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Eine zweite Heimat



Nach zwei Monaten in Boston bekam Kieran seine Arbeitserlaubnis und sie suchten eine Schule für Darren, waren von dem Angebot zunächst überwältigt, bis sie ernüchtert die einzelnen Schulen abklapperten. Es waren Bunker in Beton und Stahlgitter, selbst die Schulen für behinderte und lernschwache Kinder sahen aus wie Gefängnisse. Eine private Schule konnten sie sich nicht leisten, selbst wenn das Beste für Darren gewesen wäre.
„Besser als gar keine Schule“, sagte Kieran, „und die Förderprogramme scheinen besser zu sein als die bei uns. Jedenfalls haben sie sehr schöne Hochglanzprospekte.“
Die Schule, für die sie sich schließlich entschieden, lag ganz in der Nähe und Darren konnte mit dem Schulbus fahren. Er würde wieder von vorn anfangen müssen und er sagte, das sei Okay, aber er vermisse seine Lehrer und Gilbert. Er hatte auch gehofft, wieder gälisch lernen zu können, aber diesen Unterricht hatte es in Irvinestown nicht gegeben und würde es in Boston auch nicht geben.

Moira stellte sich bei ihrer Arbeit im Krankenhaus geschickt an, war freundlich und geduldig mit den Patienten und bekam schnell weitere Aufgaben zugeteilt. Sie erklärte, sie habe jahrelang ihren kranken Schwiegervater gepflegt und bekam prompt das Angebot einer Weiterbildung, was sie in die Lage versetzte, zusätzliche Aufgaben zu übernehmen und mehr zu verdienen. Anfangs arbeitete sie fast ausschließlich in der Notaufnahme, wo sie Personalien aufnahm und sich um alles kümmerte, was anfiel. Sie telefonierte nach Verwandten, brachte Getränke und kümmerte sich um Kinder, die auf ihre Eltern warteten. Manche Tage schob sie Patienten von den Stationen zum Röntgen und zur Dialyse, dann wieder half sie bei der Essensverteilung. Die Arbeit gefiel ihr gut, und sie wurde nie müde zu erklären, was sie nach Boston verschlagen hatte, wenn sie auf ihren starken Akzent angesprochen wurde. Sie kam müde aber zufrieden nach Hause, kochte das Essen und hörte sich an, was Kieran den Tag über gemacht hatte. Es wäre schön gewesen, wenn er einen guten Job gefunden hätte, in dem er zurechtkam, aber alles, was er anfing, musste er bald wieder aufgeben. Bei den Einstellungsgesprächen in den Personalbüros verheimlichte er zunächst seine Verletzung, aber spätestens, wenn er wegen der Ausfälle und Kopfschmerzen zu einem Gespräch gebeten wurde, war er in Erklärungsnot und rückte schließlich damit heraus. Dann bekam er einen verständnisvollen, mitleidigen Blick zugeworfen, zusammen mit der Kündigung, die allen natürlich sehr leidtat, aber niemand konnte es sich leisten, jemanden zu beschäftigen, der ständig diese Ausfälle hatte. So verbrachte Kieran viel Zeit zu Hause, ging mit Trash spazieren und bemühte sich, alle Pubs in der Umgebung abzuklappern. Die sogenannten Irish Pubs erkannte man schon von Weitem an dem Leuchtreklamekleeblatt, dem Shamrock, das man in Irland in solchen Ausmaßen höchstens außen an den Touristeninfos fand. In diesen Pubs war es vertraut und doch fremd, die Gerüche und Geräusche, die Stimmen, die Melodien waren ganz anders, wenn auch das Guinness und der Whiskey so schmeckten wie in der Heimat.
Ich werde mich hier nie heimisch fühlen

, dachte Kieran, und wenn ich hundertzwanzig Jahre alt werde.



Die Bar, die ihm am besten gefiel und die er regelmäßig besuchte, lag in der Nähe des Hauses und war das genaue Gegenteil des Ryan’s und der anderen Pubs in der Heimat – groß, geräumig und hell, dekoriert mit modernen Ölgemälden an den Wänden und einer geschwungenen ovalen Theke, über der in einer langen Reihe Weingläser kopfüber nach unten hingen. In dieser Bar roch es nie nach Regen, nasser Wolle oder nach verschüttetem Bier auf den blank geschabten Holzdielen. Es war gut, dass ihn nichts an die Heimat erinnerte. Der Barmann trug stets ein weißes Hemd und eine dunkle Anzughose, nur die Krawatte ließ er weg, die ihm bei ihm verbrachte, sprachen sie über Gott und die Welt, aber Scott Logie fragte nicht ein einziges Mal, ob er aus Irland war, aus welcher Gegend, weshalb er von dort weggegangen war, obwohl es dort so wunderschön war und die Menschen so freundlich waren. Diesen Mist hörte er in verschiedenen Variationen, sobald er nur den Mund aufmachte. Er hatte es noch immer nicht geschafft, seinen Akzent zu unterdrücken. Bei Logie konnte er sicher sein, dass er in Ruhe gelassen wurde.

Abends waren sie zu dritt im Kino gewesen und hatten sich einen Walt-Disney-Film angesehen. Darren war beladen mit Limo, Popcorn und Eiscreme und hatte zwei Stunden lang richtig Spaß. Sein Lachen und Kichern war in dem ganzen Kinosaal zu hören. Auf dem Heimweg machte er nur noch den gezeichneten Hauptdarsteller nach und trieb es so weit, dass Moira ihm sagte, er solle langsam damit aufhören.
Am nächsten Morgen klingelte sehr früh das Telefon, Moira nahm ab und rief trotz der frühen Stunde durch das Haus: „Telefon! Es ist Pol!“
Sie bestürmte ihn, er solle berichten, was inzwischen alles geschehen war zu Hause und ob es ihnen gut ging. Pol am anderen Ende der Leitung wurde erst erlöst, als Kieran aus dem Schlafzimmer geschlurft kam und ihr den Hörer aus der Hand nahm. Sie protestierte empört.
„Es läuft alles super“, rief Pol, obwohl die Verbindung so gut war, als würden sie von einem Zimmer zum nächsten telefonieren, „wir haben hier was auf die Beine gestellt ...“
Kieran ließ ihn reden, grinste und machte beruhigende Gesten zu Moira hinüber – alles in Ordnung

