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Drei Sorley O Cearnaigh Romane

Pia Recht

 

Der Heckenschütze

Smuggler’s Cove

Maeves Grab

 

 

Irish Urban Stories and Fantasy

 

 

 

Inhalt:

Der Heckenschütze

Ein Heckenschütze versetzt London in Angst und Schrecken. Die Polizei ermittelt in alle Richtungen, aber Sorley O Cearnaigh und Pat Fanning, ehemalige IRA Aktivisten, werden losgeschickt, um den Sniper auszuschalten. Denn sie vermuten, dass er aus den eigenen Reihen kommt.

 

Smuggler’s Cove

Sorley und Pat bekommen einen Auftrag, der sie an die Westküste Irlands führt. Die Ansage des unbekannten Auftraggebers ist von Anfang an klar: Aufspüren und Ausschalten. Obwohl es ihnen nicht passt, übernehmen sie den Auftrag und in der scheinbaren Idylle des kleinen Fischerdorfes begeben sie sich in tödliche Gefahr.

 

Maeves Grab

Sorley übernimmt einen Auftrag, der ihn in eine kleine irische Gemeinde führt. Dort soll er die Grabungen am Grab einer alten Feen-Königin verhindern. Mit diesem Auftrag hat er kein Problem. Sein Problem ist, dass wieder er mit Pat zusammenarbeiten soll. Die beiden verbindet eine Hassliebe, die sie immer wieder aufs Neue ausleben, und der Auftrag, der sich zunächst sehr einfach anhört, wird zu einer Gratwanderung zwischen Traum und Wirklichkeit.

 

 

Der Heckenschütze

 

Prolog

 

Ein Junge, etwa elf Jahre alt, steht am Fernrohr und sieht vom Planetarium hinunter auf die Londoner Skyline. Er dreht das montierte Fernrohr von einer Seite zur anderen, macht dabei Schussgeräusche. Ein Mann tritt neben ihn und fragt: „Was machst du da?“

„Ich schieße auf Leute.“

Der Mann überlegt einen Moment und sagt dann: „Gute Idee.“

 

***

Jeden Tag kam Sorley O Cearnaigh an seinem alten Elternhaus vorbei, wenn er mit dem Wagen seines Vaters einkaufen fuhr. Immer hielt er an, kurbelte das Fenster runter und starrte auf das alte Gebäude, das einsam und verlassen inmitten eines überwucherten Gartens stand. Ein paar Heckenrosen hatten sich gegen das Unkraut durchgesetzt und blühten in einem strahlenden rosarot, aber das Haus selbst schien langsam in die Knie zu gehen. Auf dem Dach fehlten einige Schindeln, was hieß, dass es hineinregnete und vermutlich waren alle Balken längst durchfeuchtet und morsch. Kinder hatten die Fenster zur Straße eingeworfen und ab und zu sah er eine streunende Katze selbstbewusst im Fenster sitzen. Er widerstand der Versuchung, hineinzugehen und sich das leere Haus von innen anzusehen. Es war nur noch eine Hülle ohne Leben, und er verstand nicht, weshalb sein Vater das Grundstück nicht schon längst verkauft hatte.

 

Für das Haus und den Grund würde er zum richtigen Zeitpunkt eine Menge Geld bekommen. Stattdessen behielt er es und war in eine Wohnung im Herzen von Bunowen gezogen, die groß genug war, dass er ein Gästezimmer hatte einrichten können. Noch immer arbeitete Sorleys Dad als Garda.

Sorley nahm ihm nicht wirklich ab, dass er allein lebte. Wenn er ihn besuchen kam, fand er zwar keine weiblichen Utensilien, aber vielleicht war die Dame auch nur sehr ordentlich und diskret.

„Du bist selten genug hier“, sagte sein Dad. „Du kannst ruhig noch ein paar Tage länger bleiben. Lass uns einen Ausflug in die Berge machen. Oder wir fahren nach Connemara.“

Er schob in seinem Job eine ruhige Kugel, war stets gut gelaunt mit seinem Dienstwagen zwischen den Höfen und umliegenden Farmen unterwegs. Meist nahm er Vermisstenanzeigen für entlaufene Haustiere auf oder schrieb Berichte über Hauseinbrüche. Er schien es zu genießen, wenn er nach Hause kam und sein Sohn hatte ihm etwas zu essen gemacht und eine Flasche Bier kaltgestellt.

Nie fragte er, was Sorley im Moment beruflich tat, nie sprachen sie über die Zeit, als sein Sohn nach Nordirland abgehauen war. Die einzige Bemerkung, die dieses Thema ankratzte, war: „Ich bin froh, dass es dir gut geht und du ab und zu deinen alten Vater besuchen kommst. Nach so vielen Jahren.“

Erst, nachdem Sorley ausgestiegen war (soweit man aus dieser Organisation aussteigen konnte), war er mit seinem Vater wieder in Kontakt getreten. Vorher wäre es unmöglich gewesen, es hätte jeden seiner Einsätze infrage gestellt.

Seine Heimat Bunowen lag im Nordwesten Irlands und die Menschen lebten von der Landwirtschaft, vom Torfstechen und seit den Achtzigern auch vom Tourismus. Niemand wurde hier reich, aber gottlob verhungerte auch niemand mehr. Sorley genoss diese stille Zeit bei seinem Vater. Und es gab ihm auch immer wieder die Gelegenheit, Kontakt zu seiner Ex-Frau herzustellen, die die Farm ihrer Eltern übernommen hatte und nebenbei noch Taxi fuhr. Nachdem sie genügend emotionalen Abstand zwischen sich gebracht hatten, gingen sie freundschaftlich miteinander um.

Manchmal half er ihr bei den Arbeiten auf dem Hof oder machte für Touristen, die sich bei ihr im Bed and Breakfast einquartiert hatten, den Reiseführer.

Nach dem Einkauf in der kleinen Shopping Mall, die eine Reihe von Klamottenketten und einen großen Supermarkt beherbergte, fuhr Sorley an seinem Elternhaus vorbei, schwelgte in überflüssigen Erinnerungen und machte einen Abstecher zu Oife Keogh, weil es einfach auf dem Weg lag.

Bei ihr trank er einen Tee, und sie war diejenige, die ihm die Fragen stellte, die er nie gerne beantwortete. Wurde sie zu direkt, stellte er die Gegenfrage: „Weshalb hast du noch niemanden gefunden, der dich wieder heiratet, Oife?“

„Weil ich noch immer hoffe, wieder so jemanden wie dich zu finden“, erwiderte sie dann.

Er war seit über einer Woche zu Hause, genoss den Frühling an der Westküste und wollte dem Drängen seines Vaters nachgeben, eine gemeinsame Tour nach Connemara zu machen, als er einen Telefonanruf erhielt.

„Unseren Ausflug müssen wir verschieben, Dad“, sagte er. „Ich muss nach London.“

 

***

London zeigte sich von seiner unbeständigen und hässlichen Seite. Er landete am Abend auf dem Londoner City Airport und wurde mit einem eisigen Graupelschauer empfangen.

Der Autoverleih hatte seine Reservierung verschlampt und wollte ihm einen Kleinwagen andrehen, der nach Sorleys Einschätzung eher ein „Kleinstwagen“ war. Das hässliche Ding ohne Rückbank.

„Ich steig in kein Auto, was ich mir anziehen muss“, sagte er. „Sorgen Sie bitte dafür, dass ich in zehn Minuten meinen bestellten Wagen abholen kann.“ Er blieb freundlich, aber sein Gesichtsausdruck bewies, dass er nicht zum Scherzen aufgelegt war. Sehr bestimmt klopfte er auf seine Platin-Kundenkarte, die auf dem Schalter lag. Der junge Mann hinter dem Schalter, der vermutlich gerade die Schule hinter sich gebracht hatte, wollte wieder mit ihm diskutieren, aber seine Kollegin warf Sorley einen schnellen Blick zu und stoppte ihn.

„Fünf Minuten“, sagte sie. Sie schob ihren Kollegen vom Rechner weg, ihre Finger flogen klickernd über die Tastatur.

Der Computer sagt nein, dachte Sorley.

Innerhalb von vier Minuten erhielt er die Unterlagen und den Schlüssel für einen Astra. Der Mittelklassewagen stand auf dem Parkplatz für ihn bereit. Sie entschuldigte sich für die Wartezeit und wünschte ihm eine gute Reise.

„Danke, love.“ Er ignorierte den jungen Mann, der wie unnützes Büroequipment neben ihr saß.

