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Der Mörder meines Bruders
Es war immer der gleiche Albtraum, aus dem ich schweißgebadet aufwachte, danach nicht mehr einschlafen konnte und ruhelos durch das Haus lief. Nach einer Woche begann ich mir deswegen Sorgen zu machen. Zunächst schob ich es auf die Tatsache, dass ich meinen Job bei der Garda geschmissen hatte und dass ich seit dem vielleicht ein wenig zu viel trank. Aber der gedankenlose Umgang mit Alkohol lag seit Generationen in der Doherty Familie, daran konnte es nicht liegen.
Ich hatte Angst, es könnte eine Art Vorahnung sein, dass ich wie in meinem Albtraum verunglücken würde. Irgendwo ertrinken. Dabei ging ich nicht einmal gerne schwimmen, vor allem nicht während dieser Jahreszeit.
Ich lebte allein in dem kleinen Reihenhaus, keine fünfhundert Meter von meinem Elternhaus entfernt. Auch als Mitglied der Garda hatte es Gründe gegeben, in der alten Nachbarschaft zu bleiben und nicht nach Dublin zu gehen.
Jeden Morgen kämpfte ich mit den gnadenlosen Erinnerungen an den Albtraum, frühstückte, sobald die Sonne aufgegangen war, ließ eine gründliche Rasur ausfallen und ging rüber zu meinen Eltern.
Niemand wusste von den Träumen. Wenn ich es jemandem erzählt hätte, hätten mich alle für verrückt erklärt.
Schon gehört? Vince Doherty ist nicht mehr ganz klar im Kopf. Kündigt den Job bei der Garda nach fünfzehn Jahren, und was macht er? Jammert wegen dämlicher Albträume herum.
Daigh wäre der Einzige gewesen, mit dem ich darüber hätte sprechen können, aber Daigh war irgendwohin verschwunden. Ein paar Tage, nachdem ich den Job hingeschmissen hatte (nicht direkt wegen ihm, mehr wegen dem, was ich getan hatte), war er verschwunden und seitdem nicht wieder aufgetaucht.

Auf den Familienfotos, die in unserem Elternhaus auf dem gemauerten Kaminsims standen, waren wir beide immer in der gleichen Pose zu sehen; breit grinsend standen wir nebeneinander, einen Arm über die Schulter des anderen gelegt. Auf den Kinderfotos gab es noch einen Größenunterschied zwischen uns, der bewies, dass ich drei Jahre älter war, aber mit sechzehn hatte Daigh mich in Sachen Körpergröße eingeholt. Wir sahen uns so ähnlich, dass wir von den Nachbarn häufig verwechselt wurden; dunkles störrisches Haar, schmales Gesicht, helle Haut. Ein ewig mürrischer Gesichtsausdruck, den wir von unserem alten Herrn geerbt hatten, der sich sehr schnell in ein freundliches Lächeln verwandeln konnte. Bei Daigh etwas häufiger als bei mir. Mutter überragten wir beide um einen Kopf, wir schlugen in allen Belangen mehr nach unserem Alten, im Aussehen und auch im Charakter. Wir hingen zusammen wie die Kletten und hatten eine besondere Verbindung. Dad sagte oft, wir seien wie das Spiegelbild des Anderen.
„Ist Daigh aufgetaucht?“, fragte ich, als ich mich zu meinem Vater an den Küchentisch setzte.
„Der ist unterwegs“, sagte Dad, goss mir ohne weitere Worte eine Tasse Tee ein. Wir warfen uns nur einen kurzen Blick zu.
Sicher, Daigh war unterwegs, wie die meiste Zeit. Wir ahnten, was er tat, wenn er unterwegs war, ungeachtet der Tatsache, dass sein älterer Bruder bei der Garda war.