. Dann kam er endlich dazu, auch etwas zu sagen, berichtete von Boston und von Darrens Schule und dass sie sich alle langsam einlebten. Pol wurde von jemandem gerufen, dessen Stimme Kieran nicht kannte.
„Hier geht alles Drunter und Drüber“, rief Pol, „ich ruf euch in den nächsten Tagen noch mal an.“
Jemand schrie im Hintergrund, dass die ganze Kacke in die Hose ginge und dann schepperte etwas, als sei der erste Stock in sich zusammengefallen. Kieran legte auf. Er erzählte Moria, was die Zwillinge sich vorgenommen hatten.
„Ich bete für die beiden“, sagte sie, „und ich hoffe, dass alles gut geht, aber ich möchte nicht sehen, was sie aus unserem Haus gemacht haben. Es ist gut, dass ich es nie wieder sehen werde. Ich hätte nicht gedacht, dass ich darüber einmal froh sein würde, aber es ist so.“
Kieran drehte sich kurz zu Darrens Zimmer herum, die Tür war verschlossen.
„Du kannst jederzeit zurück“, erwiderte er, erstaunt darüber, dass sie sich in diesem Leben festgehalten fühlte. Er nahm sie in den Arm, hielt sie an sich gedrückt. „Wenn es aus irgendeinem Grund nicht hinhaut, lasse ich dich zurückbringen.“
Moira erwiderte mit leiser Stimme, dass sie unter keinen Umständen nach Pettigoe zurückkehren würde, weder allein noch mit ihm, weil sie den Nachbarn und Freunden gegenüber nicht die Blöße geben würde, es nicht geschafft zu haben. Sie waren nach Boston gegangen, um es dort besser zu haben, um allen weiteren Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, und da würde sie lieber ins Wasser gehen als die Heimreise anzutreten.
„Stolz ist das Einzige, was wir uns leisten können“, sagte sie. Insgeheim fürchtete sie, dass Pol das nächste Mal anrufen würde, um nach einer unbedeutenden einmaligen finanziellen Unterstützung zu fragen und dass sie natürlich dazu nicht in der Lage sein würden. Es war kaum zu erwarten, dass die Zwillinge ohne Rücklagen ein Bed&Breakfast aufziehen konnten. Noch waren sie dabei, das Haus umzubauen und aufzumöbeln, hatten auch schon einige Leute gefunden, die bei ihnen arbeiten wollten, wenn es endlich losging.
„Das wird kein B&B“, sagte Kieran, „das wird eine Chaoten-Jugendherberge.“
Das konnten sie sich beide gut vorstellen, wie alles den Bach runterging mit diesem Unternehmen, wenn Pol und Brendan es allein in die Hand nahmen.
„Hoffentlich sind sie schlau genug, eine Frau in die Küche zu stellen, die etwas vom Kochen versteht. Die Unterkünfte können noch so schäbig sein, das spielt keine Rolle, aber wenn das Essen mies ist, kommen die Leute nie mehr wieder. Und das spricht sich schnell herum.“
„Die Zwillinge werden schon zurechtkommen“, sagte Kieran.
War Moira zu Hause und konnte sich um Darren kümmern, verschwand er gerne mit Trash in die Bar, in Scott Logie’s Triangle, wo der Hund schon wusste, wo er sich seinen Hundekuchen abholen konnte.
„Einmal wie immer“, sagte Kieran und setzte sich an die Theke, Trash zu seinen Füßen, der zufrieden auf seinem Hundekuchen kaute.
„Kommt sofort.“

Kieran blinzelte durch den halb vollen Raum, suchte nach bekannten Gesichtern um sich herum, wobei er wieder einmal das Gefühl hatte, sich gegen mögliche Verfolger absichern zu müssen. Es war im Grunde lächerlich, dass er noch immer so auf der Hut war. Er war vertieft in Gedanken und merkte erst, dass Scott ihm eine Frage gestellt und er sie überhört hatte, als der Barmann ihm das Glas entgegen schob und ihn fragend ansah.
„Was?“, sagte er.
„Ich dachte, dass sie einen merkwürdigen Schichtdienst haben müssen“, wiederholte Scott, „ich bin noch nicht hinter ihren Kneipentonus gestiegen.“
„Es ist der Tonus meiner arbeitenden Frau und der Verfügbarkeit des Geldes“, grinste Kieran, „wenn ich nichts zu tun habe, verbringe ich die Zeit hier. Ich suche noch immer nach einem Job und das ist nicht einfach.“
Scott hinter der Theke tat so, als müsse er sich ihn erst mal genauer ansehen, dann sagte er mit einem ehrlichen Gesicht: „Was ist los mit dir, dass du nichts findest?“
Plötzlich stellte er genau die Frage, die Kieran daran gehindert hätten, das Triangle zu seiner neuen Stammkneipe zu erheben und darüber war nicht sehr glücklich. Er dachte darüber nach, was er tun sollte, ob es klüger war, sich irgendetwas auszudenken, welchen Grund es haben könnte, dass er bei keinem Job länger als ein paar Wochen blieb, sagte nach einigem Zögern: „Ich hab ein Handicap, womit die Arbeitgeber nicht zurechtkommen. Eine alte Kriegsverletzung.“
Scott schien nicht sonderlich beeindruckt, drehte sich von der Theke weg, um ein paar Gläser einzuräumen, nahm nebenbei eine Bestellung entgegen, die er nur mit einem Nicken quittierte.
„Wo liegt das Problem dabei?“, wollte er wissen, „dass du bestimmte Arbeiten nicht tun kannst?“
Kierans Finger tasteten über das kühle Glas, er dachte darüber nach, was er in der kurzen Zeit bereits versucht hatte und gescheitert war. Das war nichts, worauf man stolz sein konnte und deshalb sprach er nicht gern darüber.
„Ich kann keine zehn Stunden an einem Stück durcharbeiten, ich bekomme Kopfschmerzen und kann mich nicht lange konzentrieren, wobei ich jetzt schon froh bin, dass ich wieder Autofahren und Fernsehen kann. Es wird besser, aber nicht viel.“
„Es hängt kein Schild im Fenster, aber ich suche schon seit Monaten eine Aushilfe, für ein paar Stunden in der Woche, wenn es hier heftig wird. Ich hatte viele Bewerber hier, die meisten konnten zapfen, aber die haben mir alle nicht gefallen. Also, was ist mit dir? Interesse, hinter der Theke zu arbeiten?“
„Dass ich aus Irland komme, heißt nicht automatisch, dass ich zapfen kann und mich mit Whiskey und Kaffeemaschinen auskenne.“
„Das lernt jeder schnell, mir ist wichtiger, dass mir jemand gefällt. Das Triangle ist meine Bar, ich hab sie in sechs Jahren nach oben gebracht und ich suche mir die Gäste und die Mitarbeiter sehr genau aus. Jemand, der mit seinem hässlichen Wolfshund eine Bar besucht, ist mir schon sympathischer als jemand, der jeden Abend mit einem anderen Mädchen im Arm ankommt.“
Er reichte das Tablett mit amerikanischem Bier in einem Krug über die Theke, das Mädchen, das für die Tische im hinteren Bereich zuständig war, legte es sich auf die flache Hand und trug es durch den Raum, als sei es ein Teller mit Fingerhüten voller Liquor. Sie arbeitete im Triangle an drei Tagen in der Woche, um ihr Studium zu finanzieren und sie war ein wirkliches Geschoss, keine Frage. Kieran dachte daran, dass die Zwillinge sich die Finger danach lecken würden, mit ihr zu arbeiten.
„Ich kann einen Job brauchen“, antwortete er, „ich muss der Einwanderungsbehörde etwas vorzeigen, damit ich irgendwann meine Staatsbürgerschaft bekomme.“
„War das eine Zusage?“
Kieran sah hinunter zu Trash, der die Schnauze auf die Pfoten gelegt hatte und vor sich hindöste, dann stellte er sich das Gesicht vor, was Moira machen würde, wenn er mit einem Job nach Hause kam, den er auch behalten konnte.
„Ich kann erst ’ne Zusage machen“, antwortete er, „wenn ich weiß, was ich verdienen werde und wenn wir alle anderen Dinge besprochen haben. Ich brauch keinen schriftlichen Vertrag, den hab ich eigentlich noch nie gebraucht, aber es muss alles abgeklärt werden. Und ich habe eine einzige Bedingung.“
„Das ist nur fair.“
Scott winkte durch den Raum, der angefüllt war mit den Stimmen fröhlicher Leute, nur wenige hatten einen irischen oder britischen Akzent. Die ausgelassene Fröhlichkeit, ansteckend und unverbindlich, war die amerikanische Art. Matt, einer seiner Kellner, kam an die Theke. Er rief ihn häufig nicht bei seinem Namen, sondern einfach „Nummer eins.“
„Übernimm mal eben die Brücke“, sagte Scott, „ich hab was zu besprechen.“
Neben der Theke war eine Tür mit der Aufschrift ‚privat’, bei der die Buchstaben in Font und Größe nicht zueinanderpassten. Sie gingen hinein und setzten sich an den Schreibtisch. Ihre Besprechung dauerte kaum eine halbe Stunde und Kieran verließ das Triangle in einem Hochgefühl, das er schon so lange nicht mehr gespürt hatte, nicht einmal, als er den ersten Schritt auf amerikanischem Boden gemacht hatte.
Lange Zeit hatte er gedacht, überhaupt nichts mehr fühlen zu können, war allem gegenüber tot gewesen und hatte sich schon fast damit abgefunden, dass diese Depression einfach zu den Nebenwirkungen der Kugel gehörte – es erschien unglaublich, dass sich der Nebel plötzlich gelichtet hatte und er wieder die Farben der Welt sehen konnte. Scott hatte ihm ein gutes Angebot gemacht und fragte schließlich nach der einen Bedingung, die Kieran stellte.
„Keine Fragen darüber, weshalb ich Irland verlassen habe“, sagte Kieran, „ganz einfach.“
Als er in New York gelandet und aus dem Flugzeug gestiegen war, hatte er noch das Gefühl gehabt, als sei er nur auf einem anderen großen Flughafen angekommen. Mit seinem Koffer und Trash an der Leine, der im Schneckentempo neben ihm herkroch, verließ er das Gebäude, stand in der New Yorker Sonne und hoffte, er würde etwas anderes fühlen. Aber er war einfach nur müde und ausgelaugt. Wie verabredet traf er sich mit Father Judge, der ihn auf einen Kaffee einlud, ihm gut zuredete und ihm Hoffnung machte, dass alles einen guten Ausgang finden würde. Er war ein sehr freundlicher alter Mann, grauhaarig, kräftig und energisch, wenn es sein musste. Die meiste Zeit verbrachte er als Seelsorger bei der Feuerwehr, Ansprechpartner für alle in der Not.