 

London war nie Ziel eine seiner vielen Aktionen gewesen, trotzdem hatte er immer ein ungutes Gefühl, wenn er in dieser Stadt unterwegs war. Die Achtziger und Neunziger waren noch immer zu sehr in seiner Erinnerung. Er fuhr ins Zentrum, verfluchte das Wetter und den Straßenverkehr, telefonierte nebenbei mit seinem Verbindungsmann Guy, der ihm eine Unterkunft besorgt hatte. Der Leihwagen ging auf seine Rechnung, aber seine Auftraggeber hatten es nicht für nötig gehalten, ein ordentliches Hotel für ihn zu buchen.

Als er an der Adresse ankam und den Wagen vor dem Haus abstellte, beklagte er sich allerdings nicht mehr. Es war eines der angesagten Viertel von London, in denen die Mieten so hoch waren, dass sie sich kein normal Sterblicher mehr leisten konnte, was dazu führte, dass man jedes Zimmer und jede Ecke an einen Untermieter abgab. Das Haus mit der viktorianischen Fassade war vier Stockwerke hoch und offensichtlich gut restauriert. Er hoffte, dass es von innen ebenso gut aussah.

Gegen den dichten Regen hielt er sich die Reisetasche über den Kopf, bis er im schmalen Hauseingang stand, und auf das Klingelschild mit dem irischen Namen drückte. Obwohl es bereits nach zehn Uhr abends war, wurde augenblicklich das Licht im Flur eingeschaltet und Sorley hörte, wie jemand die Stufen herunterpolterte.

„Willkommen“, sagte Rory Butler und streckte ihm die Hand entgegen. „Die Klingel funktioniert, der Summer leider nicht.“

Sorley war sich nicht sicher, ob er nicht Seamus Heany gegenüberstand. Sie schüttelten die Hände, der große grauhaarige Mann zog ihn in den Flur und sie stellten sich mit Namen vor.

Rory Butler war der Eigentümer einer der großen Wohnungen in der dritten Etage und lebte mit seiner Freundin in zwei der größten Zimmer. Sie teilten sich mit den übrigen Mitbewohnern Küche, Bad und WC, und obwohl in der großen Wohnung über sechs Personen lebten, war alles penibel sauber und aufgeräumt. Die Wohnsubstanz war für einen Altbau erstaunlich gut, das lag daran, dass Rory von Beruf Zimmermann und Schreiner war und die meisten Arbeiten am Innenausbau selbst vorgenommen hatte. An seinen Unterarmen waren Tattoos von diversen Schreinerutensilien zu sehen, die einen fast kommunistischen Eindruck hinterließen.

„Wie lange wirst du bleiben?“, fragte er. Er führte Sorley in das Zimmer, was für ihn möbliert angemietet worden war. Es war klein, aber mit Fenster und einer so hohen Decke, dass Sorley fast schwindelig wurde, als er hinaufsah. Die Möbel waren zweckmäßig und stilistisch aufeinander abgestimmt. Sorley war es nur wichtig, dass er sich nicht in eine Matratze legte, die wie eine Hängematte nachgab, und war nach einem kleinen Liegetest zufrieden.

„Ich weiß noch nicht“, antwortete er. „Hängt vom Job ab.“

Für diesen Job hatte er sein Smartphone und ein Ersatzhandy mitgebracht. In dem einen hatte er alle Informationen, die er brauchte und das andere nutzte er, um mit Menschen zu telefonieren, die ihn danach nicht mehr erreichen sollten. Diese Handys verschwanden nach jedem Einsatz. Alles andere besorgte er vor Ort.

Rory überreichte ihm Haus- und Wohnungsschlüssel und sagte, er müsse das Auswechseln der Schlösser bezahlen, sollte er die Schlüssel verlieren.

„Am Anfang haben wir die Schlüssel nicht rausgegeben, weil eigentlich immer jemand zuhause ist, aber dann haben wir aus Versehen einen der Jungs in der Wohnung eingeschlossen und der kam an dem Tag nicht zur Arbeit. Er hat seinen Job verloren deswegen, weil sein Boss ihm nicht geglaubt hat.“

„Keine Sorge“, sagte Sorley. „Ich bin schwindelfrei und würde mich aus dem Fenster abseilen.“

Er bezahlte die Miete für einen Monat im Voraus und ging schlafen.

 

Am Telefon hatte er von dem Auftrag noch nicht viel erfahren und war umso gespannter, als er früh morgens mit einem Kaffee im Pappbecher im Büro des Mannes erschien, der ihn angeheuert hatte.

Das Maklerbüro war nicht nur eine Fassade. Guy Caffey verdiente sein Geld mit dem Verkauf von Häusern und Grundstücken in Großbritannien und Irland. In seiner alten Heimat hatte er vor vielen Jahren für Sinn Fein kandidiert, war aber irgendwann zurückgetreten, weil er zu der Überzeugung gelangt war, dass Politiker alle gleich waren. Sobald sie an der Macht waren, vergaßen sie ihre guten Vorsätze und Ideale. Er wollte nicht dazugehören. Allerdings blieb er in der Bewegung aktiv und hatte viele Kontakte.

Als das Gerücht aufkam, die Mordanschläge in London könnten etwas mit Irland zu tun haben (diese Gerüchte hatten sich in der irischen Gemeinde verbreitet, und waren noch nicht bis in die Medien getragen worden), hatte er sich mit Dublin in Verbindung gesetzt.

Bislang hatte es zwei Anschläge gegeben, aber alles sprach dafür, dass es dabei nicht bleiben würde. Und obwohl man bei einem Sniper ebenso an die anderen Radikalen denken konnte, waren die Jungs in Dublin sofort hellhörig geworden.

Auf die Angestellten des Büros mochte Sorley den Eindruck erwecken, als sei er ein neuer Kollege. Er trug ein helles Hemd, darüber ein dunkles Jackett und eine helle Jeans. Mit dem Kaffeebecher in der Hand und einer schmalen Aktentasche unter dem Arm hielt er direkt auf den Schreibtisch der Sekretärin zu. Diese sah von ihrem Laptop auf und tippte unbeeindruckt weiter, während Sorley sagte: „Ich habe einen Termin mit Guy Caffey.“

Sie hob kaum merklich die Augenbrauen, tippte eine Zahlenkombination und sagte in ihr Headset: „Sorley O Cearnaigh ist soeben angekommen, Sir.“

Sie nickte Sorley zu und augenblicklich kam Guy aus seinem Büro eine Tür weiter und nahm ihn in Empfang. Bei seinem Erscheinungsbild und Auftreten war Sorley sicher, dass die Immobilienbranche genetisch vorherbestimmt war. Guy war ein Prachtexemplar seiner Gattung. Glatt, freundlich lächelnd, einer, der perfekt darin war, das Hässliche schön zu reden.

Er ließ Sorley den Vortritt in sein Büro, in dem nur ein großer Konferenztisch und passende Stühle standen.

Ein großer Flachbildschirm war in die Wand eingelassen und das Standbild zeigte eine eingefrorene Straßenszene. Anhand des roten Doppeldeckers im Hintergrund und einiger Gebäude erkannte Sorley, dass es sich um London handelte.

„Wir haben ein Problem“, sagte Guy.

Er deutete Sorley sich zu setzen, nahm ihm gegenüber Platz und fuhr fort: „Warten wir noch, bis wir vollzählig sind, dann kann ich alles erklären.“

Er schlug elegant die Beine übereinander und entblößte schwarze Socken, auf denen das Logo eines sehr bekannten Designers eingestickt war. Sorley konnte der Versuchung nicht widerstehen und legte den rechten Fuß auf das linke Knie. Er trug ebenfalls dunkle Socken, aber durchgelatschte schwarze Doc Martens, die ihr hartes Leben mit ihren Schrammen und Flecken bewiesen.

Guy besah sich diese Schuhe und grinste breit. Er mochte ein geborener Immobilienmakler sein, der einem die schlimmste Bruchbude schönreden konnte, aber er erinnerte sich noch immer an die Zeiten in Nordirland.

„Es ist lange her, dass ich diese Schuhe an jemandem gesehen habe, der sie nicht nur wegen der Mode trägt“, sagte er.

Sorley grinste ebenfalls und fragte, auf wen sie warteten. Als Guy die Namen nannte, verging ihm das Grinsen. Dass er nicht mit dieser Frau an dieser Sache arbeiten wollte, konnte er nicht mehr loswerden. Irgendwo summte es und die Stimme der Sekretärin nebenan kündigte die weiteren Gäste an.

