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Camp 55

… Ich …

 

… bin …

 

… verloren, dachte Sully.

 Dieser Gedanke tauchte immer auf, wenn er im Kryotank aufwachte. Er bewegte vorsichtig seine Hände, dann die Füße, drehte mit geschlossenen Augen den Kopf von rechts nach links. Erst, wenn es sich anfühlte, als sei alles an seinem Platz und gehorchte seinen Befehlen, öffnete er die Augen und wartete geduldig darauf, dass sich der Tank öffnete.

Kryoschlaf war in der Theorie eine feine Sache, um die Truppen der Forces von A nach B zu bringen, aber die Realität hatte spitze Zähne und scharfe Klauen. Bei der Einleitung des Kryoschlafs mussten die Jungs gegen extreme Erstickungsanfälle ankämpfen, beim Aufwachen taumelte das Bewusstsein minutenlang unsicher durch Zeit und Raum. Nicht jeder gewöhnte sich daran, aber niemand konnte sich dieser Prozedur entziehen.

Diesmal hatte Sully ein zusätzliches Handicap. Er musste sich nicht nur daran erinnern, wer und wo er war, er kämpfte außerdem mit einer üblen Kopfverletzung.

 

Der Einsatz auf dem Erzplaneten war glatt gelaufen. Sully hatte seine Truppe gut hinein- und wieder hinausgebracht, laut Auftrag hatten sie die Arbeiter der Erzfirma von einer Schürfstelle zur nächsten gebracht und waren dabei nur planlos angegriffen worden. Die Vagos waren enthusiastisch in ihren Aktionen, aber häufig vollkommen unorganisiert.

Auf dem Weg zurück zum Frachter hatte Sully dem Co-Piloten die Steuerung überlassen und war nach hinten in den Frachtraum gegangen. Einer der neuen Gunner, Private Ash, ein rothaariger Kerl, der trotz des harmlosen Einsatzes die Nerven verloren hatte, saß angeschnallt zwischen den anderen Gyrenes und tat sein Bestes, deren beißende Kommentare zu überhören.

Die Männer verstummten, als Sully durch die Reihe ging und mit einer kurzen Kopfbewegung dem Gunner neben Private Ash deutete, er solle den Platz freimachen. Er setzte sich, schnallte sich an und wartete, bis der Co-Pilot die Rampage in eine ruhige Flugbahn gebracht hatte.  Dann beugte er sich zu ihm hinüber und flüsterte auf ihn ein. Ash wurde blass und starrte nur noch geradeaus. Während seiner Ausbildung als Gyrene, als Solat der Forces, war er Flüstern nicht gewöhnt; dort hatte man ihn angeschrien und erwartet, dass er mit einem „Ja, Sir“ zurückbrüllte. Sully flüsterte ihm zu, was er falsch gemacht hatte und dass das nie wieder passieren solle, wenn er in der Truppe bleiben wolle.

Die anderen Gunner und Hyänen saßen daneben und waren froh, dass sie dem Captain keinen Grund für eine Abreibung gegeben hatten. Und sie waren alle froh, wenn sie lebendig und unbeschadet von einem Einsatz nach Oxy zurückkamen.

„Ja, Captain“, sagte Ash schließlich, als Sully ihn fragte, ob er alles verstanden habe.

Sully wollte nicht von ihm hören, dass er sich Mühe gab. Er musste mehr als das geben, wenn er bei den Forces überleben wollte. Schaffte er es nicht, hatte er nicht das Zeug dazu, würde Sully dafür sorgen, dass sein Name von der Einsatzliste der Rampage flog.

Hatte Ash geglaubt, dass es danach nur noch aufwärtsgehen und er diesen üblen Einsatz schnell vergessen könne, hatte er sich getäuscht. Die Transportkiste, die sich während des holprigen Einflugs in den Frachter aus der Verankerung löste und Sully im Gesicht traf, hatte er dort oben verstaut und die Sicherungen nicht überprüft.