Der Job im Triangle war der erste Schritt in die richtige Richtung in seinem Leben. Kam Moira aus dem Krankenhaus nach Hause, verbrachten sie noch ein paar Stunden zusammen, dann machte er sich auf den Weg und kam häufig, wenn es gut lief, erst am frühen Morgen nach Hause. Hatte er Schwierigkeiten, kam er früher zurück und versuchte es am nächsten Abend noch einmal.
Richtig Kopfschmerzen bekam er von einem Gast, der einen grob karierten Anzug trug und aussah wie ein rosa vietnamesisches Hängebauchschwein. Er setzte sich an die Theke und bestellte sich um Luft japsend einen Kentucky Bourbon. Kieran hatte seine Schicht begonnen und sich erst mal auf dem Fernseher in der Ecke den Sky Kanal angemacht, um die Nachrichten zu sehen. Das war etwas, was er wirklich vermisste – ausführliche Nachrichten aus der Heimat. Irland geriet hier nur wirklich in die Nachrichten, wenn Adams zu Besuch im weißen Haus war.
Meist schaltete er nach der viertel Stunde wieder aus, weil er wusste, dass es sonst niemanden interessierte.
Der Kentucky-Mann schob seinen mächtigen Hintern auf dem Hocker herum, starrte auf den Fernseher und nippte geistesabwesend an seinem Drink.
Kieran genoss die viertel Stunde Nachrichten aus Großbritannien und Nordirland, den heimischen Akzent und war beruhigt, dass alles ruhig schien in der Heimat. Nach dem Wetterbericht, deprimierend wie immer, schaltete Kieran aus, machte die Musik von CD-Player wieder an und der Kentucky-Mann sagte mit breitem Akzent: „Ein Scheiß Wetter haben die da drüben.“
Kieran machte eine kleine Grimasse und erwiderte: „Im Sommer wird’s besser. Dann wird der Regen wärmer.“
Jenny lachte von der anderen Seite der Theke her, wo sie auf ihre Bestellung wartete. Sie trug einen hellblauen Rock und passende Bluse, das lange Haar offen und hatte im Stehen ein Bein vor das andere geschlagen. Normalerweise zog sie die Blicke auf sich, wenn sie so posierte, aber nicht die Blicke des Kentucky-Mannes. Der sah blinzelnd und zunehmend rotäugig zu Kieran hinüber, der diesen Blick falsch verstand und zur Bourbonflasche griff.
„Kann ich ihnen noch einmal nachschenken?“
Der Mann hielt das Glas mit einer Hand, klickte mit der Innenseite seines Eherings dagegen.
„Wo kommen sie her? Sie klingen nicht wie der Rest der Mannschaft.“
„Was glauben sie denn, wo ich herkommen könnte?“ Kieran mochte es, sich mit den Gästen zu unterhalten, aber auf solche Fragen pflegte er mit Gegenfragen zu antworten. Manchmal klappte es und er konnte die Plauderei auf ein anderes Gleis lenken.
„Ich erkenne einen irischen Akzent, wenn ich einen höre“, sagte Kentucky-Mann, sein Tonfall war seltsam, aber nicht deutlich abfällig, „ich hab mit einem zusammengearbeitet, soweit man das Arbeit nennen konnte, die er abgeliefert hat, wobei ich jetzt wirklich nicht die alten Vorurteile aufkochen will.“ Er sah zu Jenny hinüber, dann zu Kieran.
„Dafür komme ich viel zu gern her, wenn ich Boston bin. Sie sind direkt aus Irland?“
„So ist es, Sir“, sagte Kieran und wünschte sich schon, den Fernseher nicht angemacht zu haben. Kentucky-Mann leerte sein Glas, tippte mit dem Zeigefinger auf den Rand und Kieran goss ihm nach. Vor dem ersten Schluck des zweiten Glases sagte der Mann: “Ich kenn mich da ziemlich gut aus. Ich bin ein weltoffener Mensch. Für mich liegt Irland nicht einfach nur irgendwo in Europa, ich hab Ahnung. Und jetzt möchte ich einmal von ihnen hören, was da los ist in Ulster. Diese Männer in den orangefarbenen Schärpen marschieren da jedes Jahr durch die Straßen und sehen friedlich aus. Sie marschieren ganz gesittet. Weshalb regt sich der Rest so auf darüber?“
Das war der Moment, an dem Kierans Kopfschmerzen go seoigh

