Als die letzten Aufrufe zur Evakuierung kamen, hatte sie bereits ihre Taschen gepackt und war bereit, in ihr Auto zu steigen und Asbury Park zu verlassen, aber noch immer zauderte sie. In der Hektik und Panik hatte sie nur das gegriffen, was sie unbedingt retten wollte, und doch wollte sie ihre kleine Wohnung nicht verlassen. Die lag im dritten Stock eines alten Hauses, aber niemand hatte sagen können, wie hoch die Sturmflut sein würde, die Sandy mit sich brachte.
Die letzten zwei Tage hatte sie vor dem Fernseher und neben dem Radio verbracht, an Arbeiten war nicht zu denken gewesen. Die Bar, in der sie kellnerte, war längst geschlossen, der Besitzer hatte Fenster und Türen mit Brettern vernagelt, Sandsäcke an der Front aufgereiht in der Hoffnung, das Wasser zurückhalten zu können.
Sie wollte nicht gehen; sie hatte Angst zu bleiben und noch mehr Angst, dass nach ihrer Rückkehr nichts mehr da sein würde. Die Nachbarn waren längst verschwunden, sie war die Letzte in dem Haus. Die Hilfe der anderen hatte sie ausgeschlagen, sie hatte noch in der Bar geholfen und hatte gemeint, sie sei flexibel genug mit ihrem Wagen. Sobald sie fertig sei, würde sie ins Inland fahren und sich in Sicherheit bringen.
Und jetzt war es so weit. Durch die Straßen von Asbury Park patrouillierten Streifenwagen, um die letzten Einwohner in Sicherheit zu bringen. Der Sturm und Regen waren unglaublich, so etwas hatte sie noch nie erlebt, obwohl sie seit Jahren hier an der Küste lebte. Es war, als würde die Welt untergehen.
Unmöglich, dachte sie, das ist ein Albtraum.
Sie wollte mit ihrer Schwester in Trenton telefonieren, aber die Leitungen waren tot, sie hatte selbst auf dem Handy keinen Empfang.
Los jetzt, dachte sie, als der Moderator der Radiostation dringend ermahnte, die Küstenstädte zu verlassen.
Es bestehe ernsthafte Gefahr für Leben und Besitz, hatte es geheißen. Wie man eine solche Bedrohung in so nüchterne Worte packen konnte.
Sie griff ihre Taschen, zog die Wollmütze über ihren Kopf, die Kapuze der dicken Jacke darüber. Als sie ihre Wohnungstür abschloss, fiel der Strom aus. Sie stand mit klopfendem Herzen in dem dunklen Flur, schaltete die Taschenlampe ein, die sie eingesteckt hatte, und fand ihren Weg durch das alte Treppenhaus bis durch die Haustür. Der Sturm holte sie fast von den Füßen. Sie hielt sich an Geländern und Bäumen fest, als sie sich zu ihrem Wagen vorarbeitete. Gott sei Dank, er war noch da.
Der Motor sprang sofort an und sie fuhr los, hielt mühsam den Wagen in der Spur, der Sturm versuchte alles, um sie von der Fahrbahn zu drängen. Ampeln schaukelten, heruntergerissene Plakate fegten an ihr vorbei, Mülltonnen rollten über die Fahrbahn. Im Rückspiegel sah sie eine blitzende Explosion, als eine Stromleitung heruntergerissen wurde.
Ich schaff das schon, dachte sie, ich schaff das.
Fast wäre sie an der Gestalt vorbeigefahren. Erst glaubte sie, es sei ein schwarzer Müllsack, der sich im Sturm bewegte, aber dann erkannte sie undeutlich in den hellen Flecken Hände und ein Gesicht. Ein verwirrtes Gesicht. Da hockte jemand auf der Ocean Avenue direkt neben dem Stone Pony.
Sie hielt an, setzte zurück und ignorierte die Wellen, die bedrohlich bis auf die Fahrbahn schwappten und mit jeder Wiederholung höher wurden. Das Wasser riss alles mit sich, warf es mit der nächsten Welle wieder an Land.
„Hey!“, schrie sie durch das heruntergekurbelte Fenster, „wir sind evakuiert!“
Die Gestalt an der Hauswand reagierte mit einem widerwilligen Abwinken.
Sie war versucht, einfach weiterzufahren. Aber dieser Gedanke flog mit dem nächsten Brecher davon. Wenn sie länger wartete, würden sie ins Meer gespült werden.
