einem separaten Schaubild skizziert. Sie hatte mich an eine zweireihige Determinante erinnert.
Die Kommandos ertönten und wir setzten uns in Bewegung. Diesmal berührten Katja und ich uns nicht, wir beobachteten uns nur. Als sie an die Reihe kam, schien es mir, als würde sie mit ihrem neuen Partner, es war René, wesentlich besser harmonieren als mit mir. Das versetzte mir einen Stich in der Magengegend, und ich kam prompt wieder durcheinander. Stolperte über meine eigenen Füße, rempelte Leute an, zerstörte Figuren...
Genug! Eine Entschuldigung murmelnd riss ich mich los und drängelte mich aus dem Kreis der Tanzenden. Ich achtete nicht auf die Zuschauer und vor allem nicht auf Sabine und Katja. Mochten sie denken was sie wollten. Das war mir zu blöd! Ich wollte Logik lernen, nicht, wie man Menuett tanzt.
Ich stapfte zum Unterrichtsraum zurück, nahm mir vor, einfach dort zu warten, bis es mit der Übung weiterging. Die konnten ja nicht ewig tanzen.
Leer und verlassen lag der Raum da. Sonnenstrahlen fielen durch die Oberlichter, beschienen die verwaisten Tische, die durcheinander stehenden Stühle. Ich ließ die Tür angelehnt, sodass ich die Kommandos des Profs noch hören konnte.
Da draußen hatten offenbar alle ihren Spaß. Niemand kam zurück. Anscheinend hatte man sich inzwischen noch komplizierteren Figuren zugewandt.
Der Blick zur Uhr sagte mir, dass die Übungsstunde gleich vorbei sein würde. Ich hatte mich wohl verkalkuliert mit meiner Hoffnung, dass wir gleich wieder zu vernünftigen Dingen übergehen würden.
Mit wem Katja jetzt wohl tanzte? Noch immer mit René?
Was fehlte mir bloß, damit ich mich zwischen anderen Menschen heimisch fühlen konnte? Welche Kraft trieb mich immer wieder von ihnen weg, mochte ich mich auch noch so sehr anstrengen, dabeizubleiben, mitzuhalten?
***
Wieder macht der Wanderweg einen Bogen, diesmal in die andere Richtung. Bald taucht zwischen den Bäumen die Elbe wieder auf, auch der Ausflugslärm kehrt zurück.
Immer näher kommen wir ihm. Führt der Weg jetzt doch hinunter zum Strand? Vorhin konnte ich dem Gedanken, an die Elbe zu kommen, noch etwas abgewinnen. Aber durch das lange Wandern in Einsamkeit und Stille hat sich meine Stimmung geändert. Ich möchte lieber hier oben bleiben, Sabine folgen und meinen Gedanken nachhängen. Wer weiß, wohin das führt.
***
Die Semesterferien begannen. Ich blieb als einer der wenigen Studenten in Mittenwerda. Weder fuhr ich nach Hause, wie viele Kommilitonen, noch in Urlaub. Für Letzteres fehlte mir das nötige Kleingeld. Aber dieser Verzicht fiel mir noch am leichtesten.
Was das Verreisen anging, war ich seit langem Abstinenzler. Die Begeisterung meiner Altersgenossen fürs Weltenbummeln hatte ich eh nie nachvollziehen können, und auch die Zeit meiner eigenen Expeditionen lag weit zurück. Inzwischen erfüllte mich der Gedanke, allein durch irgendwelche Wälder zu streifen, nur noch mit Gruseln. Ich vermied jeden Ortswechsel; nur die gewohnte Umgebung gab mir Sicherheit, sie war wie ein Geländer, an dem ich mich durchs Leben hangelte.
Und so wurde es ein ereignisarmer, monotoner Sommer. Keine Lehrveranstaltungen, keine Herausforderungen, nichts, das mich zur Aktivität reizte. Wenn wenigstens das Wetter mies gewesen wäre; dann hätte ich mich ohne schlechtes Gewissen in meine Wohnung verkriechen können. Aber die Sonne brannte unaufhörlich, als gönnte sie mir mein inneres Exil nicht, als wollte sie mich hinaustreiben. Mehrmals brach ich zu einer Radtour ins Umland auf, aber jedes Mal ließen Hitze und mangelnde Motivation mich scheitern. Schließlich machte ich es mir zur Gewohnheit, nachmittags an den nahegelegenen Stausee zu fahren. Dort gab es eine Badeanstalt.
In der bei diesem Wetter natürlich Hochbetrieb herrschte. In Wassernähe lagen die Leute immer wie die Sardinen. Je weiter man sich aber vom Seeufer wegbewegte, desto mehr lichteten sich die Reihen. Ganz am Rand der Anlage schließlich, wo das Gelände bereits anstieg, war man in der Regel fast allein. Eine Reihe hoch gewachsener Pappeln spendete Schutz vor der Sonne; hier breitete ich am liebsten meine Decke aus. Ich legte Buch und Wasserflasche bereit und ließ mich nieder. Der Blick von meinem Platz war wunderschön, er ging weit über die sonnenglänzende Wasserfläche des Stausees und das jenseitige Ufer, das von dichtem Wald gesäumt war. Dahinter lagen einsame, still heranreifende Kornfelder, die sich in der Ferne verloren.
Ich verbrachte den Tag lesend und faulenzend. Manchmal ertappte ich mich, wie ich das bunte, sorglose Treiben beobachtete, das sich auf den Rasenflächen der Badeanstalt abspielte. Ein Gefühl unbestimmter Sehnsucht und Traurigkeit hatte sich eingestellt. Suchend und tastend ging mein Blick umher, und auch wenn ich es mir nicht eingestand: Es war vor allem eine Gestalt, die ich in der Menge zu entdecken hoffte, ein Gesicht mit einem bestimmten Paar blaugrauer Augen. Ich wurde nie fündig. So viele Menschen waren hier – nur der eine fehlte...
Nie begegnete ich in diesem Sommer Bekannten. Alle waren nach Hause gefahren. Oder verreist, in blaue Fernen, an die See.
***
Als die Lehrveranstaltungen wieder begannen, war es für mich wie eine Erlösung. Wahrscheinlich war ich der einzige Student Mittenwerdas, der es so empfand. Aber es tat auch gut, nach so langer Zeit endlich die Kommilitonen wiederzusehen. Ich nahm an diversen Begrüßungstreffen teil, im Wohnheim und in der Gartenstadt. Sogar in den Grünen Hund ging ich einmal mit.
An einem Samstagnachmittag Anfang Oktober waren wir alle bei Katja eingeladen. Sie hatte in den Ferien Geburtstag gehabt und gab nachträglich eine Gartenparty. Es war ein wunderschöner Herbsttag, ganz ähnlich dem heutigen. Keine Wolke stand am hohen, pastellfarbenen Himmel, die Luft war trocken und klar. Man konnte weit übers Land blicken; nur am äußersten Horizont zeigte sich feiner Dunst. Im Sonnenschein heizte es sich noch sommerlich auf, im Schatten dagegen spürte man bereits die herbstliche Kühle.
Die im Garten aufgebauten Tapeziertische bogen sich unter der Last der Speisen. Katja musste tagelang gekocht, gebacken und zubereitet haben. Entstandene Lücken im Buffet wurden sofort wieder aufgefüllt. Die Reserven schienen unerschöpflich. Man konnte kaum aufhören zu essen.
Sabine war nicht da. Sie nahm mit ihrer Antifagruppe an einer Demo irgendwo im tiefsten Brandenburg teil. Katja machte sich Sorgen, dass etwas passieren könnte – wohl zu Recht. Ich jedoch atmete insgeheim auf.
Trotzdem fühlte ich mich zwischen den Gästen seltsam fremd und bindungslos. Vielleicht lag es an meiner erst kürzlich überstandenen Erkältung. Ich hatte einige Tage flachgelegen und war wohl noch nicht wieder richtig gesund.
Alle erzählten von ihren Unternehmungen während der Ferien. Von Reisen, Abenteuern, Expeditionen ins Unbekannte. So jedenfalls klang es in meinen Ohren. Und immer wieder war die Kanu-Tour Gegenstand des Gesprächs.
Die Kanu-Tour... ich hatte gehofft, dass inzwischen niemand mehr darüber sprechen würde. Immerhin lag das Ereignis schon mehr als zwei Monate zurück. Aber die Eindrücke der Fahrt schienen noch immer nachzuwirken.
Die Tour war von einigen Leuten aus unserer Erstsemester-Clique geplant und organisiert worden. Per Kanu hatte es drei Tage auf dem Fluss in Richtung Norden bis zur Elbe gehen sollen, mit Proviant und Zelten.