! sagten und an die Haustür klopften. Er versuchte sich herauszureden, den Kopf schief gelegt und die betroffene Stirnseite betastend.
„Ich bin nicht in der Lage, ihnen das zu erklären, Sir“, sagte er, „aber wenn sie von Ulster sprechen, meinen sie wohl die sechs Counties unter britischer Besatzung. Die Oranier sind protestantische Iren und spielen wieder in einer ganz anderen Liga. Im Grunde würden sich alle Probleme sehr schnell lösen, wenn die Briten ihre Truppen abziehen und das Land sich selbst überlassen würden.“
Der Kentucky-Mann hob das Kinn, dachte wohl darüber nach, dass die Sache doch komplizierter war als es von seiner Warte aus erschien, hatte aber noch eine Frage, die er loswerden wollte. Nach Kierans leiser Erklärung wollte er nicht ganz dumm dastehen, nachdem er behauptet hatte, Ahnung zu haben.
„Wenn das der Schlüssel ist, weshalb ziehen die Briten dann nicht ab?“
Kieran wartete eine Weile, hoffte darauf, der Druck hinter seinen Augen würde nachlassen, aber das tat er nicht. In der Situation wagte er keine Flasche anzufassen, aus Angst, sie könnte ihm aus den Fingern rutschen, stützte sich an der Theke ab und sagte: „Sie könnten es, aber sie werden die six countys niemals aufgeben. An Nordirland haben sie keinerlei Interesse, aber wenn sie das Land in die Unabhängigkeit entlassen, ist das ein Zeichen für alle anderen. Dann werden auch die Schotten den eigenen Staat und die Souveränität einklagen. Und was haben die Schotten in ihrem Hoheitsgebiet? Öl. Die Briten werden nicht zulassen, dass ihnen das durch die Lappen geht.“

Die Monate vergingen und er etablierte sich als guter freundlicher Kollege und Angestellter, niemand fragte jemals, was er in Irland gemacht hatte und auch die diffuse Angst, jemand könnte auftauchen, der ihn aus den IRA-Tagen kannte, erwies sich als unbegründet.

Pol und Brendan brachten das B&B groß heraus und schienen endlich erwachsen geworden zu sein, wenn sie auch freilich nichts von den Katastrophen erzählten, die ständig passierten. Durch einen komischen Zufall hatten sie es geschafft, den Waliser aus dem Shit Hole als Koch nach Pettigoe zu holen, konnten ihm zwar nicht wirklich gutes Gehalt zahlen, aber sie konnten freie Unterkunft stellen und verbürgten sich für ein gutes Arbeitsklima. Zwei Mädchen aus Pettigoe sorgten für die Bedienung und die Sauberkeit im Haus. Noch hatten sie das Geschäft nur träge ans Laufen gebracht, aber es wurde besser.
Darren bekam einen Brief von Tom O’Neill, in dem er Fotos fand, die Tadhg über dem Sprung und bei der Siegerehrung zeigten. Liam saß im Sattel und grinste in die Kamera. In dem Brief stand, dass Darren sich keine Sorgen machen solle, Liam hätte ihn zu sich geholt und trainierte ihn. Nachdem sein Vater überraschend gestorben war, hatte er den Pferdehandel aufgegeben und konzentrierte sich auf den Turniersport. Tom schrieb auch, dass Laoise und Liam im nächsten Frühjahr heiraten würden. Wenn das keine guten Nachrichten waren. Darren vermisste sein Pony noch immer schmerzlich, aber es war schön zu hören, dass es ihm gut ging.

An einem Abend im Spätsommer, als es in der Stadt einfach nicht kühler werden wollte, war im Triangle so viel zu tun, als stünden alle kurz vor dem Austrocknungstod und Kieran sprang helfend ein, obwohl es sein freier Abend war. Zunächst war er nur als Gast hereingekommen. Er saß an der kurzen Seite der Theke, trug den schwarzen Anzug ohne Jackett und ein weißes Hemd, die Krawatte, gesponsert von Guinness, lag zusammengefaltet neben ihm. Die hatte er stets in der Hosentasche dabei. Diesen Teil der Theke bevorzugte er, weil man dort den Lufthauch des Ventilators abbekam und er in Ruhe seine Irish Independent lesen konnte. Weil es so heiß war, hatte er bereits sein drittes Pint Guinness intus und versuchte etwas langsamer zu trinken, weil er sonst hinter der Theke keine Hilfe mehr war, wenn Scott ihn fragte, ob er einspringen könne. Scott und Matt zapften, Jenny nahm zwei der Krüge entgegen, stellte sie auf ihr Tablett, auf dem sie nasse Servietten ausgelegt hatte, um die Gläser am Rutschen zu hindern. Stand Wasser auf dem Tablett, waren die Gläser durch nichts anderes aufzuhalten.
Sie trug das Tablett an einen Tisch, begrüßte einen Gast und sprach kurz mit ihm, bevor sie zurück an die Arbeit ging. Die anderen Mitarbeiter hatten die hinteren Tische übernommen. Von dem Mann, der sich zu ihm an die Theke setzte und bei Nummer eins ein Guinness bestellte, hatte er zunächst den Eindruck, als sei er im Triangle fehl am Platze und wusste auch sofort, was ihn auf diesen Gedanken brachte. Nach außen war er ruhig und freundlich, fragte, ob der Platz frei sei und Kieran sagte: „Klar, setzen sie sich“, aber er war auf dem Sprung, innerlich angespannt. Das kannte Kieran von allen Provos in der Öffentlichkeit, aber es war äußerst unwahrscheinlich, dass er einen Waffenbruder neben sich sitzen hatte. Er sah nicht irisch aus. Von Scott hatte er gelernt, die Leute in Ruhe zu lassen (so, wie er in Ruhe gelassen werden wollte), ohne dabei unhöflich zu wirken. Das war wirklich eine Kunst für sich.
Der Mann war hager und groß, trug ein schwarzes T-Shirt und blue jeans, suchte das lose Geld für das Bier aus seiner Hosentasche zusammen. Keine Brieftasche. Er hatte nur den Autoschlüssel vor sich liegen, auf seinen kräftigen Armen waren Tattoos zu erkennen, die ihn zusammen mit der Kleidung jünger aussehen ließen. Er war wachsam, drehte sich ab und zu in den Raum hinein und checkte die Gesichter der Leute, die ihn nicht beachteten. Wohlmöglich wartete er nur auf jemanden. In Belfast sahen Männer sich so um, wenn sie befürchteten, dass jemand mit einem Gewehr hineinstürmen könnte, aber nicht in Boston. In Boston wartete man auf eine Frau oder auf etwas anderes.
Kieran legte die Zeitung beiseite, leerte das Glas und hatte schon wieder vergessen, dass er es langsamer angehen lassen wollte. Er hob nur das Glas in Scotts Richtung und bekam das nächste hingestellt.
„Was sagen die Nachrichten aus der Heimat?“, fragte Nummer ein.
Kieran machte eine hilflose abwertende Geste. „Nix Neues. Politik überschattet alles andere, aber so ist es ja immer. Die sagen einem nicht die Wahrheit. Sag bescheid, wenn ich helfen soll.“
Nummer eins nickte.

