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Darren’s Celtic Tiger



Sie blieben in Boston, trotz des Wetters und der Tatsache, dass sie nur zur Miete in einem kleinen Haus lebten, arbeiteten auf die Einbürgerung hin und hofften mit jedem Tag, dass Kieran gesund blieb.
Während der Sommerferien, auf die Darren so furchtbar lange gewartet hatte, schickten sie ihn nach Pettigoe zurück. Darüber hatten sie lange diskutiert, Moira fürchtete, er könne in Pettigoe bleiben wollen oder auf dem Flug könnte etwas passieren.
„Er ist kein Baby mehr“, sagte Kieran, „und er braucht den Urlaub zu Hause.“
„Was ist mit dem Einfluss, den du von ihm fernhalten wolltest?“
Sie hätte es deutlicher ansprechen können, aber das war nicht nötig. Kieran hatte ihr die Bücher gezeigt, die Darren mitgenommen hatte (einige davon gehörten noch der Bücherei) und sie hatte begriffen, weshalb er so gehandelt hatte. Es ging gar nicht um seine eigene Sicherheit – es ging nur um Darren.
Kieran saß am offenen Fenster, sah zu Moira hinüber, die erst auf einen Wink näher kam.
„Vier Wochen mit seinem Pony“, sagte er, „zu mehr wird er keine Zeit haben. Tom wird ihn bei sich auf dem Hof festbinden, wenn es sein muss.“
„Ich wär gerne bei Laoise’s Hochzeit dabei gewesen.“
Liam und Laoise hatten sich auf Toms Grundstück ein eigenes Haus gebaut. Viele Ponys waren dazu gekommen, aber es gab jetzt die Trennung zwischen Verleih- und Turnierponys. Darren verbrachte die Zeit wunschlos glücklich mit Tadhg, der in diesem einem Jahr noch ein Stück gewachsen und heller geworden war, mittlerweile an vielen Turnieren teilgenommen und gute Platzierungen erzielt hatte. Darren war zu Tränen gerührt, dass Tadhg ihn wieder erkannte, als er am Weidezaun stand und nach ihm pfiff. Er löste sich aus der Gruppe und kam auf ihn zugetrabt, sein Wiehern klang vollkommen begeistert und jeder konnte das „Hallo, ich hab dich wieder erkannt

!“ deutlich raushören.
Es waren vier Wochen, in denen Darren durch die Gegend ritt, das B&B besuchte und mit seinem Bostoner Akzent überall Heiterkeit auslöste. Von außen hatte sein altes Elternhaus ausgesehen wir immer, aber als er in Begleitung von Pol und Brendan von Raum zu Raum ging und alles erklärt bekam, fand er die Veränderungen sehr beunruhigend. Alles Vertraute war verschwunden. Fremde Leute kamen aus den Zimmern, saßen im Garten und im Wohnzimmer, und die Küche war die Überraschung pur. Dort stand eine großzügige Küchenzeile inklusive Herd, Backofen und Spülmaschine. Ein junger Mann mit kurzem Lockenkopf, angetan mit weißen Jeans und Schürze bereitete gerade das Frühstück für die Gäste vor.
„Wo habt ihr die Küche her?“, fragte Darren, sah sich mit großen Augen um.
„Die ist vom Laster gefallen“, antwortete Pol fröhlich. Darren drehte sich zu ihm herum.
„Küchen können von Lastwagen fallen, ohne dabei kaputt zu gehen?“ Er konnte es kaum glauben. Gemeinsam mit seinen Onkel aß er ein zweites Frühstück und lief dann über die Felder zu Tom zurück. So vieles hatte sich verändert.
In ihrem Haus gingen die Gäste ein und aus und Gavin der Koch erklärte Darren ein paar Eigenarten, als er wissen wollte, wie man so viele fremde Leute satt bekam.
„Es ist ganz seltsam“, sagte Gavin, während er die Spiegeleier in der Pfanne im Auge behielt, „ich koche am liebsten für kleine Gruppen. Wenn ich denen das Essen bringe, sitzen alle ganz locker und fröhlich am Tisch, unterhalten sich und sind ausgelassen. Wenn sie in einer großen Runde zusammensitzen, bekommt keiner von ihnen das Maul auf.“ Er schwenkte die Eier einmal im Fett herum. „Und da macht es keinen Unterschied, ob es Deutsche, Italiener oder Franzosen sind.“

Als es Abschiednehmen hieß, gab es reichlich Tränen, aber obwohl Brendan ihm anbot, bei ihnen zu bleiben, stieg er tapfer ins Flugzeug und flog allein nach Boston zurück, um dort weiter zur Schule zu gehen und wieder bei seinen Eltern zu sein. Es machte ihn ein Stück erwachsener, dass Moira und Kieran ihn von der Leine gelassen und darauf vertraut hatten, dass er das richtige tat und nicht wieder durchbrannte.
Er kam aus Irland zurück und hatte nichts mehr von einem schüchternen kleinen Jungen an sich – er war gewöhnlich still und schien sich stets über etwas Gedanken zu machen, aber er hatte seine Sprachstörung fast überwunden. Manchmal alberte er herum, konnte ausgelassen toben und spielen, er übernahm jede Aufgabe, ohne zu murren, wenn Moira ihn darum bat.
„Tadhg ist ein super Reitpony geworden“, erzählte er, „Tom hat gesagt, dass er schon viele Angebote bekommen hat, aber er hat sie alle ausgeschlagen. Auf den Turnieren startet er als Darren’s Celtic Tiger. Ist das nicht der Hammer?“
Er erzählte ununterbrochen von seinem Pony, aber es kam nicht mehr zur Sprache, dass er es in die neue Heimat holen wollte. Er tat sein bestes, um alles detailgetreu zu erzählen, was er aus Pettigoe Neues gab. Es überforderte ihn etwas, sich an alles zu erinnern, aber er wusste noch, dass in der Küche, die einen Sturz aus dem Lastwagen heil überstanden hatte, jetzt ein Waliser kochte, den Pol aus Schottland kannte. Außerdem hatte Brendan ein Mädchen eingestellt, die Pol als ‚Brendans Verflossene’ bezeichnete, was Darren aber nicht wirklich verstanden hatte.
Hieß das, sie war ihm davongeschwommen?
„Wie war ihr Name?“, fragte Kieran interessiert. Sie saßen am Esstisch zusammen, an dem sie einen weiten Blick über die Dächer des Viertels hatten. Moira hatte Donuts an der Ecke gekauft und Tee gekocht. Darren überlegte und es fiel ihm wieder ein.
„Lilian“, sagte er, „sie war aus der Gegend.“
Kieran nickte, schob Darren einen weiteren Donut zu und sagte aufmunternd: „Und was ist sonst noch passiert?“

