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Boston

Kieran konnte Irland verlassen, bevor der erste Artikel erschien und einigen Wirbel verursachte. Cavanaugh hatte wie immer dick aufgetragen, die Vornamen und abgekürzten Familiennamen und Stadtteile genannt, was einer öffentlichen Verurteilung und Brandmarkung gleichkam, denn alle Insider wussten sofort bescheid. Alle Seiten waren in heller Aufregung und es wunderte niemanden, dass von diesen erwähnten Red Hands

niemand mehr übrig war, noch bevor der zweite Artikel erschien. Sie verschwanden von der Bildfläche, als hätte es sie nie gegeben und weder die eine noch die andre Seite machte das Zugeständnis, etwas damit zu tun gehabt zu haben. Nach einer eiligen Hausdurchsuchung hatte die RUC

in dem Red Hands

-Quartier in Ederny kiloweise Proxy-Sprengstoff und Waffen gefunden, woraufhin die aufgebrachten Red Hands

während des Verhörs behaupteten, man habe es ihnen untergeschoben. Nach der U-Haft verschwand einer nach dem anderen von der Bildfläche und niemand glaubte daran, dass sie nur das Land verlassen hatten. Sie lagen irgendwo einen Meter unter der Erde, soviel war klar.

Kieran war froh darüber, in Boston endlich Ruhe davor zu haben. Dort fragte endlich niemand mehr nach seiner Religionszugehörigkeit, dort war er endlich ein Mitglied der Mehrheit, ein anonymes Sandkorn. Er mochte Boston und das Leben in der irischen Gemeinde, in der er einen guten Job bekommen würde, sie bewohnten die obere Etage eines Hauses am Rande von Boston. Für Darren war es schwerer; als Kieran ihm wenige Tage nach seiner Ankunft eröffnete, dass sie nicht nach Irland zurückkehren würden, überlegte er eine Sekunde lang und begann lautlos zu weinen. Es war kein Weinen, das er nur auflegte, um seinen Willen durchzusetzen, wobei er dann dramatisch schniefte und schluchzte – er senkte den Kopf, drehte sich weg und dann zuckten seine Schultern und schließlich sein ganzer Körper. Alles in ihm tat weh, als er zu begreifen versuchte, dass er nie wieder nach Hause kommen würde. Sein Herz und sein Magen krampften sich zusammen, dass er kaum atmen konnte. Er wollte fragen, was mit Tadhg passieren würde, ob es eine Möglichkeit gab, ihn nach Boston zu holen, aber er wusste, dass man ein Pony wohl nicht so einfach in ein Flugzeug stecken konnte. Tadhg war sein Pony und jetzt so einfach von ihm getrennt zu werden war unglaublich gemein. Er hatte so um ihn gekämpft und gewonnen und jetzt, nach so kurzer Zeit, war alles umsonst gewesen. Nicht einmal richtig verabschiedet hatte er sich von ihm und er hatte Tom auch nicht sagen können, dass er Tadhg unter keinen Umständen verkaufen sollte.
Er weinte endlos weiter, hörte Kierans Erklärungen gar nicht mehr. Tadhg musste wenigstens bei Tom bleiben, wo es ihm gut ging, selbst wenn die Touristen auf ihm reiten würden. Sein Leben war auf den Kopf gestellt, Boston war aufregend und neu, aber es war doch nur ein Urlaub und er wollte wieder nach Hause. Er wollte in seinem Bettschlafen und sich in dem kleinen Supermarkt in Pettigoe Bonbons und Schokolade kaufen. Er wollte zur Schule gehen und mit Tadhg durch die Gegend reiten.
Sein Dad war so gemein, dass er sie nicht mehr nach Hause ließ. Es konnte nicht alles zusammenbrechen. Wenn er ihn lieb hatte, würde er ihm so etwas nicht antun.
Das alles konnte er nicht ausdrücken und so schluchzte er herzzerreißend vor sich hin, ließ sich von Kieran in den Arm nehmen, obwohl er allen Grund gehabt hätte, auf ihn böse zu sein.

„Ich weiß“, sagte Kieran, „Ich hätte es dir früher sagen müssen, aber dann wäre dir der Abschied so schwer gefallen, dass du hier keinen guten Start gehabt hättest.“
Darren gab einen quäkenden Ton von sich, den Kieran als ‚unfair’