„Seit wann sind sie von der Insel weg?“, fragte der Mann mit den Tattoos neben ihm. Kieran war noch immer nicht in der Lage, die verschiedenen Dialekte auseinander zuhalten, konnte nur hören, wenn jemand nicht aus Boston kam. Sein Sitznachbar klang nach einer anderen Gegend.
„Seid ein paar Monaten“, sagte er, „und ich find mich noch immer nicht zurecht. Ich kann mit dem Geld nicht umgehen, meine Frau fährt besser Auto als ich, und wenn ich zu reden anfange, sehen mich die meisten erst mal ernst an und tun so, als würden sie mich nicht verstehen.“ Kieran machte eine Geste mit Händen und Schultern, als könne er es nicht begreifen, dass niemand seinen Dialekt verstand.
„Ich kann sie jetzt ganz gut verstehen.“
„Das liegt daran, weil ich mir Mühe gebe.“ Er hob sein Glas auf Augenhöhe und begann in dem Tonfall, über den er sich noch nie in seinem Leben Gedanken gemacht hatte, bis zu dem Zeitpunkt, als er in New York aus dem Flugzeug gestiegen und bei der Zollabfertigung die ersten Fragen beantwortet hatte. Es war früher nützlich gewesen, den langen nordirischen Dialekt ablegen zu können, aber das irisch hatte er nie unterdrücken können. „So spricht bei uns jeder. Man hört es an jeder Straßenecke und in jedem Pub und hier haben alle Probleme damit. Niemand weiß, was ich meine, wenn ich ‚bloke’

sage oder eine ‚Fag’

haben will.“
Sein gegenüber hob grinsend die Augenbrauen, versuchte etwas zu verstehen mit seinen amerikanischen Ohren und musste über diesen Versuch noch mehr grinsen.
„Ich muss mich so darauf konzentrieren, dass ich verstanden werde, dass ich in meinen Ohren vollkommen verblödet klinge.“
„Kieran“, rief Scott von der Theke und er nickte zu ihm hinüber.
„Ich dachte, es wäre besser, wenn ich in einem irischen Pub arbeite, aber dieses irisch-amerikanische Gemisch ist noch schlimmer, weil sich niemand mehr daran erinnert, wie es in Irland wirklich ist.“
Der Mann hob sein Glas und sie stießen an. Kieran machte eine Kopfbewegung zur anderen Seite der Theke hinüber.
„Die Pflicht ruft.“
Er legte sich die Krawatte um und begann seinen Dienst. Er zapfte, räumte Tisch ab, lief unablässig hin und her und Jenny fragte in einer ruhigen Minute, ob seine Frau nichts dagegen habe, wenn er an seinem freien Abend nicht zu Hause war.
„Sie hat eine Party organisiert“, sagte Kieran, überlegte und fügte hinzu: „Irgendetwas hat das mit Plastikdosen zu tun.“
Jenny lachte und erwiderte, dass jeder Mann in dieser Situation geflüchtet wäre.

Während er ein paar Guinness zapfte und das Schlabberbier in Krüge füllte, musste er einige Sekunden unterbrechen, weil er weiße Blitze vor den Augen hatte, Vorboten des stechenden Kopfschmerzes, der ihn für Stunden lähmen konnte, wenn es ihm nicht gelang, ihn abzublocken.
Meist konnte er das Schlimmste verhindern, wenn er die Augen schloss und für einen Moment ruhig durchatmete. Dafür ging er vor die Tür, lauschte dem fernen Stadtverkehr und versuchte sich zu entspannen. Er kam zurück, Scott sah ihn fragend an und er zeigte ihm den nach oben gerichteten Daumen. Er konnte bis zur Sperrstunde weiterarbeiten, stellte dann müde die Stühle hoch und sammelte die letzten herumstehenden Gläser ein, während Jenny und Nummer eins an der Theke standen und mit den letzten beiden Gästen plauderten. Mit einem Ohr hörte er, wie sie den Mann, der bei ihm an der Theke gesessen hatte, zu einem Besuch in das Restaurant um die Ecke zu überreden versuchten. Das Restaurant hatte sich auf die Nachtschwärmer aus den umliegenden Bars und Discos spezialisiert und bot die ganze Nacht bis in den frühen Morgen gutes Essen zu erschwinglichen Preisen an. Schließlich sagte er zu und Jennys Freundin, mit der sie die ganze Zeit herumgealbert hatte, griff ihn am Arm und zog ihn von seinem Barhocker. Nummer eins kämmte sich sehr sorgfältig das Haar, wechselte das Hemd hinter der Theke stehend und dachte laut darüber nach, was er alles essen würde nach so einem hektischen Tag. Scott rechnete die Kasse ab und rauchte dabei seine letzte Zigarette.
„Kommst du noch mit, Boss?“, fragte Jenny, „wir gehen was essen.“
„Nein, ich mach mich direkt auf den Heimweg.“
Jenny drehte sich zu Kieran herum, der aus dem Stauraum herauskam, wo er ein paar Kartons mit Gläsern weggeräumt hatte. Wie immer, wenn er sich unbeobachtet fühlte, sang er halblaut irische Songs vor sich hin, verstummte aber sofort, wenn er die Augenpaare auf sich spürte.
„Was ist mit dir, Kieran? Isst du noch was mit uns?“
Ceart go leor