Blitzschnell hatte Darren sich in Boston wieder eingelebt und war ihn mit einmal interessierte, waren angesagte Klamotten und Musik CDs, die seine Freizeit bestimmten, er schaffte es, sich Taschengeld für gute Schulnoten einzufordern und als er ein paar neue Freunde mit nach Hause brachte, wurde er von ihnen gefragt, ob er adoptiert worden sei. Wo er selbst einigermaßen normal sprach und das Ehepaar, bei dem er wohnte, keinen klar verständlichen Satz herausbrachte. Den irischen Akzent war man in Boston gewöhnt, nicht aber den nordirischen provinziellen Singsang, der mit der englischen Sprache nichts mehr gemein haben wollte.

Kieran schloss mit seiner IRA Vergangenheit ab, aber nicht mit seinen irischen Wurzeln; so oft er konnte, half er in der irischen Gemeinde in Georgetown, in der auch Moira und Darren eingebunden waren. Darren nahm dort zweimal in der Woche am irisch-gälischen Sprachunterricht teil, zusammen mit anderen Auswandererkindern und wenigen Amerikanern, die diese Sprache lernen wollten. In dem Gemeindezentrum, einem hässlichen Betonbau mit kleinem Garten im Hof, leitete Moira eine Stepptanzgruppe für Kinder, hatte viel Freude dabei und Darren fand das ganze richtig peinlich. Er nannte es die Möchte-gerne-Michael-Flatley-Gruppe

. Gälisch wollte er einfach weiterlernen, weil er es klasse fand, eine Sprache zu beherrschen, bei der seine Freunde und Klassenkameraden nur Fragezeichen in den Gesichtern stehen hatten.
Die Gemeinde veranstaltete Grillfeste, Flohmärkte, Konzerte und noch vieles mehr über das ganze Jahr verteilt, an einigen Dingen nahm Darren weniger gern teil und drückte sich dann. An einem Sonntag veranstalteten sie ein Ponyreiten für die ganz kleinen und Darren führte stundenlang Ponys im Kreis. Als der Strom der Kinder langsam verebbte, konnte er der Versuchung nicht widerstehen, stieg auf eines der größeren Ponys und ritt die Straße rauf und runter.
In seiner offiziellen Freizeit drehte er Runden mit seinen Freunden, von denen keiner auch nur einen Hauch von Interesse an Irland hatte und obwohl er gern mit ihnen zusammen war, hatte er stets im Hinterkopf, dass er etwas vor ihnen verbergen musste. Vor seinen Freunden und vor seinen Eltern.
Der alte Mann in der Bibliothek hatte ihn irgendwann au die eingeschränkte Auswahl seiner Literatur angesprochen und seitdem trafen sie sich ein- oder zweimal in der Woche, wobei Darren zu Hause sagte, er würde in der Bibliothek seine Hausaufgaben machen. Sie diskutierten darüber, ob es unausweichlich gewesen war, die sechs Countys abzuspalten und wo eine unabhängige Regierung das Schiff hinsteuerte – auf die nächste Klippe oder in den sicheren Hafen. Hugh, der alte Bibliothekar, war erstaunt über Darrens Hingabe zu diesem Thema.
Darren sagte: „Mein Dad hat sehr viel Ärger bekommen, weil er wollte, dass ich auf eine Schule gehe, die keine Katholiken haben wollte. Wir sind Katholiken. Er hat es geschafft, aber deswegen hat ihn dann jemand zu töten versucht. Er weiß nicht, dass ich weiß, was dahinter gesteckt hat, und wir sind nach Amerika gekommen. Ich will einfach alles darüber wissen, was damit zusammenhängt.“

Hugh lieh ihm eines seiner eigenen Bücher, das von den Ereignissen des 30. Januar, dem bloody Sunday

, handelte und Darren fragte sich bereits nach den ersten zehn Seiten, wieso in seiner alten Heimat so etwas möglich war und er in der Schule nichts davon erfahren hatte. Hugh war in seinem Leben viel herumgekommen, bis er die Stelle in der Bibliothek angenommen hatte und selten hatte er einen Jungen wie Darren kennengelernt. Die Freundschaft, die sich zwischen ihnen entwickelte, bezog auch bald Kieran und Moira mit ein, wenn sie auch nie über Darrens politische Interessen sprachen. Das war allein die Sache zwischen Darren und Hugh.

