Late Father Judge
Den einzigen Kontakt, den Kieran neben der Familie in Pettigoe aufrecht erhielt, war der zu Cavanaugh, der ihn noch immer mit Neuigkeiten und Strömungen auf dem Laufenden hielt. Er wusste von ihm, dass Michael Doherty auf seinen Posten nachgerutscht war, worüber er wirklich glücklich war, denn es hätte auch passieren können, dass sie einen Fremden vor die Nase gesetzt bekommen hätten. Michael war eine gute Wahl.
Howard Ryan, die unglückliche Seele, zermarterte sich noch immer in Gewissensbissen, obwohl Kieran ihm seinen unschuldigen Verrat nicht zum Vorwurf machte. Cavanaugh hatte die üblichen Drohungen erhalten nach der Serie, in der er Kierans Informationen verarbeitet hatte, aber darüber sah er gleichmütig hinweg und plante schon ein Buch darüber zu schreiben. Las Kieran einen seiner Artikel in der Zeitung, hatte er das Gefühl, nichts von dem wirklich am eigenen Leib erfahren zu haben. Es war seltsam, wie fern das alles war, wenn man sich in Boston nur darauf konzentrierte, ein paar Jungs das neue Leben zu erleichtern und mit ihnen den Behördenkram zu erledigen. Ganz selten hatten sie jemanden darunter, von dem Father Judge sagte, dass ihm in der Heimat Schlimmeres als Gefängnis drohte, aber es kam vor. Kieran bekam Geschichten zu hören, die ihm nur zu bekannt vorkamen und manchmal hoffte er fast, eines Tages könnte er Christy behilflich sein und ihm ein neues Leben verschaffen. Irgendwie hatte er bei Christy das Gefühl, in Stellvertretung etwas wieder gut machen zu müssen.
Aus der Zeitung erfuhr er ebenfalls, dass seine Vorhersage eingetreten war. Die IRA hatte Eamon den kurzen Prozess gemacht, auf ziemlich hässliche Weise, um ihm seine zwei großen Fehler heimzuzahlen. Er hatte als Ehemaliges IRA Mitglied unter seinem eigenen Namen ein Buch über seine Erfahrungen geschrieben und dann hatte ihn die Sehnsucht aus dem Exil heraus zurück nach Irland getrieben. Er war praktisch mit einem Schild „ERSCHIESS MICH“ auf dem Rücken herumgelaufen. Wenn es in den Zeitungsartikeln Fotos von ihm gegeben hatte, zeigten sie stets einen desillusionierten Mann mit wenig Haar, der alt und abgekämpft wirkte, wie jemand, der gegen eine üble Krankheit kämpfte.
Mich erwischen sie nicht
, dachte Kieran, nicht mit einer zweiten Kugel. Eamon war dumm genug, auf die Insel zurückzukehren.
Am St. Patrick’s Day veranstalteten sie ein großes Fest, worauf sich alle beteiligten schon seit Wochen vorbeireitet hatten, und Moiras Tanzgruppe zeigte, was sie bei ihr gelernt hatte.
Von morgens bis abends waren sie auf den Beinen, Darren rannte die ganze Zeit durch den Park und kam nur zurück, wenn er Hunger oder Durst hatte und sich etwas kaufen wollte.
Kieran hatte sich an nichts Besonderem beteiligt, aber er feierte mit, obwohl er sich weigerte, sich in irgendeiner Form zu verkleiden. Über die Hälfte der Gäste und Zuschauer trugen grüne Hüte, hatten sich Kleeblätter in die Gesichter gemalt. Kieran feierte, aber er brauchte dieses Hallow’en nicht, was die Amerikaner veranstalteten. Er trank bis zum Abend mehr, als ihm gut tat, streunte durch den Park, immer in Begleitung von Trash. Er war gut abgefüllt, umgeben von irischer Musik, dem Geruch von vielen Grillständen. In seinem Kopf vermischte sich das alles wie in einem unruhigen Traum, die Menschen um ihn herum schienen sich in Zeitlupe zu bewegen und die Geräusche verzerrten sich wie unter Wasser.
Kieran blinzelte umher, setzte sich auf eine Parkbank, neben der ein Betrunkener seinen Rausch ausschlief. Trash schnüffelte an dem Schlafenden herum, hockte sich dann hechelnd neben Kieran. Kieran wusste nicht, ob dieses Traumgefühl vom Whiskey kam oder von der Kugel und deshalb würde er Moira davon nichts erzählen. Der Gedanke, dass er jetzt, hier auf dieser Bostoner Parkbank sterben könnte, kam ihm kurz, aber als nichts passierte, er weiter atmete und sich sein Blick wieder normalisierte, kam er zu dem Entschluss, noch ein wenig durchzuhalten. Moira fand ihn auf der Bank, setzte sich neben ihn und hakte sich bei ihm unter. Schweigend betrachteten sie den Park und die Menschen, die langsam nach Hause gingen.
