Ein Stück aus dem Haus
Rick hatte erst garnicht versucht, der Familie alles zu erklären. Was gab es denn da auch? Er hatte eben nicht auf die Straße geachtet und war in das Auto gelaufen. Trotz seiner anfänglichen Befürchtungen hatte sich die Sache als nicht allzu tragisch herausgestellt. Er war nass bis auf die Haut und sein ohnehin lediertes Bein schmerzte wie wild. Seine Ohren schmerzten vor Kälte, seine Finger waren schon beinahe gefühllos.
Diese Frau schien erst sehr unsicher zu sein, dann schöpfte sie Mut und packte Rick kurzerhand in das Auto auf den Rücksitz.
„Wir wohnen nicht weit von hier“, sagte sie, ihr Mann warf ihr nur einen Blick zu und Rick befürchtete schon, als er auf dem Rücksitz saß, dass er einen handfesten Ehekrach auslösen würde.
Es schneite noch immer sehr heftig, die weißen Flocken waren naß und schwer. Rick hatte den größten Teil von ihnen in seinem Haar kleben. Er würde wieder krank werden, so wie letzten Winter.
„War meine Schuld“, sagte Rick schwach, „hätte besser aufpassen sollen.“
„Reden sie keinen Unsinn“, sagte der Mann energisch, „ich habe die Heizung ganz aufgedreht. Sie dürfen sich nicht die Schuld an diesem kleinen Unfall geben. Es hätte schlimmer kommen können.“
Rick sagte es nicht, aber er bezweifelte es. Es war ihm schon zu viel passiert, als dass es noch schlimmer kommen könnte in seinem Leben.
„Ich habe sie hier noch nie gesehen in Cooliz Bay.“
Zuerst wollte Rick die Frage der Frau nicht beantworten, doch dann fühlte er, wie ein warmer Luftstrom seine Füße durch die nassen Stiefel erreichte, und seine Ohren und Hände zu schmerzen aufhörten. Das besänftigte ihn etwas.
„ich war auch noch nie hier“, sagte er schleppend, seine Kehle war trocken wie die Sahara, „bin heute morgen erst mit dem Linienbus angekommen.“
„Sind sie geschäftlich hier in Cooliz Bay?“ fragte der Mann.
Oh, natürlich, Sir. Ohne Gepäck, naß bis auf die Knochen, ohne Geld, ohne Papiere…
„Nein, ich muß weiter nach Bouldree. Ich besuche dort meinen Bruder. Meinen Bruder Hollis.“
Hollis, alter Junge, bin in einem Nest zehn Meilen von deinem Wohnsitz entfernt hängengeblieben – an einer Autostoßstange …
„Die Busverbindung hier ist wirklich schlecht“, gab die Frau zu, lenkte den Wagen vorsichtig in eine Einfahrt. Rick konnte in dem Schneegestöber undeutlich die Umrisse eines großen Hauses sehen. Es war kein Haus – es war eine Villa. Prunkstück.
Irgendwo in der Nähe konnte Rick einen Hund bellen hören. Klang scharf, vermutlich einer dieser abgerichteten Riesenviecher mit Zahnreihen wie Sägeblätter.
Der Motor blubberte aus und als erstes stieg die Frau aus. Rick scheute sich etwas davor, wieder zurück in die Kälte zu müssen, aber es würde ja nicht für lange sein. Vor dem Haus war das Bellen des Hundes lauter geworden.
„Trevor, geh bitte vor und halte den Hund zurück“, sagte die Frau und Rick wußte, daß es ein reiner Wachhund war. Sonst hätte sie den Köter nicht mit „den Hund“ betitelt.
„Haben sie Angst vor Hunde,“ fragte die Frau, als sie den Wagen abschloß und Rick sein krankes Bein entlasten mußte, um den Schmerz erträglicher werden zu lassen.
„Nein“, sagte er wahrheitsgemäß. Zwar hatte er sich mal mit einem scharfen Hund angelegt, und er würde es nicht wieder tun, aber deshalb hatte er keine Angst.
„Wir haben uns schon vor Jahren einen Wachhund haben anschaffen müssen, denn damals war diese Gegend hier – nun, sagen wir – etwas unsicher. Er gehorcht meinem Mann aufs Wort – er wird ihnen nichts tun. Sie dürfen nur nicht versuchen, ihn anzufassen.“
Ich weiß schon bescheid, dachte Rick, so geht’s mir doch auch. Nur, daß ich nie aufs Wort gehorche.
Es war ein Brocken von Hund. Mindestens so breit wie hoch, bestand nur aus Muskeln und Zähnen. Ein wenig verschreckte das Vieh Rick doch und er blieb zögernd in der Eingangshalle stehen. Der Hund war ein Dobermann, der wegen seiner unglaublichen Muskelpakete nicht ganz dem Standart entsprach. Er sah mordsgefährlich aus. Der Mann sah, wie der Hund sich auf Rick zubewegen wollte, und sagte sofort mit leiser Stimme: „Sitz und still, Frank.“
Augenblicklich verlor der Hund scheinbar das Interesse an Rick, worüber der mehr als erfreut war.
„Ich werde sofort eines der Gästezimmer für sie herrichten lassen“, sagte die Frau, und Rick störte es überhaupt nicht, die Namen der beiden nicht zu wissen. Er dachte nicht daran, sich vorzustellen.
„Gästezimmer“ hörte sich scheußlich an, und „herrichten lassen“ war genau so schlimm. Rick hatte eine Abneigung gegen Menschen, die nichts mehr allein konnten. Sie stellten sich als Mr. und Mrs. Vareen vor und Rick gab nur seinen Vornamen zur Auskunft. Er mochte es nicht, wenn fremde Leute zu viel von ihm wußten.
Die Hausangestellten schwirrten umher, fragten nach den Wünschen fürs Abendessen und hängten sogar die Mäntel weg. Sein gesundes Bein hätte Rick hergegeben, wenn diese beiden überhaupt wußten, wo der Garderobenschrank stand. Er zog es vor, gleich in das Zimmer zu verschwinden. Mrs. Vareen sagte, sie wolle einen Arzt anrufen, falls etwas mit seinem Bein sein sollte. Rick gab sich gar nicht erst die Mühe, ihr das wieder ausreden zu wollen. Sollte der Arzt ruhig kommen, er wäre nicht der erste, der ihm mit ernst-verkniffenem Gesicht sagen würde: „Mein Junge, mich wundert, daß sie mit diesem Bein überhaupt noch gehen können.“
Wenn es nötig war, brachte Rick sogar noch einen 100-Meter-Spurt zustande. Sein Bein mußte ihn noch ein paar Jahre aushalten, es ging eben nicht anders. Für eine Operation war kein Geld da. So hinkte er die Treppen nach oben hinter dem Mädchen in der hellblauen Schürze her, die sie trug, um nicht mit den Vareens-Hochwohlgeboren verwechselt zu werden. Das Zimmer war äußert groß, hell und freundlich. Eigentlich hatte er in so einem Haus andere Zimmer erwartet, war da aber wohl auf die Eindrücke der Familiensendungen im Fernsehen reingefallen. Keine dunkel-düstere Holztäfelung mit kleinen Gestalten, die sich gegenseitig die Hände zustreckten, die Köpfe zur Seite gedreht, die Füße elegant weggestreckt. Oder kleine fette Engelchen, stolze Heilige und Gekreuzigte, die wild die Augen verdrehten. Rick konnte zuerst mit dem Zimmer nicht viel anfangen. Es war ihm zu neutral, weder besonders sympatisch, noch besonders abstoßend. Das gefiel ihm nicht. Neutralität erschreckte ihn immer etwas, das Unvermögen, eine Stellung oder Meinung zu beziehen.