 

Der Einsatz der Rampage endete für Sully auf der Medic-Station des Raumfrachters. Die Kiste hatte einen Haar-Riss in seinem Gesichtsschädel hinterlassen, nur dank des Helms und seiner schnellen Reaktion hatte sie ihn nicht mit voller Wucht im Gesicht getroffen.

Sein Jochbein hatte es erwischt und seine rechte Gesichtshälfte war bereits blaugrün angeschwollen, als er fluchend die Rampage verlassen hatte. Er wäre gar nicht erst in die Medic-Station gegangen, aber während der Routinekontrolle der Besatzung war die Verletzung sofort aufgefallen. Während der Rest der Truppe durch die Quarantäne geschleust und zurück in die Quartiere ging, um in den Kryotanks schlafen zu gehen, musste Sully sich sagen lassen, dass er außer Gefecht gesetzt sei. Für mindestens eine Woche.

„Was war das?“, fragte der Medic und Sully murmelte: „Transportkiste.“

Der Medic versorgte die Verletzung und sagte, Sully solle bei Bedarf den Painkill aktivieren und entließ ihn.

Es war unnötig, sich noch vor dem Kryoschlaf eine Dosis Schmerzmittel zu setzen. Die Reise des Raumfrachters zurück zur Orbit-Station Oxy würde knapp drei Wochen dauern, aber es war üblich, die Truppen auch während relativ kurzen Zeiträumen in den Kryoschlaf zu schicken. Es verhinderte, dass die Männer sich gegenseitig auf die Nerven gingen oder versuchten, die implantierten Painkill-Depots zu aktivieren, nur, um sich in Morphinträume zu schicken.

Sully hatte sein halbes Leben im Kryoschlaf verbracht und verabscheute es noch immer. Er hatte immer das Gefühl, während dieser Phase würde der Computer, an den sie alle angeschlossen waren, irgendetwas mit seinem Hirn anstellen, woran er sich nach dem Aufwachen nicht mehr erinnern konnte. Als würden sich unsichtbare Würmer in seinem Hirn breitmachen.

 

In der altersschwachen Orbitstation Oxy, auf der seine Einheit stationiert war, begab er sich nach dem letzten Check zu den Unterkünften in Area vier. Die meisten der Schlafsärge bestanden aus Einzelkabinen, die für die Männer der Forces sehr zweckmäßig eingerichtet waren und die nur selten individuell verändert wurden. Dazu hatte kaum jemand Zeit. Freizeit gab es nur zwischen den Einsätzen und alle mussten auf Abruf bereitstehen.

Er kam an den Spuren eines Vago-Überfalls vorbei, Brandflecken, Wandschmierereien, ein paar Blutlachen, die bereits angetrocknet waren. Die Einschusslöcher in den Wänden waren kaum noch zu zählen. Im Vorbeigehen warf er einen Blick darauf, mehr nicht. Es interessierte ihn nicht.

Sully aktivierte den Painkill auf niedriger Stufe, schaltete im Interweb einen der Sender mit den Nachrichten ein und legte sich schlafen. Während er langsam wegdämmerte und hoffte, dass er nicht träumen würde, rauschten die letzten Neuigkeiten von der alten Heimat und den Außenstationen an ihm vorbei.

Wenn er nicht mehr im Dienst war, kümmerte ihn die CASCO noch weniger als sonst, aber er wollte auf dem neuesten Stand bleiben. Es war immer gut zu wissen, welche der Waren, die er schmuggelte und verkaufte, gerade gefragt waren.

Irgendwann hatte sich die Menschheit entschlossen, nicht mehr gegeneinander Krieg zu führen und sich zusammenzutun. Angefangen hatte es mit internationalen Fusionen von Großfirmen, mit der Bündelung der Macht. Alle waren davon überzeugt gewesen, dass die Konzentration der Macht über Politik und Wirtschaft eine positive Entwicklung war. Bis sich daraus die CASCO aus dem Boden stampfte und die wirtschaftliche Entwicklung so vorantrieb, dass wirklich alle zufrieden waren. Und es interessierte niemanden, dass man in einer Diktatur gelandet war.

