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Wie können die Engel schlafen, wenn der Teufel das Licht brennen lässt?
Episode „Halloween“



Denny war neun Jahre alt und neu in der Stadt. Seine Mutter war mit ihm umgezogen, nachdem sie sich hatte scheiden lassen und sie hier einen neuen Job bekommen hatte. Denny hatte auf den Umzug mit Gleichgültigkeit reagiert, denn er hatte noch nie Freunde gehabt, die er hätte vermissen können. In der Schule hielt er sich immer abseits und es war ihm egal, was die anderen von ihm dachten.

Die Kinder in der neuen Schule straften ihn zunächst mit Missachtung, dann begannen sie ihn auf dem Gang anzurempeln, klemmten ihm mit Absicht die Finger in seiner Spindtür ein, oder sie stellten ihm beim Ballspielen ein Bein, damit er hinfiel. Die Lehrer unternahmen nichts dagegen, aber das war Denny gewöhnt. Er kam damit klar, dass sich niemand für ihn einsetzte. Und deshalb schlug er ab und zu zurück, wenn er einen der Jungs allein erwischte.

Er wusste, dass es eines Tages anders werden würde. Denn eines Tages – da war er sich sicher, würde er zurückschlagen und sich ganz fürchterlich rächen. An allen, an den Kindern, an den Lehrern, an den Nachbarn, die ihn und seine Mutter mit komischen Blicken bedachten. Die seine Mutter unfreundlich behandelten, obwohl sie als Kellnerin in dem Restaurant ihr Bestes gab. Sie ging jeden Tag zur Arbeit, nachdem sie Denny ein frühes Abendessen gemacht und seine Hausaufgaben kontrolliert hatte, und sie kam so früh am Morgen erst zurück, dass Denny bereits schlafend in seinem Bett lag.

Als Halloween vor der Tür stand, fragte ihn seine Mutter, ob er sich wieder sein Vampirkostüm anziehen und mit seinen Freunden durch die Nachbarschaft ziehen wolle, und er sagte: „Ja, Mommy, sehr gerne.“
Sie wusste nicht, dass er keine Freunde hatte, dazu war sie zu beschäftigt. Wenn sie ihn mit den anderen Kindern von der Schule kommen sah, waren das nur die Jungs und Mädchen, die in derselben Straße wohnten und sie hatten denselben Schulweg. Sie sagten zwar „Hallo“, aber sie sprachen nicht mit ihm.

Und so zog er sich am frühen Halloween Abend sein schwarzes Vampirkostüm an, was ihm schon ein wenig zu klein wurde, ließ sich von seiner Mutter das Gesicht weiß und die Augen und Lippen schwarz schminken und zog mit seinem Stoffbeutel los. Seine Mutter wünschte ihm viel Spaß und fuhr schnell zur Arbeit.

Denny begann systematisch, die Familienhäuser der Straße abzuklappern, klopfte an jede Tür und rief „Süßes oder Saures!“ und bekam Äpfel und Schokoriegel in seinen Beutel gestopft. Einige der Mütter, die ihm die Tür öffneten, fragten, wo die anderen Kinder seien und er sagte einfach, dass sie schon nach nebenan gegangen seien. Er war es gewohnt, zu lügen.
Als er die Wohnhäuser auf beiden Seiten der Straße abgeklappert hatte, kam er zu dem letzten Haus vor der Kreuzung, das ein wenig versteckt hinter einer dichten wuchernden Hecke lag. Dort hatte er noch nie jemanden gesehen und die Gruppe Kinder, die in ihren Kostümen vor ihm gelaufen waren, hatten es ignoriert. Er ging vorsichtig den gepflasterten Weg hinauf zum Haus bis vor die Veranda, und er bemerkte sofort, wie verfallen und verdreckt alles war. Im Hauseingang brannte kein Licht, aber trotzdem klopfte Denny an die Tür, trat einen Schritt zurück und zog seinen Vampirumhang zurecht. Er war sicher, wenn hier noch jemand wohnte, war es ein alter Mann oder eine alte Frau, denen er einen gehörigen Schrecken einjagen konnte.
Hinter dem linken Fenster erschien ein schwaches Licht, dann rief eine unfreundliche Stimme: „Wer ist denn da?“
„Süßes oder Saures!“, rief Denny laut.
„Was?“ Die Tür öffnete sich ein wenig, aber noch immer war nichts zu sehen von dem Bewohner.
„Halloween“, sagte Denny, „wir haben Halloween. Süßes oder Saures?“
Die Tür öffnete sich. Dort stand ein großer dünner Mann, der nur einen grauen Jogginganzug trug. Er hielt sich mit einer Hand am Türrahmen fest, beugte sich Denny entgegen und sah in der Bewegung aus wie eine umstürzende Vogelscheuche. Denny machte noch einen Schritt zurück.
„Schon wieder Halloween? Bist du sicher, Junge?“
„Ich denke schon. Alle Kinder sind unterwegs und sammeln Süßes, aber sie haben ihr Haus wohl ausgelassen.“
„Hmh“, machte der Mann, trat einen Schritt zur Seite und winkte. „Komm rein, Bela Lugosi, mal sehen, was ich für dich habe.“