Was Darren nie über sein Pony erfuhr, war die Tatsache, dass selbst Tadhg für den Kampf in Nordirland eine Rolle übernahm, freilich ohne es zu wissen. Liam war mit ihm und zwei anderen Ponys nach Dublin gefahren, um sie auf einem der großen Turniere vorzustellen. Das Ganze ging über eine Woche und bereits nach zwei Tagen hatte Liam mehrere gute Angebote für Tadhg bekommen, die er alle freundlich ablehnte.
Im Stalltrakt hatte er drei geräumige Boxen nebeneinanderliegend bekommen, an denen die Namen der Ponys angebracht waren. Nach der Springprüfung, die für Tadhg ganz gut gelaufen war, brachte er ihn in den Stall, schnallte die Gamaschen ab und legte dem Pony eine Decke über. Hinter ihm liefen Pfleger und Reiter ein und aus und auch ein paar neugierige Besucher kamen herein, um sich die Pferde und Ponys anzusehen. Dagegen hatte niemand etwas, es sei denn, die Besucher rauchten, so wie der Mann, der gerade hereinkam und sich umsah. Liam roch den Qualm und sagte, ohne sich umzudrehen: „Machen sie bitte die Zigarette aus, wenn sie sich umsehen wollen.“
Er war dabei, die Stollen aus den Hufeisen zu schrauben, hockte neben dem Pony und hatte den Huf auf dem Oberschenkel liegen. Als er den Kopf drehte, sah er, dass der Mann die Zigarette an der Wand ausdrückte und draußen unter dem Sand verscharrte wie eine kleine Leiche.
„Entschuldigung“, sagte der Besucher und hob die Hand, trat einen Schritt näher.
Liam hatte den letzten Stollen herausgeschraubt und ließ den Huf auf den Boden zurücksinken. Tadhg schlug ärgerlich mit dem Schweif. Er hasste dieses Hufhochhalten. Die Stollen legte Liam in einen Leinensack, der an der Box hing, wartete darauf, dass der Besucher weiter zu den anderen Pferden weiterschlenderte. Der Mann sah nicht so aus, als würde er sich für Connemaras interessieren, aber er blieb vor Tadhgs Box stehen. Darren’s Celtic Tiger.
„Muss schwer sein“, sagte er, „sich in den Prüfungen gegen die Großpferde durchzusetzen.“
Liam sah zu dem Mann hoch, der einen Kopf größer war und so breit, dass er zum Reiten einen sehr kräftigen Hunter brauchen würde.
„Er springt ganz gut“, sagte er, „besser als die beiden anderen. Er hat mehr Biss. Wir würden besser abschneiden, wenn ich ihn an die Grenze reite, aber er ist noch nicht so weit. Man muss aufpassen, dass man die Ponys nicht überfordert und sie sauer reitet.“
Er sah den Mann abschätzend an. „Sind sie ein Händler?“
Mit dem Daumen deutete er auf das Programmheft, das aus der Jackentasche des Mannes ragte. Der lachte. „Nein, mit vier Beinen hab ich nichts zu tun. Mir ist nur bei der Ansage des Ponys der Name des Besitzers aufgefallen.“
Er machte eine kurze Pause und sah sich um. „Ich kenne den Vater von Darren. Kieran Finnigan. Sind die beiden auch hier?“
Liam hätte auf so eine weite Reise eigentlich eine helfende Hand gebraucht; jemand, der ihm die Ponys putzte und warm ritt, fütterte und die Hufe sauber machte, sich um die Boxen kümmerte, aber dazu hatte er kein Geld gehabt und so war er allein mit den drei Ponys losgefahren. Als er das Futter in drei Eimer abfüllte, begannen alle Ponys zu brummeln und die ganz Gierigen bollerten mit den Füßen gegen die Türen. Mit Seelenruhe verteilte Liam das Futter, tätschelte die Ponyhälse, während die Ponys über den Trögen hingen und futterten.
Der Mann, der behauptete, Kieran Finnigan zu kennen, wartete geduldig auf eine Antwort, stand in der Stalltür angelehnt. Er wirkte nicht vertrauenswürdig - nicht wirklich schlampig, aber auch nicht ordentlich, wie jemand, der mehr auf Achse war als ihm gut tat.
Liam erkannte solche Zeichen, denn er war selbst lange mit seiner Familie herumgezogen. Die goldenen Zeiten der Tinker, der Traveller, waren schon zu seiner Jugend vorbei gewesen. Sie waren in Irland nichts weiter als Obdachlose, ewig auf die Flucht vor den Behörden, und deshalb hatte sein Dad dieses Leben aufgegeben und den Pferdehandel aufgezogen. Er überlegte, was er dem Mann sagen sollte, drehte sich zu ihm herum und behielt einen der Futtereimer in der Hand.
„Nein“, sagte er abwartend, „die Finnigans sind nicht hier. Ich hab das Pony zur Ausbildung bei mir. Darren ist der Eigentümer, deshalb wird er bei den Starts genannt und sein Name steht in dem Programmheft.“
Der Mann nickte, drehte sich mit gesenktem Kopf weg und schien gehen zu wollen, machte dann aber doch eine Bewegung zurück.
„Das ist verdammt schade“, sagte er, „ich hätte Kieran gern wieder gesehen. Wir haben lange zusammengearbeitet.“
„In Pettigoe.“
„Nein, im Norden.“
Das wurde Liam zu heikel. Er hatte von den Finnigans nur Gerüchte gehört, lokales Gerede, das in dem Pub herumging, aber vom alten Tom O’Neill hatte er Dinge gehört, die ihm wirklich Sorgen gemacht hatten. Entweder war dieser Kerl einer von denen, mit denen Kieran zusammengearbeitet hatte oder einer von der anderen Seite. Beides konnte nur bedeuten, dass es Ärger brachte, sich hineinziehen zu lassen. Um ihn endlich loszuwerden, machte Liam eine Kopfbewegung und sagte: „Die Finnigans sind nicht mehr in Pettigoe, soviel kann ich ihnen verraten. Sie sind ausgewandert, nach Boston. Die Zwillinge sind in Pettigoe geblieben und bauen ein B&B auf. Die werden ihnen weiterhelfen können.“
Er war erleichtert, als der Mann eine dankende Geste machte und endlich verschwand. War er aus der paramilitärischen Ecke, konnte die Information über die Auswanderung nicht neu für ihn sein, und jeder andere hätte es in Pettigoe auch erfahren. Er begann das Sattelzeug für die morgige Prüfung zu putzen, pfiff dabei vor sich hin. Ein Pferdepfleger kam herein, holte einen von oben bis unten eingepackten und bandagierten Rappen aus der Box, um ihn nebenan ins Solarium zu stellen. Als er an Liam vorbeikam, fragte er, wie es gelaufen sei und Liam sagte: „Ganz nett. Nur einen Klotz.“ Bereits nach wenigen Minuten hatte er die Begegnung mit dem Mann vergessen.

