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RUBY UND NIALL

Einhundertdreizehn!



Seit Ruby am Ticketschalter des Busbahnhofs arbeitete, verging kein Tag, an dem sie sich nicht wünschte, wieder woanders zu sein. In einem anderen Job und in einem anderen Leben. Ihre bevorzugte Schicht war von zwei Uhr nachmittags bis acht Uhr abends, weil sie dann nicht früh aufstehen musste, es nach der Arbeit aber noch nicht zu spät war, um für ein Bier in die nächste Bar zu wandern. Manchmal tauschte sie die Schicht, aber das geschah selten. Sie kannte die Entfernungen zwischen den Ortschaften aus dem Schlaf und auch die Ticketpreise hatte sie im Kopf. Es war in ihrem Job die einzige Herausforderung, die sich bot.

An manchen Abenden war so wenig zu tun, besonders wenn keine Touristen mehr unterwegs waren, dass sie in aller Ruhe ihre Bücher und Zeitschriften lesen, oder mit ihrer Freundin telefonieren konnte. Die Touristen kamen im Sommer und Spätsommer, sehr selten im Winter, denn Winslow war kein Wintersportzentrum. Schnee genug, aber es fehlte an Bergen.
„Ich verkaufe nur Tickets, wenn die Leute darauf brennen, von hier wegzukommen“, sagte Ruby, „an die besonders Glücklichen verkaufe ich Einzeltickets.“

Wenn Ethan um acht Uhr auftauchte, packte sie ihre Sachen ein und ging zu Fuß nach Hause. Ein Auto konnte sie sich nicht leisten, im Sommer fuhr sie mit dem Rad, außerdem war in dieser Kleinstadt alles in erreichbarer Nähe.
Es war Ende November, sie hatten viel Schnee, und es war eiskalt. Sie würde sich beeilen, nach Hause zu kommen.
Ethan riss die Tür des Schalters auf und rief: „Wie lief’s heute?“
Er trug seine Lima-Strickmütze, mit der er wie ein Idiot aussah, weil sie seine Segelohren betonte.
„Hundertdreizehn nach Ongoquit“, sagte Ruby und hielt ihm die Victory-Finger unter die Nase, „das müsst ihr erst mal schlagen.“

