Leseprobe der ersten Geschichte "Der Heckenschütze":
Prolog
Ein Junge, etwa elf Jahre alt, steht am Fernrohr und sieht vom Planetarium hinunter auf die Londoner Skyline. Er dreht das montierte Fernrohr von einer Seite zur anderen, macht dabei Schussgeräusche. Ein Mann tritt neben ihn und fragt: „Was machst du da?“
„Ich schieße auf Leute.“
Der Mann überlegt einen Moment und sagt dann: „Gute Idee.“
***
Jeden Tag kam Sorley O Cearnaigh an seinem alten Elternhaus vorbei, wenn er mit dem Wagen seines Vaters einkaufen fuhr. Immer hielt er an, kurbelte das Fenster runter und starrte auf das alte Gebäude, das einsam und verlassen inmitten eines überwucherten Gartens stand. Ein paar Heckenrosen hatten sich gegen das Unkraut durchgesetzt und blühten in einem strahlenden rosarot, aber das Haus selbst schien langsam in die Knie zu gehen. Auf dem Dach fehlten einige Schindeln, was hieß, dass es hineinregnete und vermutlich waren alle Balken längst durchfeuchtet und morsch. Kinder hatten die Fenster zur Straße eingeworfen und ab und zu sah er eine streunende Katze selbstbewusst im Fenster sitzen. Er widerstand der Versuchung, hineinzugehen und sich das leere Haus von innen anzusehen. Es war nur noch eine Hülle ohne Leben, und er verstand nicht, weshalb sein Vater das Grundstück nicht schon längst verkauft hatte.
Für das Haus und den Grund würde er zum richtigen Zeitpunkt eine Menge Geld bekommen. Stattdessen behielt er es und war in eine Wohnung im Herzen von Bunowen gezogen, die groß genug war, dass er ein Gästezimmer hatte einrichten können. Noch immer arbeitete Sorleys Dad als Garda.
Sorley nahm ihm nicht wirklich ab, dass er allein lebte. Wenn er ihn besuchen kam, fand er zwar keine weiblichen Utensilien, aber vielleicht war die Dame auch nur sehr ordentlich und diskret.
„Du bist selten genug hier“, sagte sein Dad. „Du kannst ruhig noch ein paar Tage länger bleiben. Lass uns einen Ausflug in die Berge machen. Oder wir fahren nach Connemara.“
Er schob in seinem Job eine ruhige Kugel, war stets gut gelaunt mit seinem Dienstwagen zwischen den Höfen und umliegenden Farmen unterwegs. Meist nahm er Vermisstenanzeigen für entlaufene Haustiere auf oder schrieb Berichte über Hauseinbrüche. Er schien es zu genießen, wenn er nach Hause kam und sein Sohn hatte ihm etwas zu essen gemacht und eine Flasche Bier kaltgestellt.
Nie fragte er, was Sorley im Moment beruflich tat, nie sprachen sie über die Zeit, als sein Sohn nach Nordirland abgehauen war. Die einzige Bemerkung, die dieses Thema ankratzte, war: „Ich bin froh, dass es dir gut geht und du ab und zu deinen alten Vater besuchen kommst. Nach so vielen Jahren.“
Erst, nachdem Sorley ausgestiegen war (soweit man aus dieser Organisation aussteigen konnte), war er mit seinem Vater wieder in Kontakt getreten. Vorher wäre es unmöglich gewesen, es hätte jeden seiner Einsätze infrage gestellt.
Seine Heimat Bunowen lag im Nordwesten Irlands und die Menschen lebten von der Landwirtschaft, vom Torfstechen und seit den Achtzigern auch vom Tourismus. Niemand wurde hier reich, aber gottlob verhungerte auch niemand mehr. Sorley genoss diese stille Zeit bei seinem Vater. Und es gab ihm auch immer wieder die Gelegenheit, Kontakt zu seiner Ex-Frau herzustellen, die die Farm ihrer Eltern übernommen hatte und nebenbei noch Taxi fuhr. Nachdem sie genügend emotionalen Abstand zwischen sich gebracht hatten, gingen sie freundschaftlich miteinander um.
Manchmal half er ihr bei den Arbeiten auf dem Hof oder machte für Touristen, die sich bei ihr im Bed and Breakfast einquartiert hatten, den Reiseführer.