Guy Caffey erhob sich und ging zur Tür, Sorley blieb sitzen und bewegte sich nicht. Eine Frau und ein Mann betragen den Raum, die Tür wurde geschlossen und ab diesem Zeitpunkt wurden sie nicht mehr gestört.

Die Frau stellte sich als Pat Fanning vor. Als Sorley seinen Namen nannte, sah sie ihn aufmerksam an.

„Ich kenne dich“, sagte sie. „Wir haben nie zusammengearbeitet, das ist eine Schande. Ich habe nur Gutes über dich gehört.“

„Wir sind irgendwann mal aneinander vorbeigelaufen“, sagte Sorley und reichte ihr die Hand. „Pat Fanning, nett dich mal persönlich zu treffen.“

Sie sah genau so aus, wie er sie in Erinnerung hatte. Während er immer ein wenig Mühe hatte, seriös aufzutreten, machte Pat den Eindruck, als käme sie gerade von einer Hollywood Premierenfeier. Sie konnte eine schlichte Bluse und Jeans tragen und sah trotzdem gestylt aus. Es war einige Jahre her, dass er mit ihr zu tun gehabt hatte und sie hatte sich nicht verändert. Der Mann, der mit ihr den Raum betrat, wechselte ein paar geflüsterte Worte mit Guy, stellte sich dann als Danny Fallon vor. Er selbst hätte es anders ausgedrückt, aber er war nur einer der vielen Laufburschen von Sinn Fein.

Sie setzten sich an den Konferenztisch und sahen sich den Film an, den Guy vorbereitet hatte. Es waren Aufnahmen aus Überwachungskameras in der Londoner Innenstadt, die typischen grauen Bilder mit der Anzeige von Datum und Uhrzeit am unteren Rand. Zunächst schien nichts Auffälliges an dieser Straßenszene; der übliche Verkehr, die überfüllten Straßen an einem halbwegs sonnigen Tag. Angestellte, die sich zur Mittagspause und auf einen Kaffee trafen, Touristen, die Fotos schossen, junge Leute, die modisch verirrt herumliefen. Dann scherte ein Wagen aus, verließ die Fahrbahn und fuhr ungebremst gegen einen Abfallbehälter, mähte diesen um und kam erst an der Hauswand zum Stehen. Passanten hatten sich mit schneller Reaktion in Sicherheit gebracht, standen ratlos und erschrocken neben dem Fahrzeug.

Aus dem zerdrückten Kühlergrill entwich Qualm, die Frontscheibe war blind gesplittert. Der Abfallbehälter steckte irgendwo unter der Vorderachse.

Das Bild wechselte. Die Aufnahmen aus einem Handy waren zu sehen, erst verwackelt, dann scharfe Bilder. Der Handybesitzer ging auf den Wagen zu, filmte in den Innenraum hinein. Der Fahrer saß mit offenen Augen hinter dem Steuer, eine Hand im Schoß, die andere noch am Lenkrad. Es hätte ein tragischer Sekundenherztod sein können, aber das war es sehr offensichtlich nicht. Da war ein Einschussloch in der Stirn. Wieder wechselte die Szene.

Danny stoppte den Film und sagte: „Bis dahin ging das Yard von einem Einzelfall aus. Ein persönlicher Racheakt. Bis das hier kam.“

Diesmal waren es zusammengestückelte Filme aus einem CCTV über einem öffentlichen Geldautomaten. Der Mann, der sich Geld zog, dabei mit seiner Begleiterin plauderte, zuckte plötzlich zusammen, fiel nach vorn mit dem Gesicht in den Touchscreen des Geldautomaten. Es gab keine Tonspur, aber das schockierte Gesicht der Frau und vereinzelte Blutspritzer auf ihrem hellen Kleid zeugte davon, was passiert war.

„Das waren zwei“, sagte Guy. „Ihr habt vermutlich in den Nachrichten davon gehört. Offiziell gibt es keine Verbindung zwischen den Taten. Scotland Yard sieht das intern allerdings anders.“

Danny schaltete den Fernseher aus und fügte hinzu: „Wir haben einen Kontaktmann im Yard, der uns diese Aufnahmen und Informationen zugespielt hat. Es besteht die Möglichkeit, dass es sich um einen normalen Schizo handelt, der im Abstand von Wochen wahllos auf Passanten und Autofahrer schießt, aber die Chancen sind gering. Auch die Ritter des Halbmonds können ausgeschlossen werden, die gehen anders vor.“

„Was heißt das?“, fragte Pat.

„Wir fürchten, dass einer von unseren Jungs dahintersteckt.“

Sind unsere Jungs die Einzigen auf der Welt, die mit Waffen umgehen können?, dachte Sorley.

„Habt ihr das auch vom Yard?“, fragte er. „Oder sitzt von uns jemand beim M I 5?“

 

Der MI 5 hatte vor Jahren eine Wanze in das Büro von Sinn Fein installiert und war aufgeflogen, und obwohl man die Sache der Lächerlichkeit Preis gegeben hatte, war es unwahrscheinlich, dass sich danach irgendjemand zur Zusammenarbeit bereit erklärte.

„Wir haben die Informationen ausgewertet, die wir vom Yard und aus eigenen Quellen haben. Es ist möglich, dass es einer von unseren Snipern ist.“

Pat murmelte in einem abfälligen Ton, dass sie nicht daran glaubte, dass einer von ihnen so verrückt sein könnte, um unmotiviert auf Passanten zu schießen.

„Das sollt ihr herausfinden. Sollte einer aus unseren Reihen dahinterstecken, müssen wir verhindern, dass es an die Öffentlichkeit kommt.“

Danny klang säuerlich und warf einen aufmerksamen Blick in die kleine Runde. Guy war der Einzige, der einen optimistischen Eindruck machte. Es war allerdings nicht verwunderlich, denn er würde nicht selbst in Aktion treten müssen.

Pat zupfte an ihren blonden Strähnen herum, schlug die Beine übereinander, kramte schließlich umständlich in ihrer Schultertasche aus dunklem Leder herum. Neben ihr saß Sorley und wartete gespannt darauf, ob sie einen Lippenstift oder einen Damenrevolver hervorzaubern würde.

„Darf ich hier rauchen oder muss ich dafür vor die Tür gehen?“, fragte sie, legte Zigarettenschachtel und Feuerzeug vor sich auf den Tisch. Sorley erhob sich, bevor jemand etwas sagte.

„Wir sind in fünf Minuten zurück.“

Zu Pat hinüber machte er eine auffordernde Geste, dass sie ihre Zigaretten nehmen und mitkommen solle. Im Aufzug leerte er seinen Kaffeebecher, warf ihn schwungvoll in den Abfalleimer der Lobby. Als sie vor der Tür standen, steckte Pat sich eine Zigarette an, hielt Sorley die Packung entgegen, aber er lehnte ab.

„Wie finden wir raus, ob das einer von uns ist, der da rumballert?“

„Ich weiß, wo ich anfangen kann“, sagte Pat. „Viel wichtiger ist, was passiert, wenn wir rausfinden, dass es niemand von uns ist?“

„Wir lassen ihn unbemerkt verschwinden“, erwiderte Sorley, klang fast gut gelaunt dabei. „Oder hast du damit ein Problem?“

„Muss ich mir Eier wachsen lassen, damit du mich ernst nimmst?“

Es passierte selten, dass Sorley sprachlos war. Er starrte sie mit offenem Mund an, wartete einen Augenblick, ob sie diese Bemerkung mit Humor entkräften würde, aber sie rauchte unbeirrt ihre Zigarette.

„Lass mal“, sagte er, „ich weiß dich auch ohne Eier zu nehmen. Arbeiten wir zusammen oder bevorzugst du Alleingänge? Mir ist es egal.“

Er hätte einen Luftsprung gemacht und die Hacken dabei in der Luft zusammengeschlagen, wenn sie hätte allein arbeiten wollen, aber den Gefallen tat sie ihm nicht.

„Ich muss diesen Auftrag nicht unbedingt haben“, behauptete sie. „Ich sage nur zu, weil ich nicht will, dass einer von unseren Jungs von der anderen Seite geschnappt wird, ganz egal, was er getan hat.“

„Halten wir die irische Decke darüber.“ Sie kehrten in das Gebäude zurück, Pat drückte auf den Etagenknopf im Aufzug, zupfte dann an ihrem BH unter der Bluse herum. Sorley tat so, als bemerke er es nicht. Er ließ ihr den Vortritt in den Konferenzraum und berührte ihren Hintern mit den Fingerspitzen, als sie an ihm vorbeiging. Erst hatte er kräftig darauf klatschen wollen, entschied sich aber in letzter Sekunde um. Als kleinen Test, wie sie auf so etwas reagierte, reichte die kleine Berührung.