Sie hatte die einhundertdreizehn Meilen bereits in der Hitliste eingetragen, die rechts neben ihr an der Wand hing, dort, wo sie kein Kunde sehen konnte. Sie veranstalteten diesen kleinen wöchentlichen Wettbewerb, um die Langeweile zu vertreiben. Wer ein Ticket von Winslow zu einem möglichst weit entfernten Zielort verkaufte, war der Gewinner und bekam am Samstagabend, den sie immer gemeinsam verbrachten, alle Getränke umsonst. Sie waren zu dritt, Ruby Tucker, Ethan Ashdale und Julianne McFarlane, die Dienstälteste unter ihnen. Julianne riefen sie nur „Mom“, obwohl sie kaum fünf Jahre älter war als die Beiden. Aber sie war verheiratet und hatte drei Kinder zu Hause, deshalb brauchte sie die Schicht während der regulären Schulzeiten. Ihr Mann war auf großen Baustellen im ganzen Land unterwegs und nur selten zu Hause.
Ethan zog die Mütze von seinem Kopf, präsentierte sein frisch blondiertes Haar und warf seinen Wollmantel in die Ecke. Er wohnte in einer WG mit drei anderen Kerlen zusammen, was Ruby jeden Samstag, wenn sie zusammen saufen gingen, zu der Frage veranlasste, ob er auch schwul sei, aber in den ganzen drei Jahren, seit sie im Busbahnhof arbeitete, hatte Ethan sich jedes Mal um eine Antwort gedrückt. Er rückte einfach nicht damit heraus.
Seine Schicht ging nur bis ein Uhr morgens, dann wurde der Schalter geschlossen, pünktlich nachdem der letzte Bus aus Skowhegan angekommen war. Nach ihm kamen nur noch die Putzfrauen von der anderen Seite der Grenze, die schnell durch die Schalterhalle gingen, Boden und Sitzbänke reinigten und Abfalleimer leerten. Früher hätte man in der Schalterhalle übernachten können, in den Zeiten, als diese noch nicht abgeschlossen wurde, aber dort hatten sich Nacht für Nacht die Obdachlosen versammelt und der Stadtrat hatte beschlossen, dem ein Ende zu machen. Sollten sich Touristen hier hin verirren, sollten sie nicht von den Pennern verscheucht werden.
Samstags übernahm der Bezirksleiter Richard Golightly den Schalter, und sonntags bekamen Reisende nur einfache Karten direkt bei den Busfahrern. Golightly war Anfang fünfzig und seine Frau war nach zwanzig Jahren Ehe mit einem Sommertouristen aus Florida durchgebrannt. Nach dem ersten Schock hatte er behauptet, er würde sie spätestens nach drei Monaten zurückbringen, weil sie ihm auf die Nerven ging, aber Ethan hatte gemeint, er würde sie eher in Florida den Krokodilen vorwerfen, als die lange Reise auf sich zu nehmen.
„Alligatoren“, hatte Ruby korrigiert.
Als Chef war Richard Golightly erträglich, er überprüfte die Abrechnungen und achtete darauf, dass niemand hinter dem Schalter rauchte, er hörte sich Beschwerden an, die es nur selten gab und organisierte nette kleine Weihnachtsfeiern. Die samstäglichen Trinkgelage waren ihm ein Dorn im Auge, aber dagegen konnte er nichts tun, denn sie lagen außerhalb der Arbeitszeit.
„Wer hat dir das Haar gefärbt?“, fragte Ruby. Sie packte ihr Taschenbuch in die Manteltasche, hüpfte einmal auf der Stelle, um zu hören, ob sie ihr Schlüsselbund eingesteckt hatte. Ethan packte seinen Hintern auf den Bürostuhl, drehte sich einmal um die eigene Achse und erklärte: „Das war der Mexikaner. Er wollte was ausprobieren und ich brauchte einen neuen Haarschnitt. Gefällt’s dir?“
Der Mexikaner war Friseur und hatte offensichtlich kein Vertrauen in die eigene Handwerkskunst. Er probierte alles erst mal an seinen Mitbewohnern aus, bevor er an seinen Kunden herumschnippelte.
„Zieh dir die Mütze drüber“, sagte Ruby. Sie winkte zum Abschied, lief durch die menschenleere Vorhalle und über den Busparkplatz. Dort standen noch zwei Überlandbusse, einer nach Bangor und einer nach New Hampshire. Sie winkte zu den Fahrern hinüber.

Im 24-Stunden-Supermarkt kaufte sie ein paar Lebensmittel, stand bei den Drogerieartikeln und überlegte, sich Blondierungscreme zu kaufen, um Ethan zu ärgern. Sie würde es vermutlich bereuen, ihr naturrotes Haar zu färben, aber es würde Ethan grün anlaufen lassen. Allerdings konnte er immer noch behaupten „Ich hatte die Farbe zuerst“ und deshalb legte sie die Creme zurück ins Regal. Das Geld legte sie besser in Kaffee an. An der Kasse wartete sie, bis die Schlafmütze von Kassiererin endlich den Schlüssel wieder gefunden hatte, und entdeckte dabei neben dem aktuellen Kinoprogramm in Norway das Plakat einer Kuriositäten-Wanderausstellung. Auf dem Plakat waren die gezeichneten Wunder abgebildet, die es zu sehen gab: verwachsene Tiere, ob tot oder lebendig ging nicht aus den Zeichnungen hervor, extrem große und kleine Menschen, ein Mann, der angeblich Eisenstangen verbiegen konnte, eine Yeti-Frau, angeblich zwei Meter groß und direkt aus dem Himalaya.
„Ach du meine Güte“, sagte Ruby. Sie sah genauer hin und dachte, dass die Yeti-Frau mit ihrer Mutter verblüffende Ähnlichkeit hatte. Das ganze Plakat war furchtbar billig und schlecht gemacht, man konnte sehen, wo die schreiend bunten Texte ausgeschnitten und aufgeklebt worden waren, aber mit Sicherheit drängelten alle Kinder der Umgebung ihre Eltern, sich diese Dinge ansehen zu wollen.
Alles gezeichnet, weil die untereinander die Kostüme tauschen, dachte Ruby, und sie kaufen auf den umliegenden Farmen die fünfbeinigen Kälber und Schildkröten mit zwei Köpfen auf.
„Ich hab das Plakat zu spät angeklebt“, sagte die Kassiererin. Sie hatte endlich den Schlüssel gefunden, entsperrte die Kasse und tippte Rubys Einkäufe ein, „die sind schon letzte Woche weitergezogen. Der Chef hat’s hier unter den Tisch gelegt, damit ich es aufhänge und ich habs erst heute beim Aufräumen wiedergefunden. Schade, ich wäre mit meinen Jungs hingegangen.“
„Sie hätten was fürs Leben gelernt“, sagte Ruby.
Auf dem Weg nach Hause traf sie nur wenige Passanten, eine alte Frau kam ihr entgegen und wie jedes Mal, wurde sie von ihrem nervigen kleinen Köter verbellt. Der Hund hatte eine Stimme wie eine hochgedrehte Kreissäge und trug ein kariertes Hundejäckchen.