„Wo steckt Darren?“
„Im Gemeindehaus. Er spielt mit den Kindern aus der Tanzgruppe. Möchtest du nach Hause?“
„Nein“, sagte Kieran, „noch nicht. Aber wir sollten endlich aus dieser Etagenwohnung ausziehen. Uns was Eigenes suchen.“
„Der Gedanke ist mir auch schon gekommen.“
„Warum hast du nichts gesagt?“
Sie sahen sich erstaunt und ein wenig verlegen an.
„Ich wollte es aushalten, wenn es Okay für dich wäre“, sagte Moira.
Die Verbindung zu Mykal Judge riss nie wirklich ab und sie telefonierten oft miteinander und da ging es nicht nur um neue Einwanderer. Ab und zu stattete Father Judge dem Zentrum in Boston einen Besuch ab, wollte alles wissen, was Darren so trieb und was er sich wieder ausgedacht hatte, um allen den letzten Nerv zu rauben. Darren fand den alten Mann, der wie der perfekte Großvater aussah und doppelt so nett war, ganz klasse, denn mit ihm konnte er über sehr viel mehr sprechen als mit seinen Eltern.
„Bei Dad muss man ja immer aufpassen“, sagte Darren zu ihm, „da kann ich ihn nicht ständig fragen, wenn ich was wissen will. Und Hugh ist in Urlaub gefahren und kommt erst in zwei Wochen wieder.“
„Wer ist Hugh?“ Father Judge dachte an einen Freund oder an einen Schulkollegen und schmunzelte, als Darren antwortete: „Ein Bibliothekar.“
Als Seelsorger der Feuerwehr hatte er einen harten Job, er wurde mit Leid und Schicksalen konfrontiert, kümmerte sich um Wohnungsbrand- und Unfallopfer, um Feuerwehrmänner, die mit ihrem Job nicht mehr klarkamen.
Selbst, wenn man ihn hätte warnen können, hätte es vermutlich nichts geändert. Er wäre trotzdem mit dem Einsatzwagen raus gefahren, zum Ort der Katastrophe, und hätte alles getan, um zu helfen. Der Terror tötete einen Mann, dem Terroropfer nicht fremd gewesen waren, und mit ihm gingen Tausende in den Tod. New York kehrte danach nur noch oberflächlich zur Normalität zurück. Als die Nachricht an diesem Morgen um die ganze Welt ging, war Darren in der Schule, Moira hatte bereits ihren Dienst im General Hospital angetreten und Kieran war allein in ihrem neuen Haus, in dem sie seit einem Jahr wohnten. Es war nicht wirklich neu, aber es war klein, gemütlich und hatte einen eigenen Garten. In etwa zweihundert Jahren würden sie es abbezahlt haben. Er hatte weder Radio noch den Fernseher laufen, schreckte zusammen, als es an der Tür Sturm läutete. Aus dem Garten bellte Trash warnend.
Kieran war gerade dabei gewesen, die Kaffeemaschine mit Wasser aufzufüllen, verschüttete die Hälfte über den Tisch und fluchte. Die Erinnerung an die alten Zeiten ließ seinen Puls hochschnellen und sein Herz rasen, aber er sagte sich, dass diese Zeiten wirklich vorbei waren. Was konnte schon Schlimmes passiert sein. Vielleicht ein Autounfall auf der Zufahrtsstraße und jemand brauchte Hilfe.
Es waren zwei der Nachbarn, die mit bleichen Gesichtern vor seiner Tür standen und fragten, ob er es noch nicht gehört habe. Sie waren auf dem Weg zur Blutspende ins nächste Krankenhaus. Später fragte Kieran sich, wie sie unter so einem Schock noch an die Hilfe für die Verletzten hatten denken können. Bostoner waren auf so etwas nicht eingestimmt und selbst er dachte zunächst einmal nur an Darren.
„Ich komm später nach“, sagte er, nachdem sie ihm von New York und den Flugzeugen erzählt hatten, „zuerst hol ich Darren aus der Schule.“
Von einigen Schulversammlungen kannte er sich aus in dem Gebäude, ging sofort in das Büro des Rektors, ohne sich von der Assistentin aufhalten zu lassen.
„Ich will Darren Finnigan abholen“, sagte er, „ich weiß nur nicht, in welchem Raum er gerade ist. Ich hab seinen Stundenplan nicht im Kopf. Bitte rufen sie ihn raus.“
Der Rektor hatte zu viel zu tun mit Telefonaten und Lehrern, die von ihm wissen wollten, ob man die Schüler informieren und wenn ja, wer es machen sollte. Kieran war in eine reichlich chaotische Versammlung gestürzt.