Wie jeden Morgen unterhielten wir uns über die großen und kleinen Neuigkeiten aus der Stadt und Nachbarschaft. Dad wurden ständig Gerüchte und kleine Lästereien zugetragen, während er Obst und Gemüse auf dem Wochenmarkt in Finglas verkaufte. Dort stand er den ganzen Morgen, kam am frühen Vormittag nach Hause, trank einen Tee und ließ dann den Rest des Tages seelenruhig an sich vorbeiziehen.
Dad fragte ab und zu, wie es mit einem neuen Job aussehe, worauf ich immer nur „Gut“ sagte und er verächtlich schnaubte. Erst war er mit diesem Job nicht einverstanden gewesen, weil er meinte, ich würde bereits nach einem halben Jahr von irgendeinem benachbarten Drogendealer erschossen werden. Seinen väterlichen Stolz hatte er sehr gut verborgen.
Unser Haus stand in einer engen Reihe von kleinen Häusern in Dubliner Vorort Finglas. Hier lebten wir seit Jahrzehnten Seite an Seite mit denselben Nachbarn, nutzten unseren schmalen Streifen Garten hinter dem Haus. Autos wurden auf der Straße abgestellt, direkt neben Fahrrädern, Motorrädern und Kinderwagen.
Seit Generationen lebten wir in diesem Vorort und die alten irischen Familien bildeten das Rückgrat der Gegend. Man achtete auf sich und seinen Nachbarn. Geheimnisse drangen nicht nach außen, Verstöße regelte man unter sich. Aber die Zeiten änderten sich irgendwann. Als Dublin während des Baubooms die Fühler nach neuem Wohnraum ausstreckte, kam auch unsere Gegend ins Visier der Bauspekulanten. Einige Familien verkauften ihre Häuser. Es wurde restauriert und auf schick gebürstet, aber ebenso schnell war der Boom wieder vorbei. Die Häuser fielen an die Bank zurück, standen leer, verfielen und irgendwann zogen neue Familien dort ein. Russen, Polen, Inder, Pakistani. Man ging freundlich miteinander um, die Kinder gingen zusammen in die Schule, sie spielten gemeinsam auf den Straßen und in den Hinterhöfen.
Die Zeiten änderten sich und trotzdem blieb vieles beim Alten. Wie mit mir und Daigh. Wir waren als Brüder untrennbar und trotzdem schlugen wir verschiedene Wege ein. Ich ging zur Garda, Daigh versuchte sich in verschiedenen Aushilfsjobs. Und immer, wenn er mit viel Geld um sich warf, wusste ich, dass er wieder irgendein Ding gedreht hatte. Und wenn ich ihn dabei erwischte, drückte ich jedes Mal ein Auge zu.

Ich hatte es mir zur Regel gemacht, erst mit dem Trinken anzufangen, wenn ich den alten Traveller mit seinem Lastwagen gesehen hatte, der immer am Nachmittag durch die Gegend zog und Altmetall sammelte. Dann landete ich in dem Pub, in dem unsere Familie seit Jahren ein und ausging.
Dort traf ich auf Tim, der an einem der Tische vor dem Pub in der Herbstsonne saß, Bier trank und mit seinem Handy spielte. Ich holte mir ein Stout von der Theke, bezahlte und setzte mich zu ihm nach draußen.
Tim sah mich kritisch an und sagte: „Du hast besser ausgesehen, als du noch Polizist warst.“
„Und du würdest besser aussehen, wenn du nicht schon am Vormittag mit dem Saufen anfangen würdest.“
Tim war einer von Daighs engen Freunden, sie waren alte Schulfreunde und seine Familie lebte ein paar Häuser weiter.
Auf meine Frage, ob sich Daigh bei ihm gemeldet habe, klappte Tim das Handy zu, steckte es in die Hosentasche und sagte: „Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, sind wir alle gemeinsam aus dem Pub gekommen. Wir waren besoffen und konnten kaum noch laufen, daran kann ich mich gut erinnern. Das musst du noch wissen, du bist doch dabei gewesen.“
„Ich weiß“, erwiderte ich.
Ich konnte es mir nicht erklären, weshalb in diesem Moment der Albtraum wieder kam. Ich schloss für einen kurzen Moment die Augen, hob das Gesicht in die schwache Herbstsonne und versuchte, an etwas Positives zu denken. Tims Stimme hörte ich wie durch eine Glasscheibe.
„Wir haben doch schon alles durchgespielt“, sagte er, „selbst, wenn er als Sean Doe in irgendeinem Krankenhaus läge, hättest du ihn längst gefunden. Ich bin immer noch überzeugt, dass er sich in Amsterdam ein paar schöne Tage macht.“
Ich versuchte nur, dieses Albtraumgefühl loszuwerden. Kopfüber unter Wasser, festgehalten von unsichtbaren Händen. Reine Panik vor dem Ertrinken. Es ließ sich kaum abschütteln.
Amsterdam, dachte ich mühsam, wenn es das nur wäre. Nutten, Hasch und Magic Mushrooms, dann kommt er mit grün gefärbten Haaren zurück und alles ist wieder in Ordnung.
Der Schatten des Albtraums fiel von mir ab und ich stürzte das Stout hinunter, überlegte, ob ich ein Zweites holen sollte.
„Aber aus Amsterdam hätte er sich auch gemeldet“, sagte ich.