Ruby lebte noch immer in ihrer Zwischenlösung; ein möbliertes Zimmer im Haus der Olsons. Das Haus lag in der vernachlässigten Ecke von Winslow, aber die Olsons waren nette Leute und ertrugen es mit Geduld, wenn Ruby mit der Miete in Verzug war.
Sie waren Bekannte von Richard Golightly und hatten sie auf seinen Vorschlag hin als Mieterin aufgenommen, als sie damals mit einem Koffer und einer dicken Reisetasche in Winslow angekommen war. Ursprünglich hatte sie in Winslow nur eine Fahrkarte kaufen wollen, aber das „Aushilfe gesucht“ Schild hatte sie überredet, für einige Zeit in dem Nest zu bleiben. Richard hatte sich als guter Chef präsentiert, ihr den Job auf Probe gegeben und das Zimmer vermittelt. Er hatte nie gefragt, wo das verheult aussehende rothaarige Mädchen ursprünglich hingewollt hatte.

Ihre Eltern waren in New Jersey in einem Wohnwagenpark gelandet und ihre ältere Schwester Helen hatte sich in Boston niedergelassen. Ruby vermied es, die Familie zu oft zu sehen, sie wollte sich nicht mehr als einmal im Jahr anhören müssen, was zum Teufel sie in einem winzigen Kaff in Maine zu suchen hatte.
Ruby, die doch immer etwas klüger und in der Schule besser als ihre Schwester gewesen war. Und nun sehe man sich einmal an, was aus Helen geworden war. Sie hatte es zu etwas gebracht in Boston. Und wo Ruby gelandet war, dieses dumme einfältige Ding.
Ihre Eltern hatten keinen blassen Schimmer, was Helen in Boston wirklich tat, ebenso wenig, wie sie etwas von Rubys Leben in Winslow wussten. Sie hatte nicht das Bestreben, es richtigzustellen. In Winslow war sie aus dem Überlandbus gestiegen, wie so viele, aber sie war eine der wenigen gewesen, die geblieben waren. Beim Aussteigen hätte sie sich fast der Länge nach hingelegt, weil sie die letzte Stufe übersehen hatte wegen der dunklen Sonnenbrille. Der Fahrer hatte ihr hinterhergerufen, er würde sie auch bis zur Küste mitnehmen, aber sie hatte dankend abgelehnt.

Mrs. Olson hieß Annette mit Vornamen, aber gewöhnlich rief Mr. Olson sie „Weib

“, wenn er sie in dem großen Haus suchte. Die beiden hießen in Winslow nur „die Dänen

“, obwohl sie gebürtig aus Maine waren. Die ganze Stadt war voller seltsamer Spitznamen.
Rubys Zimmer lag im ersten Stock, mit dem Blick in den Innenhof, ausgestattet mit einer winzigen Küche und einer Toilette. Die Etagendusche war am Ende des Flures. Sie war jeden Abend dankbar, dass es das erste Zimmer direkt an der Treppe war, so musste sie nicht über den ganzen Flur laufen und sich der Gefahr ausliefern, von den anderen Mitbewohnern abgefangen zu werden, wenn sie nach Hause kam.

