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Das Apartment

Phillip Howard war fünf Tage in der Stadt, als seine Nachbarn bemerkten, dass etwas nicht mit ihm stimmte. Trafen sie ihn im Flur des großen Mietshauses, war er stets freundlich und zuvorkommend, allerdings immer kurz angebunden, als habe er dringend etwas zu erledigen. Meist war er in Eile, wenn er die Stufen zu seinem kleinen Apartment hochstieg.

Er war ein großer Mann unbestimmten Alters, ein Kerl in grauem Anzug und mit dunklem Mantel, dessen Stimme immer gedämpft und dessen Regungen niemals an seinem Gesicht abzulesen waren. Es war, als würde er eine Maske tragen. Die Kinder, die auf seiner Etage wohnten, fürchteten sich vor ihm und nannten ihn hinter seinem Rücken „das Wachsgesicht“.

 

Vor fünf Tagen war er mit einem großen Lederkoffer eingezogen, er verhielt sich so ruhig, als sei er nicht anwesend, dann begannen die Störungen in der Nacht. In der ersten Nacht, in der die unheimlichen heulenden und pfeifenden Geräusche aus seinem Zimmer klangen, wagte sich nur einer der Familienväter, der mit seiner Familie nebenan wohnte, auf den Flur, um an Phillips Tür zu klopfen.

Sofort verstummten die Geräusche und der Mann drehte sich zu seiner Frau herum, die ihm stumm deutete, er solle noch einmal klopfen. Es reichte ihr nicht, dass die Geräusche aufgehört hatten, er sollte dem neuen Mieter sagen, dass er damit aufhören solle. Jetzt und in Zukunft. Noch einmal klopfte er, diesmal etwas zaghafter, zuckte erschrocken zurück, als die Tür mit einem Ruck geöffnet wurde.

Phillip Howard stand stocksteif in der halb geöffneten Tür, hielt die Arme ausgestreckt, als wolle er verhindern, dass sein Besucher an ihm vorbei in die Wohnung stürmte. Sein Gesicht war reglos, und sein Mund schien sich kaum zu bewegen, als er murmelte: „Was kann ich für sie tun, Sir?“

„Diese Geräusche?“, sagte der Mann, fühlte sich unbehaglich und konnte Phillip nicht ins Gesicht sehen. „Stellen sie die Geräusche ab.“

Phillip sagte: „Unbedingt, Sir.“ Er machte einen Schritt zurück und schloss die Tür. Durch den Spalt konnte sein Nachbar noch seine dunklen Augen sehen, die in diesem unbeweglichen Gesicht so seltsam wirkten, dann war er verschwunden.

 

In dieser Nacht blieb es ruhig. So ruhig, dass es fast schon unheimlich war. Die üblichen Geräusche, die in einem großen alten Mietshaus auch nachts vorkamen, schienen erstickt worden zu sein. Als würde das Haus mitsamt seinen Bewohnern die Luft anhalten und auf etwas warten. Auf etwas hoffen, dass es nicht geschehen würde.

Am späten Morgen, als die Kinder bereits in der Schule und die Mütter vom Einkauf zurück waren, sich im Hinterhof zu einem kurzen Plausch trafen, während sie Wäsche aufhängten und den Müll rausbrachten, verließ Phillip sein Apartment. Sie beobachteten ihn, wie er mit einem gefüllten schwarzen Müllsack unter dem Arm das Haus verließ.  Erst nach Einbruch der Dunkelheit kam er zurück, verschwand in seinem Apartment und kurz vor Mitternacht begannen erneut die Geräusche. Es schien, als würde etwas Großes, Schweres über die Wände des Apartments schaben, aber es waren keine Möbel, die verrückt wurden. Es war ein organisches Geräusch, als würde sich ein großes geschupptes Tier an den Wänden reiben. Und dann begann dieses große geschuppte Tier so laut zu stöhnen, dass dieses Geräusch durch das ganze Haus hallte.

 

Es war ein billiges Mietshaus in einer schlechten Wohngegend von Boston, und seine Bewohner waren fast ausschließlich Mexikaner, Afrikaner, Filipinos und einige Familien, die so fremd und von aller Welt abgeschottet lebten, dass niemand ihre Herkunft auch nur erahnen konnte. Ein Mitglied dieser fremden Familie war es, das sich trotz dieser unirdischen Geräusche vor die Tür wagte, während alle anderen auf der Etage nur aus ihren Wohnungen herausschauten.

Er war ein kleiner dunkler Mann mit kahl geschorenem Kopf und Tätowierungen im Nacken. Mit einem Stück Kreide, was er aus seiner Hosentasche gezogen hatte, malte er direkt vor Phillips Wohnungstür einen exakten Kreis um seine nackten Füße, dann klopfte er an die Tür. Die Geräusche von der anderen Seite verstummten nicht, wurden nur gedämpft, als würde dieses Monster in dem Apartment den Raum verlassen. Aber wohin verlassen? Das Apartment hatte nur ein Zimmer und ein winziges Bad.