Als das Mädchen gegangen war, zog er sich seine nassen Sachen aus. Als er feststellte, daß er sich dann völlig ausziehen mußte, sah er sich nach ein paar trockenen Sachen in den Schränken um. Wenn nichts da war, würde er sich ein Handtuch umhängen, um dem Anspruch in diesem Haus genüge zu tun. Hollis würde diese Geschichte nie im Leben glauben – sein kleiner Bruder bei den sonst so verhassten Bonzen im Haus – und das sogar noch ziemlich friedlich. Nein, das würde er nie im Leben glauben.
Na, vielleicht würde er irgendetwas mitgehen lassen, so wie alle Hotelgäste etwas mitgehen ließen –Handtücher, Aschenbecher, Kopfkissen, Bestecke … Die gerahmten Bilder an der Wand waren ganz hübsch, aber zu sperrig. Lieber etwas kleines. Aber noch machte Rick sich nicht allzuviel Gedanken darum. In einem der Schränke fand er etwas an Kleidung, das ungefähr seiner Größe entsprach. Noch nie im Leben hatte er einen Anzug getragen, und als er in die frische Unterwäsche stieg und immer wieder auf den Anzug stierte, hatte er das Gefühl, ihn nicht mehr tragen zu wollen. Er schob die Entscheidung auf, in dem er seine nassen Sachen im Badezimmer aufhängte. Dort blieb sein Blick an höchst seltsamen Dingen hängen. An einer riesigen Badewanne und Dusche, eine Seite der Badezimmerwand war ganz aus blanken Fliesen, die wie ein verzerrter Spiegel wirkten. Zwei Toiletten, bei denen die eine etwas anders aussah. Als Rick die Spülung betätigte, blubberte ein weicher Wasserstrahl senkrecht nach oben.
„Sachen gibt’s“, murmelte Rick, hatte den Zweck dieses Dinges erkannt, und wenn ihn jemand fragen würde, ob er es benutzt hätte, würde er sagen: Ja, es ist äußerst praktisch. Obwohl man sich zum Haarewaschen ziemlich bücken muß.
Soll ich den Anzug nun anziehen oder nicht? dachte Rick, nahm dann den Anzug aus dem Schrank und zog ihn vom Bügel. Vielleicht sah es ja garnicht schlecht aus. Er stieg in die Hose, hatte dabei Schwierigkeiten mit seinem Bein, und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. Im letzten Moment fing er sich und zog die Jacke über. Das sah ja schlimm aus. Als er sich in der verglasten Innenseite der Schranktür betrachtete, merkte er, dass er das Hemd vergessen hatte.
Kein Wunder, dass das so seltsam ausgesehen hatte. Als er im Schrank danach suchte, fand er ein einsames weißes Hemd, noch verpackt. Wenn dieser Trevor eines seiner Hemden geopfert hatte, dann würde es ganz sicher nicht passen. Er würde drin ertrinken. Als er es überzog, in die Hose stopfte, und die Jacke wieder drüberzog, passte es doch ganz gut.
Na also, Prinz Charles in Person. Nur die passenden Schuhe waren nicht dabei. Würden seine ausgetretenen Stiefel herhalten müssen. Sehr wohl fühlte er sich nicht in diesem Aufzug. Die Krawatte hatte er ganz weggelassen, weil er nicht mit dem Knoten zurechtgekommen wäre.
Ganz fein sehen sie aus, Sir, sagte er in Gedanken zu seinem Spiegelbild, zog dann die Jacke wieder aus, weil sie zu unbequem wurde. Irgendwann legte er sich quer auf das Bett, verfolgte müde eine Verwechslungskomödie im Fernsehen und schlief schließlich ein.
Er hatte von diesem Köter Frank geträumt, war dann gegen Morgen des nächsten Tages aufgewacht. Bis zuletzt hatte er geträumt, der Hund würde ihn durch das Haus hetzen, fing ihn schließlich an einer Ecke ab und verbiss sich in seinem Bein – in seinem kranken Bein. Von diesem Schmerz wachte er auf. Müde richtete er sich in dem Bett auf, und begann den Ausgangspunkt der Schmerzen zu kneten. Es half immer ein wenig, den Schmerz der Nacht wieder loszuwerden, mit dem er sich seid Jahren geweckt wurde. Erst jetzt begriff er, daß er mit dem Anzug eingeschlafen war. Mit schweifenden Blicken durch den Raum suchte er eine Uhr, fand einen kleinen Wecker am Kopfende des Bettes. Es war kurz vor zehn Uhr. Auf einem kleinen Tischchen stand ein Tablett mit einem reichhaltigem Frühstück. Rick probierte von jedem etwas, ein wenig Kaffee, ein wenig Toast, ein wenig Honig, und wenig Wurst. Dann war er wach genug, um aufzustehen. Im Badezimmer war es warm, als ob jemand die Heizung aufgedreht hätte. Vermutlich gehörte das mit zum Service den Gästen gegenüber. Nach Wochen fand Rick wieder Gelegenheit, sich ordentlich zu waschen und rasieren. Seine Kleidung war schon fast wieder trocken, bis auf die Taschen seiner Jeans. Er hängte sie über die Heizung. Der Anzug war zerknittert und ausgebeult. Rick störte sich nicht sehr daran, es war ihm egal. Als er die Stiefel anzog und mit vorsichtigen Schritten sein Bein wieder mehr belastete, fühlte er sich schon wieder besser. Hollis würde sich noch ein paar Tage gedulden können, aber eigentlich könnte er ihn auch anrufen. Rick fand den richtigen Weg nach unten nicht sofort, ging erst in die falsche Richtung, mußte dann wieder zurück. Die breite und lange Treppe nach unten war nichts für sein Bein, aber einen Aufzug schien es nicht zu geben. Unten hörte er die typischen Geräusche eines Frühstücks. Recht fröhliche Familie, und zwischen den Stimmen von Mr. und Mrs. Vareen konnte er eine fremde Stimme hören. Helles, fröhliches Lachen. Es versetzte Rick einen Stich in den Kopf. Was hätte er darum gegeben, in so einer Familie aufwachsen zu können. Hollis hatte den Sprung fast geschafft vor drei Jahren, aber dann … Er wollte nicht mehr daran denken.