Sie erstarrte kurz, nahm dann kommentarlos auf ihrem Stuhl Platz, drehte ihm den Rücken zu.

„Wir übernehmen das Ding“, sagte sie. „Wir finden heraus, ob es einer von uns ist. Danny, bist du unser Kontaktmann?“

Danny nickte.

„Wir brauchen eine Handynummer von dir, und du stehst uns vierundzwanzig sieben zur Verfügung.“ Sorley wühlte sein Handy aus der Tasche und sagte: „Zunächst werden wir sehen, wer von unseren alten Kontakten erreichbar ist.“

Danny Fallon reichte ihnen jeweils eine Visitenkarte. Ohne sich anzusehen, speicherten Sorley und Pat diese Nummer in ihren Handys ab und gaben die Karten zurück.

„Was haben wir nur früher ohne Handys gemacht?“

„Unseren Kopf benutzt“, murmelte Sorley.

 

In den nächsten Stunden saßen sie in Guys Büro zusammen und verglichen Namen und Angaben von Kontaktleuten in Belfast und Umgebung. Viele der alten Männer, die seit den Siebzigern tätig gewesen waren, waren verstorben oder so krank und gebrechlich, dass sie kaum in London mit einem Scharfschützengewehr auf Dächern herumliegen würden. Von den radikalen Splittergruppen hatten sie unterschiedliche Informationen, was nichts Neues war. Die wussten größtenteils selbst nicht, wer sie waren, wie sie sich nannten und was sie wollten. Außerdem taten sie sich selten dadurch hervor, dass sie im Ausland tätig waren, häufig suchten sie sich nur eine Polizeistation in der Nachbarschaft als ihr Ziel.

Von diesen Verdächtigen landeten etwa zehn Personen auf der Liste der potenziellen Täter. Sorley und Pat waren sich sofort einig, dass sie auf keinen Fall herumtelefonieren wollten, um mehr in Erfahrung zu bringen. Einer von ihnen musste zurück nach Nordirland.

„Möchtest du heimfliegen oder soll ich?“ Sorley hielt den Kopf in die Handfläche gestützt, studierte die handschriftliche Liste und versuchte sich die besten Kandidaten herauszupicken. Ein paar Namen sprangen ihn an, andere waren ihm unbekannt. Und ihm kam der Gedanke, dass er auch seinen und Pats Namen hinzufügen müsste, um die Liste wirklich komplett zu machen. Statt einer Antwort schlug Pat ihm den Ellenbogen von der Tischplatte weg, in der Hoffnung, er würde dadurch mit dem Kinn aufschlagen.

„Das heißt, du fliegst rüber“, erwiderte er, rückte ein Stück von ihr ab. „Ich kann hier ein wenig herumschnüffeln und halte dich auf dem Laufenden.“

Pat ignorierte ihn. Er überlegte, ob er sie noch einmal kneifen sollte, um sie ins Leben zurückzuholen.

Als sie ihn endlich fixierte, machte sie den Eindruck, als wolle sie ihm an den Hals springen.

„Wer von uns beiden gibt hier den Ton an?“

Darauf gab es nicht wirklich eine Antwort; Sorley wollte ihr weder sagen müssen, was sie zu tun hatte, noch wollte er Befehle von ihr entgegennehmen, aber wenn zwei Einzelgänger als Team arbeiten mussten, ging das nicht ohne Absprachen.

„Keiner von uns“, sagte er schließlich. „Wir arbeiten parallel.“

Pat machte eine absegnende Geste, aber sie war nicht zufrieden, das sah man sehr deutlich in ihrem Gesicht. An Danny gewandt sagte sie: „Keine Bange, der Auftrag wird nicht darunter leiden. Wir sind Profis.“

Immerhin das gestand sie ihm zu.

Sie ist eine Zicke, dachte Sorley, und sie wird immer wieder versuchen, eine Nasenlänge voraus zu sein. Aber sie ist die Richtige, um in Belfast die Fühler auszustrecken.

Sie hatte die Liste eingesteckt, aber er bekam die Namen noch zusammen, die er in sein Smartphone tippte.

Pat erklärte, sie wolle keine Zeit verlieren und den nächsten Flug nach Belfast nehmen, suchte mit ihrem Smartphone eine passende Maschine heraus. Damit war sie eine Weile beschäftigt und Sorley fand die Zeit, sich mit Danny allein zu unterhalten.

Er war neugierig, wer der Verbindungsmann zum Yard war und welchen Rang er bekleidete. Zunächst wollte Danny nicht damit rausrücken, verriet ihm den Namen dann aber doch, weil Sorley scherzhaft meinte, er habe eigene Informanten und würde es sowieso rauskriegen. Es war einer der internen Mitarbeiter, die den ganzen Tag im Büro hockten und in den PC starrten. Es gab mit Sicherheit schlimmere Jobs auf der Welt, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, aber das wäre nie etwas für Sorley gewesen.

Nach der Schule hatte er keine großen Pläne gehabt, aber sofort gewusst, was er auf keinen Fall tun wollte. Sein Dad hätte ihn bei der Garda untergebracht, aber bevor sie das überhaupt auch nur ernsthaft besprechen konnten, hatte Sorley auf einem Konzert in Wicklow jemanden kennengelernt, der ihn mit wilden Ideen über ein vereinigtes Irland impfte.

Es dauerte nur wenige Wochen und brauchte wenige Besuche im Norden, um Sorley von der Sache zu überzeugen. Vielleicht wäre es nur eine kurze Phase der Begeisterung gewesen, aber sein Freund hatte darauf bestanden, dass er ganz einstieg und mit nach Belfast kam. Es war kaum genug Zeit, um einen Koffer zu packen und seinem Vater zu sagen, dass er für ein paar Tage nach Donegal wolle. Es vergingen Jahre, bis er wieder nach Hause kam und seinen Vater wiedersah.

 

Sie verabschiedeten sich und Pat sagte, sie wolle eine Shoppingtour machen, bevor ihr Flieger ging.

„Gib nicht zu viel Geld für die falschen Sachen aus“, sagte Sorley und umarmte sie zum Abschied. Zu seiner Überraschung drückte sie ihn einmal kurz und fest an sich, flüsterte ihm ins Ohr, und er solle im Feindesland keinen Unsinn machen.

Viele der ehemaligen Aktivisten kannten sich entweder persönlich oder konnten Namen, Gesichter und Eigenarten zuordnen. Pat wusste von Sorley, dass er sich gerne in seltsame Situationen hineinmanövrierte, und Sorley wusste von Pat, dass sie einen ungesunden Hang zum Glücksspiel hatte. Es hätte fantastisch sein können, wenn sie mehr gewinnen als verlieren würde. Jeder wusste, dass sie eine Menge Schulden hatte, Schulden bei den falschen Leuten.

In Sorleys Nacken kribbelte es, eine Gänsehaut breitete sich über seinen Rücken aus und ließ nur langsam nach, als Pat sich von ihm löste und Richtung Aufzug verschwand. Er wusste, dass er sie nicht leiden konnte, aber er konnte eine gewisse Anziehungskraft nicht verleugnen. Dieser Auftrag versprach, aufregend zu werden.

 

In einem Internetcafé suchte Sorley sich die Informationen über die Anschläge heraus, fand bestätigt, dass es nach offizieller Meinung keine Verbindung gab. Er vermisste die alten Zeiten, als Zeitungsredakteure noch ihre eigenen Artikel und ihre eigene Meinung verfasst hatten. Heute wurden über solche Dinge nur noch die Agenturmeldungen übernommen.

Von Unbekanntem auf offener Straße erschossen, Motiv und Täter unbekannt. Die Informationen zu den Opfern waren reichhaltig, aber halfen nicht weiter. Männlich, im mittleren Alter, verheiratet, Angestellte mit gutem Einkommen. Es hätte auch den nächsten Kunden am Bankautomaten treffen können und die Eigenschaften wären noch immer identisch gewesen. Keine der geschockten und trauernden Angehörigen konnten sich die Tat erklären.

Die Informationen aus dem Yard kamen von der Pressestelle, es war nicht ersichtlich, wer an den Fällen arbeitete. Wenn sie schlau waren, hatten sie ein Team für beide Fälle gebildet.

Sorley ließ sich die Seiten ausdrucken und fand über die Namen der beiden Opfer auch deren Wohnort heraus. Das nächste Ziel.