Natürlich war auch ich gefragt worden, ob ich mitkäme. Anfangs war ich versucht gewesen, zuzusagen, aber nach ein paar Tagen überwogen die Bedenken. Bei meinen eigenen Expeditionen früherer Tage war ich immer allein gewesen. Wie sollte ich die Enge eines Dreimannzeltes aushalten? Und was wäre, wenn es die ganze Zeit regnete? Ich wusste nur zu gut, wie stark schlechtes Wetter auf die Stimmung drückt. Eine Gruppe würde das nicht überstehen, dessen war ich mir sicher.
Schließlich sagte ich ab. Schweren Herzens zwar, aber ich kannte meine Grenzen.
Außer mir hatten fast alle an der Fahrt teilgenommen und offenbar viel Spaß gehabt. Es schien wirklich alles gepasst zu haben: eine schöne Route, ruhige Campingplätze, gute Stimmung in der Truppe. Und nicht ein Regentropfen war gefallen. Kein Wunder, bei dem Supersommer, den wir gehabt hatten. „Jahrhundertsommer“ wurde er mittlerweile in den Medien genannt...
Wenn ich berichten sollte, wie ich die Zeit zugebracht hatte, antwortete ich stets ausweichend. Erzählte von „Nach-Hause-fahren“, „Ausflügen“ und ähnlichem. Plötzlich war es mir peinlich, wie passiv und ideenlos ich die Zeit hatte verstreichen lassen, immer auf den Semesterbeginn wartend.
Je länger die Party dauerte, desto deutlicher wurde es, dass ich nicht mehr dazugehörte. Ich war raus, war ein Fremder unter lauter guten Freunden.
Am späten Nachmittag verschwand die Sonne. Auch wenn es nicht wirklich kalt wurde, lief mir immer wieder ein seltsames Frösteln über den Rücken. Meine Erkältung war wohl zurückgekehrt. Ich beschloss zu gehen.
Mein Blick suchte Katja und fand sie zunächst nirgends. Schließlich entdeckte ich sie, kauernd neben der Terrassentür, wo sie sich einen letzten Streifen Sonne ins Gesicht scheinen ließ. Sie hatte die Augen geschlossen und sah erschöpft aus. Dennoch wirkte sie zufrieden.
Sie hörte mich kommen. Als sie die Augen öffnete, lag ein merkwürdiges Glänzen in ihnen. Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich der Erste war, der ihre Party verließ. „Ich will los“, zwang ich mich zu sagen. Meine Stimme war auf einmal merkwürdig belegt. „Bin noch nicht wieder fit“, fügte ich entschuldigend hinzu. Ich spürte eine Kloß im Hals, etwas schnitt mir wie mit Rasierklingen in die Magengrube...
Dann hatte ich mich wieder im Griff. „Danke für die Einladung“, sagte ich mit fester Stimme, „du hast dir wirklich viel Mühe gemacht.“
Wortlos schaute sie zu mir nach oben. Das schräg einfallende Sonnenlicht ließ ihre Pupillen aufleuchten wie zwei große Diamanten. Sie wanderten hin und her, als würden sie mich abtasten, etwas in mir suchen.
Schließlich wurde ihr Blick ganz ruhig. Aber ich glaubte jetzt so etwas wie Resignation darin zu erkennen, einen stillen Abschied...
Auf dem Weg nach Hause sah ich immer wieder diese Augen vor mir. Mit jedem Kilometer, den ich zurücklegte, vergrößerte sich meine Traurigkeit. Alles in mir wollte umdrehen, zum Gartenfest zurückkehren. Und doch konnte ich nicht. Es stand nicht in meiner Macht.
Ich fühlte mich wie damals, als ich aus der Jahn-Siedlung vertrieben worden war.
***
Von nun an wurden meine Kontakte zu Rico, Christoph, René und den anderen aus der Erstsemester-Clique immer spärlicher. Schließlich kam ich nur noch zu den Lehrveranstaltungen mit anderen Kommilitonen zusammen. Man hielt gemeinsam Referate, bildete Arbeitsgruppen, Projektteams, versuchte sich in Übungsgruppen an den gestellten Aufgaben – der übliche Studienbetrieb.
Sämtliche Energie, derer ich habhaft werden konnte, investierte ich jetzt ins Studium. Und tatsächlich gelang es mir, mein Anfangsniveau nicht nur zu halten, sondern im Gegenteil zu steigern. Die Konzentration aller Kräfte machte es möglich.
Immer schneller schienen die einzelnen Semester zu verstreichen. Die Anforderungen wuchsen exponentiell, gab keine Verschnaufpausen mehr, keine Erholung. Auch die Semesterferien waren jetzt stets mit Verpflichtungen angefüllt, nicht mehr so aufgabenlos, so langweilig wie zu Beginn des Studiums. Es galt Hausarbeiten anzufertigen, Projekte durchzuführen, Praktika zu absolvieren.
Letzteres bald auch außerhalb der FH, in verschiedenen Unternehmen in der Region. Ich fand es überaus spannend, die Berufswelt kennenzulernen und dort den Hochschulstoff praktisch anzuwenden. Die Arbeit im Team lag mir allerdings nicht so. Ich beschäftigte mich lieber allein mit einer interessanten Aufgabe und präsentierte den Kollegen anschließend die gefundene Lösung.
Lehrveranstaltungen kamen und gingen. Klausuren und Prüfungen bestand ich fast immer im ersten Anlauf, nichts konnte mich mehr so leicht aus der Bahn werfen. Endlich war ich mir meiner Fähigkeiten sicher. Das war nicht bloß ein Strohfeuer gewesen, wie anfangs befürchtet, sondern schien tatsächlich auf Substanz zu beruhen.
Im Fach Mathematik konnte mir inzwischen nur noch ein Kommilitone das Wasser reichen: Dietmar Pries, der ebenfalls Wirtschaftsinformatik studierte. Ein schräger Typ. Er sah aus wie der Sänger der Ramones und spielte tatsächlich in einer Punk-Band am Schlagzeug. Wo es laute Partys gab, da war Dietmar zu finden; ich glaube, er ist auch am Abend meines Zusammenstoßes mit Sabine dabei gewesen.
Gleichzeitig war er genial. In den Übungsgruppen gab es zwischen uns immer einen unausgesprochenen Wettstreit. Wer schaffte es, die wirklich komplexen Sätze herzuleiten, die abstrakten Beweise zu führen? Bislang war der Ausgang unentschieden. Manchmal erzielte er die besseren Ergebnisse, manchmal ich.
Ich betrachtete Dietmars Konkurrenz stets mit gemischten Gefühlen. Einerseits war er der einzige gleichwertige Gegner weit und breit, und als solcher ein echter Ansporn für mich. Ohne ihn hätte ich bestimmt nicht immer die nötige Disziplin für die Übungsblätter aufgebracht. So aber musste ich mir, wenn ich mit einer Aufgabe nicht weiterkam, nur das drohende Szenario ausmalen: Dietmar präsentierte seine Lösung, während ich mit leeren Händen dasaß. Diese Vorstellung setzte unglaubliche Kräfte frei.
Andererseits wurden mir durch ihn meine eigenen Grenzen aufgezeigt. Ich konnte Sätze herleiten, Lösungsalgorithmen entwickeln, aber sobald das Formale des Vorlesungsstoffs endete und das freie Spiel begann, musste ich passen. Professor Spengler zum Beispiel konfrontierte uns gerne mit Konstellationen aus dem Schach und anderen, einfacheren Strategiespielen, er ließ uns beweisen, welcher der beiden Spieler die Partie zwingend gewinnen oder verlieren musste. Hier war ich meistens überfordert, im Gegensatz zu Dietmar, der bei solchen Aufgaben erst richtig aufblühte.
Letztlich war es wohl gut, dass er da war. Ohne ihn wäre mir der Erfolg wahrscheinlich zu Kopf gestiegen. So blieb ich auf dem Teppich, auch wenn es hart war, von Zeit zu Zeit ausgestochen zu werden.
Mein gutes Verhältnis zu Professor Spengler blieb bestehen. Irgendwie waren wir aus demselben Holz geschnitzt. In der Vorlesung ahnte ich oft schon im Voraus, welche Richtung sein Vortrag nehmen, welche Frage er uns gleich stellen würde. Auch seine gesellschaftlichen Ansichten sprachen mir aus dem Herzen. So verachtete er Studenten, die ihre Ausbildung nur als Karrieresprungbrett ansahen und kein wirkliches Interesse an den Inhalten aufbrachten. Ebenfalls keinen guten Stand bei ihm hatte, wer die Mathematik nicht mit dem nötigen Ernst und Respekt betrachtete.
Wie zum Beispiel Dietmar. Neben aller fachlichen Brillanz ließ er die Welt stets seine Verachtung gegenüber Studienbetrieb, Dozenten und Kommilitonen spüren. Deshalb war er bei Professor Spengler nicht wohlgelitten.