In den Nachrichten, die ebenfalls von der CASCO kontrolliert wurden, hörte Sully, dass auf einigen Planeten und Monde neue Bodenschätze entdeckt worden waren, dass sich die Lebenserwartung auf den meisten Orbitstationen wieder erhöht hatte. Auf der alten Heimat war die Lage noch immer instabil. Einige militante Gruppen versuchten, sich gegen die Zwangsräumungen in Eurasia zu wehren. Irgendwo war eine Gruppe Vagos gefasst worden. Auf Camp 55 war eine Seuche ausgebrochen, die allerdings als harmlos eingestuft war und mit Zwangsimpfungen unter Kontrolle gebracht wurde. Sully hörte es im Halbschlaf und murmelte etwas Abfälliges. Nichts in diesen Nachrichten entsprach der Wahrheit.

Das Interweb meldete sich nach drei Stunden mit einem ansteigenden Weckton, der ihm so auf die Nerven ging, dass er immer schnell aus dem Bett war, um ihn abzuschalten. Sein Gesicht war angeschwollen und fühlte sich heiß an, wieder aktivierte er den Painkill und wartete darauf, dass er sich besser fühlte, während er sich anzog.

Eine halbe Stunde später stieg er in die E-Tube, die ihn aus dem Quartierwürfel zurück nach Area fünf brachte.

 

Normalerweise wurde der Zustand der Gleiter vom Zentralcomputer und den TAs überprüft, aber Sully war der Meinung, dass denen das Gespür für Stahl und Metall fehlte. Manchmal war es besser, Teile vor ihrer Zeit auszutauschen und Sully flog den Kampfgleiter lange genug, um dessen Schwachstellen zu kennen. Manchmal halfen ihm Mechaniker oder Sapper bei dieser Arbeit, aber diesmal war er allein und genoss die Ruhe. Die Rampage war ein verdammt gutes Schiff, was er in-und auswendig kannte.

Er schraubte einige Stunden an der Rampage herum, plante ein wenig, was er in den freien Stunden anfangen sollte. Manche der Jungs ließen sich Mädchen ins Quartier kommen, oder sie verbrachten Stunden in Area drei, der Händlerebene, wo es alles zu kaufen gab, wenn man genug Units hatte.

Mitunter flogen sie mit der Rampage inoffizielle Einsätze für die CASCO, hinter deren Sinn und Zweck die Besatzung nie kam und die Sully nicht interessierte. Die CASCO hatte alles unter Kontrolle. Energie, Handel, Transportwesen, Herstellung von Nahrung und Pharmazeutischen Produkten, Gewerbe und Dienstleistungen. Alles, was ihr im Weg war, wurde abgeschafft.

Wenn die CASCO einen neu entdeckten Planeten plündern wollte, weil sich dort seltene Erze befanden, sorgten die Forces dafür, dass ihnen dabei keine Lebensformen in den Weg kamen, die etwas dagegen haben könnten. Sully hasste solche Einsätze, weil sie ein unkalkulierbares Risiko waren. Lieber schoss er mit der Rampage und mit einer Handvoll guter Gunner Vagos aus ihren Löchern, die sich auf heruntergekommenen Planeten oder in alten Raumstationen versteckten und Umsturzpläne schmiedeten. Er war froh, für eine Woche außer Gefecht gesetzt zu sein.

Die Überwachungsdrohnen hatten Sully mit den Kameras im Visier, es war in solchen Situationen nur die Frage, wer ein Auge auf ihn hatte und die Internals alarmierte. Sie würden nicht lange brauchen, um im System zu sehen, dass er eigentlich aussetzen sollte.