Tommy war nur auf dem Reitturnier gelandet, weil es ein unauffälliger Ort für das Treffen mit dem Mann war, der ihm die Papiere besorgen wollte. Das erste Geld wechselte den Besitzer und Tommy blieb auf dem Turnierplatz, weil er das gute Wetter noch genießen wollte, und hörte bei dieser Gelegenheit die Ansage von Darrens Celtic Tiger, geritten von Liam Baldrick, im Besitz von Darren Finnigan. Er blieb stehen, beobachtete den Ritt des Mannes auf dem grauen Pony und folgte ihm bis zu den Stallungen. Dabei hielt er die ganze Zeit Ausschau nach Kieran, denn wenn der Junge in Dublin war, musste er auch hier sein.
Er traf auf Liam, erfuhr von ihm, dass Kieran nicht mehr im Land war und wusste nicht wirklich, ob er sich für ihn freuen sollte. Ein Neuanfang mochte eine gute Sache sein, aber wenn Kieran dazu bis in die USA musste, hieß das wohl, dass ihm die Scheiße bis zum Hals gestanden hatte. Für ihn stand es außer Frage, ob er nach Boston gegangen wäre, um endlich in Sicherheit zu sein – hätte er das Geld und die Beziehungen für einen Sprung über den großen Teich gehabt, hätte er schon längst zum Hüpfen angesetzt.
Die Zwillinge, die er nur vom Hörensagen kannte, waren mit Sicherheit keine Hilfe – die würden sich nicht ins Zeug legen, um ihm zu helfen, und obwohl es gefährlich war, ins Grenzgebiet zu fahren und er dort eigentlich nichts erwarten konnte, setzte er sich in den Bus nach Sligeach. Er verschlief die gesamte Fahrt, träumte einen romantischen Traum von Una, obwohl er sie nie wieder gesehen hatte. Von Sligeach aus fuhr er per Anhalter bei einigen Pendlern mit, erzählte, er würde seine Liebste überraschen mit seiner unverhofften Heimkehr. Vermutlich nahmen die Pendler an, er sei zehn Jahre lang erfolglos zur See gefahren, so abgerissen, wie er aussah. Er erreichte Pettigoe am späten Abend, als es bereits dunkel war und seine Frage nach einem Zimmer für ein oder zwei Nächte in dem B&B nicht ungewöhnlich war.
Das Mädchen sah ihn nur an, als sie sah, dass er kein Gepäck hatte, aber natürlich stellte sie ihm keine Frage deswegen. Sehr freundlich zeigte sie ihm das Zimmer, sagte, dass es ab sieben Uhr Frühstück gab und dass er sich gern in den Fernsehraum zu den anderen Gästen setzen dürfte, wenn er noch nicht zu Bett gehen wolle. Bei dem Wort Fernsehraum machte sie eine eigenartig verschwörerische Geste. Tommy hatte die ganze Zeit im Bus geschlafen und deshalb war er nicht müde und im Fernsehraum wusste er, was das Mädchen gemeint hatte. Dort stand zwar ein Fernseher, aber der war ausgeschaltet und statt dessen war eine kleine Runde gut gelaunter Touristen dabei, um ein paar irische Pfund Karten zu spielen. Sei veranstalteten einen solchen Krach, dass Tommy zur Begrüßung nur in die Runde nickte und sich umsah.
Der Raum mochte das ehemalige Wohnzimmer gewesen sein und es strahlte auch noch immer etwas altmodisch-gemütliches aus. Über dem Kaminsims (der Kamin war künstlich) hingen gerahmte Familienfotos, neben dem runden Tisch und den Stühlen, die durch die Kartenspieler belegt waren, gab es noch zwei Sofas und ein paar durchgesessene Sessel. Vor dem toten Fernseher stand ein Ungetüm von Fernsehsessel, aus dem man sicher nicht mehr herauskam, wenn man die Rückenlehne einmal nach hinten geklappt hatte. Die Tapete an den Wänden war rissig und alt und aus praktischen Gründen nur mit dicker grüner Farbe überstrichen. An den dünneren Stellen schimmerte das Muster hindurch. Die bunte Mischung aus Teppichen, Stehlampen, Bücherschrank und kaum überlebensfähige Topfpflanzen machte den Reiz aus, sich hier wohlzufühlen, ebenso wie in dem kleinen aber netten Zimmer, in dem er untergebracht war.
Im Laufe der Jahre hatte er in schlimmeren Behausungen ohne Bedenken sehr gut geschlafen. Die drei Anwesenden, die sich nicht an dem Kartenspiel beteiligten, saßen auf der Couch und im Sessel am Fenster, rauchten, lasen Zeitung, und einer von ihnen seufzte ab und zu, als könne er es nicht begreifen, wo die gute alte Zeit geblieben war.
Tommy nahm sich eine Zeitschrift vom Stapel neben dem Kamin, sah auf und Kieran sah ihm schwach grinsend ins Gesicht. Er starrte auf das Foto, das Kieran im Kreise seiner Familie zeigte, im Mittelpunkt ein rothaariger Junge auf einem grauen Pony, Kieran neben ihm, gleichzeitig grinsend und angespannt. Das Pony hätte er nicht wieder erkannt, aber er war sicher, dass es das Springpony aus Dublin war. Die anderen Fotos herum arrangiert zeigten die Finnigans in den typischen Posen und Tommy hätte sich das gern alles näher betrachtet, aber jemand näherte sich ihm von der Seite und räusperte sich. Er musste ein Zurückzucken gewaltsam unterdrücken – Provo und auf der Flucht, das hieß, dass seine Nerven permanent blank lagen. Der Mann, der an ihn herangetreten war, wirkte ein wenig wie ein übrig gebliebenes Mitglied eines Wanderzirkus; er trug alte abgeschabte Klamotten, die nicht zusammenpassten, sein Haar war zu lang und zottelig und unter seinen traurigen Augen lagen dunkelblaue Schatten. Er machte eine Geste zu der Zeitschrift, die vergessen in Tommys Hand lag.
„Hätten sie etwas dagegen, wenn ich mir ihre Zeitung für einen Moment ausleihen würde? Wenn es ihnen nichts ausmacht?“
Tommy reichte ihm das Blatt, wollte gar nicht wissen, weshalb und wozu er die brauchte – Bozo, der einsame Clown ohne Schminke – aber die Erklärung folgte auf dem Fuß.
„Ich bin auf der Suche nach der Lösung eines Kreuzworträtsels. Vielleicht ist sie in der Ausgabe, die sie mir so freundlich überlassen haben.“
„Wollen wir doch hoffen“, erwiderte Tommy.