Ich traf mich mit alten Bekannten und Freunden, hörte mich um, ob jemand Daigh gesehen hatte. In einem der alten Pubs in der Nähe des Kildonan Parks, das bald schließen würde, weil sie den ganzen Häuserblock abrissen, traf ich auf Reggie Poole, der seinen dicken Hintern an der Bar platziert hatte, als wolle er durch seine permanente Anwesenheit den Pub vor dem Untergang retten. Reggie lebte praktisch in diesem Ding, wenn er nicht wegen illegaler Aktionen unterwegs war.
Bei unserer letzten Begegnung hatte ich ihn mit einer Ladung DVD Player und Handys in seinem Wagen erwischt und ihn nur laufen gelassen, weil er mir mal wieder von seiner Familie vorgejammert hatte.
„Gib mir ein Stout“, sagte ich und setzte mich neben Reggie. Ich wartete geduldig, bis der Barmann mir das Glas auf die Theke stellte, nahm den ersten Schluck und grinste in mich hinein, als Reggie von allein zu plappern begann. Der Mann hätte schlau und gerissen sein können, nahm man seine kriminelle Energie als Maßstab, aber genau das war er nicht.
Ständig verstrickte er sich in Ausreden und Entschuldigungen, obwohl ich noch kein Wort gesagt hatte.
„Ich hab ihn nicht gesehen, ehrlich. Ich hab keine Ahnung, wo er stecken könnte, aber wenn ich ihn sehe, sage ich dir sofort bescheid.“
Zu nervös, war mein erster Gedanke, er hat keinen Grund, so nervös zu sein. Selbst, wenn er Semtex oder Heroin in der Unterhose stecken hat, hat er von mir nichts mehr zu befürchten. Ich bin nicht mehr bei der Garda. Aber er könnte wissen, wo Daigh ist und die beiden stecken unter einer Decke.
Ich trank mein nächstes Glas Stout, machte mir meine Gedanken, stellte Reggie ein paar Fragen und konnte mir die Antworten denken. Wichtiger waren die Dinge, die ihm aus Versehen und vor Nervosität herausrutschten.

Als ich meine Biere bezahlte und sagte, ich würde sehen, dass ich endlich nach Hause kam, atmete Reggie deutlich auf und erwiderte viel zu freundlich, ich solle vorsichtig fahren.
Ich wartete neben meinem Wagen, der vor dem Pub abgestellt war, rauchte eine Zigarette, obwohl ich mir den Tabak abzugewöhnen versuchte.
Als Reggie eine halbe Stunde später den Pub verließ, nach einem vorbeifahrenden Taxi winkte, pfiff ich zu ihm hinüber. Sehr widerwillig ließ Reggie das Taxi davonfahren und trabte über die Straße auf mich zu. Er mochte den ganzen Tag gesoffen haben, aber er war es gewöhnt und war noch sehr kontrolliert auf den Beinen.
„Wo ist dein Vauxhall?“, fragte ich.
„In der Werkstatt.“
Es mochte die Wahrheit sein, aber ich glaubte ihm nicht.
„Steig ein, ich fahr dich vor die Haustür“, sagte ich und grinste wieder darüber, als Reggie erwiderte: „Danke, Vince, aber ich laufe lieber.“
Er wäre zu Fuß zwei Stunden unterwegs, und er war nicht der Typ, der gerne zu Fuß ging.