Es war Captain Kylie, der ihn erwischte. Sie hatten den gleichen Rang, aber Kylie ließ keine Gelegenheit aus, ihn zurechtzuweisen oder ihm eins reinzuwürgen. Kylie kam nicht aus Camp 55, er war einer der seltenen Sprosse von der alten Erde. Sie arbeiteten Hand in Hand, wenn sie gemeinsam einen Einsatz hatten, aber sobald sie wieder auf der Orbitstation waren, brauchte es nie mehr als ein paar Worte, damit sie sich an die Kehlen gingen.

„Sully“, sagte Captain Kylie und schlug mit einem Schraubenschlüssel, den er aus dem Kasten genommen hatte, gegen das Stahlrohr neben sich. Sully zuckte zu ihm herum.

„Ich dachte, der Medic hätte dich außer Gefecht gesetzt.“

„Ich will wegen einer Woche den Biorhythmus nicht unterbrechen“, sagte Sully. Er hätte selbst auf diese kurze Erklärung verzichtet, aber wenn er nicht antwortete, biss sich Kylie für gewöhnlich an ihm fest.

„Lässt du die Reparaturen vom TA überprüfen?“ Kylie starrte nach oben zur stumpfen Nase des Gleiters, als wolle er Sullys Arbeit kontrollieren.

„Das hatte ich vor, Captain.“ Er betonte das „Captain“, dass Kylie wissen musste, wie er es meinte, und ging wieder an die Arbeit.

Der TA, technical assistant, war einer der hoch spezialisierten Robos, die einen höheren Stellenwert besaßen als die gesamte menschliche Besatzung eines Gleiters. Die Gyrenes mochten Einsätze, wenn ein TA an Bord war, das hieß, dass man sie im Falle eines Unglücks auf jeden Fall retten und bergen würde. Und es hatte den Vorteil, dass er einem nicht auf die Nerven ging.

Kylie legte die Hände auf seinem Rücken zusammen, nickte Sully kurz zu und verschwand schlendernd aus der Wartungshalle.

Sully hatte nicht gelogen, was seinen Biorhythmus anging. Während der Kampfeinsätze trugen die Piloten, Sapper und Gunner spezielle Kampfanzüge, die es ihnen ermöglichten, ohne Unterbrechung im Einsatz zu bleiben. Über einen medizinischen Zugang erhielten sie Flüssigkeit und Nahrung in konzentrierter Form, von der nichts mehr ausgeschieden werden musste. Mit Medikamenten wurde die Schlafphase unterdrückt und bei Verletzungen konnten sie die Ausschüttung von Schmerzmitteln und Endorphinen aus implantierten Depots aktivieren.

Wenn sie nicht im Einsatz waren, mussten sie den Körper wieder auf die normale Nahrungsaufnahme umstellen und das war häufig mit üblen Nebenwirkungen verbunden. Aber wie in allen Dingen gab es auch hier Mittel und Wege, das zu umgehen.

Mit dem aktivierten TA, der sich selbstständig in den Computer der Rampage einloggte, die Funktionen überprüfte und danach die mechanischen Teile scannte, umrundete Sully den Kampfgleiter und ließ sich Zeit dabei. Sein Schädel hämmerte, aber es war auszuhalten, wenn er sich mit der Rampage beschäftigte. Später, wenn er in seinem Quartier war, war noch immer Zeit, den Painkill zu aktivieren.

Vorher musste er noch etwas erledigen.

 

Die Satellitenstadt Oxy, die sich in der Umlaufbahn eines der vielen toten Planeten befand, war schon seit Generationen hoffnungslos überfüllt. Wer es sich irgendwie leisten konnte, ging auf eine der neueren Orbitstationen, die die alte Erde umkreisten oder etwas weiter weg auf einen der Exoplaneten. Auch dort entkam man dem Einfluss der CASCO nicht, aber die Überwachung war etwas lockerer. Oxy war angefüllt mit einem Haufen dummer Nostalgiker, die glaubten, dass sich die Verhältnisse irgendwann einmal wieder verbessern und sie in das gute Leben ihrer Vorfahren zurückkehren würden. Die Anderen, die blieben, wussten es besser. Die, die einfach nirgendwo anders hinkonnten, obwohl sie sich ein besseres Leben auf einer der anderen Stationen herbeisehnten.