Er nahm Abstand von den Bildern an der Wand, ließ sich in dem Sessel nieder, der am weitesten von den Kartenspielern entfernt war. Eine Weile saß er in Gedanken versunken da, um ihn herum summte der Raum von den fremden Stimmen, die er komplett ausblenden konnte. Scheinbar endlos tauchte er ab und eine Welt, in der er darüber nachdachte, wie lange er dieses Versteckspiel noch durchhalten konnte.
Manchmal dachte er, es wäre besser, sich zu stellen und nach Long Kesh zu gehen – aber dann erinnerte er sich daran, dass er lieber tot und begraben sein wollte, als noch einen Tag hinter Gittern zu verbringen. Zwar hätte er bedingungslosen Rückhalt der Organisation, aber trotzdem wollte er sich den Knast nicht mehr antun. Wenn es auch so aussah, dass er auf der Flucht langsam unter die Räder kam, waren ihm Auslandsreisen unter falschem Namen lieber als alles andere.
Nach außen mochte er aussehen, als sei er kurz vor dem Eindösen. Vermutlich ließen sie ihn deshalb alle in Ruhe.

Brendan kam vom Einkaufen zurück, schleppte die Kartons hinten durch die Küche und erfuhr nebenbei, dass sie einen neuen Gast hatten.
„Tourist?“
„Nein“, sagte Lilian nachdenklich, „für mich klang er wie jemand, der seinen Belfaster Akzent abzulegen versucht und es noch nicht ganz geschafft hat.“ Sie machte eine Handbewegung über ihrem Kopf. „Er ist groß, richtig groß. Er sieht aus, als könnte er ein Auto hochheben und umwerfen.“
„Welches Zimmer hast du ihm gegeben?“
„Die vier. Er sitzt im Fernsehraum.“
Nachdem er die Lebensmittel verstaut und weggeräumt hatte, ging Brendan in den Fernsehraum hinüber, um sich den neuen Gast anzusehen. Bei Touristen hätte er das nicht getan – die begrüßte er morgens beim Frühstück und ließ sie dann in Ruhe, aber bei Gästen, die aus der Gegend waren, sah er gern einmal nach.
Der Mann war nicht zu übersehen, obwohl er mit übergeschlagenen Beinen im Sessel saß und zu schlafen schien. Er hatte den Kopf in die Handfläche gestützt, er war groß und schwer, das Haar übel kurz geschnitten und grau meliert, obwohl er nicht alt wirkte. Müde, aber nicht alt. Brendan räumte ein paar herumliegende Bücher und Zeitungen weg, rückte einen leeren Sessel an seinen Platz zurück. Mit einem Auge sah er immer wieder zu dem schlafenden Gast hinüber, um den Augenblick nicht zu verpassen, an dem er aufwachte. Er schaltete kurz den Fernseher ein, wohl in der Hoffnung, er könnte sich selbst repariert haben, aber statt eines klaren Bildes kam wieder nur Schneegestöber. Er schaltete ihn aus, drehte sich um und entdeckte, dass der Gast ihn mit hochgezogenen Augenbrauen ansah. Er sah nicht verschlafen aus.
„Hallo“, sagte Brendan, „ich bin Brendan Finnigan, ich leite das B&B mit meinem Bruder zusammen. Werden sie lange bei uns bleiben, Mr. Doyle?“
Er hatte einen Blick ins Reservierungsbuch geworfen. Doyle schien nicht sein richtiger Name zu sein, aber der Mann reagierte sehr gelassen.
„Nur ein paar Tage. Ich bin auf der Durchreise und hab’s versäumt, mir irgendwo ein Hotel zu reservieren.“
„Wenn sie noch duschen wollen“, sagte Brendan ohne einen wirklichen Hintergedanken wegen des Allgemeinzustandes des Mannes, „dann werfe ich ihnen gerne den Kessel noch mal an. Ansonsten müssten sie kalt duschen.“
„Eine heiße Dusche wäre fabelhaft.“
„Okay. Ist dann in zwanzig Minuten soweit.“
Lilian hatte recht mit dem Akzent. Doyle klang wie jemand, der lange nicht zu Hause gewesen war, aber es reichte nicht, um Brendan deswegen graue Haare zu bescheren.
Der Gast erhob sich, steckte den Rücken durch. Er war schwer gebaut, ohne fett zu sein, es schien, als habe er sich irgendwann einmal alles antrainiert.
Wieder sah er zu den Fotos hinüber. Brendan folgte seinem Blick, bevor er ins Bad ging und den Ofen anwarf. Manchmal stand er selbst vor den Fotos, betrachtete die Gesichter und konnte es kaum glauben, dass er Kierans Herumkommandieren und Paddys Hilfsbedürftigkeit wirklich vermisste. Manchmal dachte er, wie dumm sie gewesen waren, sich je etwas anderes zu wünschen, als bei Moira und Kieran unter dem Dach zu leben. Jetzt waren sich selbst überlassen und kamen ganz gut über die Runden, aber es war nicht mehr das Gleiche. Ihre Familie war auseinandergerissen.