Der Mann stand bewegungslos in seinem Kreidekreis und wartete, während die Nachbarn um ihn herum zu flüstern begannen. Sie fürchteten sich davor, was aus Phillip Howard’s Apartment kommen könnte, wenn er die Tür öffnete. Sie warteten, waren fast gewillt, die leiseren Geräusche aus dem Apartment zu ertragen und wieder in ihre Wohnungen zu verschwinden, als sich endlich die Tür öffnete. Der Geruch, der ihnen entgegenschlug, war unerträglich, sie alle wichen zurück, nur der Mann im Kreidekreis stand noch immer unbeweglich da. Im Dunkeln des Apartments konnte man Phillip nur erahnen, aber seine Stimme war sehr deutlich.

„Entschuldigt. Ich habe das Radio zu laut gestellt.“

Er wollte die Tür wieder schließen, als der Mann im Kreidekreis ihm ein paar Worte zuflüsterte, die ihn erstarren ließen. Und die Nachbarn, die sich von dem Geruch nicht ganz hatten vertreiben lassen, hörten, wie Phillip in der gleichen fremden Sprache antwortete.

 

Von diesem seltsamen Ereignis in der Nacht blieb nur der Kreidekreis, den eine ängstliche Nachbarin Tage später wegwischte und dankbar dafür war, dass es in den Nächten ruhig geblieben war. Niemand glaubte, dass es nur das Radio gewesen war, aber sie wollten auch die Wahrheit nicht wissen. Tagsüber sah man Phillips nun überhaupt nicht mehr, er schien sein Apartment nicht mehr zu verlassen, weder um einkaufen zu gehen, noch um andere Erledigungen zu machen. Alle im Haus waren froh darüber, jeder ging wieder seinen eigenen Geschäften nach. Die Kinder konnten wieder ruhig schlafen und wurden nicht durch Albträume geweckt.

Nur die kleine Familie des Mannes aus einem winzigen Land, das inmitten einer unbekannten arabischen Wüste lag, der wusste, wie man sich vor dem üblen Zauber schützte, war am nächsten Morgen ausgezogen.

 

Und in der Nacht, in der der Vollmond milchig am Himmel stand, begannen die Geräusche erneut und diesmal waren sie so laut, dass alle Bewohner in Angst und Schrecken aus dem Haus flüchteten. Niemand wagte sich in die Nähe des Apartments, in dem Phillip Howard hauste, und von der Straße aus, wo sie in Pyjamas und in schnell übergeworfenen Mänteln frierend standen, sahen sie zu dem kleinen Fenster im dritten Stock hinauf. Sie sahen undeutliche Schatten, die sich am Fenster vorbei bewegten und die keine menschlichen Umrisse hatten. Phillips Stimme war zu hören, plötzlich laut und kreischend, erst vor Zorn, dann vor Panik und Verzweiflung. Sie verstanden die Worte nicht, die er schrie, und die immer mehr von den monströsen schuppigen Geräuschen übertönt wurden.

Im weiten Umkreis des alten Mietshauses begannen alle Hunde zu jaulen, die, die frei in den Straßen herumliefen, rannten davon, die in Wohnungen und Häusern eingesperrt waren, verkrochen sich unter Betten und Schränke und waren nicht zu beruhigen. Es schien, als würde das, was in diesem Apartment mit Phillip vor sich ging, die ganze Stadt ins Chaos stürzen.

Mit einem Knall flog das Fenster auf, Glas splitterte und regnete nach unten auf die Straße, und mit einem Schrei, der den Anwohnern, die sehr nahe am Haus gestanden hatten, die Trommelfelle platzen ließ, entwich ein schwarzer Schatten aus Phillips Zimmer in den Nachthimmel. Eine Sekunde lang war er gegen den großen Vollmond zu sehen, dann war er verschwunden. Im Haus war es totenstill.

 

Es dauerte Stunden, bis die Polizei vor Ort war und die Bewohner sich wieder in ihre Wohnungen wagten. Die Zimmertür zu Phillips Apartment wurde von zwei Beamten aufgebrochen, weil man einen verwirrten Phillip Howard dort vermutete, aber sie fanden nichts. Das Zimmer war leer. Es gab weder ein Bett, noch Tisch, Stühle oder einen Schrank. Keine Lampe, keinen Spiegel. Die Tür zum kleinen Bad war vernagelt worden und als sie sie öffneten, fanden sie dahinter alles unbenutzt. Keine Spur von Phillip Howard. Nicht einen Tropfen Blut fanden sie, weder ein Kleidungsstück, noch seinen Koffer, mit dem er eingezogen war.

Was die verwirrten Beamten fanden, war ein halb verwischter Kreidekreis auf den Dielen des Fußbodens, aber dem schenkten sie keine Aufmerksamkeit, weil sie sich keinen Reim daraus machen konnten.

 

Der Hauseigentümer, der am nächsten Tag über die Vorkommnisse informiert wurde, versuchte, das neu eingerichtete Apartment wieder zu vermieten, aber jeder, der dort einzog, blieb eine Nacht und zog am nächsten Morgen wieder aus. Es wurden unterschiedliche Gründe angegeben, und niemand wollte bleiben, egal, wie weit der Eigentümer mit dem Mietspreis herunterging.

„Mauern sie den Raum zu“, sagte der letzte Mieter, bevor er mit eiligen Schritten das Haus verließ und nie wieder einen Schritt in die Nähe setzte, „und beten sie, dass er nie wiederkommt.“

 

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Tag der Veröffentlichung: 12.02.2014

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