In einem kleinen Restaurant in der Nähe seiner Unterkunft machte er eine Pause, sah die Unterlagen durch, während er auf sein Curry wartete. Wenn er in London war, bevorzugte er die asiatische und indische Küche. Die Einwanderer hatten immer ihr Bestes mit in die neue Heimat importiert und die eigene Küche gehörte dazu. Er saß an einem kleinen wackeligen Plastiktisch, der ganz dem Ambiente des Restaurants entsprach, aber die Küche war hervorragend. Noch am Abend rief er die Witwe des ersten Opfers an.

Frank Dambert war vor zwei Monaten gestorben und Sorley gab sich als freiberuflicher Journalist aus, der einen Artikel über ihn und seinen sinnlosen Tod schreiben wolle. Anna Dambert, nun verwitwet, war in ernsten Geldschwierigkeiten, denn das Haus in Hammersmith war noch nicht abbezahlt. Sie war mit den Zahlungen an die Bank im Rückstand, weil die Versicherung sich noch immer weigerte, die Summe der Lebensversicherung auszuzahlen. Man hatte ihr gesagt, man müsse die Ermittlungen der Polizei abwarten.

Am Telefon klang sie gefasst und interessiert genug, sich am nächsten Tag mit Sorley zu treffen. Es war offensichtlich, dass sie sich von einem Zeitungsartikel etwas versprach. Sorley würde sie in ihrem Haus treffen, sobald die Kinder zur Schule waren.

Die andere Witwe, Joanne Umphrey, die neben ihrem Mann am Geldautomaten gestanden hatte, war nicht zu erreichen. Sie befand sich noch immer in psychiatrischer Behandlung. Ihre Schwester und deren Ehemann hüteten das Haus und die Hunde. Die Umphreys waren kinderlos und seit fünf Jahren verheiratet gewesen.

Genug für einen Tag, dachte Sorley.

 

Er ging früh schlafen, nahm eine leicht dosierte Schlaftablette und stopfte sich Ohropax rein, um nicht gestört zu werden. In dem Haus mit den vielen fremden Bewohnern ging es bis in die Nacht sehr lebhaft zu, und das wollte er nicht mitbekommen.

Am frühen Morgen verließ er das Haus ohne ein Frühstück, kaufte sich unterwegs einen Bagel und einen Kaffee bei einem Italiener. London hatte eine großartige Atmosphäre, nicht nur als Metropole und Hauptstadt, auch als Schmelztiegel der verschiedensten Nationen.

Er mochte diese elektrische Lebendigkeit der Straßen, Menschen und Viertel, die sich alle ein wenig unterschieden, aber immer typisch London waren. Die alten ehrwürdigen Gebäude duckten sich hinter den modernen Geschwistern und verschwanden in der Skyline, aber das historische London war es, was die Touristen sehen wollten.

Anna Dambert lebte mit ihren Kindern in einem Reihenhaus in Hammersmith, die Häuser zogen sich wie auf einer endlosen alten Perlenkette die Straße hinauf. Solche Vororte waren die Geburtsstätte von Verzweiflungstaten und Karrieren. Niemand, der hier aufwuchs, würde bleiben wollen.

Sorley wurde freundlich hereingebeten und unmittelbar von dem Unglück, was über die Familie hereingebrochen war, förmlich erschlagen.

Bereits im Eingangsbereich hingen Familienfotos, Porträts und noch mehr Fotos, je weiter Sorley das Haus betrat, und die Bilder, auf denen Frank Dambert allein abgebildet war, waren mit einem schwarzen Trauerflor versehen. Diese Galerie setzte sich im Wohnzimmer fort.

Sie nahmen in den modernen Sesseln an dem niedrigen Wohnzimmertisch Platz, Sorley lehnte einen Tee ab und fragte, ob er das Gespräch aufzeichnen dürfe. Anna hatte nichts dagegen. Ohne, dass er auch nur eine Frage gestellt hatte, begann sie zu erzählen. Sie war dankbar für jeden Zuhörer und wollte nicht einmal wissen, in welcher Zeitung der Artikel erscheinen würde. Ihr Mann war wie jeden Tag zur Arbeit gefahren und am späten Nachmittag hatte sie den Anruf der Polizei erhalten.

„Ich war tagelang davon überzeugt, dass es sich nur um eine Verwechslung handeln konnte“, sagte sie. „Und ich war so wütend auf ihn, weil er sich nicht meldete und nicht nach Hause kam. Den Kindern sagte ich, Daddy sei auf einer Geschäftsreise, und weil die ganz Kleine immer wieder nach ihm fragte, erfand ich eine Geschichte, dass Frank nach Italien gereist sei. Und dann wollte sie nur noch wissen, wie es in Italien sei und ich musste ihr Geschichten über Pasta und Motorroller erzählen. Und im Hinterkopf hatte ich noch immer: Er kann nicht tot sein. Er kommt nur später nach Hause. Er ist in Italien.“

Sie machte eine „Was soll ich sagen?“ Geste und fuhr fort. Ab und zu warf sie einen Blick auf das Smartphone, was auf dem Tisch vor ihr lag und ihr Gespräch aufzeichnete.

„Dann habe ich ihn im Leichenschauhaus identifiziert. Er kam mir so fremd vor. Aber es war Frank, und als ich sagte, Ja, das ist mein Mann, hatte ich gehofft, es wäre vorbei, aber danach fing alles erst an.“

Sie berichtete von den Schwierigkeiten, das Haus zu behalten, dass die Versicherung behauptete, sie könne nichts tun, solange es keinen offiziellen Polizeibericht gäbe.

„Ich will wissen, wer es war und warum Frank. Ich hoffe so sehr, dass die Polizei zu mir kommt und sagt, dass sie den Kerl gefunden haben.“

Sorley konnte es ihr nachfühlen. Teilweise, weil er selbst Freunde verloren hatte und für lange Zeit nicht wusste, was mit ihnen geschehen war, teilweise, weil er für solche Dinge selbst verantwortlich gewesen war. Es mochte Jahre her sein, aber deshalb ließen die Schuldgefühle nicht nach. Sie wurden nur flexibler und ließen sich leichter nach hinten schieben.

Er hätte der Frau ein paar tröstende Worte sagen können, unterließ es aber, weil er dachte, dass es nicht zu der Rolle eines Journalisten passte.

 

Als er sich verabschiedete, sagte er, er würde in den nächsten Tagen noch einmal vorbeischauen.

Während er das Haus der Damberts verließ, bekam er eine Textnachricht von Pat, dass sie noch keine Neuigkeiten für ihn habe. Er nahm es zur Kenntnis und antwortete nicht darauf.

Er war mit der Tube nach Hammersmith gefahren, fuhr mit der Linie zurück bis nach Paddington und stieg dort in die Linie nach Bayswater um. Dort kaufte er ein paar der Yellow Press Erzeugnisse des Tages. Es wunderte ihn nicht, dass die beiden Morde erst auf Seite drei abgehandelt wurden, immerhin hatte man beide Taten in einen Artikel gepackt und zitierte das Yard mit einer Frage: Können wir dem Scotland Yard Glauben schenken, dass diese Morde nichts miteinander zu tun haben?

Und in der nächsten Zeitung, die er nach Meldungen durchblätterte, fand er heraus, dass man dort schon einen Schritt weiter war. Wann schlägt das Phantom wieder zu?

Diese Blätter hatten einen klaren Vorteil der seriösen Presse gegenüber; sie schrieben noch frei nach Schnauze.

Er rief die Zentrale des New Scotland Yard an und ließ sich zur Pressestelle durchstellen. Wenn er sich konzentrierte und sich in eine Rolle hineinfand, konnte er seinen Dialekt unterdrücken, um sich nicht sofort zu verraten. Wenn ihn jemand darauf ansprach, erklärte er es damit, dass er als selbstständiger Journalist in London arbeitete, aber ursprünglich aus Dublin sei. Der Mann am Telefon, der sich als Sergeant Moore vorstellte und sehr strikt und kurz angebunden blieb, fragte nicht danach. Dass Sorley sich als freier Journalist ausgab, blieb unüberprüft, zumindest während des Gespräches. Er fragte, ob es möglich sei, mit einem der ermittelnden Beamten zu sprechen, aber das wurde abgelehnt und er versuchte, über einen anderen Weg an die Namen zu kommen.

„Darf ich den Beamten zitieren, dass es keine Verbindung zwischen den Morden gibt? Kein Motiv und keine Übereinstimmungen bei der Tatwaffe?“

„Das dürfen sie zitieren, Sir.“

Vor Sorleys inneren Auge tauchte das Gesicht eines Mannes auf, der perfekt zu dieser Stimme passte, und das war die Figur Blackadder.