Die Orbitstationen der neuesten Generation waren mit Klimageneratoren ausgestattet, die es schafften, zumindest die Illusion von Jahres- und Tageszeiten herzustellen. Es gab künstliche Abfolgen von Tag und Nacht in einem sechzehn-acht-Stunden-Zyklus, Familien war es erlaubt, zusammenzuleben und selbst die Arbeit dort war einfacher und angenehmer. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag deutlich höher, aber nicht jeder bekam die Genehmigung, sich auf diesen Stationen niederzulassen. Die Forces waren dort ebenso vertreten, aber von diesen Stationen startete keine der Drecks-Aktionen.

Die Oxy, die ewig und mutlos ihre Runden drehte und sich gegen den totalen Zerfall wehrte, konnte nur einen minimalen Standard bieten. Sully erinnerte sich noch daran, dass es sehr viel erträglicher gewesen war, als er auf die Station gekommen war. Direktflug aus Camp 55. Aber vielleicht war es ihm auch nur besser vorgekommen, weil er außer dem Camp nichts anderes gekannt hatte. Er wusste nicht einmal, wie lange es her war. Er verbrachte so viel Zeit im Kryoschlaf, dass so etwas wie Zeit und Alter unwichtig wurde.

Als Captain konnte Sully sich auf Oxy einigermaßen frei bewegen, wenn man davon absah, dass die Bewegungen der Forces mit den implantierten Credentials ständig überwacht werden konnten. Sully war das egal. Sie hatten ihn schon so oft bei illegalen Aktionen erwischt und bestraft, dass sie es kaum noch steigern konnten. Sie hatten ihn für einige Zeit weggesperrt, aber irgendwann mussten sie ihn wieder rauslassen, weil sie ihn brauchten.

Kylie hatte ihm mehr als einmal gesteckt: Eines Tages würde er dafür sorgen, dass er von einem Einsatz nicht mehr zurückkam, worauf Sully meist antwortete, dass er eines Tages einfach verschwinden und irgendwo ein neues Leben beginnen würde. Nachdem er ihn erledigt hatte.

Niemand verschwand so einfach, nicht einmal Sully. Er trat nur ein paar Schritte zur Seite, bis er nicht mehr sichtbar war und scheinbar unbeobachtet sein eigenes Ding durchziehen konnte.

Der TA hatte seine Arbeit erledigt und stand wieder abgeschaltet in seiner Station, Sully traf auf dem Weg nach draußen einen der Sapper, mit dem er häufig Einsätze zusammen flog und im Vorbeigehen klopften sie die Knöchel aneinander. Jungs aus Camp 55 hatten nichts übrig für militärische Gesten.

 

Sully nahm die Tube zu den Schließfächern, die sich in Area eins im inneren Kreis der Oxy befanden. Je weiter er sich in die inneren Windungen der Oxy bewegte, umso düsterer und dreckiger wurde die Umgebung. Die Tubes zogen sich wie Lebensadern durch die gesamte Station, aber nur in den äußeren Ringen konnte man noch erkennen, wie sie einmal ausgesehen hatte, als sie erbaut worden war. Es gab vier Haupttransportröhren, die E-Tubes, die nach den vier Himmelsrichtungen der Erde benannt waren. Die West-Röhre war den Forces vorbehalten, es war die, die direkt in die Zentrale führte, in Area fünf, den äußeren Ring.