Es war viertel vor elf, als sie nach Hause kam und sie wollte nur noch eine Kleinigkeit essen und ins Bett gehen. In dem dunklen Zimmer warf sie die Einkäufe auf den Tisch, schaltete den Fernseher ein, statt Licht anzumachen.
Im Erdgeschoss des Hauses lag die große Küche, in der Annette Olson das Frühstück für alle vorbereitete, das Speisezimmer und ihre eigenen Räume sowie der Luxus der Pension, eine Waschküche mit Waschmaschine und Wäscheleinen von Wand zu Wand. Die Olsons bestanden allerdings sehr strikt darauf, dass Unterwäsche nicht dort aufgehängt wurde. Manchmal wusch Mrs. Juárez ihre Kinder in der Waschküche und ließ sie dort nackig herumlaufen, bis sie wieder trocken waren. Sie hatte ihren Mann verlassen und lebte mit den Kindern in einem Raum im zweiten Stock. Manchmal hörte es sich so an, als würden die Kinder das ganze Haus bevölkern.
Ruby mochte die beiden, ein Junge und ein Mädchen mit dunklen großen Knopfaugen, schwarzem Haar und ständigen Rotznasen. Wenn sie ihnen aus dem Supermarkt Süßigkeiten mitbrachte, waren sie schüchtern und glaubten wahrscheinlich, sie wäre eine Abgesandte des Weihnachtsmannes. Niemand im Haus war in Rubys Alter, aber sie fühlte sich wohl und wäre selbst dann nicht ausgezogen, wenn sie sich eine eigene Wohnung hätte leisten können. Sie brauchte Menschen um sich herum, um sich wie in einer Familie zu fühlen. Alleine in einer Wohnung würde sie zu sehr ins Grübeln kommen.
Hundertdreizehn

, dachte sie, nicht schlecht für einen Mittwoch. Mit viel Glück kann ich mir am Samstag so viel Campari Orange reinziehen, bis ich es zum Kotzen nicht mehr aufs Klo schaffe.



Sie stand jeden Morgen um zehn Uhr auf, frühstückte mit den Dänen und einigen der anderen Gäste des Hauses und verließ die Pension eine Stunde später. Im Sommer fuhr sie mit dem Rad, aber während der Wintermonate stand das im Innenhof und wartete geduldig darauf, dass Schnee und Eis verschwanden.
Manchmal verbrachte sie die Zeit bis zu ihrem Einsatz an der Fahrkartenfront in der öffentlichen Bücherei, manchmal fuhr sie per Anhalter bis nach Augusta. Gewöhnlich hatte sie eines ihrer Taschenbücher dabei. Sie lieh sich nie Bücher aus, las sie nur in der Bücherei, wo sie sich stundenlang an einen der Tische setzte. Sie hatte immer Angst, sie würde den Abgabetermin vergessen und Strafe zahlen müssen. Blieb sie in Winslow, sah man sie häufig im Café, wo sie einen Kaffee bestellte und Zeitung las, oder sie traf sich mit Mona. In den Wintermonaten gingen sie gerne zum Schlittschuhlaufen auf den zugefrorenen See, dort drehten sie ihre Runden, genoss die eisige Luft und Ruby stellte sich vor, sie sei jemand Berühmtes auf dem Eis. Keine Eiskunstläuferin, sondern die erste Frau, die den Stanley Cup mit ihrer Mannschaft gewann.

In der High School war sie überdurchschnittlich gut gewesen, aber diese Maßstäbe konnten in Winslow, Maine, nicht mehr angelegt werden. In Winslow war sie vierundzwanzig Jahre alt, hatte ihr erdbeerfarbenes Haar sehr kurz geschnitten und arbeitete unauffällig hinter dem Schalter des Busbahnhofs. Einige Jungs waren hinter ihr her, sie war einige Monate mit einem Bob und dann mit einem Ray, dann mit einem Johnny zusammen gewesen, aber das war nicht von Bedeutung. Sommergäste kamen und gingen und von einigen kannte sie nicht einmal den Namen. Wenn sie sich anstrengte, konnte sie noch sagen, welches T-Shirt er getragen hatte, als sie sich kennengelernt hatten.
Diesmal verbrachte sie ihren Vormittag bei Mona. Die hatte einen Blumenladen in einer Seitenstraße vor dem Busbahnhof und hatte gerade erst die Thanksgiving-Dekoration aus ihrem Laden verbannt. Der Laden war sehr klein, extrem vollgestopft mit Schnitt- und Topfblumen, Grünpflanzen jeder Art und Ruby wusste, dass Mona auch einige seltene begehrte Pflänzchen auf dem Dachboden anbaute. Mona rauchte es selbst und mit ihren Freunden, aber sie verkaufte es nicht. Deshalb waren sie noch nicht aufgeflogen mit ihrer Privat-Plantage.
Ruby betrat den Laden und rief: „Ich hab Kaffee mitgebracht!“