Daigh könnte mit dem Vauxhall unterwegs sein, dachte ich, irgendwo Schmuggelware abholen.
Wieder überkam mich die Erinnerung … kaltes Wasser in meinem Mund, in meiner Nase. Wie ich versuchte, die Luft anzuhalten, aber die Panik überfiel mich und irgendwann riss ich den Mund auf und atmete Wasser ein. Es schmeckte nach Torf und war eiskalt.
Davon bekam Reggie nichts mit; er gab Fersengeld auf dem Weg nach Hause, sprang in einiger Entfernung dem nächsten Taxi vor die Stoßstange und verschwand.
Ich stieg in mein Auto, wollte nach Hause, mir unterwegs noch etwas zu essen holen und trotzdem bog ich an der Kreuzung in die falsche Richtung ab. Das passierte öfters, seit Daigh verschwunden war. Etwas zog mich in Richtung Tolka River, obwohl die Gegend dort so ländlich und einsam war, dass es kaum möglich schien, dass Daigh sich dort irgendwo herumtrieb.
Es war stockdunkel und begann zu regnen, trotzdem fuhr ich bis zum Golfplatz, drehte um und fuhr die Strecke wieder zurück. Kurz vor der alten Brücke, die über den Tolka führte, trat ich auf die Bremse. Der Regen trommelte auf das Dach des Autos, ich stellte den Motor ab und wartete. Keine Ahnung, worauf; ich hatte das Gefühl, dass irgendetwas passieren würde. Die Brücke sah aus wie immer, rechts und links wucherten die Hecken über den niedrigen Steinwällen, bis auf die schmalen Unterbrechungen, wo die Bauern die Lücken auf die Weiden brauchten.
Im Licht der Scheinwerfer konnte ich nur das Geländer der gemauerten Brücke sehen, ein Stück Straße und die Hecken dahinter. Von unten blubberte und rauschte das Wasser des Flusses, der bereits nach wenigen Metern in den See überging. Zu dieser Jahreszeit trat der schmale Fluss über die Ufer, aber das dunkelbraune Torfwasser wurde auch durch den zugeführten Regen nicht heller.
Hier ist nichts, sagte ich mir nicht zum ersten Mal, fahr endlich nach Hause, du Idiot.
Etwas irritierte mich noch immer, aber es war nicht die Brücke.
Endlich konnte ich mich losreißen, startete den Wagen und fuhr nach Hause. Der Supermarkt an der Ecke hatte bereits geschlossen, und ich begnügte mich mit den Resten aus dem Kühlschrank.

Irgendwann unterbrach ich die Routine. Wieder war ich durch den Albtraum aufgewacht und hatte nicht mehr einschlafen können. Den ganzen Morgen dachte ich über ein Detail in meinem Traum nach, der mir bisher nicht aufgefallen oder der neu dazugekommen war. Mein Unterbewusstsein schien mir noch etwas sagen zu wollen, allerdings hatte ich keine Ahnung, was es zu bedeuten hatte.
In meinem Traum hatte mich jemand kopfüber unter Wasser gefesselt, nicht festgehalten. Sehr deutlich konnte ich den Strick fühlen, der sich quer über meine Brust spannte.
Die Panik aus dem Traum verschwand nach dem Erwachen, nicht aber das Gefühl der Beklemmung und des Ertrinkens. Ich hatte in dieser Zeit einen sehr überzeugenden Eindruck, was ein Asthmakranker während eines Anfalls durchlitt.
Obwohl ich alles Mögliche tat und in Bewegung setzte, gab es keine Spur von Daigh. Er hatte sich mit Reggie treffen wollen, was nichts Ungewöhnliches war. Reggie hatte behauptet, Daigh sei nicht aufgetaucht und er habe die Tour allein übernommen. Ob es öfters passiert sei, dass Daigh nicht auftauchte? Ab und zu schon, hatte Reggie behauptet, und ich wusste, dass er diesmal nicht log. Ich kannte meinen kleinen Bruder.