Blackadders blumige Art, Verwünschungen und Flüche auszudrücken, Mitmenschen niederzumachen und nur auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein, schien sich mit dieser Telefonstimme perfekt zu decken. Sorley bemühte sich, bei der Sache zu bleiben, konnte aber gegen das Kopfkino nichts ausrichten.

Er stand in der Telefonzelle, lehnte die Stirn gegen die Glasscheibe und schloss einige Sekunden die Augen. Blackadder wollte nicht verschwinden.

„Wen darf ich als ermittelnden Beamten zitieren?“, fragte er und bekam nach kurzem Zögern die Antwort.

„Inspector William Keetman“, sagte Blackadder und rümpfte die Nase. Die Fragen, die Sorley danach stellte, waren nebensächlich, er wollte nur davon ablenken, dass er nur den Namen des Inspectors hatte wissen wollen.

Er bedankte sich und legte auf, rief über das Handy Danny an und bat ihn, ein paar Informationen über den ermittelnden Polizisten rauszukriegen. Es war immer gut zu wissen, wer auf der anderen Seite arbeitete.

Hoffentlich ist William Keetman nicht einer aus der alten Schule, dachte er.

Aus seinen eigenen Kontakten suchte Sorley sich einen der Journalisten heraus, der ihm auch den gefälschten Presseausweis besorgt hatte, plauderte eine Weile mit ihm und kam dann erst damit raus, dass er in London war.

„Treffen wir uns heute Abend auf ein Bier?“, rief Steve. „Lass uns über die alten Zeiten plaudern.“

Sorley tat so, als habe er überhaupt keine Zeit, ließ sich aber schließlich dazu überreden.

„Um neun am üblichen Ort?“

Steve Rose sagte gut gelaunt zu und verabschiedete sich mit einem „Bis dann, irischer Bastard“. Er hatte einen schrägen Humor und eine sehr direkte Art, mit der er viele Leute mit Begeisterung vor den Kopf stieß.

Er hatte bereits ein Lager getrunken, als der Journalist endlich um halb zehn eintraf. Der Pub war gut besucht und im vorderen Teil und an der Theke war kein Platz mehr frei, im hinteren Bereich, wo die Stühle und Tische eng zusammengeschoben waren, hatte Sorley einen Stuhl für ihn verteidigt.

„Du bist unfair“, sagte Steve, „du hättest mir eins mitbestellen können.“

„Hab ich“, erwiderte Sorley und grinste, „aber ich musste zu lange auf dich warten und habs selbst getrunken.“

Steve hängte seine Jacke über die Stuhllehne, legte Smartphone und ein altmodisches Notizbuch auf den Tisch, drückte sich durch die Masse der Pubgäste zur Theke zurück.

„Noch einmal das Gleiche?“, rief er über seine Schulter zurück, wartete aber Sorleys Antwort nicht ab. Nach wenigen Minuten erschien er wieder, stellte zwei Glas Cider auf dem Tisch ab.

„Was führt dich nach London?“, fragte er und war nicht im Mindesten über Sorleys Antwort überrascht.

„Ich kenne den Inspector“, sagte er zwischen zwei gierigen Schlucken Bier, und rollte mit den Augen, „er gibt sich immer verbissen und wortkarg. Wenn man Informationen aus ihm rauskriegen will, muss man ihn heftig schütteln. Bei seinen Leuten heißt er Inspector Ketchup.“

Er wartete, bis er in Sorleys Gesichtsausdruck erkannte, dass sein Gegenüber den Witz verstanden hatte.

„Unter Druck wird er hektisch und ungeduldig mit seinen Leuten.“

„Ich wette, er ist einer von den Typen, die zu wenig sprechen und zu viel grübeln, und dann alle anderen dafür abstrafen, dass sie keine Gedanken lesen können.“

„Du bist ihm also auch schon begegnet.“

 

Steve Rose war ein Mann, der sehr gut aussehend sein könnte, wenn er sich mehr um sein Erscheinungsbild kümmern würde. Sorley hatte ihn noch nie mit einem ordentlichen Haarschnitt oder in frischen Klamotten gesehen. Er war ein paar Jahre älter als Sorley, bereits zweimal geschieden und erfreute jeden Gesprächspartner mit einem erfrischenden original Londoner Akzent. Er war ein exzellenter Schreiber und Journalist, konnte in seinen Kommentaren und Artikeln unerbittlich und scharf wie eine Rasierklinge sein. Sorley schätzte nicht nur seine Fähigkeit, dem Leser Zusammenhänge zu erklären und scharfzüngig Politiker und Wirtschaftsbosse abzustrafen, sondern auch die Tatsache, dass er damals mit der Politik der eisernen Lady nicht einverstanden gewesen war. Und gleichzeitig hatte er keine Gelegenheit ausgelassen, den Politikern von Sinn Fein die Hosen runterzuziehen. Journalistisch gesehen.

„Ich hab bislang nur seinen Namen“, erwiderte Sorley, „aber ich kenne solche Persönlichkeiten.“

Sie leerten die Gläser, Sorley holte die nächste Runde. Eine Weile redeten sie über allgemeine Dinge, lachten über die Anekdoten, kamen dann auf Sport und neue Kinofilme zu sprechen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie die beiden Morde ansprachen. Steve war ebenfalls der Meinung, dass es sich um einen Täter handelte.

„Wir haben immer wieder verrückte Mordfälle, schließlich ist London berüchtigt dafür und hat einen Ruf zu verlieren, aber bei dieser Sache habe ich ein ungutes Gefühl. Zwischen den Morden lag mehr als ein Monat, es ist also nur eine Frage der Zeit, bis wieder etwas passiert.“

Ebenfalls wusste niemand, ob die beiden Morde nicht die Ersten in einer Serie waren. Manchmal wechselten Mörder ihren Wohnort, aber deshalb nicht ihre Lieblingsbeschäftigung.

„Bei solchen Dingen hoffe ich immer, dass so ein Scheißkerl einfach einen Herzinfarkt bekommt und tot umfällt.“

Steve erhob sich von dem Stuhl, leerte im Stehen sein Glas und wartete ungeduldig darauf, dass Sorley gleichzog. Er wollte die nächste Runde holen. Im Laufe des Abends, an dem sie beide kein Ende fanden, lernten sie zwei nette Mädchen kennen, die im Beste-Freundin-Partnerlook unterwegs waren und sehr viel älter waren, als ihr Verhalten schließen ließ.

Sie hatten viel Spaß zusammen, lachten die ganze Zeit und Steve tat so, als wolle er sie beide abschleppen, worauf die Frauen, die wie Rose Tylers Mutter als Duo aussahen, meinten, sie seien sehr geschmeichelt, aber sie würden den netten Iren vorziehen. Sorley war betrunken genug, um das alles sehr komisch zu finden, aber er hatte nicht vor, mit den Weibern etwas anzufangen. Nicht mal mit einer von den beiden.

Kurz, bevor sie den Abend am frühen Morgen beschließen wollten, weil Sorley endlich wieder eingefallen war, dass er am Morgen etwas vorhatte, wurde er Opfer eines anderen Betrunkenen. Es war kein körperlicher Angriff, obwohl auch das schon vorgekommen war, aber es war kein schönes Ende für diesen Abend. Es war weit nach Mitternacht und die Mädchen hatten sich verabschiedet, um in die nächste Disco zu ziehen, die meisten Gäste waren so betrunken, dass sie mit einem weiteren Bier Gefahr liefen, ins Koma zu fallen. In dieser allgemeinen Stimmung wurden entweder Freundschaften fürs Leben geschlossen, an die sich niemand am nächsten Morgen mehr erinnern konnte, oder man brach aus einer Nichtigkeit heraus einen Streit vom Zaun. Auch an solche Streitereien erinnerte sich niemand mehr am nächsten Tag, mit der Ausnahme, wenn es eine Prügelei gab und man sich beim Blick in den Spiegel über das blaue Auge wunderte.

Sorley hätte den Mann, der ihn um einen halben Kopf überragte und zu dem er interessiert hinaufblinzelte, einfach ignorieren können, aber er wollte es nicht. In einem Londoner Pub als Ire beschimpft zu werden, kam noch immer häufig genug vor, und Sorley fand es sogar komisch, wie gut der Mann ihm gegenüber getroffen hatte.

„Ihr seid Bomben legende verdammte dumme Bastarde“, bekam er undeutlich zu hören, nickte freundlich und bemerkte im Augenwinkel, wie Steve so sehr zu glucksen begann, dass seine massigen Schultern zuckten.