Nach dem Einkauf in der kleinen Shopping Mall, die eine Reihe von Klamottenketten und einen großen Supermarkt beherbergte, fuhr Sorley an seinem Elternhaus vorbei, schwelgte in überflüssigen Erinnerungen und machte einen Abstecher zu Oife Keogh, weil es einfach auf dem Weg lag.
Bei ihr trank er einen Tee, und sie war diejenige, die ihm die Fragen stellte, die er nie gerne beantwortete. Wurde sie zu direkt, stellte er die Gegenfrage: „Weshalb hast du noch niemanden gefunden, der dich wieder heiratet, Oife?“
„Weil ich noch immer hoffe, wieder so jemanden wie dich zu finden“, erwiderte sie dann.
Er war seit über einer Woche zu Hause, genoss den Frühling an der Westküste und wollte dem Drängen seines Vaters nachgeben, eine gemeinsame Tour nach Connemara zu machen, als er einen Telefonanruf erhielt.
„Unseren Ausflug müssen wir verschieben, Dad“, sagte er. „Ich muss nach London.“
***
London zeigte sich von seiner unbeständigen und hässlichen Seite. Er landete am Abend auf dem Londoner City Airport und wurde mit einem eisigen Graupelschauer empfangen.
Der Autoverleih hatte seine Reservierung verschlampt und wollte ihm einen Kleinwagen andrehen, der nach Sorleys Einschätzung eher ein „Kleinstwagen“ war. Das hässliche Ding ohne Rückbank.
„Ich steig in kein Auto, was ich mir anziehen muss“, sagte er. „Sorgen Sie bitte dafür, dass ich in zehn Minuten meinen bestellten Wagen abholen kann.“ Er blieb freundlich, aber sein Gesichtsausdruck bewies, dass er nicht zum Scherzen aufgelegt war. Sehr bestimmt klopfte er auf seine Platin-Kundenkarte, die auf dem Schalter lag. Der junge Mann hinter dem Schalter, der vermutlich gerade die Schule hinter sich gebracht hatte, wollte wieder mit ihm diskutieren, aber seine Kollegin warf Sorley einen schnellen Blick zu und stoppte ihn.
„Fünf Minuten“, sagte sie. Sie schob ihren Kollegen vom Rechner weg, ihre Finger flogen klickernd über die Tastatur.
Der Computer sagt nein, dachte Sorley.
Innerhalb von vier Minuten erhielt er die Unterlagen und den Schlüssel für einen Astra. Der Mittelklassewagen stand auf dem Parkplatz für ihn bereit. Sie entschuldigte sich für die Wartezeit und wünschte ihm eine gute Reise.
„Danke, love.“ Er ignorierte den jungen Mann, der wie unnützes Büroequipment neben ihr saß.
London war nie Ziel eine seiner vielen Aktionen gewesen, trotzdem hatte er immer ein ungutes Gefühl, wenn er in dieser Stadt unterwegs war. Die Achtziger und Neunziger waren noch immer zu sehr in seiner Erinnerung.
Er fuhr ins Zentrum, verfluchte das Wetter und den Straßenverkehr, telefonierte nebenbei mit seinem Verbindungsmann Guy, der ihm eine Unterkunft besorgt hatte. Der Leihwagen ging auf seine Rechnung, aber seine Auftraggeber hatten es nicht für nötig gehalten, ein ordentliches Hotel für ihn zu buchen.
Als er an der Adresse ankam und den Wagen vor dem Haus abstellte, beklagte er sich allerdings nicht mehr. Es war eines der angesagten Viertel von London, in denen die Mieten so hoch waren, dass sie sich kein normal Sterblicher mehr leisten konnte, was dazu führte, dass man jedes Zimmer und jede Ecke an einen Untermieter abgab. Das Haus mit der viktorianischen Fassade war vier Stockwerke hoch und offensichtlich gut restauriert. Er hoffte, dass es von innen ebenso gut aussah.
Gegen den dichten Regen hielt er sich die Reisetasche über den Kopf, bis er im schmalen Hauseingang stand, und auf das Klingelschild mit dem irischen Namen drückte. Obwohl es bereits nach zehn Uhr abends war, wurde augenblicklich das Licht im Flur eingeschaltet und Sorley hörte, wie jemand die Stufen herunterpolterte.