Im Bad legte er Handtücher zurecht, packte noch ein Päckchen Seife und Shampoo dazu, nach kurzer Überlegung auch einen der Einwegrasierer, die sie im Hunderterpack besorgt hatten. Das war der Service des Hauses und auf die Idee war Lilian gekommen, als sie sich vor dem abendlichen Besuch einer Diskothek noch schnell die Beine rasieren wollte und nichts zur Hand hatte.
Mr. Doyle reiste ohne Gepäck und hatte sicher für eine Rasur auch nichts dabei.
Das Rauschen der Dusche war im ganzen Haus zu hören. Es dauerte etwa fünfzehn Minuten, bis das Ablaufen des Wassers verklungen war. Brendan stand unten an dem Eingang zum Frühstücksraum, wo Pol über der Liste brütete, mit der sie Geld einzusparen versuchten. Er sah Brendan stirnrunzelnd an, schrieb etwas nieder und sagte gleichzeitig: “Kein heißes Duschen mehr nach zwölf Uhr.“
„Mit dem Typen stimmt was nicht“, erwiderte Brendan, „auf den sollten wir ein Auge haben.“
„Du klingst wie ...“
„Ich weiß, wie das klingt. Ich überlege, ob ich Michael herhole, damit er ihn sich mal ansieht.“
Pol machte eine widerwillige Geste. Ihm stank es, dass Brendan noch immer so übervorsichtig war. Man hätte meinen können, er wäre ohne es zu merken in Kierans Fußstapfen getreten. Pol sagte ihm öfters als einmal, dass sie ein B&B betrieben. Man konnte einfach nicht verhindern, dass man dann fremde Leute bei sich unter dem Dach hatte.
„Wenn du meinst, hol Michael her. Und der erzählt dir dann, dass er sich mit dem Durchreisenden aus Cork sehr gut unterhalten hat.“
Brendan ignorierte ihn. Er fand, dass er Mr. Doyle genug Zeit gelassen hatte, sich abzutrocknen und wieder anzuziehen und stieg die Treppe nach oben. Er klopfte an die Zimmertür Nummer vier, horchte und drückte die Klinke. Abgeschlossen. Es gab nicht viel Orte, an denen er sein konnte, es sei denn, er hatte das Haus verlassen.
Brendan machte sich auf die Suche, was wie einer seiner Rundgänge aussah, bei denen er sich für gewöhnlich mit den Gästen unterhielt. Er fand Mr. Doyle wieder im Fernsehraum, mit glatt rasiertem Gesicht und noch immer nach Seife riechend. Er stand vor den Fotos an der Wand.
„Das ist unsere Familie“, sagte Brendan im Plauderton, den er so gut beherrschte, „wir sind nicht sehr zahlreich in Pettigoe, aber das liegt wohl an dem Grenzland. Es ist zu unruhig für große Familien. Das da ist unser Neffe Darren. Er kann reiten wie ein kleiner Indianer.“
„Dieses B&B existiert noch nicht lange. Als ich vor einiger Zeit in der Gegend war, hat hier noch Kieran gewohnt.“ Tommy wandte sich von dem Foto ab und sah Brendan fragend an. Etwas stand in seinem Gesicht, was Brendan nicht deuten konnte und er wollte auf die Zeit, als Kieran in dem Haus gelebt hatte, nicht weiter eingehen, weil er diesen Typen nicht einzuschätzen wagte. Er konnte aus dem einen oder aus dem anderen Lager sein.
„Ist er noch in der Gegend? Es gibt ein paar Dinge, die ich mit ihm gerne besprochen hätte.“
Pol hätte ihm sofort alles erzählt, keine Frage, hätte ihm noch Adresse und Telefonnummer gegeben, mit einem Lächeln und so blauäugig, dass es schon wehtat.
„Ich weiß nicht, was ich ihnen erzählen soll, deshalb sag ich lieber gar nichts. Nach dem ganzen Ärger kann ich es mir nicht leisten, einen Schritt in die falsche Richtung zu machen.“
Tommy machte eine ergebene Geste. Es waren keine heimischen Sehnsüchte, die ihn ins Grenzgebiet nach Nordirland getrieben hatten – es war fast am Ende. Er wollte irgendwohin, wo er einigermaßen sicher leben konnte, unter einem fremden Namen und vielleicht auch nur für ein paar Jahre, bis sie ihm auf die Schliche kamen. Er hatte Freunde in London, aber London war nicht weit genug weg. Seit Jahren hatte er jeden Kontakt zur IRA abgebrochen, nahm deren Hilfe nicht in Anspruch. Ließ er sich vom High Command mit gefälschten Papieren ausstatten und nach Spanien bringen, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder auf ihn zukamen und vor ihre Karre spannten. Tommy war ausgebrannt; er hatte das Gefühl, bereits mehr als genug für die nationale Sache getan zu haben.
„Das ist in Ordnung“, sagte er, „ich kann sie zu nichts zwingen. Unter den Umständen wird es das Beste sein, wenn ich morgen früh wieder abreise.“
Er versuchte zu lächeln, aber ein ehrliches Lächeln brachte er schon lange nicht mehr zustande.