deutete und wohl recht damit hatte.
„Es ist alles unfair, von Anfang an. Wir hätten in Irland bleiben sollen, alles hätte ganz anders laufen können. Wen ich einen anderen Weg gesehen hätte, hätte ich alles getan, um es dir nicht so schwer zu machen, das glaubst du mir doch, oder? Es ist für uns alle ein schwerer Neuanfang. Deine Mom hat den Job im Krankenhaus angenommen und ich vermisse die Zwillinge, auch wenn ich das nicht vermutet hätte, dass es so sein würde. Ich weiß nicht, ob die beiden allein zurechtkommen.“
Dass sein Dad auch etwas in der alten Heimat vermisste, war tröstlich, änderte aber nichts daran, dass er Tadhg bei sich haben wollte. Es dauerte lange, bis er sich beruhigte.
Moira brachte ihm sein Essen in sein Zimmer, blieb bei ihm sitzen, bis er zu essen begann. Sie sagte kein Wort, um ihn trösten zu wollen, sie wusste, dass es nichts gab, was ihm im Moment helfen konnte. Wo er am Morgen noch darüber nachgedacht und bedauert hatte, dass der Urlaub in Boston schon bald vorbei war, fand er jetzt tausend Gründe, um wieder nach Hause zu fliegen und das so schnell wie möglich. Es konnte nicht richtig sein, dass er den besten Urlaub seines Lebens hatte und er Gilbert davon nie etwas erzählen konnte. Er wollte wieder zur Schule gehen und sich auf die Ferien freuen können.

Kieran war niedergeschlagen. Er saß auf den Treppenstufen von dem Haus, wie immer, wenn er einen Moment frische Luft und Ruhe brauchte. Von dort aus hatte er einen weiten Blick auf das amerikanische Vorstadtleben, auf die sauber asphaltierte Straße, Vorgärten ohne Zäune und Häuserparzellen, die sich wie ein Ei dem anderen glichen.
Die Familie, die in der unteren Etage des Hauses wohnte, wusste von den Finnigans nur, dass sie aus Irland eingewandert waren (was auch nicht zu überhören war) und Kieran erst später nachgekommen war. Das hatte sie stutzig gemacht, vor allem, weil Darren immer nur vom Urlaub erzählte, den sie in Boston verbrachten, aber welche Familie fuhr schon getrennt in den Urlaub und bezog dann auch noch ein nettes Haus in einer weniger netten Umgebung in Charlestown. In dieser Straße war auf den ersten Blick alles in Ordnung, aber man musste nur ein paar Schritte weiter hinuntergehen und fand leer stehende Häuser und geschlossene Läden. Charlestown war fest in irischer Hand und schräg gegenüber wohnte ein Mann, der sich für die Finnigans bei der Einwanderungsbehörde verbürgt hatte, als würden sie sich schon seit Jahren kennen. Er konnte einen Job für Kieran besorgen, sobald die Arbeitserlaubnis durch war. Diese Verbindungen würden über die ersten Schwierigkeiten hinweg helfen, danach half die Organisation nur noch in Ausnahmefällen.
Es band sie um so mehr in die Gemeinde ein, gab ihnen Schutz und Hilfe. Es war besser, als wenn sie sich allein hätten durchschlagen müssen.
Noch in der Heimat hatte Kieran einige Provos gekannt, die sich in die USA abgesetzt hatten, aber er hatte niemals selbst mit diesem Gedanken gespielt. Er war nie einer von denen gewesen, die sich absetzten, wenn etwas schief gegangen war, anstatt den Gang ins Maze anzutreten und mit den Konsequenzen zu leben.
Moira trat hinter ihm aus der Tür, kam die Stufen herunter und setzte sich zu ihm, schob ihren Arm unter seinen und drückte sich an ihn.
„Wir haben es schon richtig so gemacht“, sagte sie, „hier haben wir eine Chance für ein neues Leben und Darren wird über den Verlust hinwegkommen.“
„Wahrscheinlich wird er mir deswegen bis ans Ende böse sein“, erwiderte Kieran, „er wird es nicht verstehen. Es macht ihm noch mehr zu schaffen, dass ich Trash mitgenommen habe und ihn dazu zwinge, sich von Tadhg zu trennen.“
„Irgendwann wird er es verstehen.“
„Nur, wenn er die ganze Wahrheit kennt und die kann ich ihm noch nicht sagen.“
Sie sahen schweigend die Straße hinauf, auf der ab und zu ein Wagen vorbeirollte, aber nur selten anhielt. Der Park, in dem Darren den ganzen Tag spielte, war nur ein Block entfernt, aber er war kaum groß genug, um die Großstadt vergessen zu lassen. Nach Kierans Ankunft in Boston, ermüdet vom langen Flug, war Darren dort mit Trash spazieren gegangen und auch dem Hund hatte die Reise in den Knochen gesteckt.
Kieran hatte sich eine Stunde schlafen gelegt und war mit hämmernden Kopfschmerzen wach geworden. Weil er nicht ins Krankenhaus wollte, fuhr Moira in die nächste Apotheke und versuchte dort Schmerzmittel zu bekommen, wurde in ein Gespräch über Kopfschmerz und Migräne und deren Variationen verwickelt, wagte aber nicht zu verraten, dass ihr Mann wegen einer Kugel im Schädel Schmerzen hatte.
Das gehörte in die alte Welt.

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Tag der Veröffentlichung: 10.09.2011

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