„Willkommen“, sagte Rory Butler und streckte ihm die Hand entgegen. „Die Klingel funktioniert, der Summer leider nicht.“
Sorley war sich nicht sicher, ob er nicht Seamus Heany gegenüberstand. Sie schüttelten die Hände, der große grauhaarige Mann zog ihn in den Flur und sie stellten sich mit Namen vor.
Rory Butler war der Eigentümer einer der großen Wohnungen in der dritten Etage und lebte mit seiner Freundin in zwei der größten Zimmer. Sie teilten sich mit den übrigen Mitbewohnern Küche, Bad und WC, und obwohl in der großen Wohnung über sechs Personen lebten, war alles penibel sauber und aufgeräumt. Die Wohnsubstanz war für einen Altbau erstaunlich gut, das lag daran, dass Rory von Beruf Zimmermann und Schreiner war und die meisten Arbeiten am Innenausbau selbst vorgenommen hatte. An seinen Unterarmen waren Tattoos von diversen Schreinerutensilien zu sehen, die einen fast kommunistischen Eindruck hinterließen.
„Wie lange wirst du bleiben?“, fragte er. Er führte Sorley in das Zimmer, was für ihn möbliert angemietet worden war. Es war klein, aber mit Fenster und einer so hohen Decke, dass Sorley fast schwindelig wurde, als er hinaufsah. Die Möbel waren zweckmäßig und stilistisch aufeinander abgestimmt. Sorley war es nur wichtig, dass er sich nicht in eine Matratze legte, die wie eine Hängematte nachgab, und war nach einem kleinen Liegetest zufrieden.
„Ich weiß noch nicht“, antwortete er. „Hängt vom Job ab.“
Für diesen Job hatte er sein Smartphone und ein Ersatzhandy mitgebracht. In dem einen hatte er alle Informationen, die er brauchte und das andere nutzte er, um mit Menschen zu telefonieren, die ihn danach nicht mehr erreichen sollten. Diese Handys verschwanden nach jedem Einsatz. Alles andere besorgte er vor Ort.
Rory überreichte ihm Haus- und Wohnungsschlüssel und sagte, er müsse das Auswechseln der Schlösser bezahlen, sollte er die Schlüssel verlieren.
„Am Anfang haben wir die Schlüssel nicht rausgegeben, weil eigentlich immer jemand zuhause ist, aber dann haben wir aus Versehen einen der Jungs in der Wohnung eingeschlossen und der kam an dem Tag nicht zur Arbeit. Er hat seinen Job verloren deswegen, weil sein Boss ihm nicht geglaubt hat.“
„Keine Sorge“, sagte Sorley. „Ich bin schwindelfrei und würde mich aus dem Fenster abseilen.“
Er bezahlte die Miete für einen Monat im Voraus und ging schlafen.
Am Telefon hatte er von dem Auftrag noch nicht viel erfahren und war umso gespannter, als er früh morgens mit einem Kaffee im Pappbecher im Büro des Mannes erschien, der ihn angeheuert hatte.
Das Maklerbüro war nicht nur eine Fassade. Guy Caffey verdiente sein Geld mit dem Verkauf von Häusern und Grundstücken in Großbritannien und Irland. In seiner alten Heimat hatte er vor vielen Jahren für Sinn Fein kandidiert, war aber irgendwann zurückgetreten, weil er zu der Überzeugung gelangt war, dass Politiker alle gleich waren. Sobald sie an der Macht waren, vergaßen sie ihre guten Vorsätze und Ideale. Er wollte nicht dazugehören. Allerdings blieb er in der Bewegung aktiv und hatte viele Kontakte.
Als das Gerücht aufkam, die Mordanschläge in London könnten etwas mit Irland zu tun haben (diese Gerüchte hatten sich in der irischen Gemeinde verbreitet, und waren noch nicht bis in die Medien getragen worden), hatte er sich mit Dublin in Verbindung gesetzt.
Bislang hatte es zwei Anschläge gegeben, aber alles sprach dafür, dass es dabei nicht bleiben würde. Und obwohl man bei einem Sniper ebenso an die anderen Radikalen denken konnte, waren die Jungs in Dublin sofort hellhörig geworden.