Was vorbei war, war vorbei.
Vorsichtig hinkte er die Treppe nach unten, brauchte verflixt lange dazu, sodaß sie auf ihn aufmerksam wurden und jemand geräuschvoll den Stuhl nach hinten schob und mit eiligen Schritten auf ihn zukam. Rick hatte nur einen kleinen Blick von der Treppe und von seinen Füßen gewagt, blieb dann aber stehen und hielt sich mit einer Hand am Treppengeländer fest. Das polierte Holz fühlte sich ungewohnt an, er zog unsicher die Hand zurück. Er starrte sie an, sie stand dort unten an der ersten Stufe und sah mit einem seltsam ernsten Gesicht zu ihm hinauf. Rick wurde ein wenig verlegen und fühlte sich hilflos in dem unordentlichen Aufzug. Sie hatte helles Haar, ein helleres braun, dabei wieder dunkler als das seine. Ihr Gesicht war gewöhnlich für Menschen, die vergeblich ihrer Traumfrau hinterherjagen und nie die Blicke von den Postern und Kinoplakaten nahmen. Sie hatte ein gewöhnliches Gesicht, aber unheimliche Augen. Sie mochte etwa sechzehn Jahre alt sein, klein und zierlich. Fast versöhnte es Rick in seiner Unsicherheit, daß sie eine enge Jeans mit zerrißenem Knie und ein blaues Herrenunterhemd trug. Sie war nicht geschminkt, irgendwo an ihrem Hemd erwartete er einen kleinen „Gegen Tierversuche“ Sticker. Er fand ihn nicht, sicher trug sie ihn im Herzen. Als sich seine Füße wieder in Bewegung setzten, und er ihr langsam näher kam, sah er, daß sie die Augen ihrer Mutter hatte. Noch immer sah sie Rick so seltsam an, als wolle sie ihn bis auf seine Seele durchleuchten.
„Ich heiße Mahelia“, sagte sie schließlich, als Rick auf der letzten Stufe vor ihr stand.
„Ich bin Rick“, antwortete Rick wie mechanisch, seine Gedanken waren ganz woanders. Er mußte Hollis anrufen.
„Ich habe schon von dem kleinen Unfall gehört“, sagte Mahelia, probierte ein kleines Lächeln aus, „hinken sie deshalb?“
Rick warf einen schnellen Blick an ihr vorbei und schüttelte den Kopf.
„Das ist schon länger her“, sagte er und verlagerte das ganze Gewicht auf das gesunde Bein. Scherben überall, entsetzliche Schmerzen, Blut im Gesicht, das Zischen der Schweißgeräte an der Tür, „mein Bein, mein Bein ist eingeklemmt …“
„Ich hatte einen Unfall“, sagte Rick schließlich, es gab keinen vernünftigen Grund, es ihr nicht sagen zu wollen.
„Ich hoffe, sie bleiben ein paar Tage. Es ist furchtbar langweilig in diesem Kaff. Im Umkreis keine einzige Disco.“
Plötzlich war sie verändert. Mahelia sah Rick sehr prüfend und herausfordernd an.
„Ich war noch nie in meinem Leben in einer Disco“, sagte Rick, „und werde auch nie in eine gehen.“
Sie lächelte, zeigte leicht unregelmäßige Zähne. Sicher hatte sie die verhasste Zahnspange nie getragen.
„Dann ist es ja gut. Die Musik in solchen Tanzleichenhäusern ätzen einem jedes Gefühl aus dem Kopf. Es sind überall nurnoch leere Hüllen, die als Menschen herumlaufen.“
Darauf wußte Rick im ersten Moment nichts zu sagen. Er überlegte, ob das wohl von ihr war oder sie es aus einer Zeitung hatte.
„Ich müßte mal dringend telefonieren“, sagte er dann und kam noch die letzte Stufe der Treppe hinunter.
„Aber sicher. Der Apperat steht hier vorne.“ Sie drehte sich um und ging quer durch den Raum zur anderen Seite. In einer kleinen Nische stand das Telefon auf einem anscheinend antiken Tischchen, daneben lag ein Telefonverzeichnis in Leder gebunden. Rick mochte den Geruch von Leder, er atmete tiefer ein, als er sich zu dem Telefon etwas bückte. Als er in Mahelias Alter gewesen war, waren er und Hollis mit Tüten voller Klebstoff zwischen den Rangiergleisen umhergewandert, irre lachend, mehr als einmal über die Gleise fallend. Rick wußte nhicht, ob das die Jugendlichen aus dieser Klasse auch taten, oder ob sie in feinen Cafés Koks durchzogen.
Mahelia schien eine Wiedergeburt eines kleinen Hippiemädchens zu sein, Kopf voll Hasch, mit Blumen in der Hand.
„Wen wollen sie anrufen?“
„Meinen Bruder. Ich war auf dem Weg zu ihm, als ich hier hängenblieb. Er wohnt nicht weit von hier, in Bouldree.“
„Oh, da fahre ich oft hin im Sommer. Das Schwimmbad ist viel schöner als unser langweiliger Swimming-Pool.“
Wieder dieser herausfordernde Blick. Sie war so ganz anders als ihre Eltern. Sie lebte in dieser Welt und wollte gleichzeitig in einer anderen leben. Rick nahm den Hörer ab und begann langsam zu wählen. Er kannte Hollis‘ Nummer auswendig, er hatte sie schon tausend Mal gewählt. Mahelia dachte nicht daran, sich außer Hörweite zu begeben. Sie lehnte sich gegen die Wand und verfolgte Ricks Finger mit aufmerksamen Augen.
„Würdest du mir einen Gefallen tun?“ fragte Rick und sah sie ebenso ernst an wie sie ihn.
„Ich werde nervös, wenn mir jemand beim telefonieren zuhört.“
Sie lächelte, hätte ihn vermutlich für verklemmt gehalten, wenn er es nicht gesagt hätte, und zog sich bis auf die Stufen der breiten Treppe zurück in den Hintergrund. Das Freizeichen ertönte in der Leitung, Rick konnte sich vorstellen, wie Hollis sich aus seinem Bett wühlte und mit mieser Laune nach dem schrillenden Apperat tastete. Dann wurde abgehoben.
„Hallo?“ Es war eine weibliche Stimme, und wenn sie ihren Namen nicht nannte, würde er es auch nicht tun.
„Kann ich Hollis sprechen?“ fragte Rick nur, hörte dann, wie der Hörer abgelegt wurde, und das Mädchen „Hollis, Telefon“ rief. Rick konnte seinen Bruder schon von weitem fluchen und schimpfen hören über diese morgendliche Störung.
„Wer ist denn da?“ Hollis klang wirklich bitterböse.