Ich weiß nicht, wie ich dazu kam, ausgerechnet Reggie von meinen Albträumen zu erzählen. Wir saßen im Pub zusammen, tranken und sprachen über ein mögliches Jobangebot am Dubliner Flughafen. Vielleicht wollte ich ihn ein wenig anstacheln, weil ich genau wusste, was er alles auf dem Kerbholz hatte, und weil ich ein wenig zu betrunken war, begann ich zu plaudern.
„Ich hab einen Fehler gemacht“, sagte ich, den Blick zunächst in mein Bierglas, dann direkt an Reggie gerichtet, „ich hätte Daigh nicht so oft raushauen sollen, vielleicht rächt sich jetzt mein Unterbewusstsein. Ich komme mir vor wie ein Idiot, wenn ich dir das jetzt erzähle, aber ich habe Albträume, die mich nicht mehr schlafen lassen. Ich träume jede Nacht, dass ich ertrinke. Ich bin irgendwo unter Wasser, habe keine Ahnung, wie ich dahingekommen bin und versuche, so lange wie möglich die Luft anzuhalten und mich zu befreien, aber es geht nicht. Ich atme das Wasser ein, ich ertrinke und dann wache ich auf. Lachhaft, oder?“
Ich machte eine kleine Pause, nahm einen Schluck Bier und sah, dass Reggie mich mit halb offenem Mund anstarrte.
„Wenn du jemandem davon erzählst, streite ich es ab. Es ist nur so, dass ich jemandem davon erzählen muss.“
Wieder nahm ich einen Schluck. Ich hätte es Reggie nicht erzählen sollen, aber wenn ich einmal mit so was anfing, konnte ich nicht mehr aufhören.
Eine ganze Weile sagte Reggie nichts, dann murmelte er ein undeutliches „Entschuldige mich“ und torkelte Richtung Toiletten davon.
Als er zurückkam, dachte ich, er habe sich übergeben, er war blass, zitterte und seine Augen waren rot unterlaufen.
„Vince“, sagte er, „kommst du mit nach draußen? Ich muss dir was sagen und das braucht hier niemand zu hören.“

Ich hörte mir an, was er zu sagen hatte und wunderte mich darüber, dass ich so ruhig bleiben konnte. Hatte ich es geahnt? Ich zwang mich in die Routine des Polizisten zurück, der ich gewesen war.
Wir fuhren zur Cardiffs Bridge, die mich wie die Albträume seit Tagen verfolgte und verhext hatte, hockten stumm in meinem Wagen, rauchten und lauschten dem Rauschen des Flusses, der in den nahen See mündete.
„Ich wollte ihn nicht töten“, sagte Reggie, „ich hab ihn am Shopping Centre abgeholt und wir sind losgefahren, um ein paar Dinge aus dem alten Lagerhaus zu holen. Ich hab den Nachtwächter geschmiert, damit er die Tür offen lässt und den Alarm erst einschaltet, wenn wir wieder weg sind. Auf dem Weg dort hin hat Daigh mir gesagt, er wolle aussteigen.“

Reggie blieb im Auto, während ich die Böschung zum Fluss hinunter kletterte. Von unten konnte ich die breite Schneise sehen, die der Wagen in die Hecke gerissen hatte und wo er im Fluss gelandet war. Reggies alter Vauxhall war nicht mehr da, den hatte er nachts von einem Kumpel abschleppen und verschwinden lassen, aber ich fand Daigh. Er hatte ihn Tage nach dem Unfall aus dem Wagen gezogen und an einer geschützten Stelle der Böschung unter einen großen alten Baum gelegt. Seine Klamotten waren noch immer nass, sein Gesicht still und bleich. Ohne seine Brille sah er so kindlich aus. Als ich neben ihm hockte und seine Stirn berührte, verlor ich fast das Gleichgewicht, denn ich befand mich augenblicklich wieder unter Wasser. Und erst da begriff ich, dass nicht ich

in meinem Albtraum ertrank, sondern mein kleiner Bruder.