Auf die Angestellten des Büros mochte Sorley den Eindruck erwecken, als sei er ein neuer Kollege. Er trug ein helles Hemd, darüber ein dunkles Jackett und eine helle Jeans. Mit dem Kaffeebecher in der Hand und einer schmalen Aktentasche unter dem Arm hielt er direkt auf den Schreibtisch der Sekretärin zu. Diese sah von ihrem Laptop auf und tippte unbeeindruckt weiter, während Sorley sagte: „Ich habe einen Termin mit Guy Caffey.“
Sie hob kaum merklich die Augenbrauen, tippte eine Zahlenkombination und sagte in ihr Headset: „Sorley O Cearnaigh ist soeben angekommen, Sir.“
Sie nickte Sorley zu und augenblicklich kam Guy aus seinem Büro eine Tür weiter und nahm ihn in Empfang. Bei seinem Erscheinungsbild und Auftreten war Sorley sicher, dass die Immobilienbranche genetisch vorherbestimmt war. Guy war ein Prachtexemplar seiner Gattung. Glatt, freundlich lächelnd, einer, der perfekt darin war, das Hässliche schön zu reden.
Er ließ Sorley den Vortritt in sein Büro, in dem nur ein großer Konferenztisch und passende Stühle standen.
Ein großer Flachbildschirm war in die Wand eingelassen und das Standbild zeigte eine eingefrorene Straßenszene. Anhand des roten Doppeldeckers im Hintergrund und einiger Gebäude erkannte Sorley, dass es sich um London handelte.
„Wir haben ein Problem“, sagte Guy.
Er deutete Sorley sich zu setzen, nahm ihm gegenüber Platz und fuhr fort: „Warten wir noch, bis wir vollzählig sind, dann kann ich alles erklären.“
Er schlug elegant die Beine übereinander und entblößte schwarze Socken, auf denen das Logo eines sehr bekannten Designers eingestickt war. Sorley konnte der Versuchung nicht widerstehen und legte den rechten Fuß auf das linke Knie. Er trug ebenfalls dunkle Socken, aber durchgelatschte schwarze Doc Martens, die ihr hartes Leben mit ihren Schrammen und Flecken bewiesen.
Guy besah sich diese Schuhe und grinste breit. Er mochte ein geborener Immobilienmakler sein, der einem die schlimmste Bruchbude schönreden konnte, aber er erinnerte sich noch immer an die Zeiten in Nordirland.
„Es ist lange her, dass ich diese Schuhe an jemandem gesehen habe, der sie nicht nur wegen der Mode trägt“, sagte er.
Sorley grinste ebenfalls und fragte, auf wen sie warteten. Als Guy die Namen nannte, verging ihm das Grinsen.
Dass er nicht mit dieser Frau an dieser Sache arbeiten wollte, konnte er nicht mehr loswerden. Irgendwo summte es und die Stimme der Sekretärin nebenan kündigte die weiteren Gäste an.
Guy Caffey erhob sich und ging zur Tür, Sorley blieb sitzen und bewegte sich nicht. Eine Frau und ein Mann betragen den Raum, die Tür wurde geschlossen und ab diesem Zeitpunkt wurden sie nicht mehr gestört.
Die Frau stellte sich als Pat Fanning vor. Als Sorley seinen Namen nannte, sah sie ihn aufmerksam an.
„Ich kenne dich“, sagte sie. „Wir haben nie zusammengearbeitet, das ist eine Schande. Ich habe nur Gutes über dich gehört.“
„Wir sind irgendwann mal aneinander vorbeigelaufen“, sagte Sorley und reichte ihr die Hand. „Pat Fanning, nett dich mal persönlich zu treffen.“
Sie sah genau so aus, wie er sie in Erinnerung hatte. Während er immer ein wenig Mühe hatte, seriös aufzutreten, machte Pat den Eindruck, als käme sie gerade von einer Hollywood Premierenfeier. Sie konnte eine schlichte Bluse und Jeans tragen und sah trotzdem gestylt aus. Es war einige Jahre her, dass er mit ihr zu tun gehabt hatte und sie hatte sich nicht verändert. Der Mann, der mit ihr den Raum betrat, wechselte ein paar geflüsterte Worte mit Guy, stellte sich dann als Danny Fallon vor. Er selbst hätte es anders ausgedrückt, aber er war nur einer der vielen Laufburschen von Sinn Fein.