Der Eisbär



Der Donnerstag begann langweilig und es schien kaum möglich, die einhundertdreizehn vom Vortag zu übertreffen. Ethan und Mom hatten diese Marke ebenfalls nicht überboten, wie sie mit einem kurzen Blick auf die Liste grinsend zur Kenntnis nahm.
Mom-Julianne behauptete, es seien schräge Vögel unterwegs, aber sie packte so schnell ihre Sachen zusammen und verschwand nach Hause, dass Ruby nicht nachfragen konnte. Mom musste ihre Kinder von der Schule abholen und ihnen prophylaktisch eins hinter die Ohren geben.
Trotz des Wetters kamen und gingen die Busse pünktlich, die Fahrer kamen während des kurzen Aufenthalts gerne in die Halle und plauderten, wenn sie Zeit hatten. Im hinteren Teil des Ticketschalters stand eine Kaffeemaschine und den meisten spendierte Ruby einen Becher, ohne dass die Männer danach fragen mussten. Nur einer bekam von ihr nichts, weil er sie mit dummen Sprüchen angemacht hatte. Er war ein alter schmieriger Kerl, der die Route bis nach New York fuhr und Ruby hatte ihm irgendwann geraten, seinen Kopf abzudichten und wieder in seinen Bus zu steigen.

Es saßen viele Leute in der Halle, hatten Schnee an ihren Schuhen hereingetragen, der auf dem Steinfußboden schmolz und dreckige Pfützen hinterließ. Koffer wurden abgestellt, Kinder am Weglaufen gehindert, einige Hunde rutschten über den glatten Boden.
Letzten Sommer hatte ein Witzbold sein Pferd mit reingebracht und war durch die ganze Halle geritten. Sein Auftritt war allerdings nach hinten losgegangen, weil das Pferd auf dem glatten Boden ausgerutscht war und wie Bambi auf dem Eis die Grätsche gemacht hatte. Er selbst war nach vorn über die Schulter des Pferdes runtergefallen und hatte sich bei der Landung aufs Gesicht das Nasenbein gebrochen.

Der Standort des Kartenschalters war gut gewählt in der Halle. Ruby saß direkt an der Frontscheibe zum Parkplatz und konnte somit das Geschehen in der Halle und auch außerhalb beobachten. Manchmal winkten die Fahrer zu ihr herein oder deuteten zu ihr hinüber, wenn Passagiere nach dem Schalter fragten. Sie mussten nicht durch die ganze Halle laufen, um sich Karten zu kaufen. Inmitten der Passagiere, die auf ihren Bus warteten, waren einige Teenager, die nach Augusta ins Kino wollten, Männer mit schweren Koffern und nur wenige von ihnen kauften Tickets. Ruby konnte sich voll und ganz ihrem aktuellen Taschenbuch widmen.
Als sie das nächste Mal aufsah, klopfte einer der Fahrer an die Scheibe und machte mit beiden Händen bettelnde Gesten. Sie öffnete die Scheibe, reichte ihm einen Kaffee nach draußen. Er war einer von den Netten.

Nach Sonnenuntergang war sie wieder allein in der Halle, glaubte es zumindest im ersten Moment. Es war ungefähr sieben Uhr, als sie sich die Beine vertrat und eine kleine Runde drehte. Es saß noch jemand in der Sitzreihe unter dem Plakat der ansässigen Molkerei. Ruby warf nur einen kurzen Blick auf die Person und flüchtete in ihren Schalterraum.
Von dort in ihrer relativen Sicherheit (zumindest konnte sie die Tür hinter sich abschließen und die Polizei anrufen) warf sie immer wieder Blicke durch die Halle und vergewisserte sich, dass die Gestalt in dem Eisbärenfell nicht näher herankam.