„Nun ja“, sagte Sorley, „möchtest du darüber diskutieren oder können wir das als nüchterne Bemerkung eines Betrunkenen stehen lassen?“

Mit weniger Alkohol im Blut hätte der Mann in dem Arsenal T-Shirt mit Humor reagiert und alles wäre gut gewesen, aber als er verstand, was Sorley in einem wundervollen irischen Akzent erwidert hatte, holte er aus. Sorley hatte seine Ausbildung und seine antrainierten Reflexe auf seiner Seite. Es war das reine Muskelgedächtnis, was ihn vor Schlimmerem bewahrte. Der Schlag kam wie ein Hammer, bedächtig aber mit roher Gewalt, und er duckte sich unter ihm weg, ging zum Gegenangriff über. Der Kerl stand wie ein Baum, Sorley hätte ihn nicht zu Fall bringen können (alte Kerle, die an den Alkohol gewöhnt waren, waren standsicher), aber gegen die Hebelwirkung auf sein Handgelenk, das sich mit einmal auf seinem Rücken Richtung Schulterblätter drehte, konnte er nichts ausrichten. Er machte ein pfeifendes Geräusch und sagte, als sich sein hochroter Kopf in der Höhe von Sorleys Hüften befand: „Du brichst mir den Arm, du Bastard.“

Sorley hielt ihn einen Moment dort, verringerte den Druck und verstärkte ihn sofort wieder, als er Gegenwehr spürte. Er wechselte einen Blick mit Steve, der einen Schritt zurückgetreten war und in einer fast komischen Geste die Hände hob.

Du hast ihn dir gefangen, mach mit ihm, was du willst.

„Wenn ich dich jetzt loslasse, großer Junge, bist du dann friedlich?“ Sorley flüsterte es ihm ins Ohr, nachdem er den Mann sich halb hatte aufrichten lassen. Noch immer hatte er eine hochrote Gesichtsfarbe, aber keinen Kampfgeist mehr in den Augen. Sein Stolz verhinderte, dass er zustimmte oder sich gar entschuldigte, aber seine passive Geduld gab Sorley das richtige Zeichen. Er ließ ihn los und wandte sich sofort zum Gehen. Verharrte man in solchen Situationen, kochten sie gerne wieder hoch oder die Fußballkumpel des Kontrahenten kamen ihm unverhofft zur Hilfe.

Vor der Tür reichte Steve ihm die Jacke und klopfte ihm auf die Schulter.

„Du hättest mit ihm den Boden aufwischen können.“

„Früher hätte ich genau das gemacht“, sagte Sorley, „heute kann ich mich zügeln, bevor es eskaliert.“

Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn er mit einer blutigen dicken Lippe herumlaufen müsste. Pat hätte ihn für den Rest des Auftrags nicht mehr in Ruhe gelassen.

Er winkte sich ein Taxi und bot Steve an, ihn zuhause abzusetzen, aber der wollte die paar Straßenzüge zu Fuß gehen.

„Bist du sicher, dass du noch gehen kannst?“, rief Sorley aus dem Taxi heraus, hielt ihm die Tür auf, falls er es sich überlegen sollte.

„Zur Not krabbel ich nach Hause“, erwiderte Steve, machte dem Fahrer ein Zeichen, dass er losfahren könne.

Sorley knallte die Tür zu, schnallte sich an und nannte die Adresse seiner Unterkunft.

Er begegnete keinem Mitbewohner, der ihn vom Schlafen abhalten konnte, fiel endlich ins Bett. Kaum, dass er sich die Decke über die Ohren gezogen hatte, klingelte sein Handy. Unter anderen Umständen hätte er es ausgeschaltet und den Anruf ignoriert, aber während eines Auftrags galten andere Regeln. Er nahm den Anruf an und brummte: „Ich hoffe für dich, dass es wichtig ist.“

Pat klang so munter, als riefe sie aus einer anderen Zeitzone an.

„Hattest du schon geschlafen? Ich halte dich nur auf dem Laufenden, damit du deine nächsten Schritte planen kannst. Meine Top Drei sind als Verdächtige ausgeschieden. Einer macht Urlaub auf Staatskosten, einer liegt unter der Erde und hat somit das beste Alibi der Welt und der Dritte ist nach Australien ausgewandert. Ich hab gerade mit ihm telefoniert und er war wirklich angefressen, dass wir an ihn auch nur gedacht haben.“

Sorley hielt sich das Handy unter der Bettdecke vor das Gesicht und antwortete mit geschlossenen Augen: „Das nächste Mal kannst du auch eine Textnachricht schicken.“

Er schaltete den Lautsprecher aus, drückte die Verbindung weg und dachte eine Sekunde darüber nach, wer nun in die Top Drei aufrückte. Dann schlief er endlich ein.

 

Als ihn morgens das Smartphone weckte, wusste er, weshalb er komisches Zeug geträumt hatte. Das Telefon lag noch immer neben ihm und von den Strahlen veränderten sich seine Träume. Es war acht Uhr morgens, er duschte so kalt, wie er es ertragen konnte, griff blind nach seinen Klamotten und wollte um halb neun das Haus verlassen, aber er wurde von einem anderen Frühaufsteher aufgehalten.

„Willst du nicht frühstücken?“, rief Rory und verfolgte ihn mit der Bratpfanne, aus der es verdächtig rauchte, bis in den Flur. Sorley klopfte auf sein linkes Handgelenk, an dem er seine Uhr trug und sagte, er habe keine Zeit.

„Es ist ungesund, ohne Frühstück den Tag zu beginnen.“

„Nein“, rief Sorley zurück, riss die Tür auf und verschwand nach draußen. „Es ist ungesund, fettiges Zeug am frühen Morgen zu essen.“

Das Wetter hatte sich nicht verändert, seit er vor Stunden nach Hause gekommen war, es regnete noch immer. Obwohl er nicht sicher war, ob er noch Restalkohol hatte, nahm er den Astra, den er in einer Nebenstraße geparkt hatte, um zum Haus der Familie des zweiten Opfers Umphrey zu fahren. Unterwegs kaufte er einen Kaffee und einen Becher Joghurt mit Früchten. Weil er zum Essen beide Hände brauchte, parkte er vor dem Haus der Umphreys und beobachtete aufmerksam, wer kam und wer ging. Die Kombination aus Joghurt und Kaffee hinterließ einen unangenehmen pelzigen Nachgeschmack auf seiner Zunge.

Es war früh am Morgen, ein Mann ging mit den Hunden spazieren und kam nach fünfzehn Minuten zurück, schlich sich ins Haus, als fühle er sich beobachtet. Erst, als er im Hauseingang die Kapuze der Regenjacke zurückschlug, erkannte Sorley einen Mann in seinem Alter, der einen gehetzten Eindruck machte. Vielleicht hatten sie übertriebenen Besuch von der Yellow Press bekommen, vielleicht befürchtete er, er könne das nächste Opfer werden.

Sorley trank seinen Kaffee, wünschte, er hätte eine Flasche Mineralwasser gekauft, verzog immer wieder das Gesicht, und beobachtete das Haus eine weitere Stunde, in der nichts passierte. Irgendwann stieg er aus dem Wagen und klingelte an der Haustür. Wieder stellte er sich als freier Journalist vor, war aber vorsichtiger als bei Anna Dambert. Die Ehefrau unter Schock und noch immer in der geschlossenen Abteilung verhinderte ein forsches Auftreten. Der Mann, der ihm die Tür öffnete, war ebenso unrasiert wie er und schien sich unwohl zu fühlen. Im Hintergrund bellten die Hunde, eine Frau rief sie vergeblich zur Ordnung. Sorley hatte die Hunde bei ihrem Spaziergang beobachtet. Es waren zwei rote Setter, die sich an der Leine vorbildlich benommen hatten, im Haus allerdings ihr Hausrecht einforderten. Auch Jagdhunde hatten ihren Stolz.

„Ich komme ungelegen“, sagte Sorley, hielt dem Mann seinen Ausweis entgegen, „aber können sie mir ein paar Fragen zu Peter Umphrey beantworten?“

„Was wollen sie denn noch?“ Der Mann in dem teuren Jogginganzug schien dankbar, dass er seinen Frust endlich an jemandem auslassen konnte. „Mein Schwager ist tot und wir hüten das Haus, mehr kann ich ihnen nicht sagen. Peter hatte keine Feinde und er hat nichts getan oder gesagt, womit er sich den Zorn aufgeladen hätte. Es gibt also nichts, worüber sie noch schreiben könnten. Es hat alles schon in den Zeitungen gestanden.“

„Wo haben die beiden Urlaub gemacht?“ Sorley tat unbeirrt, obwohl er wusste, dass der Mann absolut recht hatte.