„Hier ist dein kleiner Bruder, du großes Ekel.“
„Hey, Rick, wo steckst du? Ich hatte dich gestern Abend erwartet. Im Schnee steckengeblieben?“
„So ungefähr. Ich werde wohl ein paar Tage später kommen.“
„Vor einer Woche waren die Alten hier, haben mich ausgequetscht, wo du bist.“
„Was hast du gesagt?“ Der Gedanke an die Eltern war nicht sehr erhebend. Rick warf einen schnellen Blick zu Mahelia, sie verbarg nicht, daß sie ihn beobachtete.
„Hältst du mich für blöde? Ich wußte nicht, wo du steckst. Was macht dein Bein?“
„Wie immer. Ist nicht besser geworden. Erinnerst du dich noch an Mickey?“
„Mickey? Der lange rothaarige, der diese niedliche Schwester hatte?“
„Ja, genau der. Ich hab ihn getroffen, drüben in Whoolten.“
„Der alte Mickey. Hey, wenn du herkommst, und ich bin nicht da, dann steig durch den Keller ein, Okay?“
„Ja, wird gemacht. Ich halte mich hier nicht mehr lange auf. Mach’s gut.“
Rick legte langsam den Hörer zurück auf die Gabel und drehte sich zu Mahelia um – sie war nicht mehr da. Sicher hatte sie irgendetwas besseres zu tun.
Rick hinkte langsam in das große Zimmer, wo die Familie gefrühstückt hatte. Es saß nurnoch Mr. Vareen am Tisch, blätterte noch in der Morgenzeitung, ganz wie die Ehemänner in den Comicstrips. Er sah von seiner Zeitung auf, brummte ein munteres „Guten Morgen“ und wandte sich wieder der Zeitung zu. Etwas linkisch sah Rick sich in dem großen Zimmer um, beobachtete den Riesenköter im Garten, der durch den hohen Schnee jagte und konnte sich vorstellen, wie die ganze Familie im Sommer auf der Terasse frühstückte. Über seine Beobachtungen hinaus hatte Rick sein „Guten Morgen“ vergessen und sagte statt dessen unsicher: „Ich hab gerade meinen Bruder angerufen, und ihm bescheid gesagt, daß ich etwas später kommen werde.“
„Oh?“ machte Mr. Vareen nur abwesend, sah nicht von seiner Zeitung auf. Sofort drehte Rick sich um und verließ den Raum. Er fühlte, wie der alte, unterdrückte Hass auf diese Leute wieder durchkam. Er ging zurück nach oben auf sein Zimmer, um diesen verflixten Anzug auszuziehen. Ob seine Sachen trocken waren oder nicht, er würde sie anziehen und sofort aus diesem Haus verschwinden. Hollis konnte mit so einem Frühstück nicht dienen, aber er verbarg sich nicht hinter den Weltnachrichten.
In seinem Zimmer lag Mahelia in seinem Bett, Jeans und Hemd lagen davor auf dem Fußboden.
Der stahlgraue Linienbus war unbeheizt, Rick hatte den Kragen seiner Jacke hochgeschlagen und die Hände in die Jackentaschen gestopft. Sein Bein pochte ein wenig, aber das war normal. Mahelia neben ihm hatte die beiden Tickets bezahlt, sie trug einen dicken unförmigen Pullover, der ihr bis zu den Knien ging. Mehr hatte sie nicht mitgenommen. Vielleicht würde ihr es eines Tages leid tun, mit Rick gegangen zu sein, aber Hollis würde Augen machen …
Hey, Hollis, das ist Mahelia, das Stück, was ich aus dem Haus hab mitgehen lassen …
[Heute kann ich nicht mehr nachvollziehen, wieso der Hund ausgerechnet "Frank" heißen musste und die Tochter "Mahelia". Die Dialoge sind fürchterlich und es fehlen eindeutig Details, um die nötige Atmosphäre zu erschaffen]
Die Villa auf dem Hügel
Janet war auf dem Weg zu ihren Eltern nach Simmons Mills, einer kleinen sauberen Stadt, wo sie selber ihre ersten achtzehn Lebensjahre verbracht hatte. Seid einem Jahr lebte sie in der Großstadt und besuchte ab und zu ihre Eltern. Nur übers Wochenende und manchmal äußerst widerwillig. Simmons Mills war für Kinder ein wundervolles Städchen, aber für Jugendliche die Ausgeburt einer Hölle, die mit Kirchgängen und guten Manieren strafte.
Janet hatte eine Verkäuferlehre abgeschlossen und war dann weggezogen. Alle Jugendlichen zerstreuten sich in die Winde, nur sehr wenige blieben in dem Städtchen, und dann auch nur, weil sie eine Arbeitsstelle hatten. Der Linienbus fuhr alle zwei Stunden, und Janet hatte den Mittagsbus genommen. In einer kleinen Tasche trug sie ihre benötigten Sachen bei sich, Wäsche und Kleidung zu wechseln, Kosmetika und kleine Geschenke für ihre Eltern. Sie brachte immer irgendetwas mit.
Es war Hochsommer, drückend heiß im Bus und überall waren Fliegen. Draußen flimmerte die Luft vor Hitze und immer wieder warf Janet einen Blick auf die Uhr, um zu sehen, wie lange sie es noch auszuhalten hatte. Seit geraumer Zeit plärrte neben ihr ein kleines Kofferradio, die Musik war eintönig und der Radiomensch gab alle fünf Minuten die Hitzegrade in den Städten an. Es hatte schon zwei Hitzetote gegeben und dreimal waren in parkenden Autos Feuerzeuge explodiert. Die Typen, die zu dem Radio gehörten, waren Janet nicht ganz geheuer. Die beiden waren in Maple Springs zugestiegen, einem kleinen Nest, das zwischen der Route von der Großstadt und Simmons Mills lag. Dieses Nest war nahe daran, auszusterben. Es gab dort keine Schule mehr, die Verwaltung war nach Simmons Mills verlegt worden, selbst die Mehrzahl der Einzelhandelsgeschäfte hatte schließen müssen. Janet mochte dieses Nest nicht, sie war vor Jahren auf einem Schulausflug dorthin von einem Mann angesprochen worden, und er hatte sie beiseite gezogen und dann seinen Mantel geöffnet … Wenn sie heute daran zurückdachte, war es ihr, als erinnere sie sich an einen alten Film. Die Situation war nicht wirklich bedrohlich gewesen, eher unangenehm. Erst später, als sie es ihrer Lehrerin gesagt hatte, und sie ein zu tode erschrecktes Gesicht gezeigt hatte, hatte sie es auch mit der Angst bekommen.