Wie verabredet wartete Daigh auf Reggie, rauchte eine Zigarette nach der anderen und warf die Letzte achtlos in den Regen, als Reggies Vauxhall endlich an der Straßenecke auftauchte und neben ihm anhielt.
„Hey“, sagte Reggie, „du hättest besseres Wetter mitbringen sollen.“
„Dafür bin ich nicht zuständig“, erwiderte mein kleiner Bruder, grinste und wischte sich die Brillengläser trocken, als er im Wagen saß.
„Ich kann das Geld gut gebrauchen“, sagte Reggie, „meine Jüngste hat mir heute Morgen erzählt, dass sie nach der Schule ins Ausland will. Will in Afrika ausgestorbene Tiere suchen oder Löwen großziehen. Wer braucht schon Löwen? Bei Gott, es gibt wohl nichts Schlimmeres, was sich die eigene Tochter einfallen lassen kann.“
Ohne lange nachzudenken, wären Daigh mindestens fünf schlimmere Lebensziele eingefallen, aber er erwiderte nur: „Mein Dad würde dir erzählen, dass es mit seinem Ältesten im Moment auch nicht ganz zufrieden ist.“
„Ich hab schon gehört, dass er nicht mehr bei der Garda ist.“
Daigh wühlte einen Streifen Kaugummi aus seiner klammen Jackentasche, genoss den kurzen Moment der Minze, bevor der Geschmack wieder verflog.
Ich hatte eine flüchtige Sekunde ebenfalls den Pfefferminzgeschmack auf meiner Zunge, versuchte ihn festzuhalten.
Daigh und ich hatten über die Kündigung und die Gründe gesprochen. Ich hätte es nicht tun sollen. Mein kleiner Bruder hatte sich fest vorgenommen, dass der heimliche Einbruch in das Lagerhaus sein letzter Coup sein würde. Er war entschlossen, sich einen Job zu suchen und es nicht wieder gegen die Wand zu fahren.
„Vince findet schon was Neues“, sagte Daigh, ließ eine Luftblase im Kaugummi platzen, „und ich werde mich auch nach einem Job umsehen. Ich steige aus, Reggie. Ich will nicht, dass Vince wegen mir noch mehr Ärger bekommt.“
„Wie meinst du das?“
„Er hat den Job wegen mir hingeschmissen. Er weiß von den Dingern, die wir gedreht haben.“
„Sicher weiß er davon“, sagte Reggie gezwungen locker, „aber er hat immer den Mund gehalten.“
„Er hat das Dope mitgehen lassen, Reggie, wenn er wollte, könnte er uns damit alle in den Bau schicken. Deshalb steige ich aus.“
„Schon Okay“, murmelte Reggie. Seine Hände umklammerten stocksteif das Lenkrad, er starrte geradeaus auf die Straße.
Daigh setze die Füße auf das Armaturenbrett, sah zum Seitenfenster hinaus. Etwas irritierte ihn, etwas war auf seinem linken Brillenglas. Er nahm die Brille ab, versuchte das Glas an seinem Hemd zu säubern.
Er war der Einzige in der Familie mit einer ausgeprägten Sehschwäche. Nahm er die Brille ab, konnte er kaum noch erkennen, wer überhaupt neben ihm saß. Deshalb hatte er keine Chance, den Angriff zu erkennen und rechtzeitig zu reagieren. Er hockte da, zusammengeschoben wie ein kleines Kaninchen, nichts ahnend und mit seiner Welt zufrieden, seine Brille auf dem Schoß, noch immer Kaugummi kauend. Der erste Schlag traf ihn seitlich am Kopf, durch die Wucht schlug er sich den Schädel am Stahlrahmen an, aber erst der zweite Schlag ließ ihn bewusstlos werden.
Ich hatte ein taubes Gefühl an meiner rechten Schädelseite, konnte mich nicht rühren, nicht einmal blinzeln. Reggie hatte mit der Maglite zugeschlagen, die er immer in dem Seitenfach der Autotür stecken hatte. Einzelne kleine Blutstropfen waren an die Windschutzscheibe gespritzt, einige auf die Turnschuhe meines Bruders. Daigh blutete aus der geplatzten Augenbraue, er war nach dem zweiten Schlag in sich zusammengesunken, seine Brille war in den Fußraum gerutscht.
Der Vauxhall schlingerte von der schmalen Landstraße und Reggie bekam ihn nicht mehr unter Kontrolle. Er war zwar nicht zu schnell gefahren, aber er war es nicht gewöhnt, ein Fahrzeug zu steuern und gleichzeitig seinen Beifahrer bewusstlos zu schlagen. Der Vauxhall durchbrach die Hecke, die ihn unter normalen Umständen aufgehalten hätte, aber er fand eine Stelle ohne Stämme und Wurzeln und rutschte die Böschung zum Wasser hinunter. Reggie saß versteinert hinter dem Steuer, hatte nicht einmal mehr genug Gewalt über sich, um den Sprung aus dem Auto zu wagen. Der Vauxhall blieb im tiefen Schlamm der Uferböschung stecken und mit ein wenig Glück wäre der Wagen so schräg nach unten stehen geblieben. Aber das Ufer war zu steil und der Wagen zu schnell und er kippte langsam und bedächtig kopfüber in den Fluss, der wieder Hochwasser führte.
Reggie kam aus dem Wagen heraus, Daigh nicht.
Ich weiß nicht, ob Daigh unter Wasser das Bewusstsein wiedererlangt hatte, aber ich weiß, dass er gegen das Ertrinken angekämpft hat bis zum Schluss.
Kopfüber gefangen im Sicherheitsgurt, das schnell fließende Flusswasser in Mund und Nase. Ob er wusste, was mit ihm geschah?