Professor Spengler war es auch, der mir nach dem Vordiplom vorschlug, für das Hauptstudium an eine Universität zu wechseln. Wenigstens solle ich dort im Anschluss an die FH ein Aufbaustudium in Mathe oder Informatik absolvieren, fand er. Auch das Thema Promotion sprach er an. Ich dachte ernsthaft über diese Möglichkeit nach. Andererseits waren da die vielen Unternehmen, die mit Jobs lockten. Sie veranstalteten jedes Jahr eine kleine Karrieremesse auf dem Campus, präsentierten sich dort an Infoständen, standen für Gespräche bereit und boten Praktika an. Qualifizierter Nachwuchs war rar, und natürlich wollten alle die ersten sein, die bei uns die besten Leute abgriffen, sobald diese ihr Diplom in der Tasche hatten. Derart begehrt zu sein, während draußen alle Welt von Arbeitslosigkeit sprach, zumal hier im Osten, schmeichelte dem Ego gehörig, das konnte ich nicht leugnen.
Und doch kamen immer wieder Phasen des Bedenkens. Eine innere Stimme ermahnte mich, das Tempo zu drosseln und Dingen außerhalb des Studiums eine Chance zu geben. Deshalb unternahm ich von Zeit zu Zeit halbherzige Versuche, aus meiner Einsamkeit herauszukommen. Zum Beispiel besuchte ich die verschiedenen Uni-Partys: die Fete der Informatik-Fachschaft, die BWLer-Bambule, die Sommersause und, nicht zu vergessen, das Bergfest unseres Jahrgangs. Meistens verschwand ich nach zwei, drei Stunden gelangweilten Herumstehens wieder. Wirklich ändern taten solche Aktionen an meiner Lage nichts. Sie dienten nur der Gewissensberuhigung.
Ich spürte, dass ich nicht wirklich vorhatte, aus meinem Leistungsprinzip auszubrechen. Dies hätte bedeutet, meine hohen Ziele und Ideale aufzugeben, mich aufs fade Mittelmaß zu beschränken, wie so viele meiner Kommilitonen. Ihnen ging es um Leistungsnachweise, bestandene Prüfungen, einen Abschluss. Für mich hingegen sollte das Studium etwas Großes sein, etwas Besonderes. Ich wollte mich mit elementaren Dingen auseinandersetzen, wollte verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Und selbst wenn ich mich plötzlich eines anderen besinnt hätte: Das Schwungrad, einst unter großen Mühen in Gang gesetzt, ließ sich jetzt nicht mehr stoppen. Es drehte sich immer weiter, aufgrund seiner eigenen Massenträgheit, und riss mich mit. Ich war ihm ausgeliefert.
***
Anfangs hatten Wirtschaftsinformatiker und BWLer noch viele gemeinsame Lehrveranstaltungen gehabt, aber spätestens seit dem Hauptstudium waren beide Gruppen in verschiedenen Sphären zu Hause. Katja sah ich fast gar nicht mehr. Nur beiläufig bekam ich mit, dass sie inzwischen mit René zusammen war.
René – ausgerechnet er!
Ich hatte seine zurückhaltende, wenig auf Äußerlichkeiten bedachte Art immer gemocht. Irgendwie waren wir uns ähnlich gewesen. Und irgendwie auch nicht. Im Gegensatz zu mir kam bei ihm erst das Leben und dann das Studium.
Plötzlich fielen mir tausend Situationen ein, an denen er, neben Katja, beteiligt gewesen war.
Der fatale Abend im Grünen Hund, als es mir so schlecht ging... damals hatte Katja noch bei mir auf dem Gepäckträger mitfahren wollen und nicht bei ihm.
Das Menuett, das wir Ende des zweiten Semesters getanzt hatten... René war an meine Stelle getreten, als ich dort so schmählich das Weite gesucht hatte.
Katjas Geburtstagsparty, von der ich so früh abgehauen war... René war an jenem Abend sicher lange geblieben.
Er hatte es also geschafft, bei ihr zu landen. Der nette, bescheidene Kerl von nebenan. Wann mochte es zwischen den beiden gefunkt haben? Schon damals oder erst später, als ich nicht mehr dabei gewesen war?
Die ganze Zeit war Katja solo gewesen, und sogar ich hatte mitbekommen, dass zuletzt Gerüchte um ihr Beziehungsleben entstanden waren. Die einen meinten, sie treibe es ziemlich wild und serviere ihre Typen anschließend schnell wieder ab, die andere Gruppe behauptete, sie sei prüde und wolle mit niemandem.
Ein Diskurs, der nun durch René beendet worden war.
Ab diesem Zeitpunkt interessierte ich mich plötzlich wieder für Katja. Ich hielt auf dem Campus nach ihr Ausschau, quatschte sie an, wo immer sie mir über den Weg lief, und verwickelte sie in lange Gespräche. Ich wollte in ihrer Nähe sein, mit ihr reden, war neugierig zu hören, womit sie sich beschäftigte, was sie interessierte. Und Katja ließ sich jedes Mal auf diese Unterhaltungen ein, verwundert, aber freundlich.
Natürlich war manchmal auch René bei diesen Zusammenkünften anwesend. Ich blendete ihn dann immer aus, übersah seine Gegenwart. Und René spielte jedes Mal mit. Vielleicht war er auch bloß zu nett, zu sehr Gentleman, um zu zeigen, dass ihn mein plötzliches Bedürfnis nach Geselligkeit eigentlich nervte.
***
Das siebte Semester war dem obligatorischen Unternehmenspraktikum vorbehalten. Ein Dozent der Hochschule begleitete es, zudem sollte es möglichst als Ausgangspunkt für die Diplomarbeit dienen. Ich hatte mich bei einer Frankfurter Consulting-Gesellschaft beworben und unerwartet schnell eine Zusage erhalten. Die Firma stellt mir sogar ein möbliertes Zimmer und zahlte – unglaublich aber wahr – ein kleines Salär.
Ich begleitete einige Berater bei ihrem Projekt, das in einem der großen Frankfurter Bankhäuser stattfand. Ein Standard-Softwaresystem sollte eingeführt werden, unser Team war mit der Planung und Durchführung betraut.
Zum ersten Mal erlebte ich die Welt des Big Business: Finanzplatz Frankfurt am Main, Stammsitz großer, weltweit agierender Banken. Und das alles in Zeiten des beginnenden Internetbooms. Es war aufregend.
In meinem Praxissemester kam ich erstmals mit dem Thema „Customer Relationship Management“ in Berührung, kurz CRM, einer Methode zur Gestaltung und Optimierung der Kundenbeziehungen eines Unternehmens. Mein Betreuer im Projektteam riet mir vehement, CRM in Verbindung mit IT zum Inhalt meiner Diplomarbeit zu machen. Damit könne man seinen „Marktwert“ deutlich erhöhen, meinte er.
Meine Begeisterung hielt sich anfangs in Grenzen. Beziehungen – etwas derart Unkonkretes, Flüchtiges, Schwammiges ließ sich doch nicht in einem IT-System abbilden. Das war Humbug, Esoterik. Ich hätte mich lieber mit einer handfesten Materie beschäftigt, mit Zahlen und Daten, vielleicht aus dem Controlling.
Widerwillig arbeitete ich mich in das Thema ein, und siehe da: Es zog mich mehr und mehr in seinen Bann. Auch hier ging es um Daten und deren Aufbereitung, allerdings mit einer deutlich anderen Ausrichtung. Kommunikationsprozesse wurden analysiert, um Kunden zielgerichteter ansprechen zu können. Offenbar funktionierte das. Kommunikation zwischen Menschen ließ sich durchdringen und steuern. Schließlich entschied ich mich für eine Diplomarbeit mit dem Titel „Zur Abbildung und Steuerung von Kundenbeziehungen in Softwaresystemen für den Finanzdienstleistungssektor“.
Ich verlor keine Zeit, legte unmittelbar nach Ende des Praktikums los. Meine Begeisterung wuchs noch an. Ich war geradezu elektrisiert, fühlte Hoffnungen und Erwartungen in mir aufsteigen, die weit über den Horizont der Diplomarbeit hinausgingen. Ließ sich das erworbene Wissen möglicherweise auch im privaten Umfeld anwenden? Konnte ich nicht meine eigenen Beziehungen mit Methoden des CRM neu aufbauen und optimieren? Die alte Unsicherheit mithilfe von Algorithmen und Logik in den Griff bekommen?
Natürlich wusste ich, dass es Sciencefiction war, was ich mir da ausmalte. Trotzdem – der Gedanke war aufregend, regelrecht befreiend. Er sollte mich fortan nicht mehr loslassen...
Zum Sommersemester standen die Abschlussprüfungen ins Haus. Überall machte sich Hektik breit, einige Leute wurden geradezu hysterisch. Auch mich ergriff wieder massive Prüfungspanik. Vier Jahre harter Arbeit standen zur Disposition – eine Situation, die man besser verdrängte, wollte man nicht völlig durchdrehen. Ich war in dieser Zeit häufig erkältet und musste mich zu einigen Prüfungen mit Medikamenten aufpäppeln. „Zum Glück gibt es an Hochschulen keine Dopingkontrollen“, sagte ich einmal im Scherz zu Rico, dem Sportler. Aber eigentlich war es mir bitterernst.