Diese beiden Typen neben ihr, das plärrende Radio, zwei qualmende Zigaretten, trotz der „Nichtraucher“ Schilder überall. Das alles war Janet nicht geheuer und sie wagte kaum, sich zu bewegen. Ab und zu gelang es ihr, sich einzureden, daß die beiden sicher vollkommen harmlos waren, dann aber wieder dieser ekelige Mann aus Maple Springs, wo die beiden sich laut unterhaltend zugestiegen waren … Wieder warf sie einen Blick auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde, dann war die Tortur vorbei.
Hallo Mom, Tag Daddy. Puh, ist das heiß draußen, ich habe euch etwas mitgebracht…
„Und dann sagte er Alte zu mir: ‚Junge, ich könnte dein Vater sein,‘ und versperrte mir den Weg nach draußen. Billy stieß mich an und fing an zu lachen. Scheiße, da konnte ich doch nicht mehr zurück, oder? Der Alte fing sich von mir einen Haken ins Gesicht und einen Tritt in die Eier ein, daß er grün anlief. Er sagte keinen Ton mehr, kannst du dir ja vorstellen. Wir sind dann über ihn drübergestiegen und raus aus dem Bumslokal. Die Alten machten mordsmäßig Terror, weil es schon morgens drei rum war, aber auch egal. Hey, das Stück ist gut, mach mal lauter.“
Der andere, soweit Janet es aus den Augenwinkeln erkennen konnte, schien älter zu sein, sein Haar war heller, er hatte bisher noch nicht viel gesagt. Jetzt drehte er das Radio, das er zwischen seinen Knien geklemmt hatte, etwas lauter, und es schien so, als werde nicht die Musik, sondern das Rauschen und Krachen lauter. Der jüngere der beiden begann im Takt der Musik auf den Boden zu stapfen und hielt urplötzlich inne, als der ältere mit dem Radio fragte: „Hat sich eigentlich viel verändert?“
„Oh nein, alles noch wie früher. Außer, warte, ich glaube, die haben inzwischen das Rathaus umgebaut, und in der Scheißkopp-Villa hat es gebrannt letztes Jahr.“
Scheißkopp-Villa! Janet war nahe daran, über diese Unverschämtheit den Kopf wild zu schütteln. Diese herrliche alte Villa auf dem Hügel über Simmons Mills hieß nach ihren Besitzern Swizzhope Villa. Der Brand war wahrhaft schrecklich gewesen, aber das Gebäude hatte man zum Glück vollständig retten können. Janet verstand es nicht, wie man einen Hass gegen eine so schöne Villa und gegen ihre Bewohner hegen konnte. Die Tochter der Swizzhopes Anna war mit ihr in eine Klasse gegangen. Sie konnte sich noch gut an das kleine blonde Mädchen erinnern, die erst mit elf Jahren begriffen hatte, welche Stellung sie über die anderen Kinder hatte, und hatte sie von da an ständig ausgenutzt.
Ihre Geburtstage waren jedes Jahr ein sensationelles Ereignis, und es galt als Privileg, dazu eingeladen zu werden. Janet und Anna waren nie richtige Freundinnen gewesen, es war über die übliche Klassenbekanntschaft nie hinausgekommen. Aber sie war zu jeder Geburtstagsfeier eingeladen worden, und das erfüllte Janet noch heute mit einer seltsamen Bestätigung.
„Ach, dieser elende Kasten auf dem Hügel“, sagte der ältere müde und lehnte sich weit zurück. Seine langen Beine reichten bis unter den Sitz seines Vordermannes und steckten in zerschlissenen Jeans. Janet warf einen Blick auf die Uhr, noch zwanzig Minuten. Sie hoffte, daß die beiden auch in Simmons Mills aussteigen würden, denn sie scheute sich davor, über die lang ausgestreckten Beine steigen zu müssen.
Ihr war es in der Großstadt schon oft genug passiert, daß ihr dabei an das Hinterteil gegriffen wurde, und diesen beiden traute sie soetwas auch zu. Das Gespräch zwischen den beiden war verstummt, das Radio spielte wieder seine Lieder. Zwischendurch blendete sich der Radiomann wieder ein, erzählte im Schnelltempo den neuesten Wüstenwitz (… treffen sich zwei in der Wüste, sagt der eine …) und sagte die nächsten Platten an. Das erste Lied war etwas älter, sie erinnerte sich, daß sie dieses Lied ständig auf dem Abschlußball ihrer Schule gespielt hatten. Die Zeit war wahnsinnig schnell vergangen.
Jetzt hatte sie bereits ausgelernt, arbeitete in einem Modegeschäft und war noch vor drei Jahren auf die Schule gegangen. Die Zeit verging viel zu schnell.
Janets Eltern hatten sie an der Bushaltestelle abgeholt. Sie waren beide alt geworden, mit Erstaunen bemerkte Janet, wie das Haar ihres Vaters immer dünner wurde, sein Gesicht wurde schwammiger, die Falten tiefer. Ihre Mutter hatte verarbeitete Hände, ihr Haar wurde grau, Strähne für Strähne und die Haut in ihrem Gesicht bekam rote Flecken. Sie wurden immer älter und die Arbeit mit dem Haus wurde nicht weniger. Irgendwann würden sie es nicht mehr schaffen, davor graute es Janet. Sie hasste Kinder, die ihre Eltern in Altersheime abschoben. Sie selbst würde das nie tun.
„Hallo Janet, mein Mädchen. Wie war die Woche? Hattest du viel zu tun?“
„Nein, Mom, nicht sehr viel. Bei diesem Wetter kauft kein Mensch. Es war unmenschlich heiß im Bus, ich muß als erstes duschen, wenn wir zu Hause sind.“
Dad nahm ihre Tasche und zu Fuß gingen sie langsam die Straße hinauf. Simmons Mills würde sich wohl nie verändern. Es war noch immer so, keines der kleinen Häuser hatte sich verändert, immernoch standen die großen Autos halb auf dem Gehsteig und halb auf der Straße, weil es keine Garagen gab. In manchen Gärten wußte Janet kleine hellblau gekachelte Swimming-Pools, sie selbst hatte keinen. Dazu war nie Geld da gewesen und auch kein Platz in dem kleinen Stückchen Garten.
Als erstes packte Janet ihre Tasche aus und duschte sich so kalt wie möglich. Sie zog sich frische Sachen über und erschien dann gut gelaunt im Garten, wo ihre Eltern unter einem großen Sonnenschirm saßen.
„Hast du schon von der großen Veranstaltung gehört?“ fragte Janets Mutter und sah dabei von ihrem Strickzeug nicht auf.
„Welche Veranstaltung?“ erkundigte Janet sich, sie hatte nichts in der Richtung gehört.
„In der Schule heute Abend. Die Abschlußklasse hat eine ganz große Party vorbereitet und alle vorherigen Abschlußklassen wieder eingeladen, soweit die noch in der Umgebung waren. Du hast auch eine Einladung bekommen. Sie liegt drinnen im Wohnzimmer unter dem Porzellanhund. Es würde bestimmt nett werden.“
Janet stellte es sich wunderbar vor, alle Mädchen und Jungs ihrer Klasse wiederzusehen. Ihr fiel Anna ein und sie fragte sich, ob sie auch kommen würde. Ihr würden wieder sämtliche Jungen nachlaufen, um einmal mit ihr tanzen zu dürfen.