“, sagte er und Jenny erwiderte grinsend: „Iontach

.“

Sie ergatterten einen der großen runden Tische in dem late nite und Kieran saß zwischen Jenny und dem tätowierten Mann, der einen missmutigen Eindruck machte und nicht viel sprach. Sie gaben ihre Bestellung auf und Jenny deutete einmal in die Runde wie bei einem Kinderabzählreim.
„Jenny“, sie deutete auf sich, „Matt, der zweite Chef im Triangle, Muriel, eine alte Freundin von mir und Studienkollegin, Rick, irgendwie mit Muriel verwandt, Kieran, unser Originalimport aus Irland.“
Sie waren eine fröhliche kleine Runde, aßen und lachten und erzählten sich lange und kurzweilige Geschichten. Rick und Kieran tauschten die Teller, als sie sahen, dass sie sich die falschen Gerichte ausgesucht hatten, und verbrachten die nächsten zwei Stunden damit, sich gegenseitig den nächsten Drink auszugeben.
„Muriel hat mich zu diesem Treffen gezwungen“, sagte Rick, „sie ist hier an die Uni gewechselt und wollte sich mit mir treffen, wenn ich Zeit hätte. Sie ist meine Stiefschwester.“ Er nahm ein Stück Karotte von seinem Teller, betrachtete sie zwischen seinen Fingern und legte sie auf der Serviette ab. „Eigentlich bin ich nur hier, um mal wieder was von Boston zu sehen. Mein Boss schickt mich immer wieder durch ganz Florida, um ein paar Sachen zu erledigen. Und ich hasse es. Ich war immer auf eigener Faust unterwegs und nichts macht mich wütender als durch die Gegend geschickt zu werden. Wenn ich meine Frau zu Hause anrufe, höre ich die Kinder im Hintergrund ich wünsche mir jedes Mal, ich könnte sofort umdrehen und nach Hause fahren.“
Nach dem Essen verzogen sich die Mädchen auf die Toilette, um ein paar vertrauliche Dinge bereden zu können und Kieran ging an die kleine Bar hinüber, fragte nach einem Telefon. Er rief Moira an, um ihr zu sagen, dass alles in Ordnung war und er nur etwas später nach Hause kam. Ihre Tupperparty war sicher seid Stunden vorbei und gewöhnlich wartete sie auf ihn, bis er nach Hause kam. Er sprach auf Gälisch mit ihr, sagte, sie solle schlafen gehen und ja nicht auf ihn warten. Als er auflegte, stand Rick neben ihm, hatte sich einen Wodka geordert und murmelte aus dem Mundwinkel: „Jeez, bin ich froh, wenn ich hier wieder wegkomme. So ’ne Aufeinanderhockerei macht mich wahnsinnig.“
Rick drehte den Kopf, tastete nach einer tiefen Narbe über seiner Stirn, die Kieran bisher nicht bemerkt hatte. Da hatten sie etwas gemeinsam und dieser Gedanke beunruhigte ihn seltsamerweise.
„Wo sind sie zu Hause?“, fragte Kieran.
Der Barmann sah ihn fragend an, ob er etwas bestellen wollte, aber er schüttelte den Kopf.
„Zurzeit sind wir in Florida, kann sich aber bald ändern. Ich muss nach New Mexico und ein paar Dinge erledigen. Danach würde ich gerne nach Maine zurück, wegen meiner Frau. Sie kommt aus der Ecke.“ Er hob sein Glas. „Einen auf den Weg?“
Kieran nickte ergeben. Konnte nicht schaden. Sie stießen an, einigten sich auf eine formlose Anrede und darauf, dass sie nicht mehr an den runden Tisch zurückgingen.
„Wieso hast du Irland verlassen?“
Die verbotene Frage, dachte Kieran.
„Das war nicht freiwillig. Ich bin in Dublin neben einem Guinnessfass eingeschlafen. Du weißt doch, was immer wieder mit Äffchen und Riesenspinnen aus dem Chiquitaland passiert, sie verstecken sich in den Bananenstauden und landen irgendwo in einem Supermarkt in der Obsttheke. Als ich aufgewacht bin, saß ich im Keller des Triangle und wusste nicht, wie ich wieder nach Hause kommen sollte.“
„Wirklich?“
„Kannste mir glauben.“
Trotz des Essens als Grundlage waren sie mittlerweile beide abgefüllt genug, um alles komisch zu finden, und nur, weil sie über fast alles gesprochen hatten, wagte Kieran nach der Narbe zu fragen. Endlich konnte er mal jemanden nach einer Kopfverletzung fragen und musste nicht selbst neugierige Fragen beantworten. Ricks Antwort war nicht ganz so, wie er erwartet hatte. Es gab Ausnahmen in der oberflächlichen Schönfärberei.
„Das ist ’ne sehr lange Geschichte“, sagte Rick, „aber die wirst du nicht hören wollen. Ich stecke schon seid Ewigkeiten in Schwierigkeiten, so etwa seit der Eiszeit, mit allem Drum und Dran. Ich hab mich mit einem angelegt, den ich besser in Ruhe gelassen hätte und er hat mir den Schädel geknackt. Das ging verdammt schnell und ich hab noch heute was davon.“
Kieran dachte zum ersten Mal darüber nach, wie viele Menschen es doch gab, die einen zweiten Geburtstag feiern konnten. Er wagte nicht nachzufragen, wie es zu der Verletzung gekommen war, es schien offensichtlich, dass es weder im Golfclub noch bei den Rotariern passiert war. Er sah zu den anderen am Tisch hinüber. Die schienen sie nicht zu vermissen, nur Ricks Schwester Muriel warf ihm beleidigte Blicke zu.
„Es weiß hier niemand“, begann Kieran, „aber ich bin nicht aus Dublin oder Cork oder was immer die Leute denken, wo alle Iren herkommen. Ich bin lange in Belfast gewesen und ich bin im Grenzgebiet von Nordirland aufgewachsen. Dort zu leben ist mit nichts anderem vergleichbar. Bei uns wachsen die Kinder in einer Welt auf, in der sie lernen, niemandem zu vertrauen, nicht einmal der Garda. Es gibt eine Geschichte, die mein Dad mir erzählt hat. Ein Polizist greift eines Morgens einen Jungen auf, der auf der Landstraße marschiert. Er müsste eigentlich in der Schule sein, deshalb beginnt er ihn auszufragen, aber der Junge sagt keinen Ton. Er ist etwa sieben Jahre alt, schient aber weder seinen Namen noch seine Adresse zu kennen. Nach einiger Zeit holen sie den Lehrer der örtlichen Schule auf die Wache, weil sie hoffen, er könne den Jungen identifizieren. Der Lehrer kannte den Jungen, erlebte im Ort und ging bei ihm zur Schule. Er unterhielt sich plötzlich ganz normal mit dem Lehrer. Er hatte dem Polizisten nur nicht geantwortet, weil er wusste, dass er mit niemandem sprechen durfte – mit keinem Fremden und mit keinem Polizisten. Das normale Misstrauen im Grenzgebiet. Das ist mein Irland. In Belfast haben sie uns mehr als einmal mit MGs hinterher geschossen, haben uns die Möbel aus dem Fenster geworfen und viele von meinen alten Freunden hat’s auf den Dächern der Stadt und in Pubs erwischt. Deshalb bin ich mit meiner Familie von dort weggegangen.“
„Das war das Beste, was du tun konntest.“
Längst hatten sie die Barhocker näher zusammengeschoben, hockten mit krummen Rücken und den Ellenbogen auf der Theke nebeneinander, sorgten so dafür, dass niemand etwas von ihrem Gespräch mitbekam.
„Sie haben auf mich geschossen“, sagte Kieran, „protestantische Extremisten. Sie haben in unserem Garten auf mich gewartet. Ich war gezwungen, meine Familie von dort wegzubringen.“

