Cover

Omagh


Kieran bemühte sich um Normalität, als er an diesem Abend nach Hause fuhr und mit den Hunden einen langen Spaziergang machte, gegen den feinen Nieselregen die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Die Wachsjacke war neu und ein Geschenk von Moira, in den tiefen Seitentaschen steckten zerbrochene Hundekuchen, ein paar Tankstellenkassenzettel und sein Schlüssel, den er für den Kleiderspind in der Fabrik bekommen hatte. Die Hunde sprangen um ihn herum, stöberten Kaninchen auf, jagten sich über die Felder und brachten weggeworfene Stöckchen zurück. Sein Weg führte ihn zu Michael hinüber, wo er einen heißen Tee mit Milch trank und die Hunde im Flur bleiben mussten, damit sie nicht das ganze Haus mit ihren Pfoten verdreckten. Stan und Olli taten so, als seien sie verstoßen worden, fiepten vor sich hin und hockten sich vor die verschlossene Verbindungstür. Kieran ließ sich nicht erweichen, saß mit Michael im Wohnzimmer, wo sie sich in Fernsehsesseln gegenübersaßen.
„Er macht Fortschritte“, sagte Kieran, „es geht ihm schon viel besser. Er hat mich die Tage gefragt, ob er mir wieder vorlesen könnte aus der Zeitung und das ist wirklich ein gutes Zeichen.“
„Die Schule tut ihm gut.“
„Das Beste, was ihm passieren konnte. Ich hatte ein Gespräch mit einer Lehrerin und sie sagte, sein Problem sei psychisch. Ihm fehlt nichts, er ist intelligenter Junge, aber er hat irgendwann einen Knacks weggekriegt.“
Michael schlürfte an seinem Tee, sah mit gerunzelter Stirn zu Kieran hinüber.
„Meinst du damit Belfast?“
Seltsamerweise dachte Kieran in diesem Moment an Christy, der sich alle zehn Minuten an den Schädel gefasst hatte wegen seiner Kopfschmerzen, die ihn jedes Mal halb geblendet hatten, und dass es dem Jungen hoffentlich gut ging, wo immer es ihn auch hin verschlagen hatte. Christy war ein Opfer von Belfast, ebenso wie Darren.
„Bis er vier war, ist mit ihm alles ganz normal gelaufen, er ist gekrabbelt, dann gelaufen und hat angefangen zu sprechen. Ich war jede Nacht unterwegs, kaum zu Hause und war nur froh, dass Moira mir nie Fragen gestellt hat. Darren hatte in der Bude kein eigenes Zimmer, weil in der Wohnung Freunde untergekommen waren. Sein Bett stand neben der Couch, auf der wir geschlafen haben und wenn ich mich rein geschlichen hab, ist er jedes Mal wach geworden. Kam ich nach Hause, war er auch wach. Jedes Mal hat er mich mit diesen großen blauen Augen angestrahlt und vor sich hingebrabbelt, dass man ihm nicht böse sein konnte. Eines Abends, als ich nicht daheim gewesen bin, hat die RUC unser Haus gestürmt. Das Zimmer war kaum groß genug für zwei Erwachsene und ein Kind, aber die sind in kompletter Bewaffnung mit zwanzig Mann hineingetürmt und haben Moira nach draußen auf die Straße gezerrt. Sie haben überhaupt nicht darauf regiert, als Moira ihnen immer wieder gesagt hat, dass sie ihren Sohn aus der Wohnung holen müsse. Sie haben sie über zwei Stunden mit den anderen Nachbarn auf der Straße festgehalten und alle Wohnungen durchsucht. Bei uns haben sie nichts gefunden, aber niemand kann sagen, was sie mit Darren angestellt haben. Jedenfalls war Darren danach nicht mehr der gleiche, er konnte nicht mehr einschlafen und hat wieder ins Bett gemacht. Sein munteres Geplapper war verstummt. Er hat erst Monate danach wieder ein wenig angefangen und es ist nie besser geworden. Ich fürchte, dass die RUC ihm Angst gemacht hat, während sie alles auf den Kopf gestellt haben in der Wohnung, ich kann nicht sagen, ob sie es mit Absicht gemacht haben, aber Tatsache ist, dass sie Moira zwei Stunden lang nicht zu ihm gelassen haben. Sie haben ihm einen Schock versetzt und Moira und ich haben erst wochenlang, dann monatelang gehofft, es würde sich wieder normalisieren, aber das tat es nicht. Das war der Grund, weshalb ich aus Belfast raus wollte, es hat sich über Jahre hingezogen, obwohl ich nicht locker gelassen habe. Sie wollten mich einfach nicht gehen lassen.“
„Du warst zu gut für den Nachschub.“
Kieran zeigte ein verzweifelt-komisches Grinsen, leerte seine Teetasse.
„Sie dachten, ich hätte den Biss verloren, aber das war’s nicht. Ich wollte nur Moira und Darren aus der Schusslinie haben. Und jetzt geht es mir genauso.“