„Ich weiß noch nicht, ob ich hingehen werde“, sagte sie gedankenverloren und ging ins Wohnzimmer, um sich die Einladung anzusehen.
Natürlich ging sie hin. Sie zog sich extra ihr neues Kleid an, das sie sich in „ihrem“ Geschäft gekauft hatte und machte sich frohgelaunt auf den Weg zur Schule. Unterwegs traf sie auf alte Freundinnen, sie lachten und hatten sich furchtbar viel zu erzählen, und Janet war sich sicher, daß es ein herrlicher Abend werden würde. Die Schulaula war festlich hergerichtet. Auf der Bühne standen drei riesige Verstärker, aus denen schon jetzt laute Musik von Schallplatten drang.
„Erinnerst du dich noch an die kleine häßliche Mary?“ Man zeigte auf ein Mädchen, das ein Gesicht hatte wie ein Mannequin, und von den Jungen nur so umlagert wurde. Es wurde bekannt gegeben, wer wen geheiratet hatte, wer von den Mädchen schon ein Kind hatte und wer wen nach ach so heißer Liebe sitzengelassen hatte. Die verschiedenen Jahrgänge schienen sich nicht recht vermischen zu wollen, aber sobald die Tanzfläche freigegeben worden wäre, würde sich das wohl ändern. Janet unterhielt sich gut, erfuhr viel neues über ihre alten Freundinnen, bis sie Anna am Getränkestand stehen sah. Sie trug ein weißes Kleid, das ihr nicht einmal bis über den Hintern reichte. Ihr Haar war hochgesteckt, sie hatte sich raffiniert geschminkt, und Janet konnte neben sich einen Jungen sagen hören: „Junge, ist die scharf.“
Sie ist ein Luder, hätte Janet ihm am liebsten gesagt, aber das war wohl nur der Neid, der aus ihr sprach.
Anna Scheißkopp, dachte sie fröhlich, und wie auf Kommando glaubte sie den jüngeren Typen aus dem Bus in einer hinteren Ecke zu sehen. Aber in dem Moment wurde die Tanzfläche freigegeben, richtige Musik aufgelegt, und sie verlor ihn aus den Augen. Es wurde viel getanzt und getrunken zu lauter Musik, Janet traf den blonden Footballspieler wieder, in den sie vor Jahren verliebt gewesen war und sie tranken ein paar Gläser zusammen. Er war inzwischen verheiratet und lebte in einem kleinen Einfamilienhaus in Maple Springs, wo er seine Frau kennengelernt hatte. Langsam aber sicher stieg Janet der Alkohol zu Kopf und der Boden begann sich zur Seite zu neigen. Aus Erfahrung mit sich wußte sie, daß sie sich übergeben würde, wenn sie nicht an die frische Luft ging. Ihr Footballspieler hatte sich inzwischen einem anderen Mädchen zugewandt, als Janet nach draußen ging, und sie fragte sich, ob seine Frau davon wußte. Es war bereits dunkel geworden, die Luft hatte sich angenehm abgekühlt. Janet ging auf die große Rasenfläche, die sich gleich neben dem Schulgebäude ausbreitete, und sie erinnerte sich, daß ihr im Sommer mal eine große Mücke unter den Rock geflogen war. Damals hatte sie die schrillen Lacher der Jungs nicht verstanden. Das war schon so lange her …
Trotz alledem sehnte sie sich nicht zurück in die Schulzeit. Sie wehrte sich mit allen Gedanken dagegen, in diese „gute alte Zeiten Träumereien“ zu verfallen. Die Zeiten waren nie besonders schön gewesen, jedes Jahrzehnt hatte seine Probleme. Es war wunderschön, in der dunklen Nacht auf einer einsamen Wiese zu liegen, den Kopf leicht berauscht und noch immer die alten Lieder im Kopf … Nicht dieses neumodische Computerzeug, sondern die richtige alte Musik aus der schrecklichen alten Zeit. Plötzlich hörte sie Schritte auf dem Rasen. In der Erinnerung an Maple Springs richtete Janet sich sofort auf und zog ihren Rock zurecht. In der Dunkelheit konnte sie nichts sehen, nur hören. Die Schritte waren auf dem Rasen, langsame Schritte.
Oh Gott, kommen sie auf mich zu? dachte Janet entsetzt, konnte sich nicht entschließen, zurück in die helle Aula zu laufen, um dort Schutz zu suchen. Vielleicht strich hier ein Sittenstrolch durch die Gegend, vielleicht hatte er von der Schulveranstaltung gehört, vielleicht hatte er sich Chancen ausgerechnet …
Ausgemachter Unsinn, sagte ihr Verstand, die Schritte kamen immer näher. Es wird nichts passieren, warum sollte gerade dir etwas passieren?
„Hey, wenn hier ein Käfer herumliegt, dann vorsicht, ich seh nichts.“ Es war eine männliche Stimme, nicht ganz unsympatisch, aber auch nicht sehr vertrauenserweckend.
„Hier liegt jemand“, sagte Janet mit ruhiger Stimme, „aber ich bin kein Käfer.“
„Hey…“ Er schien näher zu kommen, dann setzte sich jemand neben ihr. Janet zuckte kurz zusammen, fasste sich aber gleich wieder. Sie drehte sich zu der Gestalt, sah die verwaschene Siholette vor sich, aber es war zu dunkel, um genaueres zu erkennen. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, das er auch nicht mehr von ihr sah.
„Warst du auch auf der Party?“ fragte Janet mutig, nur, um irgendetwas zu fragen. Schweigen machte sie immer unsicher und ließ sie schmutzige Dinge denken.
„Oh nein. Ich war ganz kurz drin, aber dann bin ich wieder verduftet. Hat mir nicht gefallen.“
„Mir steigt schnell der Alkohol zu Kopf“, gab Janet zu, „ich musste ein bischen frische Luft schnappen.“
„Du wohnst hier in Simmons Mills?“
Seine Frage klang ein wenig gepresst, als erwartete er eine bestimmte Antwort.
„Nein, jetzt nicht mehr. Ich bin weggezogen, als ich meine Lehre aushatte. Hab’s hier nicht mehr ausgehalten. Ich bin Janet.“
Es war ein seltsames Gefühl, sich mit einem Fremden zu unterhalten, ohne sein Gesicht zu sehen.
„Ich bin Gene. Eigentlich hatte ich nicht herkommen wollen, aber ein Freund von mir meinte, es würde gut werden. Naja…“
Sie schwiegen eine Weile. Janet setzte sich anders hin, warf ein paar Blicke in den Himmel und entdeckte weit über dem Schulgebäude den großen Vollmond. Er war wie ein krankes blindes Auge von einem dichten Schleier umgeben und ab und zu zog eine schwarze Fetzenwolke über sein Gesicht hinweg.