Area eins und zwei, nahe der Energiequelle und des Schwerkraftfeldes, waren schon immer vernachlässigt worden. Dort entwickelten die Bewohner rätselhafte Krankheiten, die niemand behandeln konnte oder wollte, und die Sterblichkeitsrate war so hoch, dass jeder, der es sich irgendwie leisten konnte, und dem es erlaubt wurde, von dort verschwand.

Die Wohnwürfel, die dort angesiedelt waren, wurden den Arbeitern zugeteilt, die froh waren, überhaupt einen Platz zum Schlafen zu finden. Die meiste Zeit stank es dort erbärmlich, wenn die Ventilation ausfiel, ebenso lagen ganze Bereiche im Dunkeln, weil sich niemand darum kümmerte, die Beleuchtung zu reparieren.

Wenn es Sully dort hinzog, machte er seine Besuche so kurz wie möglich.

Oxy war wie ein menschlicher Körper, der langsam von innen her zerfiel.

Die Schließfächer waren eine Einrichtung der Tagelöhner ohne Unterkunft. Sie brachten dort ihre Habseligkeiten unter. Auf dem Weg dorthin ging Sully auf Area drei an den Verkaufsständen der fliegenden Händler vorbei, um zu sehen, ob ihm Pip, einer der Marktläufer, über den Weg lief. Ein Händler stellte sich ihm in den Weg und versuchte ihm seine illegalen Waren anzudrehen. Sully verzog genervt das Gesicht und ließ einmal kurz die Uniform unter seinem Mantel hervorblitzen, um den Mann loszuwerden. Pip war nirgends zu sehen und er fuhr mit der Transportröhre hinunter nach Area eins.

 

Die Reihen der Schließfächer zogen sich endlos durch einen gesamten Würfel, die Nummern an den Reihen mit gelber Signalfarbe aufgepinselt. Sully wusste, wo er das Schließfach finden würde, denn er hatte vor Wochen Pip hingeschickt, um diese spezielle Nummer ausfindig zu machen. Manchmal verschwanden ganze Schließfachreihen durch Explosionen oder wurden aufgebrochen, und Sully hatte sich nicht die Mühe machen wollen, nach einem Schließfach zu suchen, was nicht mehr existierte.

Er wanderte so unauffällig wie möglich durch die Reihen, schaltete das Stablicht ein, das an seinem linken Handgelenk befestigt war.

Pip, ein magerer kleiner Kerl, von dem Sully immer argwöhnte, er könne noch tiefer in der Scheiße stecken als er selbst, hatte gesagt, das Schließfach läge entfernt, aber in einem Bereich, der noch häufig benutzt und deshalb nicht ganz verrottet war. Pip war immer nervös und zappelte herum, immer auf dem Sprung und auf der Flucht. Sully kannte ihn seit einiger Zeit und hatte ihn nie ruhig irgendwo dasitzen gesehen. Er wurde nicht immer schlau aus ihm. Einer der Nudelköche hatte behauptet, Pip bekäme immer glänzende Augen, wenn Sully auftauchte. Und weiter wollte Sully darüber nicht nachdenken.

Endlich fand er das Schließfach, dessen Codekarte er dem Toten vor zwei Monaten abgenommen hatte, und öffnete es.

 

***

 

Sie waren abkommandiert worden, um eine alte Station auf einem der Trabanten zu säubern. Der tote Metallcontainer, der sich halb unterirdisch auf dem kleinen Mond befand, hatte in seinen besten Zeiten als Stützpunkt der Erzabbaufirma gedient. Mittlerweile umrundete der Mond in einer instabilen Umlaufbahn seinen Planeten, alle Bodenschätze waren abgebaut, alles war vernichtet und die CASCO war weitergezogen. Auf diesem Trabanten, der in den Unterlagen der CASCO nur als GON-10003 geführt und nach dem Einsatz der Forces als „vernichtet“ gekennzeichnet wurde, hatte die Besatzung der Rampage keine große Gegenwehr erwartet.