Sie waren in der seltsamen Situation, endlich einmal über diese Dinge sprechen zu können, ohne jemandem gegenüberzusitzen, der das alles nicht nachvollziehen konnte. Was Rick erzählte, erzählte er noch lange nicht jedem, das war klar, wenn sich ihre Wege nie wieder kreuzen würden, war es in Ordnung. Jetzt konnten sie darüber sprechen wie alte Freunde.
„Ich arbeite für einen Mann“, sagte Rick, machte dabei eine vage Handbewegung, die ausdrücken sollte, dass nicht jeder seine Tätigkeit als Arbeit bezeichnen würde, „der es in jeder Situation darauf anlegt, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, und wenn man das eine Weile mitgemacht hat, verliert es seinen Reiz. Irgendwann weiß man nicht mehr, ob man agiert oder reagiert.“
„Das ist genau die Art, wie es in Belfast läuft. Es ist praktisch unmöglich, aus diesem Kreislauf auszubrechen. Das Karfreitagsabkommen wird daran nicht wirklich etwas ändern.“
Sie bestellten die nächste Runde, diesmal allerdings Wasser und Eis, um noch irgendwie heil nach Hause zu kommen. Mit einem Blick zurück an den Tisch sagte Rick: „Muriel ist sauer. Soll sie. Das Einzige, worüber sie reden will, ist die Familie, und darüber diskutier ich nicht mehr.“
Kieran wagte keinen Blick auf die Uhr. Wenn sie weiter festsaßen, würde er im Morgengrauen nach Hause kommen.
„Wir sind beide geflüchtet“, bemerkte Rick, „das ist schon komisch, aber du bist wirklich weit gekommen. Ich hoffe, du kannst dem wirklich entkommen, und es läuft nicht so wie bei mir. Ich konnte nicht weit genug weg, um alles wirklich hinter mir zu lassen. Nachdem ich aus dem Knast gekommen bin, hat’s nicht lange gedauert und ich war wieder drin in dem Verein.“
Hinter der Theke ließ der Barmann eine Flasche fallen und sie zuckten beide zusammen, jeder dachte in seiner Version an einen Angriff. Als es klar war, dass es nur eine leere Flasche gewesen war, entspannten sie sich wieder und gingen grinsend darüber hinweg.
„Eins würde mich mal interessieren“, sagte Rick, „warst du auch einer von den Extremisten? Hast du auch an Bomben gebastelt?“
„Was wisst ihr hier schon davon. Ihr habt euch diesen lächerlichen Film mit Harrison Ford und Brad Pitt angesehen ...“
„Lächerlich?“
„Du glaubst ja wohl nicht, dass das auch nur im Entferntesten ein irischer Akzent gewesen ist, geschweige denn ein nordirischer. Ihr seht euch Hollywoodfilme an und habt keine Ahnung, wie’s wirklich ist.“
„Heißt das ja?“
Sie sahen sich lauernd an, bis Kieran ein Auge zukniff, als sei er von einem Lichtstrahl geblendet worden und antwortete: „Das kann ich dir nicht beantworten, Cara. Das geht über mein Schweigegelübde hinaus.“
„Und du konntest das alles einfach hinter dir lassen und vergessen?“
„Klar“, sagte Kieran, „ich bin irischer Republikaner und kein triebgesteuerter Massenmörder.“
Rick überlegte laut: „Vielleicht hätte ich eine Chance gehabt, wenn ich nach Irland abgehauen wäre.“

Ebenso lange redeten sie über ihre Frauen und Kinder, aber sie kamen nicht auf die Idee, sie einmal zusammenzubringen. Das hätten ihre Weiber ausgehandelt, aber nicht sie. Rick kam aus dem Gekicher nicht mehr heraus, als er versuchte, Kierans Akzent nachzuahmen, es immer wieder versuchte und dann doch die Betonung und Aussprache nicht hinbekam. Im Gegenzug wollte er Kieran einen spanischen Satz beibringen und der weigerte sich mit Händen und Füßen, es auch nur zu versuchen.
„Ich hatte schon lange nicht mehr einen so guten Abend“, sagte Rick irgendwann, „das fehlt mir in Florida wirklich. Ich hab meine Familie, aber manchmal lässt sich eine Freundschaft nicht ersetzen.“ Er rieb sich durch das Gesicht, seine Finger fühlten sich taub und klamm an, aber möglicherweise war das auch sein Gesicht, was langsam gefühllos wurde. Er war nicht mehr im Training. Es schien Jahrhunderte her zu sein, als er das letzte Mal eine Nacht in einer Bar verbracht hatte. Etwas an dem Iren war seltsam, er verbarg ein großes Geheimnis und es kribbelte in ihm, an der Oberfläche zu kratzen. Viel wusste er nicht über Irland, aber es mochte reichen, zusammen mit den Dingen, die Kieran erzählt hatte.
„Manchmal glaube ich“, begann er erneut, „ich muss erst einer terroristischen Vereinigung beitreten, um wieder ein paar wirklich gute Freunde zu finden.“
Kieran zuckte unmerklich zusammen, was Rick sehr genau registrierte und er sofort wusste, dass er doch ins Schwarze getroffen hatte mit seiner Vermutung. Er ließ es darauf beruhen, zufrieden mit sich, dass er es noch immer konnte, und widerstand der Versuchung, noch tiefer zu graben.
„Du hättest eine irischere Kneipe finden können in Boston als das Triangle“, sagte er, „aber die Leute dort scheinen nett zu sein.“
„Das sind sie. Ich arbeite an der Bar an ein paar Abenden in der Woche. Man hält sich damit gerade so über Wasser, aber meine Frau hat einen guten Job im Krankenhaus bekommen. Wir kommen so durch, wenn wir auch keine großen Sprünge machen können.“
„Habt ihr euch verschlechtert, seit ihr hier seid?“
Darüber versuchte Kieran nachzudenken, das fiel ihm mittlerweile wirklich schwer.
„N festen Job hatte ich da auch nicht“, sagte er, „aber wir hatten ein eigenes Haus und ein Stück Land, das war schon etwas anderes. Wenn kein Geld fürs Benzin übrig war, bin ich zu Fuß gegangen, oder irgendeiner hat mich per Anhalter mitgenommen. Irland ist ein sehr kleines Land.“
Matt gesellte sich zu ihnen. Die Mädchen waren bereits gegangen, hatten sich ein Taxi bestellt.
„Sie war beleidigt“, sagte er an Rick gewandt, „sie sagte, du hättest dich kein bisschen geändert.“
„Sie hat mich angerufen“, betonte Rick, legte eine Hand auf seine Brust, sein Handrücken war schmal, vernarbt, die Finger schlank. Geboxt hatte er mit diesen Händen nicht.
„Sie wollte mich sehen und dann schleppt sie mich durch die Gegend wie bei einem Klassentreffen. Soll sie ruhig angepisst sein.“ Er machte eine Winke-Winke-Geste Richtung Tür. „Und sie weiß ganz genau, was ich angestellt hätte, wenn ich mich nicht geändert hätte.“
„Ich verschwinde jetzt“, sagte Matt, „wir sehn uns.“
Rick sah auf die Uhr. „Ich leg mich noch was schlafen und dann fahr ich nach Hause. Ein Glück, dass Muriel nicht weiß, wo ich meinen Wagen abgestellt hab, sonst würde sie mich noch zur Rede stellen und es ausdiskutieren wollen.“ Er verdrehte die Augen.
Vor der Tür standen sie noch kurz zusammen, bevor jeder in seine Richtung verschwand. Es schien nur noch Minuten zu dauern, bis die Sonne aufgehen würde. Rick marschierte als Erster davon, sein Gang war etwas unsicher, aber ansonsten verriet nichts an ihm, dass er stundenlang gesoffen hatte.
„Schaffst du’s nach Hause?“, fragte Matt und Kieran nickte.
„Worüber habt ich euch so lange unterhalten?“
„Er hat erzählt, dass er jeden vierten Juli an die Wand der britischen Botschaft pinkelt“, sagte Kieran, „und das haben wir dann vertieft.“