„Sag mal, warst du nicht die Janet, die in Leichtatletik die beste vom Jahrgang war das letzte Jahr?“
„Nein, in P.E. war ich nie groß. Vielleicht meinst du Anna, die war immer ganz vorn.“
„Anna?“ Der Fremde stemmte sich vom Boden hoch und schlug sich deutlich hörbar die Hosen aus.
„Diese kleine blonde Ziege.“
Janet glaubte seine Stimme wiederzuerkennen, und wenn er „Scheißkopp Anna“ gesagt hätte, hätte sie sie ganz sicher wiedererkannt.
„Anna ist in meine Klasse gegangen“, sagte sie, stand dann auch auf. Der Fremde, der sich Gene nannte, hatte Janet den Rücken zugedreht und sagte leise: „Es gibt nichts, was ich so hasse, wie diese Villa auf dem Hügel. Haben sich jedes Jahr großartig aufgespielt, mit Geburtstagsfeiern und Einladungen. Kennst du Mitch? Er war einmal da, und ist von Anna gleich mit einem anderen Mädchen verkuppelt worden. Spielen sich als Herrscher auf, diese elenden Schweine.“
„Das tun alle, die reich geboren worden sind. Man muß sich daran gewöhnen“, versuchte Janet ihn zu beruhigen. Sie hatte die Befürchtung, er könnte seine Wut an ihr auslassen.
„Ich gehe zurück in die Aula“, sagte Janet nach einer Weile, wartete einige Sekunden auf eine Antwort, die jedoch nicht kam, ging dann los. Schon in der Vorhalle strömte ihr die laute Musik entgegen, und als sie sich umdrehte, war Gene in der Dunkelheit nicht mehr zu sehen. Jemand rief nach ihr, wurde einem Fremden vorgestellt, tanzte ein paar Mal, und verzog sich dann in eine Ecke. Mitch und Gene, im Bus, mit einem Radio zwischen den Knien. Wer war das von den beiden gewesen?
Am nächsten Morgen war Janet nicht sehr guter Laune. Sie hatte gestern Abend viel zu viel Alkohol getrunken, und glaubte sich schwach an einen Streit mit einem anderen Mädchen zu erinnern. Danach war sie direkt nach Hause gegangen.
Nach dem Frühstück fragte ihre Mutter, ob sie einkaufen gehen wolle, und sie stimmte zu. Mit einem Korb und dem nötigen Geld ging sie los. Die Artikel hatte sie alle im Kopf – sie hatte ein ausgezeichnetes Kurzzeitgedächnis. In dem kleinen Supermarkt traf sie Carol, die ebenfalls einkaufte. Carol schien erstaunt zu sein, sie zu sehen, und sagte mit gesenkter Stimme: „Himmel, Janet, du hast ja gestern Abend mächtig auf die Pauke gehauen.“
„Was habe ich? Ich kann mich ganz undeutlich an einen Streit erinnern, aber…“
„Streit? Das ganze hätte beinahe in Mord und Todschlag geendet. Anna hat von dir die Abfuhr ihres Lebens erhalten.“
„Anna Swizzhope?“ fragte Janet ungläubig und ihre Beine drohten nachzugeben.
„Ja. Du hast einen großen Krach mit ihr angefangen. Ehrlich, was du gesagt hast, trifft alles auf diese Schnepfe zu, aber das hat sich bisher niemand zu sagen gewagt.“
Carol nannte ein paar Dinge, die Janet Anna an den Kopf geworfen hatte, und sie dachte nurnoch: „Oh je, muß ich blau gewesen sein!“
An ihrer Abfahrt aus Simmons Mills glaubte Janet nicht daran, aber wirklich, dort saß er. Gene hockte am Fenster auf einem der hinteren Sitzplätze. Er sah müde aus, und war sicher um Jahre jünger, als er aussah.
Janet setzte sich neben ihn und sagte halblaut: „Hallo.“
Er sah sie erstaunt an, schien sie dann wiederzuerkennen.
„Oh, du bist Janet, was? Ich hab gehört, wie du der Scheißkopp den Kopf gewaschen hast.“
„Ich hatte zuviel getrunken“, erklärte Janet, und als der Bus ruckartig anfuhr, konnte sie über den gelb-leuchtenden Rapsfeld den grünen Hügel und die Villa sehen, die sich dort vom Himmel abhob. Sie konnte Genes Hass auf diese Familie nicht teilen, aber das war egal. Vielleicht würde sie ihn zu überreden versuchen, nicht in Maple Springs auszusteigen.
[Schulaula, Verkäuferlehre... so typisch deutsch und hier fehl am Platz. Ich war mir unsicher, wie alt Janet eigentlich sein müsste. Ich hatte bei ihr nicht das Gefühl, dass sie richtig im Leben steht.]
Sub
Wieder raste eines dieser bunt bespritzten Ungetüme in die schwarze Röhre hinein, zerrte an der Kleidung der Menschen, die am Rand standen und auf das nächste Wurmungeheuer warteten. Sie hatten alle leere Augen, diese Menschen, das kalte Neonlicht ließ sie wie lebendige Tote anmuten. Wenn der stählerne Wurm erst mal stand und seine Schleusen geöffnet hatte, begann der Run auf die Sitzplätze, selbst, wenn schon alles überfüllt war. Die Menschen, die aussteigen wollten, kamen oft nicht gegen den Strom an, erst recht keine Kinder und keine Kinderwagen. Einmal dem Ungeheuer entronnen, strömten die Glücklichen mit den leeren Gesichtern an Valentine vorbei die Treppen hoch, wo sie der Wind und die Sonne erwarteten. Er hockte schon seid Stunden auf dem Bahnsteig der Subway und beobachtete die Menschenmassen. Er tat den ganzen Tag nichts anderes. Hockte nur da und wurde von niemandem beachtet. Nachts schlief er manchmal in dieser Höhle, auf einer der Bänke oder in einer Ecke, in die der Wind nicht kommen konnte. Jeden Morgen weckte ihn dann die erste U-Bahn.
Manchmal kamen auch Bullen, um ihn mitzunehmen, aber das machte ihm nie viel aus. Er wußte ganz genau, daß er am nächsten Tag wieder vor dem Bahnsteig sitzen würde. Das Zusammentreffen mit Bullen, wie er sie nannte, und wie sie sich von ihm nennen ließen, machte ihm nichts mehr. Das war nicht immer so gewesen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er in der Gegenwart eines Bullen immer sehr nervös gewesen war, aber das lag schon lange zurück. Natürlich war Valentine nicht sein richtiger Name. Aber alle kannten ihn nur so, die Bullen, die ihn ungefähr einmal pro Woche mitnahmen.