Sie setzte ein Stück zurück, fuhr bis auf den Bordstein und hielt direkt neben der Gestalt.
„Einsteigen, verdammt noch mal!“, schrie sie, und als die Gestalt noch immer nicht reagierte, sprang sie aus dem Wagen.
Der Mann starrte sie mit riesigen Augen an. Er war entweder verrückt vor Angst oder er war schon vorher verrückt gewesen und hatte deshalb die Nachrichten nicht verstanden. Sie hockte sich vor ihm, streckte ihm beide Hände entgegen und hielt die Luft an. Was sollte sie machen, wenn er sich weigerte, in ihren Wagen zu steigen? Auf den nächsten Streifenwagen hoffen?
An seiner Jacke sah sie etwas im letzten Licht des Tages blinken und folgte ihrer Eingebung.
„Hoch mit dir, Soldat“, sagte sie, „zurück zur Basis.“
Sie kannte sich mit diesem Militärjargon nicht aus, sie hatte nur ein paar Hollywoodfilme gesehen, aber der Mann reagierte. Er griff ihre Hände, sie zog ihn hoch und schob ihn auf den Beifahrersitz. Die Autotür musste sie mit beiden Händen öffnen, der Wind nahm ihr den Atem. Mit letzter Kraft, zitternd vor Angst, umrundete sie den Wagen, der Wind riss ihr die Tür aus den Händen und sie fuhr los, ohne sie zu schließen. Die nächste Böe schlug die Tür ins Schloss, so heftig, dass das Seitenfenster zersplitterte.
„Anschnallen“, sagte ihr Beifahrer und sie brachte ein verzweifeltes Lachen zustande.
Die Straßen bis zur 195 waren frei, aber immer wieder musste sie herumfliegenden Trümmern ausweichen, dann hatten sie es geschafft.
Asbury Park und die letzten Häuser lagen hinter ihnen. Der Sturm und der Regen waren ungebrochen, aber auf der 195 Richtung Trenton waren einige Flüchtende unterwegs, das vermittelte ihr ein wenig Sicherheit. Abfahrten waren von Polizeiwagen mit blinkenden Blaulichtern abgesperrt.
„Wo ist ihre Familie?“, fragte sie und er antwortete nicht. Sie konzentrierte sich auf die Straße, fuhr verbissen weiter und langsam fiel die Panik von ihr ab.
Was mach ich mir Gedanken um meine Wohnung und meinen Job, dachte sie, der wäre ertrunken, wenn ich nicht vorbeigekommen wäre und seine Familie hätte nicht einmal gewusst, was aus ihm geworden ist.
In Trenton war die Situation nicht viel besser, kaum dort angekommen, sprach ihre Schwester davon, nach Philadelphia zu fliehen, aber sie blieben.
Sie alle bezogen ein Notquartier in der Innenstadt und sie sorgte dafür, dass ihr unbekannter Beifahrer in ihrer Nähe blieb. Sie fand seinen Namen nur heraus, weil sie ihn zwang, seinen Mantel auszuziehen und die Taschen durchsuchte. Die ganze Zeit sagte er kein Wort, starrte nur vor sich hin, als wüsste er überhaupt nicht, was um ihn herum geschah.
In der Nacht, als Sandy mit voller Wucht über sie hinweg zog, hockten sie zusammen, an Schlaf war nicht zu denken, manche beteten, manche weinten still vor sich hin, andere waren erstarrt wie der Mann, den sie gerettet hatte.
Es dauerte ewig, bis der Morgen kam. Jemand Offizielles kam auf sie zu und bat sie, ihn zu begleiten. In einem Abstellraum, der als Krankenstation eingerichtet worden war, empfing sie eine Frau, die sie spontan umarmte und sie an sich drückte.
„Sie können sich nicht vorstellen …“, begann sie, „mein Mann verschwindet ab und zu, er hat Panikattacken und dann weiß er nicht, wo er hin soll, er läuft stundenlang durch die Gegend, bis er wieder klar denken kann. Wir waren so in Angst, weil er nicht zurückgekommen ist. Wo haben sie ihn gefunden?“
„Vor dem Stone Pony“, sagte sie, „es war Zufall, dass ich ihn entdeckt habe. Eigentlich war ich auch schon viel zu spät unterwegs.“
„Nein“, sagte die Frau und lächelte, „es war kein Zufall. Und sie waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort.“
Texte: alle Rechte liegen bei der Autorin
Bildmaterialien: Google Street View Screenshot "Stone Pony"
Tag der Veröffentlichung: 01.11.2012
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