Sie setzten sich an den Konferenztisch und sahen sich den Film an, den Guy vorbereitet hatte. Es waren Aufnahmen aus Überwachungskameras in der Londoner Innenstadt, die typischen grauen Bilder mit der Anzeige von Datum und Uhrzeit am unteren Rand. Zunächst schien nichts Auffälliges an dieser Straßenszene; der übliche Verkehr, die überfüllten Straßen an einem halbwegs sonnigen Tag. Angestellte, die sich zur Mittagspause und auf einen Kaffee trafen, Touristen, die Fotos schossen, junge Leute, die modisch verirrt herumliefen. Dann scherte ein Wagen aus, verließ die Fahrbahn und fuhr ungebremst gegen einen Abfallbehälter, mähte diesen um und kam erst an der Hauswand zum Stehen. Passanten hatten sich mit schneller Reaktion in Sicherheit gebracht, standen ratlos und erschrocken neben dem Fahrzeug.
Aus dem zerdrückten Kühlergrill entwich Qualm, die Frontscheibe war blind gesplittert. Der Abfallbehälter steckte irgendwo unter der Vorderachse.
Das Bild wechselte. Die Aufnahmen aus einem Handy waren zu sehen, erst verwackelt, dann scharfe Bilder. Der Handybesitzer ging auf den Wagen zu, filmte in den Innenraum hinein. Der Fahrer saß mit offenen Augen hinter dem Steuer, eine Hand im Schoß, die andere noch am Lenkrad. Es hätte ein tragischer Sekundenherztod sein können, aber das war es sehr offensichtlich nicht. Da war ein Einschussloch in der Stirn. Wieder wechselte die Szene.
Danny stoppte den Film und sagte: „Bis dahin ging das Yard von einem Einzelfall aus. Ein persönlicher Racheakt. Bis das hier kam.“
Diesmal waren es zusammengestückelte Filme aus einem CCTV über einem öffentlichen Geldautomaten. Der Mann, der sich Geld zog, dabei mit seiner Begleiterin plauderte, zuckte plötzlich zusammen, fiel nach vorn mit dem Gesicht in den Touchscreen des Geldautomaten. Es gab keine Tonspur, aber das schockierte Gesicht der Frau und vereinzelte Blutspritzer auf ihrem hellen Kleid zeugte davon, was passiert war.
„Das waren zwei“, sagte Guy. „Ihr habt vermutlich in den Nachrichten davon gehört. Offiziell gibt es keine Verbindung zwischen den Taten. Scotland Yard sieht das intern allerdings anders.“
Danny schaltete den Fernseher aus und fügte hinzu: „Wir haben einen Kontaktmann im Yard, der uns diese Aufnahmen und Informationen zugespielt hat. Es besteht die Möglichkeit, dass es sich um einen normalen Schizo handelt, der im Abstand von Wochen wahllos auf Passanten und Autofahrer schießt, aber die Chancen sind gering. Auch die Ritter des Halbmonds können ausgeschlossen werden, die gehen anders vor.“
„Was heißt das?“, fragte Pat.
„Wir fürchten, dass einer von unseren Jungs dahintersteckt.“
Sind unsere Jungs die Einzigen auf der Welt, die mit Waffen umgehen können?, dachte Sorley.
„Habt ihr das auch vom Yard?“, fragte er. „Oder sitzt von uns jemand beim MI 5?“
Der MI 5 hatte vor Jahren eine Wanze in das Büro von Sinn Fein installiert und war aufgeflogen, und obwohl man die Sache der Lächerlichkeit Preis gegeben hatte, war es unwahrscheinlich, dass sich danach irgendjemand zur Zusammenarbeit bereit erklärte.
„Wir haben die Informationen ausgewertet, die wir vom Yard und aus eigenen Quellen haben. Es ist möglich, dass es einer von unseren Snipern ist.“
Pat murmelte in einem abfälligen Ton, dass sie nicht daran glaubte, dass einer von ihnen so verrückt sein könnte, um unmotiviert auf Passanten zu schießen.
„Das sollt ihr herausfinden. Sollte einer aus unseren Reihen dahinterstecken, müssen wir verhindern, dass es an die Öffentlichkeit kommt.“
Danny klang säuerlich und warf einen aufmerksamen Blick in die kleine Runde. Guy war der Einzige, der einen optimistischen Eindruck machte. Es war allerdings nicht verwunderlich, denn er würde nicht selbst in Aktion treten müssen.
Pat zupfte an ihren blonden Strähnen herum, schlug die Beine übereinander, kramte schließlich umständlich in ihrer Schultertasche aus dunklem Leder herum. Neben ihr saß Sorley und wartete gespannt darauf, ob sie einen Lippenstift oder einen Damenrevolver hervorzaubern würde.