In der Nordirlandversammlung gab es nur Ärger, die Nachrichten waren voll davon, dass die eine Partei nicht mit der anderen konnte und jene mit ihrem Rücktritt drohten, sollten diese an der Regierung beteiligt werden. Eigentlich hatte niemand auf der Straße damit ein Problem. Bei den Provos war das größere Problem, dass man die Army zu immer mehr Zugeständnissen bringen wollte, von denen man annahm, sie würden es ablehnen und man habe damit einen Grund, Sinn Fein auszuschließen. Kieran dachte sich nichts dabei, dass Darren ihm beim Frühstück diese Nachrichten besonders gern vorlas, während er selbst einen Tee trank und die Füße au einen zweiten Stuhl hochlegte. Wegen seiner ständig kalten Füße trug er dicke Wollsocken.
„Wer ist das?“, fragte Darren ab und zu, wenn er einen Artikel beendet hatte und zunächst antwortete er darauf nur: „Woher willst du wissen, dass ich weiß, wer das ist?“ und Darren gab zurück, dass Erwachsene doch immer alles wüssten, oder etwa nicht? Dann erzählte er ihm ein wenig von Gerry Adams, Ian Paisley und Mo Mowlam und auch von der alten Trockenpflaume David Trimble, versuchte dabei so neutral wie möglich zu klingen, was ihm aber nicht immer gelang.
Wie jeden Morgen in diesem Sommer war Darren so früh auf, um so viel Zeit wie möglich mit Tadhg verbringen zu können, aber diesmal blieb sein Blick an der wieder zusammengefalteten Zeitung hängen und entdeckte die Ankündigung für ein Straßenfest in Omagh. Er tippte aufgeregt mit dem Finger darauf und sah Kieran bettelnd an.
„Oh nein“, sagte Kieran gedehnt, „kommt nicht infrage. Wir haben alle zu tun, was glaubst du, wer dich dort hinbringen soll?“
Darren sah ihn fragend an.
„Ich fahre nach Omagh und arbeite den ganzen Tag, Darren. Wir können dich dort nicht allein rumlaufen lassen. Ich muss los. Wenn ich dich zu Tom ein Stück mitnehmen soll, beeil dich und zieh dir die Schuhe an.“
„Okay“, murmelte Darren enttäuscht, setzte sich auf den Fußboden und zog sich die Joghpurs an, die erst ein paar Monate alt waren, aber schon sehr durch die tägliche Beanspruchung gelitten hatten. Er hüpfte auf den Beifahrersitz und hatte das Straßenfest schon fast wieder vergessen. Es war nicht seine Art, bei so aussichtslosen Dingen hartnäckig zu bleiben, es sei denn, es ging um etwas wirklich Wichtiges wie Tadhg.