Denny überlegte nur sehr kurz, ob er dem Mann in das Haus folgen sollte. Seine Mutter hatte ihm beigebracht, niemals zu Fremden ins Auto zu steigen, weil die mit einem wegfahren und Böses antun konnten; aber dieser Mann lockte ihn nicht in ein Auto. Das Haus stand dort, und wenn es ihm unheimlich wurde, konnte er noch immer schreiend weglaufen. So folgte er dem Mann in den dunklen Hausflur und in die Küche, in der eine kleine Tischlampe das einzige Licht verbreitete. Es roch seltsam in den Räumen, muffig und staubig, als hätte hier schon sehr lange niemand mehr gewohnt.

Denny wusste, wie Häuser von alten Leuten normalerweise rochen. Seine Mutter und er hatten eine ganze Weile bei alten Leuten zur Untermiete gewohnt und der Geruch war überall gleich. Aber hier roch es anders. In dem Licht besah er sich neugierig den Mann, der ihn hereingebeten hatte, und der in der Speisekammer nach etwas Süßem suchte, wie er glaubte.

In diesem Haus roch es nicht nach alten Leuten, weil dieser Mann nicht wirklich alt war. Er mochte so alt wie sein Dad sein, als er ihn das letzte Mal gesehen hatte, mit zwei Koffern und seinem Mantel bepackt, auf dem Weg zu seinem Wagen, um auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Denny konnte sich noch sehr gut an Dads letzte Worte erinnern: „Du hast es bei deiner Mutter besser, glaub mir, Sohn.“
Und aus dieser Überzeugung heraus hatte sein Dad es auch in den letzten acht Monaten unterlassen, sich bei ihm zu melden.

Denny setzte sich an den staubbedeckten Küchentisch und bekam eine Gänsehaut, als er aus der oberen Etage ein lang gezogenes weinendes Geräusch hörte. Dann hörte er ein Fauchen und entspannte sich wieder. Es musste eine Katze dort oben sein.
„Wie heißt du?“, fragte der Mann, als er sich mit einer Tüte Bonbons zu ihm herumdrehte.
„Denny“, sagte Denny, „ich wohne am anderen Ende der Straße.“
„Ich weiß“, sagte der Mann, „ich kenne alle, die hier in der Straße leben.“
„Ich hab sie noch nie gesehen.“
„Ich geh nicht oft vor die Tür“, sagte der Mann, reichte Denny die Tüte Bonbons entgegen. „Nimm dir. Die sind zwar alt, aber Bonbons werden nicht schlecht.“
Die Bonbons waren knallbunt und nicht in Folie oder Papier eingepackt, sie waren klebrig und rochen nach Plastik. Genau solche Bonbons hatte seine Mutter ihm schon immer verboten. Sie bestünden nur aus künstlicher Farbe und künstlichem Zucker.
„Danke“, sagte Denny, nahm sich ein Bonbon mit spitzen Fingern und steckte es in den Mund. Seine Mutter hatte recht. Die Dinger schmeckten überhaupt nicht.
„Weshalb bist du immer allein unterwegs?“, fragte der Mann, „hast du keine Freunde?“
„Wir wohnen noch nicht lange hier und in der Schule kann mich keiner leiden.“
„Du machst dich selbst zum Verlierer und Außenseiter.“
Das Bonbon in seinem Mund wurde bitter. Denny schob es sich über die Zunge in die Backe und versuchte den bitteren üblen Geschmack zu ignorieren, aber es ging nicht. Und der Mann, der so seltsam aussah, starrte zu ihm hinüber und machte plötzlich eine schnelle Bewegung in seine Richtung.
Denny hatte noch nie gesehen, dass sich ein Mann so schnell bewegen konnte. Bevor er wusste, was geschah, bevor er Angst bekommen konnte, wurde alles dunkel um ihn herum.