Erst, nachdem sie mehrfach von ihrem Buch aufgesehen hatte, sah sie, dass der Eisbär an einer Krücke lief. Sein rechter Unterschenkel steckte in Gips, den man durch das hochgekrempelte Hosenbein sehen konnte. Über die nackten Zehen, die aus dem Gips herausschauten, hatte er ein paar Socken gezogen. Vermutlich war das eine der schrägen Gestalten, die Julianne erwähnt hatte, bevor sie hektisch abgedampft war.

Eine halbe Stunde später kamen doch noch Kunden und sie verkaufte Tickets für den Bus nach Norway, was leider nicht mehr als zweiundsiebzig Meilen brachte, auch wenn es vier Tickets waren. In dem Wettbewerb zählte die Anzahl nicht.
Die beiden Pärchen sahen aus wie Ruby sich Studenten vorstellte, allerdings die echten Studenten, denn ihre Schwester hatte sich auch immer mit der Aura einer Studentin umgeben und dabei noch nie eine Universität von innen gesehen. Manchmal plauderte Ruby mit den Kunden, aber bei Pärchen hielt sie sich zurück. Manche Frauen kamen nicht damit klar, wenn sich ihre Männer zu sehr mit anderen Frauen beschäftigten. Sie stellte Vermutungen an, was sie in Norway vorhatten und kam nicht wirklich dahinter. Dort gab es nichts, was es in Winslow nicht auch gab.
Sie schaltete das Radio ein und drehte von einem Sender auf den nächsten, konnte aber nichts finden, wo sie gerne hängen geblieben wäre. Ethan redete seit Monaten davon, er würde einen kleinen tragbaren Fernseher besorgen, aber bisher war noch nichts passiert, außerdem hätte Golightly bestimmt etwas dagegen.
Während sie noch am Radio herumdrehte, klingelte ihr Handy in den Tiefen ihrer Handtasche und sie tauchte unter den Tisch ab, wühlte in der Tasche herum und fand es schnell genug, bevor die Verbindung unterbrochen wurde. Die meisten wussten, dass sie bei Ruby lange klingeln lassen mussten.
„Hallo“, sagte sie, schaltete das Radio aus. Sie hatte die Telefonnummer erkannt und wusste, was kam. Sie hätte dieses Telefonat auch als Monolog auf einer Kleinkunstbühne halten können.
„Ruby, wo warst du?“ Die wütende Stimme ihrer Mutter. Sie war von einer sehr direkten Natur, und wenn sie wütend war, ließ sie das einen sofort spüren. Ruby starrte auf das zerfledderte Buch mit den Busverbindungen. Die Wichtigsten waren gelb markiert worden, dort wollten die Menschen am häufigsten hin. Die kleinen Sternchen markierten die Orte, an denen sie am liebsten wäre. Es waren die Langstreckenverbindungen in den mittleren Westen. Sie fand, dass sich New Mexico verdammt gut anhörte. Aber bei ihrem Budget hätte sie auch eine Reise zum Mars buchen können.