Sully war mit vier Gunner und zwei Hyänen in die Anlage gestiegen und sie hatten alle Vagos, die sich dort verbarrikadiert hatten, ausgelöscht. Das war die Ansage von CASCO, die übliche Vorgehensweise bei solchen Aktionen. Sie machten niemals Gefangene, es sei denn, mit den Gefangenen ließe sich noch etwas anfangen. Für gewöhnlich machten diese Einsätze wenig Aufwand, es war schnell, es war nur so blutig wie notwendig, und die Überreste wurden beiläufig beseitigt.

Sully hatte einen Riecher dafür entwickelt, wenn etwas schief lief. Auf diesem Schrotthaufen, den sie nach Beendigung der Aktion in kleine Segmente sprengen würden, war etwas fischig.

Eine Handvoll Vagos hatte sie angegriffen, aber im Inneren der Station tauchte plötzlich niemand mehr auf. Als würden sie irgendwo lauern und abwarten.

Sully schickte seine Jungs los und nahm sich mit den beiden Hyänen die Zentrale vor. Hyänen waren unberechenbare Monster in Uniformen, auch, wenn sie sonst von den Gyrenes der Forces äußerlich nicht zu unterscheiden waren. In kritischen Momenten hatte Sully sie lieber um sich, weil er ihnen bedenkenlos vertraute. Viele der Hyänen kamen ebenfalls von Camp 55 und das war noch ein guter Grund. Die anderen Gyrenes, die in seiner Truppe waren, waren jünger als er und er würde sie alle überleben. Das hatte er sich vorgenommen.

Sie durchkämmten die Anlage, trugen wegen der fehlenden Atmosphäre die Raumanzüge und Atemmasken. Sully hielt über den Intercom Verbindung zu den Gunnern und Hyänen, hätte die Aktion innerhalb der nächsten Minuten abgebrochen. Schließlich jagten sie das Ding sowieso in die Hölle zurück.

Der Mann, der sich ihnen aus einem Nebengang heraus laut schreiend in den Weg warf, trug einen schwarzen veralteten Kampfanzug, nur einen Stiefel und eine antike Sauerstoffmaske über dem Gesicht. Er sah aus, als habe er schon vor langer Zeit den Verstand verloren. Als er eine Waffe hob und sie auf Sully richtete, schoss dieser ihm in die Schulter und Hüfte. Er hatte auf die Brust des Mannes gezielt, aber in der Bewegung war zielen nicht immer einfach. Die beiden Hyänen rannten an Sully vorbei, sicherten den Raum, aus dem der Mann gesprungen war, und fanden dort nichts außer Abfall und Schrott.

Der Mann am Boden atmete keuchend, versuchte sich auf seine unverletzte Seite zu drehen. Sully trat das Implusgewehr, was neben ihm zu Boden gefallen war, außer Reichweite und hockte sich neben ihn. Mit einer schnellen Bewegung zog er ihm die Maske vom Gesicht, legte sein eigenes TAR-21 neben sich ab.

„Verstecken sich noch mehr von euch hier?“, fragte er.

 „Du bist einer von uns.“ Die Worte kamen undeutlich und abgehackt, aber Sully verstand sie sehr gut. Die Augen des Mannes waren weit aufgerissen, die Pupillen riesig. Ein dicker Tropfen Blut klebte an seinem Kinn und lief langsam an seinem Hals hinunter.

„Was meinst du damit?“ Er beugte sich zu dem Mann hinunter, der ihn mit diesen riesigen Augen und einem breiten Grinsen ansah. Er verblutete nicht nur, ihm ging die Luft aus.

„Camp 55“, sagte er, „du bist einer von uns. Kenjatta.“

Sully kümmerte sich einen Dreck um Kenjatta und das sagte er dem Mann.

Der grinste noch immer, aber es war ihm anzusehen, dass es ihm Mühe bereitete. Er wollte nicht aufgeben.