Etwa ab elf Uhr trat etwas Ruhe im Haus ein, die Mädchen waren nach Hause gefahren, die Touristen waren noch ins Ryan’s gezogen und einige andere Gäste waren schon zu Bett gegangen.
Durch einen unbeabsichtigten Kniff des Schreiners, der die Türen der Gästezimmer zurechtgeschnitten und gehobelt hatte, dabei aber entweder betrunken oder unfähig gewesen war, konnte man durch die fünf Zentimeter Spielraum an der unteren Türkante sehen, ob ein Gast das Licht bereits gelöscht hatte. Was am Anfang ein Grund zur Beschwerde gewesen war, erwies sich bald als ganz nützlich – war das Licht noch an, konnte man zumindest sicher sein, niemanden zu wecken, wenn man anklopfte.
Brendan und Pol diskutierten bis etwa ein Uhr morgens, fanden dann zu der Einigung, Kieran in Boston anzurufen und nach seiner Meinung zu fragen. Bei ihm war es früher Abend und die Zeit schien perfekt.
„Ich ruf an“, sagte Brendan, „ich hab mich mit dem Kerl unterhalten und kann etwas über ihn sagen.“ Er nahm das Telefon ab, tippte die Nummer ein und erstarrte in Warteposition. „Brendan hier“, sagte er schließlich, „Hallo Darren. Wie geht’s euch? Ja, uns auch. Viel zu tun. Der ist gerade in Dublin gewesen, aber er wollte dir Fotos schicken. Die kommen bestimmt noch. Hör mal, ist Kieran zu Hause?“ Er wusste, dass Darren am liebsten noch stundenlang über Tadhg gequatscht hätte, aber das sollte er ruhig machen, wenn Kieran ihn mal wieder anrief. Das lief dann auf deren Rechnung. Er wartete, nachdem Darren den Telefonhörer abgelegt hatte und in dem Haus nach Kieran rief. Es brachte ihn noch immer zum lachen, wenn er seinen Akzent hörte. Kieran meldete sich mit einem „Kannst du nicht schlafen oder ist was passiert?“, und klang dabei nicht so, als rechne er mit etwas Schlimmen.
„Wir haben einen Gast bei uns, der mich nicht schlafen lässt“, sagte Brendan, „und ich ruf dich nur an, weil ich abklären will, ob du ihn wirklich kennst. Er behauptet das jedenfalls.“
„Dann lass mal hören“, erwiderte Kieran munter. Ein kratzendes Geräusch war zu hören, als er sich einen Stuhl zurechtrückte und sich setzte.
„Er hat sich als Doyle eingetragen, ist ohne Gepäck angekommen und sah ziemlich fertig aus. Als er hörte, dass du nicht in Pettigoe bist, wollte er morgen früh wieder abreisen.“
„Bin mir nicht sicher, ob ich einen Doyle kenne, der mich hätte besuchen wollen.“
„Der Name dürfte nicht sein richtiger sein.“
„Beschreib mir, wie er aussieht.“
Brendan tat sein bestes, das Äußere und das Verhalten des Mannes zu beschreiben und als er endete, musste er einige Sekunden warten, bis Kieran etwas sagte.
„Hol ihn mir ans Telefon.“
„Was?“
„Hol mir deinen Mr. Seltsam ans Telefon. Ganz egal, ob er schon schläft. Sag ihm, ich will ihn sprechen, dann wird er schon wach werden.“
„Okay“, sagte Brendan sehr zögernd.
„Und, Brendan? Sobald er am Telefon ist, gehst du aus dem Zimmer, klar?“
„Das ist aber mein Zimmer, Kieran. Ich muss morgen früh raus.“
Immer noch der alte Stinkstiefel, dachte er.
„Leg dich in eines der freien Betten oder kriech bei Pol unter, mir gleich. Aber ich muss mit Tommy allein sprechen.“
Ohne Erwiderung legte Bendan den Hörer auf den Tisch und verließ das Zimmer, polterte wütend über den Flur und blieb vor Nummer vier stehen. Kein Lichtstrahl unter der Tür, Mr. Doyle war schlafen gegangen. Er klopfte energisch an die Tür, wartete mit gesenktem Kopf, klopfte wieder. Der schwache Lichtschein erschien unter der Tür, dann schlurfende Schritte. Er nahm sich fest vor, sich nicht zu entschuldigen, weil es schließlich Kierans Angelegenheit war und er nichts damit zu tun hatte, deshalb musste er sich nicht entschuldigen. Das tat er allerdings doch, denn als sich die Tür einen Spalt öffnete und Mr. Doyle mit zusammengekniffenen Augen erschien, fiel sein Blick auf einen Mann, dessen Schulter und Seite von Operationsnarben überzogen waren. Vermutlich sah der Rest von ihm auch so aus, aber Brendan hatte keine Lust, die auch noch zu Gesicht zu bekommen.
„Sorry“, sagte er, trat einen Schritt zurück. „Mr. Doyle. Telefon für sie.“
Er blieb halb hinter der Tür stehen, wie jemand, der die Tür geöffnet hatte, ohne sich vorher etwas überzuziehen. Verschlafen klang er nicht – eher alarmiert und fast schon hypernervös.
„Es weiß niemand, dass ich hier bin“, erwiderte er, „das muss ’ne Verwechslung sein.“
„Es ist Kieran“, sagte Brendan, „ziehen sie sich was über und kommen sie nach unten. Solche Telefonate kosten ein Schwei-ne-geld