„Urlaub? Ich glaube, sie waren im Frühjahr auf Zypern. Aber was …“

„Was ist mit Pferdewetten? Oder Hunderennen?“

Der Mann starrte ihn entnervt an und Sorley setzte hinzu: „Es muss eine Verbindung zum ersten Opfer geben.“

Im Hintergrund erschien die Frau, die es endlich geschafft hatte, die Hunde in ein Zimmer zu sperren. Sie schob ihren Mann zur Seite, herrschte Sorley an: „Verschwinden sie!“ und schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Ein gemeinsames Urlaubsziel war kaum eine Verbindung, aber es war ein Weg gewesen, um den Mann am Reden zu halten. Sorley überlegte eine Sekunde, drehte dann ab und ging zu seinem Astra zurück. Neben ihm hielt ein dunkelroter Volvo, zwei Männer in dunklen Anzügen stiegen aus, waren dabei so auffällig unauffällig, als sie sich Sorley in den Weg stellten, dass bei ihm sofort der Alarm losging.

„Sir?“

Sorley kannte diese Art, jemanden den Dienstausweis unter die Nase zu halten und dabei die Straße zu beobachten, als müsse man andere verdächtige Personen im Auge behalten. „Können wir sie einen Moment sprechen?“

Sorley hatte den Namen auf dem Ausweis sofort wiedererkannt. Inspector William Keetman, genannt Inspector Ketchup.

„Was kann ich für sie tun, Inspector?” Er war nicht so entspannt, wie er klang; das Verhältnis zur englischen Polizei war nicht einfach. Sie konnten nie wissen, ob es nicht doch irgendwo Akten über sie gab, selbst, wenn sie niemals von der Polizei geschnappt worden waren. Er schwächte seinen Akzent ab, dass nur noch eine kleine verräterische Spur hörbar war, sah die beiden Männer vom Yard erwartungsvoll an.

Inspector Ketchup war früh ergraut, trug sein Haar sehr kurz geschnitten und er war von der Sorte, die noch immer sportlich wirkte, obwohl sie zu viel Speck auf den Rippen hatte. Das bemerkenswerteste waren seine hellen Augen, die aus ihm einen unfreundlichen Kerl machten. Verzog er sein Gesicht zu einem Grinsen, blieben seine Augen kalt. Er musterte Sorley, nahm den Akzent unkommentiert hin und sagte, er solle sich ausweisen. Sorley zeigte ihm seinen Presseausweis.

„Nehmen sie Rücksicht auf die Angehörigen“, sagte Inspector Keetman, machte einen Schritt auf Sorley zu, „wenn ich sie noch einmal dabei erwische, dass sie sich den Familien der Opfer nähern, nehme ich sie fest.“

„Und sie bestehen noch immer darauf, dass es keine Verbindung zwischen den Opfern gibt?“

„Kein Kommentar“, sagte Keetman, trat einen Schritt zur Seite und machte eine Geste, dass Sorley verschwinden solle. Sorley tat ihm den Gefallen, ging auf seinen Wagen zu und drehte sich noch einmal um, als Keetmans Kollege rief: „Weshalb hat die irische Presse Interesse an dem Fall?“

„Ich folge nur den Spuren“, erwiderte Sorley und stieg in seinen Wagen. Weil er befürchtete, dass sie ihm folgen könnten, fuhr er kreuz und quer durch die Stadt, stellte dann den Astra in ein Parkhaus und stieg auf die Tube um.

In einem Café in Covent Garden nahm er ein zweites Frühstück ein und rief einen alten Freund und Kollegen an, um seinerseits seine Top Ten Liste abzuarbeiten. John hatte guten Kontakt zu den Splittergruppen und zu den Jungs, die ausgestiegen waren, denen man solche Aktionen aber noch immer zutraute.

„Ich weiß von keinem, der nach England gegangen wäre“, sagte John nach einer kleinen Pause des Überlegens, „aber einige sind weggezogen oder verschwunden. Wenn du willst, finde ich für dich raus, wer in den letzten Monaten untergetaucht ist.“

„Danke“, sagte Sorley, „und wundere dich nicht, wenn Pat Fanning bei dir auftaucht und die gleichen Fragen stellt.“

Er beendete sein Frühstück, bezahlte und machte sich Gedanken darüber, wie er aus dem Schussfeld des Yards bleiben sollte. Es mochte eine gute Idee sein, weiter den Journalisten zu spielen, aber wenn sie ihn beim nächsten Mal auf den Kopf stellten, könnten sie schnell herausfinden, dass sein Presseausweis das laminierte Papier nicht wert war.

Fast hoffte er, der Sniper würde erneut zuschlagen, damit sie einer frischen Spur folgen konnten. Diesmal rief er Pat an und fragte, ob sie einen Schritt weitergekommen sei.

 

***

Von einigen ehemaligen Arbeitskollegen kannte Pat die Adressen und wusste, wo Verwandte lebten, die Auskünfte geben konnten, aber das war die Ausnahme. Von einigen kannte sie gerade mal den Vornamen oder hatte einen Spitznamen, unter dem sie agiert hatten, und sie musste immer wieder Kontaktleute anrufen, um etwas herauszufinden. Sie saß in einem der Best Western Hotels in Belfast, hatte sich auf Mr-Green-dot-com eingeloggt und telefonierte sich die Finger wund. Ihre Personenliste wurde zunächst länger, dann schrumpfte sie wieder zusammen, weil sie die meisten Namen ausstreichen konnte. Entweder hatten die Männer die Stadt nicht verlassen, waren pünktlich zur Arbeit erschienen, oder waren zu einer solchen Aktion nicht mehr fähig.

Wir suchen einen aus unserer Generation, dachte sie, einer, dem es langweilig geworden ist. Der im Drogenhandel steckt und darüber ein wenig die Übersicht verloren hat.

Als sie ihrem Kontaktmann verriet, nach wem sie suchten, meinte er: „Das Phantom kann auch ein durchgeknallter Franzose sein oder ein Russe. In jeder Armee werden Scharfschützen ausgebildet.“

„Ich wäre froh, wenn es so wäre. Es behagt mir nicht, dass wir so ins Zentrum des Interesses rücken könnten.“

Den Rest des Tages war sie in der Umgebung unterwegs, fragte nach den Männern, die noch auf ihrer Liste standen, kam am späten Abend in ihr Hotel zurück. Sie entspannte bei einer Runde Online-Poker und ging schlafen. Die Namen geisterten durch ihren Kopf und sie schlief unruhig. Einer von denen auf ihrer Liste könnte es sein.

Ein Anruf weckte sie, und obwohl sie tief geschlafen hatte, war sie sofort hellwach und nahm bereits nach dem ersten Klingeln an.

„Pat, wenn du wissen möchtest, wer von den Instabilen aus seiner Umgebung verschwunden ist, komm zum Frühstück ins Molly’s. Ich treffe dich dort.“

Pat wischte sich das Haar aus dem Gesicht, wechselte das Handy an das andere Ohr.

„Weshalb sagst du mir nicht einfach den Namen?“ Sie hatte die Stimme des Mannes erkannt, obwohl sie ihm nur einige Male begegnet war. Er lachte und sie hatte schlagartig vor Augen, wie sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Gut gelaunt, ein wenig betrunken, die weißen Hosenträger baumelten um seine Knie. Er hatte eine weitere Flasche Wein aus der Küche geholt. An diese Szene konnte Pat sich gut erinnern, weil es die letzten ruhigen und gemütlichen Momente auf dieser Party gewesen waren. Bereits Minuten später hatten zwei Kerle einen Streit vom Zaun gebrochen und die meisten hatten in dem Tumult das Haus verlassen, bevor die Garda eintraf.

„Ich bin gerade auf Nachtschicht“, bekam sie zur Antwort, „ich hab von einem Kollegen erfahren, weswegen du herumschnüffelst. Klar, könnte ich dir den Namen sagen und auflegen, aber gib mir die Gelegenheit, dich zum Frühstück einzuladen.“

Pat mutmaßte, dass er noch immer ein wenig verschossen in sie war. Das Molly’s war eines der vielen kleinen traditionellen Diners, in denen man von früh morgens bis zum Nachmittagstee ein gutes Frühstück bekam, lecker und ungesund mit

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Pia Recht
Bildmaterialien: Pia Recht
Tag der Veröffentlichung: 30.10.2014
ISBN: 978-3-7368-5217-4

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