Denn alles „Doping“ mit Erkältungsmitteln konnte nicht verhindern, dass es schlecht lief. Ausgerechnet jetzt, wo es darauf ankam, brach meine Leistung ein, machte mir die Gesundheit einen Strich durch die Rechnung. Besonders im für mich so wichtigen Bereich der Mathematik blieb ich deutlich unter meinen Möglichkeiten.
Dann war alles vorbei. Ich wollte nicht weiter darüber nachdenken, ändern konnte ich sowieso nichts mehr. Ich hatte meine Chance gehabt und sie nicht genutzt, Punkt und Schluss. Es blieb mir nur noch, auf die Ergebnisse zu warten. Derweil wollte ich die letzten Absätze meiner Diplomarbeit schreiben und vielleicht noch einige Lehrveranstaltungen belegen, für die bislang nie Zeit gewesen war. Jetzt, da Stress und Panik hinter mir lagen, ließ ich es locker angehen...
Katja und René waren direkt im Anschluss an die letzten Klausuren für vier Wochen nach Australien geflogen. Sie wollten den Kontinent erkunden und in Backpacker-Hotels übernachten. Nach ihrer Rückkehr berichteten sie von Wüsten und tropischen Wäldern, vom Baden an menschenleeren Stränden und vom Tauchen in Korallenriffen. Katjas Schilderungen beeindruckten mich sehr, gleichzeitig spürte ich mehr denn je den Abstand zwischen uns.
Oft blieb ich nun auf dem Campus einfach stehen und sah ihr hinterher. War sie immer so schön gewesen? Hatte sie früher nicht eher blass und etwas kränklich ausgesehen? Sie schien regelrecht aufgeblüht zu sein, strahlte Leben und Frische aus. Lag es möglicherweise an der Bräune, die sie aus Down Under mitgebracht hatte?
Der beginnende Sommer verstärkte den Eindruck noch. Der Bronzeton ihrer Haut blieb und wurde noch intensiver. Sie und René schienen sich oft im Freien aufzuhalten, jeden Sonnenstrahl mitzunehmen. An einem der ersten heißen Tage trug sie ein ärmelloses T-Shirt, und als sie für einen Augenblick im Gegenlicht stand und sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht wischte, konnte ich kurz in ihren Seitenausschnitt schauen. Ihr Brustansatz war eine Augenweide: voll, rund und makellos glatt. Kein Fotograf hätte es perfekter einfangen, kein Bildhauer vollkommener modellieren können.
Immer mehr Details entdeckte ich nun an ihr: die Sommersprossen auf ihrer Stupsnase, die ebenfalls ein Andenken an den Australien-Trip sein mussten, denn sie waren mir bislang nie aufgefallen. Die Grübchen rechts und links der Mundwinkel, wenn sie lächelte. Und immer wieder diese unfassbare Glätte ihrer Haut.
Jetzt ist in nicht allzu großer Entfernung die Stelle zu erkennen, an der mein Wanderweg auf die Strandpromenade trifft. Die ganze Zeit habe ich gehofft, dass es wieder nach oben gehen würde. Aber dem ist nicht so. Gleich muss ich mich ins Getümmel stürzen.
Sabine ist schon mittendrin. Ihr Hund läuft schwanzwedelnd zwischen den Menschen umher, beschnüffelt sie aufgeregt, bellt sie an. Sabine muss laut in die Hände klatschen und ihn ermahnen. Als es nichts nützt, nimmt sie ihn an die Leine.
Jetzt überqueren wir einen stark frequentierten Parkplatz. Autotüren werden zugeschlagen, Motoren angelassen, Reifen knirschen im Kies. Wagen kommen nicht aneinander vorbei, komplizierte Ausweichmanöver werden durchgeführt, es riecht nach Benzin. Plötzlich ist alles stressig, die Lust an meinem Ausflug droht mir gründlich zu vergehen.
In Richtung Elbe liegen zahlreiche Bäume umgestürzt im Sand. Das Hochwasser muss sie ausgegraben haben. Trotzdem wachsen noch belaubte Äste an ihnen. Wieder warte ich einen Moment, dann folge ich Sabine auf ihrem Parcours durch den niedergestreckten Wald. Dahinter beginnt eine flache Dünenlandschaft. Kühler Wind streicht über vertrocknete Grashalme und lässt sie rascheln. Es ist fast wie an der offenen See.
Schließlich erreichen wir die weite Fläche des Elbstrands. Das Sonnenlicht blendet, ich muss die Augen mit der Hand schützen, als ich die Gegend überblicke. Am Übergang von den Dünen zum Strand hat sich eine Stufe gebildet, wahrscheinlich durch die auf- und ablaufende Flut. Ich setze mich und schaue Sabine nach, die zum Ufer weitergegangen ist.
Gerade nimmt sie ihrem Hund die Leine ab. Er stürmt los, springt in die Fluten, schwimmt hinaus. Aber rasch kehrt er wieder um, erreicht den Strand, schüttelt sein schwarzes, triefendes Fell. Ein Regen aus Elbwasser trifft einige Spaziergänger, die zur Seite springen. Sabine sagt etwas zu ihnen, sie winken lachend ab.
Nun kommt sie zurück, läuft geradewegs auf mich zu. Ich kriege Panik. Ist es jetzt vorbei mit meiner Anonymität? Wird sie mich entdecken?
Nein, sie macht einen Schlenker an mir vorbei. Ich sehe sie an den Dünen entlanggehen und sich ebenfalls auf die Stufe im Sand setzen, zu meiner Linken, nicht weit von mir entfernt. Sie schließt die Augen, lässt sich die Oktobersonne ins Gesicht scheinen.
Woran mag sie jetzt denken? Auch an Mittenwerda? An das Reihenhaus in der Gartenstadt, das sie gemeinsam mit ihrer Schwester bewohnt hat?
***
Man sprach es nur ungern aus, dennoch war es eine Tatsache: Die Zeit des Studiums ging zu Ende.
Meine Diplomarbeit hatte ich längst fertig, aber ich wollte sie erst zum Abgabetermin einreichen. Dies sollte letzte Handlung meiner Studienzeit werden, sozusagen ihr Ende symbolisieren. Bis dahin würde ich versuchen, mich nur auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, alles andere auszublenden.
Tagsüber gelang mir das leidlich. Nachts allerdings ließen sich die bösen Geister nicht länger vertreiben. Ich wälzte mich im Bett hin und her, starrte mit müden Augen in die Dunkelheit und fand einfach keinen Schlaf.
Nun würde eintreten, was bislang immer abstrakt, unendlich weit weg gewesen war: Das Studium, das meinem Leben Substanz und Struktur gegeben hatte, hörte einfach auf. Der Schutzraum der Hochschule verschwand und nichts trat an seine Stelle. Ich stand allein im Weltraum.
Sahen die anderen es ähnlich? In den letzten Wochen rückten alle wieder näher zusammen. Es gab zahlreiche Treffen, Grillpartys und Kneipenabende. Ein Gefühl der Gemeinschaft schien zu entstehen, wie ich es seit dem ersten Semester nicht mehr wahrgenommen hatte.
Ich fuhr jetzt wieder oft ins Wohnheim, traf mich dort mit Christoph und Rico. Obwohl ich so lange keinen Kontakt mehr zu ihnen gehabt hatte, stellten sie keine Fragen, freuten sich einfach über meine Rückkehr. Wir saßen bis in die Nacht zusammen, tranken Bier und palaverten, über das Leben, die Gesellschaft, das Schlechte im Menschen. Es waren sehr melancholische, traurig-schöne Abende.
Wann immer das Wetter es zuließ, verlegten wir unsere Treffen in den Schwanenpark. Die Bäume waren mittlerweile dicht belaubt, die Vegetation stand in voller Blüte, intensive Düfte erfüllten die Luft. Wir saßen auf dem Rasen und picknickten. Überall hatten andere Cliquen ihre Lager aufgeschlagen, Decken und Proviant ausgebreitet, den Grill angefacht. Leute kamen vorbei und tranken mit uns. Der Park war voller Reden, Lachen und Musik.
Manchmal sprachen wir über die Zeit nach dem Studium, erörterten unsere Pläne für die Zukunft. Rico hatte bereits einen Arbeitsvertrag bei Bayer in Leverkusen abgeschlossen. Sie wollten ihn, den Superfußballer, in einem ihrer Vereine fördern. Jetzt konnte es endlich losgehen mit der ersehnen Profikarriere.