„Darf ich hier rauchen oder muss ich dafür vor die Tür gehen?“, fragte sie, legte Zigarettenschachtel und Feuerzeug vor sich auf den Tisch. Sorley erhob sich, bevor jemand etwas sagte.
„Wir sind in fünf Minuten zurück.“
Zu Pat hinüber machte er eine auffordernde Geste, dass sie ihre Zigaretten nehmen und mitkommen solle. Im Aufzug leerte er seinen Kaffeebecher, warf ihn schwungvoll in den Abfalleimer der Lobby. Als sie vor der Tür standen, steckte Pat sich eine Zigarette an, hielt Sorley die Packung entgegen, aber er lehnte ab.
„Wie finden wir raus, ob das einer von uns ist, der da rumballert?“
„Ich weiß, wo ich anfangen kann“, sagte Pat. „Viel wichtiger ist, was passiert, wenn wir rausfinden, dass es niemand von uns ist?“
„Wir lassen ihn unbemerkt verschwinden“, erwiderte Sorley, klang fast gut gelaunt dabei. „Oder hast du damit ein Problem?“
„Muss ich mir Eier wachsen lassen, damit du mich ernst nimmst?“
Es passierte selten, dass Sorley sprachlos war. Er starrte sie mit offenem Mund an, wartete einen Augenblick, ob sie diese Bemerkung mit Humor entkräften würde, aber sie rauchte unbeirrt ihre Zigarette.
„Lass mal“, sagte er, „ich weiß dich auch ohne Eier zu nehmen. Arbeiten wir zusammen oder bevorzugst du Alleingänge? Mir ist es egal.“
Er hätte einen Luftsprung gemacht und die Hacken dabei in der Luft zusammengeschlagen, wenn sie hätte allein arbeiten wollen, aber den Gefallen tat sie ihm nicht.
„Ich muss diesen Auftrag nicht unbedingt haben“, behauptete sie. „Ich sage nur zu, weil ich nicht will, dass einer von unseren Jungs von der anderen Seite geschnappt wird, ganz egal, was er getan hat.“
„Halten wir die irische Decke darüber.“ Sie kehrten in das Gebäude zurück, Pat drückte auf den Etagenknopf im Aufzug, zupfte dann an ihrem BH unter der Bluse herum. Sorley tat so, als bemerke er es nicht. Er ließ ihr den Vortritt in den Konferenzraum und berührte ihren Hintern mit den Fingerspitzen, als sie an ihm vorbeiging. Erst hatte er kräftig darauf klatschen wollen, entschied sich aber in letzter Sekunde um. Als kleinen Test, wie sie auf so etwas reagierte, reichte die kleine Berührung.
Sie erstarrte kurz, nahm dann kommentarlos auf ihrem Stuhl Platz, drehte ihm den Rücken zu.
„Wir übernehmen das Ding“, sagte sie. „Wir finden heraus, ob es einer von uns ist. Danny, bist du unser Kontaktmann?“
Danny nickte.
„Wir brauchen eine Handynummer von dir, und du stehst uns vierundzwanzig sieben zur Verfügung.“ Sorley wühlte sein Handy aus der Tasche und sagte: „Zunächst werden wir sehen, wer von unseren alten Kontakten erreichbar ist.“
Danny Fallon reichte ihnen jeweils eine Visitenkarte. Ohne sich anzusehen, speicherten Sorley und Pat diese Nummer in ihren Handys ab und gaben die Karten zurück.
„Was haben wir nur früher ohne Handys gemacht?“
„Unseren Kopf benutzt“, murmelte Sorley.
In den nächsten Stunden saßen sie in Guys Büro zusammen und verglichen Namen und Angaben von Kontaktleuten in Belfast und Umgebung. Viele der alten Männer, die seit den Siebzigern tätig gewesen waren, waren verstorben oder so krank und gebrechlich, dass sie kaum in London mit einem Scharfschützengewehr auf Dächern herumliegen würden. Von den radikalen Splittergruppen hatten sie unterschiedliche Informationen, was nichts Neues war. Die wussten größtenteils selbst nicht, wer sie waren, wie sie sich nannten und was sie wollten. Außerdem taten sie sich selten dadurch hervor, dass sie im Ausland tätig waren, häufig suchten sie sich nur eine Polizeistation in der Nachbarschaft als ihr Ziel.