Ich brachte Reggie ins Revier, wo er von sich aus erzählte, was passiert war und ich war dabei, als sie Daigh von dem Flussufer holten. Dann fuhr ich nach Hause. Meine Eltern hatten die ganze Zeit die Hoffnung gehabt, Daigh würde wieder auftauchen, aber insgeheim mussten sie geahnt haben, dass es diesmal nicht gut ausgehen würde. Der alte Herr verzog sich stumm in den Garten, als ich die Nachricht überbrachte, meine Mutter sank in sich zusammen und weinte so leise in sich hinein, als schäme sie sich ihrer Gefühle. Und mir ging es nicht besser. Es vergingen Monate, bis wir in der Familie darüber sprechen konnten.

Mit Daighs Auffinden war der Albtraum verschwunden. Ich schlief nicht gut, aber ich schlief ohne diesen Traum, der wie eine letzte Verbindung zu meinem Bruder gewesen war.
Ich besuchte Reggies Frau und Kinder, die ein paar Straßen weiter lebten und wir unterhielten uns bei einer Tasse Tee über das, was in Finglas als „der Unfall“ gehandelt wurde. Seit Reggie die Haftstrafe wegen Totschlags angetreten hatte, rutschte seine Familie ins Chaos. Ich half, wo ich konnte und zugelassen wurde. Die Pooles nahmen noch längst nicht jede Hilfe an.
Niemand nannte Reggie einen Mörder, selbst ich nicht, obwohl er nicht einmal versucht hatte, Daigh aus dem verunglückten Wagen zu holen. Ich gab mir ebenso viel Schuld an Daighs Tod. Hätte ich mich nicht ständig um seine Probleme gekümmert, wäre er für die kleinen Gaunereien vielleicht für einige Zeit im Knast gelandet, aber vielleicht wäre es heilsam für ihn gewesen. Wäre ich nicht gewesen, hätte Daigh Reggie nicht gesagt, dass er aussteigen würde und Reggie hätte nicht die Nerven verloren.
Reggie ist in den Knast gegangen. Aber ich denke, ich

bin der wahre Mörder meines Bruders.

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Bildmaterialien: http://piqs.de/fotos/172582.html ; Fotograf: Dito; Bild „Winter“ ; Creative Commons – some rights reserved
Tag der Veröffentlichung: 24.12.2012

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