„Der Würfel“, sagte er sehr mühsam, „der Würfel ist wichtig. Kenjatta.“

„Grüß ihn von mir“, sagte Sully. Er stand auf, erschoss den Mann und ließ ihn liegen. Mit den Hyänen kontrollierte er den Rest des Gebäudes, sie fanden es verwüstet und leer, und auf dem Weg zurück zur Rampage durchsuchte er die Taschen des Toten. In der Innenseite des Overalls fand er eine Codekarte und steckte sie ein. Die Hyänen waren bereits einige Schritte voraus, hatten es nicht beobachtet und einer von ihnen funkte über den Intercom die Gunner an.

„Das Ding ist leer, Captain“, rief er zu Sully zurück, „die Gunner haben die Sprengsätze angebracht.“

„Abzug“, sagte Sully.

Sie waren in sicherer Entfernung, als die Sprengsätze hochgingen und sie die Explosionen auf einem der Monitore beobachteten. Der Co-Pilot meinte, er sei diese langweiligen Einsätze leid und würde sich ein drittes Ei freuen, wenn er mal wieder einen ordentlichen Planeten in Einzelteile zerlegen könne.

„Bei nächster Gelegenheit lasse ich dir den Vortritt, wenn du mal wieder Action brauchst“, sagte Sully. Er wusste, was sein Nebenmann meinte, aber er hasste es, wenn sich die Jungs kopfüber in solche Einsätze stürzten und sich und die Mannschaft in Gefahr brachten. Die Einsätze an sich waren schon brenzlig genug.

Er flog die Rampage zurück zur Oxy, vergaß die Codekarte in der Steuerkabine und holte sie erst ein paar Tage später.

In seinem Report berichtete er nur davon, dass sie einen letzten Vagos gefunden und terminiert hatten. Es war nicht ganz die Wahrheit, aber es war das, was sie hören wollten.

 

***

 

Die Codekarte brachte ihn zu den Schließfächern, aber nicht zur Lösung des kleinen Rätsels. Der Mann, der den Namen Kenjatta erwähnt und aus irgendeinem Grund gewusst hatte, dass er von Camp 55 war, war nicht wichtig. Wichtig war, dass er diese Codekarte zu einem unscheinbaren Schließfach auf Oxy in seinem Overall gehabt hatte und die Frage war: weshalb.

Sie haben ihn zurückgelassen, damit er die Codekarte an jemanden übergibt, dachte Sully, aber ich glaube nicht daran, dass ICH es hätte sein sollen.

In seinen Händen hielt er eine gewöhnliche Metallbox, in der man üblicherweise Unterlagen oder kleinere Gegenstände transportierte, die vor Hitze oder Kälte geschützt werden sollten. Der Schließmechanismus war nicht gesichert und er hätte die Box an Ort und Stelle öffnen können, aber er tat es nicht.

Er steckte die Box unter den Mantel und machte sich auf den Weg zurück. Obwohl sein Schädel wieder zu pochen begann, wartete er mit dem Painkill, bis er in seinem Quartier war.

 

Sully dachte lange darüber nach, ob er die Box öffnen sollte. Er lag auf seinem Bett, hatte den Painkill aktiviert und den Thermobeutel auf seinem Gesicht auf kalt gestellt. Sein Leben bestand aus Kämpfen, Tod und Vernichtung und er hatte es bislang nur ohne Probleme überlebt, weil er sich einen Dreck darum scherte, was er da eigentlich tat. Es interessierte ihn nicht, was noch immer auf Camp 55 geschah oder welche Ziele die CASCO verfolgte,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Pia Recht
Bildmaterialien: U.S. Army Spc. Connor, of the 153rd Military Police Battalion, Delaware Army National Guard. Source: http://www.flickr.com/photos/soldiersmediacenter/1354564769/Background:http://www.creativity103.com/ (creative common)
Tag der Veröffentlichung: 03.12.2011
ISBN: 978-3-7309-5515-4

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