Als er aufwachte, lag er mit lang ausgestreckten Armen auf dem Rasen vor dem alten Haus. Das Laub raschelte, als er sich langsam erhob, sich umsah und angestrengt nachdachte, was passiert sein könnte.
Halloween, dachte er, ich war unterwegs für Süßes oder Saures.
Sein Beutel lag neben ihm, gefüllt mit dem Obst und den Süßigkeiten, die er gesammelt hatte. Er erinnerte sich nur undeutlich, dass er an dem verlassenen Haus hatte anklopfen wollen, um zu sehen, ob dort jemand zu Hause war.

Er erhob sich, drehte sich zu dem Haus um und zögerte. Es war so verfallen und eindeutig unbewohnt, dass er sich wunderte, dass er überhaupt das verwilderte Grundstück betreten hatte. Mit seinem Beutel lief er nach Hause. Es war schon sehr dunkel und er wusste nicht, wie spät es war. Seine Mutter war sicher noch immer im Restaurant arbeiten, sie würde nicht bemerken, dass er später nach Hause gekommen war als versprochen.

Als er seinen Schlüssel ins Schloss steckte und die Tür öffnete, hörte er von drinnen ein hektisches Geräusch, die Stimme seiner Mutter, die etwas rief, und er erstarrte. Er musste länger auf dem Rasen gelegen haben, wenn sie schon zu Hause war.
Aus dem Wohnzimmer rief seine Mutter: „Warten sie einen Moment, ich habe die Wohnungstür gehört.“ Ihre Stimme klang, als habe sie geweint. Sie kam um die Ecke gestürmt, blieb kurz stehen und rief seinen Namen. Denny machte sich Sorgen um sie; sie sah aus, als sei während der Arbeit etwas mit ihr passiert; ihr Haar war durcheinander, sie war ungeschminkt (seine Mutter war nie ungeschminkt) und als sie ins Handy rief: „Er ist wieder da!“, wusste Denny, dass er ein Problem hatte.

Seine Mutter warf das Handy achtlos beiseite, umarmte ihn, hob ihn hoch und drückte ihn an sich. Weinend fragte sie immer wieder: „Wo bist du gewesen, Denny? Wo bist du so lange gewesen?“
Denny hatte keine Zeit, zu erklären, dass er nicht wusste, weshalb er auf dem Rasen vor dem Haus eingeschlafen war, er wartete, bis seine Mutter sich wieder etwas beruhigt hatte und sagte: „Tut mir leid, Mom, dass ich zu spät zu Hause bin. Ich habe meine Uhr vergessen.“
Von dem alten Haus wollte er ihr nichts erzählen. Da war noch irgendetwas, woran er nicht gern zurückdachte.

„Denny“, sagte seine Mutter, ihre Stimme zitterte ein wenig, aber sie weinte nicht mehr, „du bist nicht nur ein paar Stunden zu spät. Du warst drei Tage lang verschwunden. Wir haben dich überall gesucht. Die Polizei, die Nachbarn, Arbeitskollegen, selbst deine Schulfreunde haben geholfen. Wir haben Zettel an die Strommasten getackert, aber niemand hat dich gesehen. Wo hast du nur gesteckt?“
Sie sah ihn sehr ernst an und setzte hinzu: „Hat dich jemand in seinem Auto mitgenommen?“
„Nein“, sagte Denny sehr langsam. Der Beutel mit seinen Süßigkeiten fiel aus seiner Hand, zwei Äpfel rollten heraus. Sie waren so frisch wie in dem Moment, als die Frau sie in seinen Beutel gesteckt hatte. „Ich weiß nicht, wo ich gewesen bin. Irgendwo in einem alten Haus, glaube ich.“
Seine Mutter sagte ihm, er solle sich keine Sorgen machen. Sie wusch ihm die verwischte Halloween-Schminke aus dem Gesicht, steckte ihn ins Bett und er schlief sofort tief ein.
Am nächsten Morgen kamen ein paar Leute, um ihm Fragen zu stellen, ein Polizist, der wieder von ihm wissen wollte, wo er gewesen sei, aber noch immer konnte er diese Frage nicht beantworten. Einer der Männer, der Arzt war, meinte, er stünde unter Schock und irgendwann würde er sich daran erinnern.