Christoph dagegen, der Sozialpädagogik mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendarbeit studiert hatte, blickte ähnlich negativ in die Zukunft wie ich, wenn auch aus völlig anderen Beweggründen. Anfangs hatte er nie viel von sich erzählt, aber mittlerweile wussten wir, dass er einiges durchgemacht hatte: Nachwuchs, Heirat, Trennung. Mittlerweile war die Scheidung durch und er sah sein Kind, einen inzwischen sechsjährigen Jungen, nur noch einmal wöchentlich. Während des Studiums war er mit dem Bafög-Höchstsatz gefördert worden und hatte im Wohnheim ein günstiges Zimmer gehabt. All das würde bald vorbei sein, und er hatte noch keinerlei Aussicht auf eine Beschäftigung. Immer wieder regte Rico sich darüber auf, dass Christoph eine derart brotlose Kunst gewählt hatte. Und wie stets antwortete der nichts darauf, zuckte nur mit den Schultern und blickte traurig ins Leere.
Ich selbst hatte die Wahl zwischen mehreren Jobangeboten. Am interessantesten erschien mir die Offerte des Frankfurter Consulting-Hauses, in dem ich auch mein Praxissemester absolviert hatte. Zudem war da noch immer die Option, an einer Uni weiterzustudieren und zu promovieren.
Eigentlich war mir klar, dass ich das Frankfurter Angebot unmöglich ausschlagen konnte. Die Firma wollte mich unbedingt haben, die Arbeitsverträge lagen bereits auf meinem Schreibtisch. Trotzdem zögerte ich, sie zu unterschreiben. Wenn schon nicht alles bleiben konnte wie es war, wollte ich mir wenigstens die Zukunft möglichst lange offenhalten. Wahrscheinlich würde ich mit der Vertragsunterzeichnung bis zur Abgabe meiner Diplomarbeit warten.
Bald wurde es dunkel. Vom Teich her breitete sich unangenehme Kühle aus. Die Reihen begannen sich zu lichten, nach und nach verstummte der Partylärm. Schließlich kehrte Stille ein. Nur wir drei harrten noch aus. Unablässig zirpten die Grillen, manchmal hörte man aus Richtung des Teichs leises Plätschern, wenn ein Fisch seinen Besuch an der Wasseroberfläche beendet hatte und untertauchte. Am Himmel funkelten und flimmerten die Sterne, und wenn man lange genug nach oben schaute, erkannte man das diffuse Leuchten der Milchstraße. Einmal sah ich aus den Augenwinkeln für Sekundenbruchteile die Leuchtspur einer Sternschnuppe.
Von irgendwoher konnte man Stimmen hören. Waren wir doch nicht die letzten hier draußen? Ein Lachen erschallte, laut und befreit, glücklich. Wie Energie breitete es sich in der Dunkelheit des Parks aus. Ich spähte um mich, versuchte etwas zu erkennen – vergeblich.
Christoph und Rico haben offenbar nichts gehört. Ungerührt fahren sie in ihrem Gespräch fort, werden nicht müde, über Berufschancen und Zukunftsperspektiven zu quatschen. Ich achte nicht mehr auf ihre Worte. Noch immer klingt mir das Lachen in den Ohren.
Plötzlich sehe ich Katjas Gesicht vor mir, deutlich und klar wie nie. Ich erkenne die Sommersprossen auf der Stupsnase, die Grübchen um die Mundwinkel. Vor allem sehe ich die großen, blaugrauen Augen. Sie leuchten, als würden sie direkt ins helle Sonnenlicht blicken.
Dann verschwimmt alles hinter einem Film aus Tränen. Schnell drehe ich mich weg, damit die beiden anderen mich nicht sehen. Ich kneife die Augen zusammen, halte die Luft an...
Das Lachen ist verklungen. Nur das Zirpen der Grillen ist zu hören und das leise Plätschern des Teiches. Außer uns dreien scheint schon lange niemand mehr hier zu sein.
***
Noch immer sitzt Sabine am Rand der Dünen in der Sonne. Es ist den ganzen Nachmittag über schön geblieben. Dabei hatte es heute morgen noch geheißen, eine Schlechtwetterfront nähere sich und bringe Regen, Sturm und Kälte. Davon ist bislang nichts zu sehen. Mit etwas Glück werden wir diesen letzten sommerlichen Tag des Jahres bis zum Ende auskosten können.
Langsam nähert sich die Sonne der Elbe. Auf der Wasseroberfläche entsteht ein goldenes Schimmern...
***
Der letzte Tag des Studiums. Vormittags bekamen die frischgebackenen Wirtschaftsinformatiker in einer feierlichen Zeremonie ihre Diplomzeugnisse überreicht. Der Dekan hielt eine salbungsvolle Rede, in der er den „vielversprechenden Zuwachs“ pries, der „unserer Wirtschaft“ beschert werde. Dann wurde der Ehrenpreis für das beste Diplom des Jahrgangs verliehen.
Eine Zeit lang hatte es so ausgesehen, als würde ich diese Trophäe einheimsen. Dann hatte ich bei den Prüfungen schlappgemacht. Zwar war mein Abschluss sehr gut, aber für die Krone als Jahrgangsbester hatte es nicht gereicht.
Die holte sich Dietmar Pries. Na klar. Er war bestimmt locker und mit der für ihn typischen Weltverachtung durch die Prüfungen gegangen. Ihn hatte garantiert keine Erkältung umgeworfen.
Aber insgeheim musste ich zugeben, dass er unseren unerklärten Wettbewerb zu Recht gewonnen hatte. Er konnte vor allem dann glänzen, wenn die Problemstellung hinter einem inhaltlichen Zusammenhang verborgen lag und der logische, formale Kern erst in mühsamer Kleinarbeit freigelegt werden musste. In dieser Situation Wichtiges von Unwichtigem zu trennen war die eigentliche Kunst und hatte mich oft überfordert. Im Gegensatz zu Dietmar, der halt ein „echter“ Logiker und Mathematiker war. Deshalb gebührte ihm auch der Thron.
Trotzdem: Ihn nun da vorn zu sehen, respektvoll beäugt von der restlichen Studierendenschaft, enthusiastisch beglückwünscht vom Dekan, war bitter. Dietmar selbst schien sich nicht entscheiden zu können, ob er die Situation eher peinlich oder langweilig finden sollte. Er wirkte, als habe er Besseres zu tun als diesen Rummel über sich ergehen zu lassen.
Abends wurde ein großer Abschiedsball gefeiert. Im Gegensatz zu den sonstigen Studentenpartys sollte es diesmal eine geschlossene Gesellschaft werden. Nur die Absolventen der Fachbereiche E-Technik, Informatik, Wirtschaft und Sozialpädagogik sowie ihre Begleitungen waren eingeladen. Für alle anderen war die Tür verschlossen.
Der Ball fand auf dem Kirchberg statt, in der Aula der Pestalozzi-Schule. Das Gründerzeitgebäude war kürzlich renoviert worden und erstrahlte in neuem Glanz. Der weite Saal der Aula mit seinen hohen Sprossenfenstern, dem glänzenden Parkett und der stuckverzierten Decke, von der zwei prachtvolle goldene Kronleuchter herabhingen, gab dem feierlichen Anlass einen gebührenden Rahmen.
Viele hatten sich herausgeputzt. Die Männer trugen oft Anzug oder Smoking, die Frauen Tanz- oder Abendkleider. Trotzdem dröhnte meistens laute Rockmusik aus den Boxen, was nicht so recht zum Ambiente passen wollte. Zu späterer Stunde erklangen Walzermelodien, und auf dem Parkett begannen sich die Paare zu drehen. Abendkleider wallten, Smokings glänzten im Licht der Kronleuchter.
Ich fand es irgendwie peinlich. Gleichzeitig beeindruckte mich die Konsequenz der Tanzenden. Immerhin war dies ein „Ball“, da durfte klassischer Tanz nicht fehlen, mochte das auch noch so altbacken sein.
In einer Ecke des Saals standen René und ein paar andere zusammen und beobachteten ebenfalls misstrauisch das Geschehen. Sabine war unter ihnen, obwohl sie ihren Abschluss bereits seit einem Jahr in der Tasche hatte. Noch immer wohnten sie und Katja in dem alten Reihenhaus in der Gartenstadt, und es hätte mich nicht gewundert, wenn die beiden für immer dort geblieben wären. Aber mittlerweile stand fest, dass Katja gemeinsam mit René nach Rostock ziehen würde.
Ich selbst hatte endlich den Vertrag mit dem Frankfurter Consulting-Haus unterschrieben. Anfang nächsten Monats würde es losgehen. Meine Wohnung war bereits gekündigt, allerdings hatte ich noch nicht angefangen zu packen. Auch in dieser Sache würde ich mich wohl bis zur letzten Minute an das Alte klammern.
Jetzt war es vorbei mit der Walzermusik. Rock schallte wieder durch den Saal, die Gruppe um Sabine und René stürmte die Tanzfläche. Sie trugen alle ihre Alltagsklamotten, als sei dies ein normaler Abend, im Grünen Hund oder sonst wo. Nur Katja hatte für heute etwas einfallen lassen. Ihre halblangen Haare waren zu einem zerzausten Turm toupiert. Dazu trug sie ein langes, ärmelloses Abendkleid aus goldschimmernder Seide, in dem ihre kleine Gestalt formvollendet erschien.