Von diesen Verdächtigen landeten etwa zehn Personen auf der Liste der potenziellen Täter. Sorley und Pat waren sich sofort einig, dass sie auf keinen Fall herumtelefonieren wollten, um mehr in Erfahrung zu bringen. Einer von ihnen musste zurück nach Nordirland.
„Möchtest du heimfliegen oder soll ich?“ Sorley hielt den Kopf in die Handfläche gestützt, studierte die handschriftliche Liste und versuchte sich die besten Kandidaten herauszupicken. Ein paar Namen sprangen ihn an, andere waren ihm unbekannt. Und ihm kam der Gedanke, dass er auch seinen und Pats Namen hinzufügen müsste, um die Liste wirklich komplett zu machen. Statt einer Antwort schlug Pat ihm den Ellenbogen von der Tischplatte weg, in der Hoffnung, er würde dadurch mit dem Kinn aufschlagen.
„Das heißt, du fliegst rüber“, erwiderte er, rückte ein Stück von ihr ab. „Ich kann hier ein wenig herumschnüffeln und halte dich auf dem Laufenden.“
Pat ignorierte ihn. Er überlegte, ob er sie noch einmal kneifen sollte, um sie ins Leben zurückzuholen.
Als sie ihn endlich fixierte, machte sie den Eindruck, als wolle sie ihm an den Hals springen.
„Wer von uns beiden gibt hier den Ton an?“
Darauf gab es nicht wirklich eine Antwort; Sorley wollte ihr weder sagen müssen, was sie zu tun hatte, noch wollte er Befehle von ihr entgegennehmen, aber wenn zwei Einzelgänger als Team arbeiten mussten, ging das nicht ohne Absprachen.
„Keiner von uns“, sagte er schließlich. „Wir arbeiten parallel.“
Pat machte eine absegnende Geste, aber sie war nicht zufrieden, das sah man sehr deutlich in ihrem Gesicht. An Danny gewandt sagte sie: „Keine Bange, der Auftrag wird nicht darunter leiden. Wir sind Profis.“
Immerhin das gestand sie ihm zu.
Sie ist eine Zicke, dachte Sorley, und sie wird immer wieder versuchen, eine Nasenlänge voraus zu sein. Aber sie ist die Richtige, um in Belfast die Fühler auszustrecken.
Sie hatte die Liste eingesteckt, aber er bekam die Namen noch zusammen, die er in sein Smartphone tippte.
Pat erklärte, sie wolle keine Zeit verlieren und den nächsten Flug nach Belfast nehmen, suchte mit ihrem Smartphone eine passende Maschine heraus. Damit war sie eine Weile beschäftigt und Sorley fand die Zeit, sich mit Danny allein zu unterhalten.
Er war neugierig, wer der Verbindungsmann zum Yard war und welchen Rang er bekleidete. Zunächst wollte Danny nicht damit rausrücken, verriet ihm den Namen dann aber doch, weil Sorley scherzhaft meinte, er habe eigene Informanten und würde es sowieso rauskriegen. Es war einer der internen Mitarbeiter, die den ganzen Tag im Büro hockten und in den PC starrten. Es gab mit Sicherheit schlimmere Jobs auf der Welt, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, aber das wäre nie etwas für Sorley gewesen.
Nach der Schule hatte er keine großen Pläne gehabt, aber sofort gewusst, was er auf keinen Fall tun wollte. Sein Dad hätte ihn bei der Garda untergebracht, aber bevor sie das überhaupt auch nur ernsthaft besprechen konnten, hatte Sorley auf einem Konzert in Wicklow jemanden kennengelernt, der ihn mit wilden Ideen über ein vereinigtes Irland impfte.
Es dauerte nur wenige Wochen und brauchte wenige Besuche im Norden, um Sorley von der Sache zu überzeugen. Vielleicht wäre es nur eine kurze Phase der Begeisterung gewesen, aber sein Freund hatte darauf bestanden, dass er ganz einstieg und mit nach Belfast kam. Es war kaum genug Zeit, um einen Koffer zu packen und seinem Vater zu sagen, dass er für ein paar Tage nach Donegal wolle. Es vergingen Jahre, bis er wieder nach Hause kam und seinen Vater wiedersah.
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Tag der Veröffentlichung: 21.08.2014
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