Denny bekam Besuch von zwei Jungs, die ein paar Häuser weiter wohnten und sie fragten sehr schüchtern, ob er wieder zur Schule kommen würde.
„Wir haben dich überall gesucht“, sagte der eine Junge. Er gehörte nicht zu denen, die ihn immer geärgert hatten, aber zu denen, die danebengestanden und gelacht hatten.
Denny erinnerte sich an das höhnische Lachen der Kinder um ihn herum, wenn ihn die Bullies mal wieder erwischt hatten, und er erinnerte sich an seine Rachegedanken in diesen Momenten. Aber jetzt war etwas anders. Die beiden Jungs versuchten, freundlich zu sein. Er war drei Tage lang verschwunden gewesen und jeder hatte sich Sorgen gemacht.
„Ich gehe morgen wieder in die Schule“, sagte er und grinste vorsichtig, „darf ich euch abholen und wir gehen zusammen?“
Die Jungs nickten, ohne sich vorher anzusehen und sich abzustimmen. Sie schienen erleichtert zu sein, dass Denny nichts Schlimmes passiert war.

Dennys Leben änderte sich nicht grundlegend, aber es änderte sich. Die Bullies ließen ihn zwar nicht in Ruhe, denn sie ließen die anderen hilflosen Jungs auch nicht in Ruhe und er machte da keine Ausnahme, auch wenn er kurzzeitig verschwunden gewesen war, aber er hatte endlich Freunde. Sie hielten zusammen, kämpften sich durch, stärkten sich gegenseitig und verbrachten die Freizeit und Wochenenden miteinander. Dennys Mutter brauchte lange, um das Verschwinden zu verarbeiten, es dauerte Monate, bis sie ihn nicht mehr ständig zu kontrollieren versuchte.

Nach der Schule besuchte er das College und bekam einen guten Job, der ihm Freude machte und mit dem er sich gut über die Runden bringen konnte. Er heiratete, die Ehe hielt vier Jahre, dann trennten sie sich, weil sie feststellten, dass sie sich in verschiedene Richtungen entwickelten, aber sie blieben Freunde. Als seine Mutter krank wurde, die noch immer in der kleinen Stadt in derselben Straße lebte, zog er wieder zu ihr. Er war sechsunddreißig Jahre alt, als er seine Koffer ins Haus trug und seine Mutter nur fragte, ob er wüsste, was für ein Tag sei.
Sie lag auf der Couch, konnte sich kaum bewegen mit ihrem kaputten Rücken, und lächelte schwach, als er um die Ecke kam und sie fragend ansah.
„Halloween“, sagte sie, „erinnerst du dich?“

Er machte ihr etwas zu essen, räumte das Geschirr in den Spüler, gab seiner Mutter die Schmerztabletten und blieb neben ihr sitzen, bis sie eingeschlafen war. Dann ging er für eine schnelle Zigarette vor die Tür, beobachtete, wie die kostümierten Kinder die Straße entlang liefen. Er erinnerte sich an dieses spezielle Halloween und es machte ihn neugierig, ob das alte Haus noch stand. Auf seiner Fahrt nach Hause hatte er vergessen, danach zu sehen.

Denny lief die Straße hinunter bis zu dem alten Haus, das noch immer schief und verfallen hinter dem alten Gehölz verborgen stand, verfallen aber noch immer aufrecht. Er stieg die Stufen zur Haustür hoch, das alte Holz knarrte und gab unter seinem Gewicht leicht nach, aber es hielt. Die Tür war nur angelehnt und er trat ein, ohne darüber nachzudenken. Irgendwo brannte ein kleines Licht und ließ die staubige Innenausstattung erkennen.

In der Küche stand ein altes Küchenbüfett, noch bestückt mit altem Porzellan und Kerzenleuchtern. Dort lag eine kleine Tüte Bonbons, die seltsamerweise nicht verstaubt waren wie der Rest der gesamten Möbel. Er griff danach, drehte sich herum, als er ein Geräusch an der Tür hörte, die er hinter sich ins Schloss gedrückt hatte und rief: „Wer ist denn da?“

Impressum

Bildmaterialien: http://piqs.de/fotos/search/halloween/141135.html
Tag der Veröffentlichung: 26.10.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Thanks to D. Sharon Pruitt for the picture (creative common)

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