Vorhin war ein Raunen durch die Menge gegangen, als sie den Saal betrat. Gespräche waren verstummt, zahlreiche Köpfe hatten sich zu ihr gedreht. Die Leute waren zur Seite getreten, hatten eine Gasse gebildet und verblüfft die elegante, exzentrische Schöne durchgelassen. Nur der rote Teppich hatte gefehlt.
Es schien, als wollte Katja das Bild zerstören, das alle Welt bislang von ihr hatte. Zurückhaltend, unscheinbar, ängstlich – damit sollte endgültig Schluss sein.
Wie um diesen Eindruck zu bestätigen folgte sie nun den anderen auf die Tanzfläche. Dabei hatte sie bisher noch nie getanzt. Anfangs bewegte sie sich tatsächlich etwas unbeholfen und steif. Nach einiger Zeit jedoch begann sie aufzutauen, ihre Bewegungen wurden natürlicher, ausdrucksvoller. Das goldene Kleid, das den Schein der Kronleuchter einfing, ließ ihre Gestalt regelrecht erstrahlen und die anderen Tänzer schattenhaft zurücktreten. Ich war mir sicher, dass in diesem Moment alles nur auf sie schaute. Sie war der Star auf dem Parkett.
Nun streckte sie den Arm aus, machte eine gespielt dramatische Bewegung, wie ein Filmstar, eine Diva. René ergreift ihre Hand, streicht sanft über ihren Arm, fasst sie um die Hüfte. Die beiden vollführen einige würdevolle, gemessene Schritte, als wollten sie ein Menuett tanzen. Sie sehen glücklich aus, sorglos, blicken voller Hoffnung in eine lichte Zukunft.
Ich tue nichts anderes mehr als Katja zu beobachten, Stunde um Stunde. Es ist, als wollte ich mich mit ihrem Anblick regelrecht vollsaugen, mir einen Vorrat anlegen, der für lange Zeit reichen muss. „Zu spät“, höre ich immer wieder eine innere Stimme flüstern. „Alles vorbei.“
Manchmal begrüße ich Leute, wechsle pflichtschuldig einige Worte mit ihnen. Ich spreche kurz mit Christoph und Rico, höre mir Doreens Pläne in Sachen Karriere an, wünsche Ferdinand und Anja, die sich vor einigen Tagen verlobt haben, alles Gute für die Zukunft.
Aber die meiste Zeit stehe ich allein in meiner Ecke und betrachte die Person im goldenen Kleid auf dem Parkett. Ich genieße den Schmerz, der sich wie eine giftige Substanz in mir ausbreitet und in der Magengrube festsetzt.
„Zu spät,“ ätzt die Stimme in mir. Und wieder ist da das brennende Gefühl, die eigene Zeit nicht genutzt zu haben, trotz aller Erfolge im Studium, des erstklassigen Diploms, der hervorragenden Berufsaussichten. Fachlich mag alles bestens sein, aber menschlich bin ich nur ein Schatten, ein Fleck, auf den kein Licht fällt.
Die Saalfenster sind mit Vorhängen aus schwarzem Samt verdeckt. Ich schiebe einen zur Seite und sehe, dass über dem Dach der Schlosskirche bereits ein rötlicher Schein liegt. Es sind die kürzesten Nächte des Jahres, der neue Tag hat es sehr eilig anzubrechen.
Hier drinnen achtet niemand darauf. Die Tanzfläche ist voll, auch in den Fluren vor der Aula sind überall Partygäste. Alle scheinen sich gegen das Ende der Feier stemmen zu wollen, denn alle wissen: Mit ihr wird die Zeit des Studiums endgültig vorbei sein.
„Zu spät...“ Es ist wie ein Vorwurf, eine Anklage. Aber was hätte ich Katja bieten können? Bestimmt kein Trekking durch die australische Wildnis, kein Tauchen in tropischen Korallenriffen. Nicht mal eine Kanu-Tour durch Mittelsachsen. Keinen Menuetttanz. Nichts, absolut nichts.
Im Saal wird es heller und heller. Selbst die schweren Vorhänge können den herandrängenden Tag nicht länger zurückhalten. Immer mehr Gäste kapitulieren jetzt und räumen das Feld. Der Saal leert sich. Auf dem Flur wird der Getränkestand abgebaut. Schließlich beschränkt sich das Geschehen auf wenige Hartnäckige, die die Tanzfläche nicht räumen wollen. René und Sabine harren dort aus, und auch Katja in ihrem Seidenkleid, mit ihrem Turm aus Haaren, bewegt sich noch zur Musik, gedankenverloren, wie in Trance.
Als ich wieder einen Blick aus dem Fenster werfe, sehe ich, wie der Wetterhahn der Schlosskirche in der aufgehenden Sonne zu leuchten beginnt. Dies soll mein letzter Eindruck des Festabends sein. Ich atme durch, stehe auf und gehe einfach davon. Niemand merkt es.
Ich radle durch die menschenleere Innenstadt. Als ich die Landstraße nach Kreuzthal erreiche, steht die Sonne bereits ziemlich hoch. Letzte Dunstschwaden steigen aus der Flussniederung auf und verschwinden im Blau des Himmels. Es sind noch keine Autos unterwegs an diesem Samstagmorgen, nichts stört das vielstimmige Vogelzwitschern, das die Luft erfüllt. Es ist so laut, dass es regelrecht in den Ohren schmerzt.
Ziemlich genau ein Jahr später arbeitete ich für meine Frankfurter Firma an einem Softwareprojekt in Kiel. Der Job hielt bislang, was er versprochen hatte: jede Menge interessanter Tätigkeiten und Herausforderungen, agile Kollegen, mit denen es sich gut zusammenarbeiten ließ, Teamleiter, die mich in meinem Tun bestärkten. Und nun wurde mir mit diesem Projekt zum ersten Mal Gelegenheit gegeben, mich selbständig zu profilieren, meinen Wert fürs Unternehmen unter Beweis zu stellen. Kein Wunder, dass ich bis in die Haarspitzen motiviert war.
Nach dem Umzug hatte ich mir vorgenommen, in meiner neuen Heimat Frankfurt einen festen Bekanntenkreis aufzubauen und den „zwischenmenschlichen Aspekt“, wie ich es nannte, nicht mehr zu vernachlässigen. Aber schnell wurde mir klar, dass dies einfacher gesagt als getan war. Meine Firma schickte mich zu Kundenprojekten in alle Winkel der Republik und darüber hinaus. Ich lebte überwiegend in Hotelzimmern; meine Wohnung im Frankfurter Stadtteil Bornheim sah ich höchstens an den Wochenenden.
Und so warf ich fast zwangsläufig alle guten Vorsätze wieder über Bord. Ich konzentrierte mich auf die Arbeit, darüber hinaus gab es nicht viel. Anders gesagt: Alles blieb wie immer, nur dass an die Stelle des Studiums jetzt der Job gerückt war.
Das erste Projekt in Stuttgart, dann eines in Düsseldorf. Jetzt also Kiel. Seit zehn Tagen arbeitete ich hier. Zurzeit fand die „Kieler Woche“ statt. Ich hatte schon von dieser Veranstaltung gehört, sie aber immer für einen reinen Wassersport-Event gehalten. Tatsächlich gab es eine große Segelregatta, aber was der Volksmund als „Kieler Woche“ bezeichnete, war ein riesiges Volksfest. Weite Teile der Innenstadt waren für den Autoverkehr gesperrt, ich kam nur auf Umwegen zu meinem Arbeitsplatz.
Heute nachmittag wollten die Kollegen, in deren Team ich eingesetzt war, zusammen losziehen. Ich war eingeladen, mitzukommen. Eigentlich hatte ich wenig Lust, aber abzusagen hätte natürlich ein schlechtes Licht auf meine Firma geworfen. Jetzt wartete ich, dass es los ging. Ich hatte mich bereits umgezogen, trug jetzt Jeans und T-Shirt, was mir gar nicht recht war. Das Arbeitsoutfit, also Schlips und Kragen, hatte etwas Formales, Unpersönliches und sorgte auf diese Weise für Abstand. Ohne diese Uniform kam ich mir irgendwie schutzlos vor.
Um drei Uhr brachen wir auf. Als erstes machten wir einen Gang über den Rathausplatz, wo ein „Internationaler Markt“ aufgebaut war. Fressbuden aus aller Herren Länder reihten sich aneinander, in den Gassen dazwischen stauten sich die Menschenmassen. Es war ein schwüler Tag, die Sonne brannte herab. Aus Richtung der Straße hörte man immer wieder Martinshörner von Krankenwagen aufheulen. Offenbar versagte so manchem Festbesucher der Kreislauf.