„Wir können nicht jeden einzelnen Schüler nach Hause lassen“, bekam er zu hören, „das würde in einem Chaos enden.“
„Das Chaos“, sagte Kieran mit deutlicher Stimme, „bekommen sie von mir, wenn sie mir nicht augenblicklich sagen, wo mein Junge ist. Wenn ihm jemand eine solche Nachricht beibringt, dann bin ich das und sonst niemand.“
Die Männer reagierten nicht wirklich auf ihn und Kieran hob die Stimme, wobei unwillkürlich sein Akzent wieder deutlicher wurde. „Ich habe noch einen Monat vor meiner Auswanderung Oranierbrüder in Portadown gejagt“, sagte er lauter und bekam endlich die Aufmerksamkeit des Rektors, „und ich hab kein Problem damit, durch jede einzelne Klasse zu gehen und ihn zu suchen. Versuchen sie ruhig, mich aufzuhalten.“
Hinter seinem Rücken meldete sich eine schüchterne Stimme der Assistentin, sie war selbst den Tränen nahe und hauchte: „Zimmer dreiundfünfzig.“
Ohne ein weiteres Wort machte Kieran sich auf den Weg durch die Schulkorridore. Er fand Zimmer dreiundfünfzig, in dem noch ruhiger Unterricht durchgeführt wurde. Die Lehrerin sah ihn erstaunt an, als er in der Tür stehend zu Darren hinüberwinkte. Dass er am frühen Morgen aus dem Unterricht geholt wurde, konnte nur bedeuten, dass etwas Schlimmes passiert war. Kieran schob ihn an sich vorbei auf den Flur, ignorierte die Proteste der Lehrerin.
„Mom?“, flüsterte Darren, als sie den Flur zum Ausgang hinunterhasteten, „ist was mit Mom?“
„Nein, mit Mom ist alles in Ordnung.“
Er blieb stehen, ging vor Darren auf die Knie, nahm ihm die Schultasche ab. Es war so schwer, ihm dieses Geschehen zu erklären, ohne ihm Angst zu machen.
„Darren, es ist etwas Schlimmes passiert und ich wollte nicht, dass es dir irgendjemand von den Lehrern erzählt. Wir warten damit, bis wir bei Mom im Krankenhaus sind, dann erklär ich es dir.“
Im Auto griff Darrens Hand zum Radio, um es einzuschalten. Das machte er immer, wenn er vorn sitzen durfte, aber diesmal sagte Kieran: „Lass das Radio aus.“
Moira war froh, sie zu sehen, nahm Darren auf den Arm und drückte ihn an sich. Zu mehr war an diesem Tag nicht möglich, denn in dem Krankenhaus ging alles Drunter und Drüber.
Erst Tage später erfuhren sie, dass Father Mykael Judge in den Trümmern umgekommen war. Darren verzog sich wochenlang in die Bibliothek, weil er dort vor den Bildern und den Gesprächen der Erwachsenen sicher war. Im Lesesaal redete niemand. Hugh konnte ihn nicht trösten, konnte ihm die Angst nicht nehmen, aber er konnte ihm einiges erklären.
„Eine solche Wunde heilt nicht ohne eine große Narbe“, sagte Hugh, „aber man kann mit einer Narbe leben. Sie wird dich immer daran erinnern, was geschehen ist, aber sie wird dir auch helfen, mit der Erinnerung zu leben.“
„Ich verstehe das alles nicht“, sagte Darren.
„Es wird eine Zeit brauchen“, bekam er zur Antwort, „aber du wirst es irgendwann verstehen.“
Monate später saßen Moira und Kieran im SoupO’Day
, wo sie häufig aßen, weil es dort preiswert war, löffelten die Suppen und betrachteten die Fotos, die Brendan und Pol geschickt hatten. Das Haus war nicht wieder zu erkennen, aber es sah aus, als würde alles gut laufen.
„Die sind sogar im Internet“, sagte Kieran, „sieh dir den Garten an.“
Moira hielt eines der Fotos hoch. „Wenn ich geahnt hätte, dass die beiden einen solchen Elan entwickeln, hätte sich sie schon früher mal zum Gemüsebeet gebeten.“
Kieran betrachtete lange das Foto von Michael und Howard, die vor dem Pub standen und jeder ein Glas Guinness in Richtung der Kamera hielten. Sie grinsten wie blöde.
‚Das Foto hat Tim gemacht’, hatte Pol geschrieben, ‚er war ein halbes Jahr in London und wollte Karriere machen, aber inzwischen ist er wieder zu Hause. Scheint alles nicht wirklich geklappt zu haben.’
Kieran löffelte seine Suppe, gähnte. In der Nacht hatte er einen seltsamen Film gesehen, den sie aus der Videothek ausgeliehen und noch immer nicht zurückgebracht hatten. Seit dem sah er Japaner mit anderen Augen und sah sich jeden erst einmal sehr genau an, der ihm begegnete. Es war der Ehrenkodex, der ihn zutiefst beeindruckt hatte, der Kodex der Samurai, der sich bis ins moderne Japan hinübergerettet hatte. Danach erst hatte ihn die Schweigsamkeit und plötzliche Gewalt des Films überrascht. Er war sich sicher, dass er sich ewig unwohl fühlen würde, steckte er mit einem Haufen Japaner in einem Hotelaufzug. Wenn er darüber nachdachte, fühlte er sich ebenso wie der Held des Films, der am Schluss so blutige Rache genommen hatte, wie er es sich nicht hätte träumen lassen.
Er war ein Ronin, ein Samurai ohne Herrn. Ein Yakuza ohne Boss.
Tag der Veröffentlichung: 07.10.2011
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