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Klirrende Kälte – Charity Beitrag

Eine Chance – 25 Dez 2011

Anzugmänner sahen alle gleich aus, fand Paul. Aber an diesem, der gerade auf ihn zukam und in sein Handy tippte, war etwas Besonderes.
Der Mann war mit eiligen Schritten unterwegs, an so einem eiskalten Abend wollte er sicher schnell nach Hause zu seiner Familie.
Der gibt entweder zwei Euro oder beachtet mich nicht einmal, dachte Paul.
Paul lebte seit fünf Jahren auf der Straße. Das Betteln kotzte ihn an, aber er konnte keine Obdachlosenzeitungen verkaufen, seit er das letzte Mal eine Prügelei mit einem anderen Penner angefangen hatte, weil er den auf seinem Stammplatz angetroffen hatte. Er brauchte das Geld, verdammt. Klauen wollte er nicht, das war unter seiner Würde.
Und so bettelte er wieder, versuchte, höflich und freundlich zu sein, auch wenn er nur ein „verschwinde“ oder ein „nein“ hörte. Er hasste die Jungs mit den Hunden und noch mehr hasste er die Weiber, die sich ihre schlafenden Kinder um die Hüfte gebunden hatten und auf diese Mitleidstour noch mehr Geld machten. Er wollte keinen Hund, der ihm betteln half. Er wollte ein anderes Leben.
„Haben sie ein wenig Kleingeld übrig?“, fragte er, stellte sich dem Anzugmann in den Weg und sah ihm tapfer ins Gesicht. Das hatte der Alte ihm beigebracht. Sieh ihnen in die Augen, damit sie sehen, dass du ein Mensch bist.
Der Anzugmann stoppte, sah von seinem Handy auf und klappte es mit einer schnellen Bewegung zusammen, ließ es in seiner Hosentasche verschwinden.
„Wozu?“, fragte er.
Paul starrte ihn an.
Weil ich meinen Mitleidsköter zu Hause unter der Brücke gelassen habe, dachte er und hätte fast laut gelacht. Aber dann sagte er dem Mann die Wahrheit, weil es sich in diesem Moment richtig anfühlte.
„Ich muss was zum Essen kaufen, für mich und meine Freundin. Wir sitzen beide auf der Straße. Und seit sie schwanger ist, wird alles auch nicht einfacher. Jetzt im Winter …“
Er hielt inne. Er wollte nicht auf die Tränendrüse drücken. Wohlmöglich ekelte sich der Anzugmann davor und zog mit wehendem Mantel an ihm vorbei.
„Die Freundin ist schwanger“, sagte der Mann, zog sich den Schal gegen die klirrende Kälte enger um seinen Hals. Sein Gesicht schien so eingefroren wie die Mimik der Schaufensterpuppen in den Läden um sie herum.
„Sie ist im fünften Monat“, sagte Paul. Sie vermuteten, dass es so war, denn Kiki weigerte sich noch immer, in eines der Krankenhäuser zu gehen, um sich untersuchen zu lassen.
„Woher soll ich wissen, dass du das Geld nicht für Drogen ausgibst?“
Die alte Leier. Paul hatte mit den Drogen aufgehört, als er Kiki kennengelernt hatte. Okay, er trank immer noch, weil es die Sorgen verdrängte und weil er diese Angewohnheit von seiner Mutter übernommen hatte, aber Drogen fasste er nicht mehr an. Wenn der Anzugmann ihn richtig ansehen würde, könnte er das sehen.
„Ich sage die Wahrheit, ehrlich. Wenn sie mir ein wenig Kleingeld geben, verschwinde ich sofort hier im Supermarkt und kaufe Konserven.“
Er starrte in das Gesicht des Mannes, der etwa doppelt so alt war wie er selbst. Ihm schwante, dass er ihm besser eine der blühenden Lügengeschichten aufgetischt hätte, von wegen, er sei mal erfolgreich gewesen und habe durch eine Scheidung alles verloren und sei durch eine Kette von Unglücken auf der Straße gelandet. Das mochten die Leute, weil es sie daran erinnerte, dass es ihnen auch so gehen könnte, wenn sie nicht achtgaben. Was sie nicht hören wollten, war die Historie einer Hartz-4-Familie, die es ihren Kindern mit der Muttermilch und Fast Food eingetrichtert hatte, dass man für nichts geradezustehen brauchte und dass immer die anderen am eigenen Unglück schuld waren.
Paul war ein helles Köpfchen, er wusste, dass das Leben anders lief, aber er konnte nichts dagegen unternehmen. Was er auch versuchte, er lief gegen Wände. Aber für Kiki würde er weiter gegen diese Wände anlaufen und vielleicht tat sich irgendwann einmal eine Tür auf. Nur einen kleinen Spalt, damit er seinen Fuß dazwischen stellen konnte.
Der Anzugmann machte einen Schritt zur Seite und ging weiter.
Paul steckte sich die eiskalten Hände unter die Achseln und rief ihm nach: „Eine Chance, verdammt noch mal, eine einzige Chance“.
Der Anzugmann hielt an, drehte auf dem Absatz und kam zurück. Er sah noch immer unfreundlich aus, wie ein Vorgesetzter, dem man es niemals recht machen kann, und bei dem es schon ein Lob war, wenn man keinen Abriss bekam, dann zog er eine kleine Geldbörse aus seiner Jackentasche, entnahm ihr etwas und reichte es Paul. Er achtete sehr sorgfältig darauf, dass Paul ihn nicht berührte.
„Hier“, sagte er, „bei diesem Wetter sollte keiner auf der Straße sitzen.“
Pauls Finger waren eiskalt, aber sie umklammerten fest den Geldschein, den der Anzugmann ihm gegeben hatte.
Erst, als der Mann um die Häuserecke verschwunden war, sah er auf seine Faust, öffnete die Finger etwas und sah, dass es ein zwanzig Euroschein war. Und dazu, als gäbe es sie nur in dieser Verbindung, war die Visitenkarte einer Obdachlosenorganisation, die in knappen Worten versprach, sich um Unterkunft und Hilfe beim Amt zu kümmern.
Vor dem Amt hatte Kiki ebenso viel Angst wie vor dem Krankenhaus. Aber Paul würde ihr ein Essen zubereiten, dass sie glaubte, sie wäre gestorben und im Himmel gelandet, und dann würde er sie dazu überreden, endlich den ersten Schritt zu tun.

Impressum

Texte: Cover: Bookrix
Tag der Veröffentlichung: 25.12.2011

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