Sie hielt sich vor Augen, dass sie zwar keinen solchen Job hatte, den ihre Mutter sich gewünscht hätte, aber es war ein Job, den sie sich selbst besorgt hatte und mit dem sie über die Runden kam. Sie versuchte sich abzulenken, um nicht ebenfalls wütend und laut zu werden. Sie dachte an Las Vegas, San Francisco.
„Wer spricht denn da?“, fragte sie. So reagierte sie immer, wenn ihre Mutter es unterließ, sich mit Namen zu melden.
„Jetzt sei nicht albern. Du weißt genau, wer hier ist. Und erzähle mir nicht, du hättest die Einladung nicht erhalten.“
„Ich hab sie bekommen, aber ich habe nicht zugesagt.“
„Zu einer Familienfeier muss man nicht zusagen. Helen war drei Tage bei uns. Wir haben auf dich gewartet.“
„Ich hatte keine Zeit.“ Es war unmöglich zu sagen, dass sie die Familie nicht hatte sehen wollen, nicht einmal für ein paar Stunden.
„Hast du mit deiner Schwester telefoniert? Sie wollte dich anrufen. Ich habe extra einen großen Truthahn gekauft, du hättest dir die Reste mitnehmen können. Und Alfie hätte sich auch gefreut, dich zu sehen.“
„Geht es dir um den Truthahn?“ Sie hätte fast noch vorgeschlagen, sie hätte die Reste auch per Post verschicken können, aber das verkniff sie sich. Und dass ihre Mutter Alfie vorschob, um ihr ein schlechtes Gewissen zu machen, versuchte sie zu ignorieren. Sie beobachtete, dass der Eisbär sich auf einer Krücke durch die Halle bewegte. Sie klemmte unter seiner rechten Armbeuge, es war eine dieser altmodischen Krücken, die Ruby nur aus schwarz-weißen Filmen kannte.
„Sei nicht albern, Ruby, es geht mir nicht um den Truthahn. Es wäre sehr nett gewesen, wenn du bei diesem Familienfest anwesend gewesen wärst.“
„Ich hatte wirklich keine Zeit, Mom. Und nein, Helen hat mich nicht angerufen. Sie ruft mich nie an. Sie sagt dir nur, sie würde es tun.“
„Lass deine Laune nicht an deiner Schwester aus.“
„Ich will sie nur nicht enttäuschen.“
Ihre Mutter machte ein Geräusch, das nach einem Lachen klang, aber keines war. Es hatte einen gehässigen Unterton.
Ruby starrte gebannt auf den Eisbären, der jetzt genau auf den Kartenschalter zusteuerte. Er war linkslastig durch die Krücke auf der rechten Seite, hielt den rechten Fuß immer knapp über dem Fußboden und hatte das Knie dazu angewinkelt, so stöckelte er auf sie zu und sie wagte nicht, den Blick von dem Fell zu nehmen.
„Wenn du die Einladung pünktlich bekommen hast, hättest du den Anstand haben können, kurz anzurufen, Ruby. Wenn du kein Benzingeld für die Anreise hattest, hättest du bei Helen mitfahren können, wenn das dein Problem war.“
Ihre Mutter wusste genau, dass sie kein Auto hatte. Aber längst hörte Ruby nicht mehr hin, sah den Eisbären auf sich zukommen und murmelte besorgt in ihr Handy: „Tut mir leid, ich muss Schluss machen, Mom. Kundschaft.“
Sie drückte das Gespräch weg, schaltete das Handy aus. Wurde ihre Mutter abgewürgt, hatte sie die Angewohnheit, fünf Minuten später noch einmal anzurufen.

Endlich war der Eisbär nahe genug heran, dass sie ihn sich genauer ansehen konnte.
Das monströse gelbliche Kostüm endete irgendwo über den Knien, war so weit geschnitten, dass es wie ein Sack von den Schultern herunterhing. Die Ärmel, aus denen die Hände herausschauten, waren so breit wie Hosenbeine und im Nacken hing eine Art Kapuze, von der Ruby begriff, dass es das Kopfteil war. Vermutlich mit niedlichen kleinen runden Ohren an den Seiten. Der Mann, der diesen gehäuteten Eisbären trug, hatte lockiges schwarzes Haar, was ihm bis in die Augen hing, deshalb konnte sie nicht sehr viel vom restlichen Gesicht sehen. Er hatte den Rollkragen seines dicken Pullovers bis zur Nasenspitze hochgezogen. Ruby dachte ganz kurz an einen Überfall, aber wer mochte schon so dumm sein und versuchen, einen Ticketschalter zu überfallen.
„Kann ich ihnen helfen?“, wollte sie fragen, aber stattdessen kamen die Worte heraus: „Sucht der Zoo sie bereits?“
Es passierte so schnell, dass sie glaubte, diese Frage hätte jemand anderes gestellt. Sie fand es zum Schreien komisch und gleichzeitig war es ihr peinlich und sie hoffte, dass sie nicht rot geworden war.
„Der Zoo nicht“, bekam sie zur Antwort. Er hatte den Rollkragen heruntergezogen, aber aufgrund eines wuchernden schwarzen Vollbarts war von ihm noch immer nicht viel zu sehen. Er schien noch etwas sagen zu wollen, wandte sich dann aber ab und hinkte zu seiner Bank zurück.
Oh, den hast du beleidigt

, dachte Ruby, aber spätestens in ein paar Stunden ist er verschwunden. Ist

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Tag der Veröffentlichung: 02.12.2012
ISBN: 978-3-7309-1230-0

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