„Oh, Valentine, wie geht’s?“ „Hi, Valentine“. Oder auch die anderen Obdachlosen, die er öfters hier unten traf, nannten ihn nur so. Niemand in diesem großen New York kannte seinen wirklichen Namen, und das war nur gut so. Er war achtundzwanzig Jahre alt, ziemlich groß und etwas zu mager, was auf seine Lebenszustände zurückzuführen war. Sein ungepflegtes Haar war dunkel, aber wenn er es frisch gewaschen hatte, war es blond. Er hatte ein kaputtes Bein und ihm fehlten links oben im Kiefer die letzten vier Backenzähne. Er kam mit einer kleinen Mahlzeit pro Tag aus, und begnügte sich mit einem Glas Whiskey, den er ab und zu spendiert bekam. Er war Valentine, ein Original in der Subway. Ganz selten blieben Menschen vor ihm stehen, weil sie irgendwo einen Hut oder eine kleine Schachtel mit einem kleinen Zettel „danke“ vermuteten, aber Valentine hockte hier nicht, um zu betteln. Er bezog eine magere Unterstützung vom Sozialamt, zu dem er einmal in der Woche ging, und bei denen er als armer Irrer galt, der nur seinen Nachnamen kannte.
Er war nicht immer der irre Valentine gewesen, vor vielen Jahren, die er nicht mehr benennen konnte, war alles anders gewesen, aber daran dachte er nicht mehr zurück. Ihm gefiel sein jetziges Leben besser als das, was er vorher geführt hatte. Jetzt wurde er überall als harmlos eingestuft, und das war besser als alles, was er je gehabt hatte.
Als es spät wurde, stand er auf und packte seine wenigen Sachen zusammen in eine Plastiktüte. Ein paar Sachen nur, Decken, dicke vermottete Pullis, ein Paar löcherige Turnschuhe. Als er es alles zusammen hatte, trottete er langsam Richtung Ausgang. Dabei hinkte er stark wegen seines kaputten Beins. Die Treppen nach oben hielten ihn ziemlich lange auf, aber dann stand er in der Sonne und in dem Wind.
Wie jeden Tag um diese Zeit würde er in die kleine Imbiss-Stube gehen und etwas essen. Die Bedienung kannte ihn schon, seid er in New York war, und spendierte ihm öfters ein Mittagessen, wenn er blank war. Er kannte nicht einmal ihren Namen, er hatte nie danach gefragt, denn das gehörte mit zu seiner Rolle als Valentine.
Richtige Freunde hatte er nicht, außer vielleicht dem vierzehnjährigen John, der jeden Tag mit dem Ungeheuer angefahren kam, wenn er seine Freunde besuchte. John war ein intelligenter Bursche aus gutem Hause, aber mancher stieß sich an seiner Hautfarbe, und bei einer Prügelei hatten weiße Jungen ihm schon die Nase gebrochen, die zum Glück wieder gerichtet worden war.
John war äußerst verträglich und erzählte viele lustige Sachen aus der Schule. Manchmal überlegte Valentine sich ernsthaft, ihm alles zu sagen, die ganze Wahrheit mit sich und Utah, aber dann ließ sich die selbsterrichtete Sperre in seinem Kopf nicht durchbrechen. Er war nur sicher, wenn es niemand wußte.
Vielleicht würde John es noch nicht einmal verstehen. Valentine hinkte langsam durch die Straßen, traf auf alte Bekannte, die er mit einem trägen Gruß bedachte. Er stimmte äußerst selten in eines ihrer Gespräche ein, aus Angst, sich zu verraten.
Als er die Imbiss-Stube betrat, sah er John an einem der Tisch sitzen. Er ging zu ihm und grinste, als er seine Plastiktüte abstellte.
„Hi, Valentine“, sagte John nicht gerade begeistert. Er hatte einen Jungen neben sich sitzen, vermutlich einen Kumpel aus der Schule.
„Hi, John. Ist das dein Freund?“
„Ich bin William. Wir gehen in die selbe Klasse.“ Der Junge, der sich William nannte, sprach keinen New Yorker Akzent, er war irgendwo anders zu Hause. Vielleicht zogen seine Eltern oft durch die Gegend. Er hatte eine falsche Art an sich, ein kleiner falscher Hund mit markellosem Äußeren.
Valentine beachtete ihn nicht weiter, wurde unangenehm nervös in seiner Gegenwart. Als er zu der Sandwich-Theke hinkte, hörte er die leise geführte Unterhaltung der beiden Jungen.
„Johnny, wer ist denn das?“
„Das ist Valentine, ich hab dir doch von ihm erzählt. Der aus der Subway. Er ist ein bischen zurückgeblieben, aber ein anständiger Kerl.“
„Er hat mich so seltsam angesehen.“
„Er tut keiner Fliege was zuleide.“
Valentine konnte gerade noch den Impuls unterdrücken, nach den Fliegen auf den Sandwiches zu schlagen. Die Bedienung ließ ihm einen Käsesandwich zum Extrapreis, und er hinkte zurück an den Tisch.
„Wie war’s heute in der Schule bei dir, John?“ Er sprach schleppend und mit kurzen Unterbrechungen zwischen den Satzabschnitten. John bemerkte, daß etwas nicht stimmte und fragte: „Hast du getrunken?“
Er schüttelte den Kopf, denn er roch nicht nach Alkohol.
„Es war kalt diese Nacht“, sagte er nur, schließlich war das die reine Wahrheit.
Dieser William machte ihm Sorgen, und er wünschte sich, John an diesem Tag nicht getroffen zu haben.
„Welcher Tag ist heute?“ fragte er, und als John „Mittwoch“ sagte, packte er seinen Sandwich ein und stand auf.
„Ich bekomme heute wieder Geld“, sagte er und verließ die Imbiss-Stube. Draußen war es seltsam kalt geworden, und Valentine hinkte über die Straße. Er sah nicht den Wagen, der von der rechten Seite kam, obwohl für die Autos rot war, er hörte nur das Aufheulen eines Motors, und als er seinen Kopf herumriß, sah er undeutlich ein Nummernschild aus Utah unter dem Wagen. Es reichte zu keinem entsetzten Gedanken mehr, der Wagen erfasste ihn und schleuderte ihn zur Seite. Mit dem Rückrat schlug er gegen die Bürgersteigkante, sah nurnoch den Wagen aus seinem Blickwinkel verschwinden.
William und John kamen aus der Imbiss-Stube gestürzt, sahen Valentine am Straßenrand liegen. John wurden die Knie weich, er stolperte zu seinem toten Freund hin und kniete neben ihm nieder.
Er sollte nie erfahren, was es mit dem Wagen aus Utah und dem Namen Valentine auf sich hatte.
[Ich hatte Valentines Vergangenheit im Kopf, es aber nicht aufgeschrieben. Nun ist es verloren. ;0) ]
Texte: Cover: eigenes Foto
Tag der Veröffentlichung: 23.09.2011
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