Dann gingen wir in Richtung Schweden-Fähre, die jenseits eines Verkehrskreisels am Hafenpier lag. Nach einem längeren Marsch am Wasser, vorbei an Verladeterminals und alten Speicherhäusern, begann die „Kiel-Linie“. Hier hatten zahllose Segler verschiedenster Größe festgemacht, von der Holzyacht bis zum Viermaster. Viele Schiffe durften betreten werden, auf manchen wurden sogar Getränke ausgeschenkt.
Einen dieser Segler besichtigten wir. Der Skipper erklärte uns die Takelage, die Maschine, berichtete über den Werdegang des Schiffes. Er wurde nicht müde zu erzählen. Wir saßen an Deck, auf Klappstühlen oder den hölzernen Aufbauten, tranken frisch gezapftes Bier und hörten ihm zu. Von der See her wehte ein angenehmer Wind. Der Festlärm drang nur noch gedämpft zu uns herüber, die Menschenschlange, die sich am Ufer entlangwandt, schien sehr weit weg. Ich wäre am liebsten für den Rest der Abends hiergeblieben.
Aber die Kollegen wollten bald weiter. Als wir an Land zurückkehrten und uns gerade wieder ins Getümmel stürzen wollten, hielt irgendetwas mich zurück. Ich ging langsamer, ließ den Abstand zu den Kollegen größer werden. Schließlich sah ich sie in der Menge verschwinden...
Das Alleinsein war wie eine Befreiung. Sollten sie denken, was sie wollten, ich würde mich morgen schon irgendwie herausreden. Ich genoss den Wind, lauschte den Klängen einer akustischen Gitarre, die von irgendwoher heranwehten.
Ein großes Zirkuszelt tauchte auf, in dem gerade ein Konzert stattfand. Drinnen war es brechend voll, auch auf den umliegenden Rasenflächen hatten es sich zahllose Leute bequem gemacht. Die Zeltwände waren hochgerollt, sodass man von überall einen guten Blick auf die Bühne hatte. Die Band wurde frenetisch gefeiert, und ein Zuschauer erklärte mir, es würde sich um die legendären Canned Heat handeln, die bereits in Woodstock aufgetreten sind.
Zum ersten Mal seit langem musste ich an Katja denken. Sie hatte in Mittenwerda öfters von der Kieler Woche geschwärmt, von den vielen Bühnen, die es entlang der Kiel-Linie gab. Plötzlich spürte ich, dass sie in der Nähe war. Bestimmt war sie irgendwo unter den Leuten auf der Rasenfläche, schaute sich ebenfalls die berühmten Canned Heat an. Die vielen Menschen, die ausgelassene Stimmung, die warme Luft – es war wie ein Jahr zuvor, als ich mit Christoph und Rico in Mittenwerda im Schwanenpark gesessen hatte...
Ich ließ ich mich durch die Menge treiben. Was, wenn ich Katja wirklich wiedertraf? Sollte ich doch noch eine Chance erhalten? Diesmal würde ich sie nutzen, dessen war ich mir sicher.
Das Konzert endete bald, aber auf dem Rasen wurde weitergefeiert. Mittlerweile war es dunkel, die Stände an der Kiel-Linie leuchteten grellbunt. Noch hatte ich Katja nicht entdeckt, aber ich wusste, dass ich nur herumzugehen brauchte, um ihr unweigerlich zu begegnen. Spannung lag in der Luft. Über der Innenstadt setzte Wetterleuchten ein, im flackernden Lichtschein zeichneten sich die Gesichter der Menschen ab. Schon glaubte ich Katjas Lachen zu hören. Hoffnung und Wiedersehensfreude breiteten sich in mir aus...
Das Wetterleuchten wurde intensiver. Hinter dem Festlärm war nun unheilvolles Donnergrummeln zu hören. Die ersten Tropfen fielen, kalt und schwer. Plötzlich realisierte ich, dass sich hier gleich alles auflösen würde. Verzweiflung packte mich. Wir waren uns so nah und fanden doch nicht zueinander. Das konnte, durfte nicht sein!
Überall standen die Leute jetzt auf, packten eilig ihre Sachen ein, falteten ihre Decken zusammen, gingen los. Hektik machte sich breit. Wenn ich Katja wenigstens noch einmal sehen könnte, und sei es nur, um die Erinnerung aufzufrischen. Eilig schaute ich mich in alle Richtungen um, wollte die Hoffnung nicht aufgeben, in der zerfallenden, davontreibenden Menschenmasse doch noch das ersehnte Gesicht zu entdecken.
Ein greller Blitz, gefolgt von lautem Donnerkrachen, der Regen wurde zum Wolkenbruch. Ich gab es auf, überließ mich endgültig dem Menschenstrom, der Richtung Innenstadt strebte.
***
In den folgenden Jahren absorbierte die Karriere alle meine Kräfte. Den Vorsatz, Freunde zu finden, schrieb ich jetzt endgültig ab. Die Projekttermine waren hart gesetzt, Zeit war Geld, niemand hatte etwas zu verschenken. Ich musste oft bis in den späten Abend arbeiten und war anschließend viel zu müde, um noch etwas zu unternehmen.
Einige Male gab mein schlechtes Gewissen noch Zuckungen von sich, aber spätestens am nächsten Tag war das wieder vergessen. Das Schwungrad lief und schnurrte, der Sog des Business war unwiderstehlich. Meine Leistung wurde anerkannt, das gab mir genug und füllte manche Lücke.
Fitness war das Einzige, was ich außerhalb des Jobs betrieb. Ich hatte mich in einem Studio angemeldet, das Filialen in ganz Europa unterhielt. So konnte ich auch auf meinen zahlreichen Reiseeinsätzen regelmäßig trainieren. An den Kraftmaschinen und auf dem Laufband baute ich den Stress des Tages ab. Mit einer fast wütenden Leidenschaft und Zähigkeit bearbeitete ich die Geräte. Schade, dass die Energie, die dabei entstand, nicht aufgefangen und genutzt wurde.
Ein paar Jahre später zog ich nach München. Ich arbeitete wieder für ein Consulting-Haus, das seinen Schwerpunkt in der Versicherungsbranche hatte. Schließlich kam ich nach Hamburg. Die hiesige Tätigkeit, so hatte ich es mir vorgenommen, sollte ein großer Karrieresprung für mich werden.
Jahrelang hatte ich im stillen Kämmerlein, sprich: in den abendlichen Hotelzimmern, an einem eigenen Softwaresystem gearbeitet. Ich hatte mein Wissen aus der Diplomarbeit verwendet, meine Berufserfahrungen der letzten Jahre eingebracht. Mittlerweile war das Produkt weit genug gediehen, um bei Kunden eingesetzt zu werden. Und in meinem neuen Unternehmen wollte ich diesen Traum Wirklichkeit werden lassen.
Nach einigem Bohren und diversen Präsentationen konnte ich den Bereichsleiter von meinem System überzeugen. Er holte sich Rückendeckung vom Chef und fand einen Pilotkunden für die Entwicklung eines Prototypen, ein bekanntes Bankhaus in Frankfurt. Es war dasselbe, in dem ich auch mein erstes Praktikum absolviert hatte.
Anfangs klappte alles hervorragend. Tim, Konrad und ich erweiterten meine Basissoftware nach den Vorstellungen des Kunden. Wir arbeiteten Hand in Hand, es lief wie am Schnürchen. Aber dann gewann ein altbekannter Mechanismus bei mir die Oberhand: Ich konnte es nicht ertragen, dass die Kollegen das Projekt nur als eines von vielen ansahen. Für sie war es ein Job, für mich hingegen das Leben. Immer mehr Aufgaben zog ich an jetzt mich, wollte am liebsten alles allein machen. Zudem ließ ich mir aus Frankfurt ständig neue Features aufschwatzen, die ich natürlich ebenfalls perfekt umsetzen wollte.
Die Arbeit wuchs mir über den Kopf. Ich begann mich zu verzetteln, die Fehler häuften sich, beim Kunden kam Verärgerung auf. Die Kommunikation verschlechterte sich zusehends, es gab Missverständnisse auf beiden Seiten, Verdächtigungen, Anschuldigungen. Gleichzeitig erhielt ich immer weniger Rückhalt von meinen Teamkollegen. Kein Wunder, sie waren schließlich kaum noch beteiligt.
Natürlich versuchte ich alles, um das Projekt, mein Projekt, irgendwie zu retten. Ich machte zahllose Überstunden, saß oft bis tief in die Nacht am Rechner und versuchte, dem Chaos Herr zu werden. Aber ich kämpfte auf verlorenem Posten. Die Situation geriet immer mehr außer Kontrolle, ein komplettes Desaster drohte.