In der Schule hatte Darren weniger Schwierigkeiten, als sie befürchtet hatten und er war der Erste, der den neuen Lebensstil annahm und sich benahm, als habe es nie etwas anderes gegeben. Manchmal besuchte er Kieran im Triangle, wo er mit einer Limo an der Bar saß, mit den Beinen baumelte und Jenny von seinem Pony zu Hause erzählte.
„Er hat den Schock überwunden“, sagte Kieran, „wenn wir ihm vor der Abreise erzählt hätten, dass wir nicht zurückkommen, hätten wir ihn nicht ins Flugzeug bekommen. Er ist uns schon mal durchgebrannt und wir haben zwei Tage lang nach ihm gesucht. Er wollte nach Connemara.“
Daid

?“, rief Darren, ein Ausdruck, der Jenny immer zum Lächeln brachte, „darf ich mir ein Eis holen?“
Es war für Kieran noch immer die wahre Freude, ihn flüssig und verständlich sprechen zu hören, dass er ihm praktisch keinen Wunsch abschlagen konnte und Moira ging es genauso. Ihr Familienleben war harmonisch und ruhig, sie gingen selten aus, verbrachten die Abende und Wochenenden gemeinsam zu Hause.
Kieran und Moira sprachen sehr vorsichtig darüber, Darren irgendwann die Wahrheit über den Überfall und daraus resultierend die Auswanderung zu erzählen, aber Kieran hatte Sorgen, dass er es nicht verstehen würde.
„Wir haben ihn aus Nordirland rausgebracht“, sagte Kieran, „gerade noch rechtzeitig, und ich will ihm jetzt nicht wieder mit den alten Geschichten das Leben schwer machen.“
An einem Abend, als sie wieder darüber sprachen, ob sie die Vergangenheit ruhen oder aufleben lassen sollten, fiel ihm das Gespräch mit Rick aus Florida wieder ein und er dachte, dass er etwas unternehmen musste. Er hatte das alles nicht umsonst durchgemacht, um nur noch in einer Bar den Aushilfskellner zu spielen – in einer spontanen Entscheidung machte er ein Telefonat nach New York und sprach lange mit Father Judge.
„Du könntest vielen unserer Jungs helfen“, sagte Father Judge. Kieran dachte darüber nach. Keine Frage, wer mit den Jungs gemeint war.
„Ich helfe, wo ich kann“, sagte er, „aber ich werde nicht da weitermachen, wo ich in Irland aufgehört habe. Es geht mir darum, dafür zu arbeiten, dass die Kämpfe aufhören.“
„Treffen wir uns“, sagte Father Judge.

Der Herbst in Boston war atemberaubend. Um so härter traf sie der Winter mit eisigen Temperaturen und Schneefall, den sie noch nie erlebt hatten. Im irischen Winter holte man nicht einmal die Kühe in den Stall und jetzt waren sie mit Eisstürmen und Schneeverwehungen konfrontiert. Darren war nur noch begeistert davon, aber Kieran ging es bei diesen Temperaturen schlagartig schlechter. Er hatte ernst zu nehmende Aussetzer und konnte eines Morgens nach dem Aufwachen auf dem linken Auge nichts mehr sehen. Es besserte sich nach Stunden und er erzählte Moira nichts davon. Es lief alles so gut, dass er ihr damit keine Sorgen bereiten wollte. Erst, als er während des Mittagessens, als es Nudeln und Fleisch gab, die Gabel beiseitelegte, grau im Gesicht wurde und nicht mehr reagierte, wusste sie, was los war und brachte ihn in die Notaufnahme. Ihren Kolleginnen, die sie dort traf, sagte sie nur etwas von einem Anfall und wartete unruhig auf die Untersuchung. Der Arzt in der Notaufnahme, der Kieran untersuchte, konnte nichts feststellen, da sich sein Zustand bereits auf dem Weg ins Krankenhaus wieder gebessert hatte und auch Kieran wiegelte ab, wollte nur wieder nach Hause. Nach dem Röntgenbild, das sie von ihm machten, wollte irgendein Experte mit ihm sprechen und Kieran fluchte in sich hinein.
Sie saßen bei diesem Experten im Büro, hatten die Plastikstühle zusammengeschoben und Kieran hatte Moiras Hand ergriffen und hielt sie fest. Sie war ruhig und gefasst, schließlich gab es kaum etwas, was der Experte ihnen erzählen konnte und sie nicht schon wussten.
„Wir haben auf dem Röntgenbild etwas in ihrem Schädel entdeckt“, begann der Arzt, der offensichtlich nicht genau wusste, wie er die Sache anders angehen sollte. Er spielte die ganze Zeit mit seinem Kugelschreiber herum.
„Ich habe irgendetwas in meinem Schädel? Sie machen Witze.“
Moiras Hand zuckte kurz.
„Auf dem Röntgenbild, Mr. Finnigan, ist es ganz eindeutig zu erkennen, dass ...“ Der Arzt war jung und übermüdet, hatte dunkle Ringe unter den Augen, und trotzdem nahm er sich die Zeit, sich mit den Finnigans zusammenzusetzen und ihnen diese Nachricht zu überbringen. Kieran fand es übertrieben, schließlich war die Kugel nicht dort gelandet, wo sie jetzt war, ohne dass er sie nicht gemerkt hätte und er unterbrach den Mann: „Ich weiß, was da ist. Ich weiß auch, wie es da hingekommen ist, aber deshalb sind wir nicht hier. Ich möchte nur wissen, ob sie uns sagen können, ob diese Anfälle häufiger auftreten werden. Oder Schlimmeres. Wenn sie es nicht sagen können, ist das Gespräch unnötig. Was immer sie auch vorhatten, uns zu berichten.“
„Ich habe solche Bilder bisher nur in der Pathologie gesehen, für mich ist es ein Wunder, dass sie überhaupt lebend vor mir sitzen. Wenn sie Zeit haben, würde ich ihnen später gerne ein paar Fragen stellen. Wie ist das passiert?“
„Nordirische Konfliktlösung“, sagte Kieran und Moiras Hand zuckte wieder.
„Wir können eine Reihe von Untersuchungen durchführen“, sagte der Arzt, „und dann können wir einschätzen, ob es besser wäre, die Kugel zu entfernen oder sie dort zu lassen, wo sie ist. Es liegt an ihnen. Leider können wir nicht auf viele andere Fälle dieser Art zurückgreifen, deshalb würde ich gerne mehr von ihnen erfahren, was Symptome und die Diagnosen meiner Kollegen angeht.“
„Wir sind uns im Klaren darüber, dass ich an dieser Kugel sterben werde“, sagte Kieran, „aber nicht in den nächsten Tagen, Gott steht mir bei. Stellen sie ihre Fragen.“
Diesmal hatte Moiras Hand nicht gezuckt.

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Tag der Veröffentlichung: 28.09.2011

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