.“
Er grinste kurz und machte dabei einen nicht sehr freundlichen Eindruck, aber er wollte sich mit diesem Provo, der sich unter fremdem Namen eincheckte, auch nicht gut stellen. Kaum war er am Telefon und sagte Kieran, dass sein buddy auf dem Weg sei, war Mr. Doyle schon hinter ihm, nachlässig aber komplett angezogen.
„Ich verzieh mich dann“, sagte Brendan.
Tommy nahm das Telefon, setzte sich an den Tisch und atmete eine Sekunde tief durch. Brendan zögerte, drehte sich in der Tür stehend um und machte einen Schritt zurück, griff nach der Türklinke, um die Tür zu schließen.
Wo Mr. Doyle noch vor etwa einer Stunde zurückhaltend und unberechenbar schien, dass Brendan schon das Schlimmste befürchtet hatte, saß er jetzt an dem Tisch, starrte auf das Telefon, eine Hand auf den Hörer gelegt und sah aus, als würde er jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. Vielleicht tat er das, sobald die Tür ins Schloss fiel; vielleicht war es auch nur ein vorübergehender schwacher Moment. Er zitterte nicht, er war nicht blass um die Nase herum, aber er war nicht gerade munter wie ein Fisch im Wasser.
Nimm schon den Hörer

, dachte Brendan und zog die Tür ins Schloss, gerade so laut, dass Mr. Doyle hören konnte, dass er endlich allein war.
Er konnte nicht zu Bett gehen, schlafen war unmöglich, also setzte er sich in den Fernsehraum. Das Telefonat dauerte kaum zwanzig Minuten. Tommy erschien in der Tür, machte eine Bewegung mit dem Daumen hinter sich.
„Kieran will sie noch mal kurz sprechen. Ich geh dann wieder schlafen. Gute Nacht.“
Die beiden hatten sich bestimmt nicht über das Wetter in Boston und über die gestiegenen Grundstückspreise unterhalten – Brendan raste förmlich ans Telefon zurück und bekam von Kieran erst einmal gesagt, dass es sehr klug von ihm gewesen sei, ihn anzurufen.
„Tommy ist ein alter Freund“, sagte er, „ich kümmer mich weiter um ihn, soweit ich das von hier aus kann. Tu du mir den Gefallen und ruf Michael morgen früh an. Du bringst die beiden zusammen und damit bist du ihn dann auch schon los. Er sollte nicht zu lange in Irland bleiben.“
„Soll ich ihm denn was für’s Zimmer berechnen?“
„Klar“, sagte Kieran, „du musst den Laden so führen, dass er Gewinn abwirft. Komm bloß nicht auf die Idee, Ausnahmen zu machen. Mach ihm ein gutes Frühstück und lass ihn die Rechnung bezahlen.“
„Ist bei euch alles in Ordnung?“
„Ja, natürlich.“ Kieran klang ungeduldig. Was konnte er schon Besseres vorhaben als seine Jacke überzuziehen und ein paar Straßen weiter Bier zu zapfen?
Brendan tat ihm den Gefallen und machte Schluss mit dem Telefonat. Wenn Tommy Doyle oder wie-auch-immer in seinem Zimmer schlafen konnte, hatte er anscheinend gute Nerven. Brendan brachte kein Auge zu.

Tommy konnte gut schlafen, allerdings hatte er damit noch nie Probleme gehabt. Gewöhnlich stellte er sich irgendwas schönes beruhigendes vor. Einen Sonnenuntergang am Meer. Es war nie die irische See, die er sich vorstellte – immer die warme Südsee. Er dachte an die versinkende Sonne, den warmen Sand unter seinen nackten Füßen und an die Illusion, ein Mädchen in Baströckchen und Blumen im Haar wartete unter einer Palme. Darüber konnte er fast immer selig einschlafen, friedlich wie ein Baby.
Eigentlich hatte er von Kieran nur Geld erhofft, um sich absetzen zu können, aber nach dem Telefonat war klar, dass Kieran ihn nach New York holen würde, mit falschen Papieren und allem Drum und Dran. Das schien unglaublich. New York war so weit weg, nicht greifbar und noch nicht einmal nah genug, um davon zu träumen. Lieber wäre er irgendwo in Europa geblieben, aber das hatte Kieran beiseitegeschoben.
Ich gehe also nach Amerika

, dachte Tommy, was soll ich dort mit mir anfangen

?

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Tag der Veröffentlichung: 01.10.2011

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