Derweil zog meine Firma die Notbremse. Sie schlossen einen Deal mit der Bank in Frankfurt, lieferten ihnen eine moderat angepasste Standardsoftware und wurden im Gegenzug wegen meines gescheiterten Projektes nicht in Regress genommen. All das spielte sich hinter meinem Rücken ab. Ich erfuhr nichts, wunderte mich bloß, dass Tim und Konrad plötzlich abgezogen und mit anderen Aufgaben betraut wurden. Aber die beiden waren für mich sowieso eher eine Last als eine Hilfe gewesen, deshalb fragte ich nicht weiter nach. Dann gingen die Turbulenzen an den Finanzmärkten los, kurze Zeit später wurde ich gefeuert. Erst jetzt setzte mich ein Kollege über den Frankfurter Deal ins Bild. Aber noch immer konnte oder wollte ich nicht kapieren, was eigentlich gelaufen war.
Und nun sitze ich hier am Elbstrand, bin arbeitslos, ohne Geld und Perspektive. Bloß Zeit habe ich auf einmal im Überfluss. Zeit, um nachzudenken... und jetzt wird mir endlich verschiedenes klar.
Ich war schon vor dem Crash längst abgeschrieben, hatte mich als unzuverlässig herausgestellt, als jemand, der seine Grenzen nicht kennt. Solche Leute gefährden den Projekterfolg, sind letztlich ein Risiko fürs gesamte Unternehmen. Sie müssen weg. Die Finanzkrise war nur das Vehikel, um mich loszuwerden, durch sie bot sich unverhofft das Instrument der betriebsbedingten Kündigung. Sie konnten mich geräuschlos entsorgen, ohne selbst Schaden davonzutragen, in Form von Abfindungszahlungen oder etwaiger Rechtsstreitigkeiten.
Warum hätten sie Tim oder Konrad feuern sollen? Die beiden sind zwar nicht die großen Überflieger, aber sie erledigen ihre Aufgaben stets zuverlässig. Bei ihnen weiß man, woran man ist, eigensinnige Aktionen und Eskapaden sind in ihrem Fall nicht zu befürchten.
Und schließlich – ist mein Unternehmen wirklich so stark vom Crash betroffen, wie es zuletzt immer geheißen hat? Das ganze Gerede unter den Kollegen von Abstieg, drohender Pleite und so weiter – sind das womöglich nur Gerüchte gewesen? Hat tatsächlich noch jemand außer mir seinen Job verloren?
Wieder sehe ich mich am Rechner sitzen, der letzte Mitarbeiter im Büro und im ganzen Haus. Vor dem großen Panoramafenster erkennt man die Geschäftshäuser der City Süd mit ihren Fassaden aus Glas und Stahl. Nach und nach gehen in den Türmen die Lichter aus, bis schließlich ringsherum alles dunkel ist. Nur in meinem Raum brennen noch die Neonröhren, senden ihr kaltes Leuchten hinaus in die verlassene Bürostadt.
Wenn ich dort vor meinen Bildschirmen saß, auf meiner Kommandobrücke, einsam durchs All treibend, hatte ich oft das Gefühl, als sei ich vom Rest der Menschheit schlicht vergessen worden.
***
Ein kalter Windstoß reißt mich aus meinen Gedanken, treibt die Erinnerungsbilder fort.
Wo eben am Horizont noch Abendröte leuchtete, sind plötzlich dicke, graue Wolken aufgetaucht. Also kommt sie doch noch, die vorhergesagte Schlechtwetterfront. Schnell wird es dämmrig. Böen fegen heran, wirbeln den Sand auf.
Ich sehe, wie Sabine eine Jacke aus der Tasche kramt und sich nach ihrem Hund umschaut. Bestimmt wird sie jeden Moment aufbrechen...
Dies ist meine letzte Chance, sie anzusprechen. Wenn sie erst weg ist, treffe ich sie niemals wieder. Dazu ist die Stadt zu groß, zu anonym. Vielleicht wird es gar nicht so schwer, wie es mir jetzt scheint. An ihr verändertes Äußeres jedenfalls habe ich mich fast schon gewöhnt.
Aber was ist mit mir selbst? Kann ich Sabine, so wie ich jetzt bin, überhaupt unter die Augen treten? Haben mich all die Jahre, die ich in meine Karriere investiert habe, nicht noch öder und steriler werden lassen? Wird sie in mir nicht exakt den Strebertypen wiedererkennen, den sie schon damals verachtet hat? Einen Typen, der bis spät in die Nacht vorm Rechner sitzt, anstatt zu feiern, zu quatschen, zu flirten?
Jetzt schaut sie auf. Anscheinend hat sie gemerkt, dass jemand sie beobachtet. Natürlich – es ist keine Sonne mehr da, die sie blenden und mir Schutz bieten könnte. Sie hat mich entdeckt. Stirnrunzelnd mustert sie mich und ist sicher genervt über den Kerl, der sie die ganze Zeit anglotzt.
Nein, sie denkt offenbar nach. Mein Anblick muss etwas in ihr ausgelöst haben. Dann dämmert es ihr. Ein Erkennen kristallisiert sich heraus, vermischt mit Zweifel, ungläubigem Staunen...
Plötzlich ertönt vom Wasser her lautes Bellen und Jaulen. Sabines Hund ist mit einem Artgenossen aneinandergeraten. Kämpfend wirbeln die beiden Hundeleiber über den Sand, verkeilen sich ineinander, stürzen. Sabine springt auf, läuft hinunter zum Ufer, klatscht mehrmals in die Hände.
In einem ersten Impuls will ich ihr folgen. Aber ich lasse es bleiben. Paradoxerweise spüre ich Erleichterung. Das Gefühl ist mir bekannt, aus anderen, ähnlichen Situationen. Wieder mal davongekommen. Wieder befreit worden von dem Zwang, sich enttarnen, sichtbar werden zu müssen.
Wieder vergessen worden... wie zuletzt im Büro, während meiner einsamen, nächtlichen Projektsitzungen. Wie in meiner Klause in Kreuzthal. Und wie ganz früher zu Hause, an meinem Homecomputer, in selbst gestellte Aufgaben vertieft.
Mir läuft erneut ein Schauer über den Rücken, und diesmal liegt es nicht am scharfen, stetig auffrischenden Westwind.
Ein einzelner Mensch, durchs All treibend, gefangen im Nichts... so bin ich aufgewachsen. Mein Zuhause war ein luftleerer Raum. Es gab Strukturen, Pläne, die ich zu befolgen hatte, die mein Leben einteilten. Aber es gab keine Nähe, keinen Austausch. Bei mir nicht und genauso wenig bei den anderen Kindern im Viertel, in der Schule. Allenfalls waren wir Dekorationsstücke gewesen. Leere Gefäße, in die die Erwachsenen ihre eigenen Leistungsansprüche, ihren persönlichen Ehrgeiz schütten konnten. Wenn wir diesen Zweck nicht oder nicht mehr erfüllten, verschwanden wir vom Radarschirm, wurden schlicht vergessen. Von unseren Eltern und auch vom Rest der Welt. Keiner bemerkte unser Verschwinden. Nichts fehlte.
Diese Bezugslosigkeit, diese Leere und Kälte – das scheint sich auszubreiten, es ist ein Zeichen dieser Zeit. Und doch gibt es Menschen, die anders sind. Die Kinder in der Jahn-Siedlung. Meine Kommilitonen in Mittenwerda, Rico, Christoph, René, Katja und ihre Schwester...
Das Händeklatschen ist wieder zu hören. Sabine macht sich auf den Weg. Ich sehe sie am Wasser entlang stromabwärts gehen, ihren bellenden Hund auf den Fersen. Ein letztes Mal bleibt sie stehen, schaut zurück, sucht die Stelle, an der sie gesessen und vielleicht denselben Erinnerungen nachgehangen hat wie ich. Sie hebt den Arm, offenbar um ihre Augen vor dem aufwirbelnden Sand schützen. Oder ist es ein Winken? Will sie, dass ich mitkomme?
Nun läuft sie, läuft über die windgepeitschte Sandfläche dem Wetter entgegen. Vor den dunklen Wolken wirkt sie wieder ganz wie die junge, unbändige Frau, die ich gekannt habe.
Bald sind sie und ihr Hund nur noch kleine Punkte. Außer mir ist jetzt keiner mehr hier, ich bin wieder allein. Allein in meinem Raumschiff, das ich niemals wirklich verlassen habe. Immer hatte ich eine Ausrede parat, um passiv bleiben zu dürfen, nicht ins Geschehen eingreifen zu müssen. Dass es Wichtigeres zu tun gäbe, „Höheres“. Dass eine günstigere Gelegenheit kommen wird. Dass ich noch so viel Zeit habe. Und so verstreicht eine Chance nach der anderen ungenutzt. Soll es immer so weitergehen?
Der nächste Winter – da kommt er. Regen und Sturm tragen ihn unaufhaltsam heran. Aber am Horizont sind nach wie vor die beiden Punkte zu sehen. Noch kann ich hinterherlaufen, noch kann ich sie erreichen. Ich habe es in der Hand.
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Texte: Uwe Fuchs
Bildmaterialien: Uwe Fuchs
Tag der Veröffentlichung: 16.10.2015
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