Kieran setzte ihn an der Straße zu Toms Haus ab, winkte ihm noch mal zu und fuhr weiter nach Omagh. Das Gummihuhn klemmte noch immer im Kofferraum, war aber durch den Straßendreck kaum noch als Huhn erkennbar.
Im Keller der Fabrik zog er sich um, schloss seine Sachen im Spind ein und ging an die Arbeit. Das Herumfahren mit dem Gabelstapler war noch in Ordnung, aber er hasste es, ständig in den stickigen, schlecht beleuchteten Hallen beschäftigt zu sein. Er machte nur eine kurze Pause zur Mittagszeit, die er auf dem Hof in der Sonne verbrachte, dort mit einem blassen Jungen plauderte, der die Schule abgebrochen hatte, weil sein Vater arbeitslos geworden war. Kieran spürte die Explosion in den Ohren und im Magen, direkt unter dem Brustkorb, war schon aufgesprungen und losgerannt, bevor der Junge überhaupt ahnte, was los war. Einige Arbeiter kamen aus der Lagerhalle, darunter auch Quinn, der Vorarbeiter, der seinen Schutzhelm abgenommen hatte und ihn als Sonnenschutz über seinem Kopf hielt, während er den Himmel absuchte.
„Was war das?“, rief er Kieran zu, „’ne Verpuffung oder’n Flugzeug?“
Hinter den Häusern Richtung Stadtkern bildete sich ein dicker Rauchpilz, der in den blauen Himmel stieg.
„Das war ’ne Bombe“, sagte Kieran blinzelnd, „wir müssen hin und sehen, ob wir helfen können.“

Sein erster Gedanke, seine instinktive Reaktion war gewesen, so schnell wie möglich wegzukommen, aber das unterdrückte er. Er gehörte nicht mehr dazu. Er stand praktisch auf der anderen Seite und jetzt musste er sehen, was passiert war und ob er helfen konnte. Er hatte bei McGintys Haus geholfen, und diese Explosion war zwei bis drei Kategorien größer, das konnte er fühlen und riechen. Die Angst machte ihn schneller, ließ alles um ihn herum in grellerem Licht und lauter erscheinen.
Der Junge, mit dem Kieran geplaudert hatte, überholte sie und rannte an ihnen vorbei, er hatte endlich begriffen, was los war und schrie, als er an ihnen vorbeikam: „Meine kleine Schwester ist mit ihren Freundinnen auf dem Straßenfest.“ Er weinte, rannte weiter, ohne anzuhalten.
Da wäre Darren auch fast gewesen, dachte Kieran und eine Stimme in seinem Hinterkopf flüsterte: Vielleicht ist er auf dem Straßenfest. Vielleicht hat er mal wieder seinen Dickkopf durchgesetzt und ist allein losgezogen. Es sind Ferien. Er ist den ganzen Tag unterwegs und wir wissen überhaupt nicht, wo er sich herumtreibt. Was ist, wenn er direkt neben dem Wagen gestanden hat, als der hochging, mit einem Eis in der Hand, bezahlt von dem Geld, was er Moira abgeluchst hat?



Eine rote heiße Faust ballte seinen Magen zusammen. Er hatte Angst um Darren und um die kleine Schwester, Angst davor, was sie erwartete. In den letzten Jahren hatte es keine wirklich verheerenden Anschläge mehr gegeben, knappe Warnungen, Evakuierungen und Sachschäden, mehr nicht. Darauf dann Berichte in den Nachrichten und Schlagzeilen auf Seite eins. Dies war das erste Mal, dass er nicht vorgewarnt gewesen war, dass ihm niemand gesagt hatte, er solle seine Familie und seinen eigenen Hintern aus Omagh fernhalten; deshalb nahm er an, dass es eine Splittergruppe gewesen sein musste. Die hielten sich nicht an den Waffenstillstand. Obwohl sie ihn in den Ruhestand versetzt hatten, hätte zumindest Malcolm ihn vorgewarnt.

Quinn rief noch ein paar Leute zusammen, einige von ihnen waren geistesgegenwärtig genug, um Decken mitzunehmen. Sie bewegten sich im Laufschritt, wurden ein wenig schneller, als ihnen die ersten panischen Menschen entgegenkamen. Eine Frau mit Kinderwagen jagte an ihnen vorbei, ohne Schuhe an den Füßen und mit blut bespritzten Waden. Ihr Sommerkleid hatte auch was abbekommen, ebenso wie die Räder des Kinderwagens, in dem nicht nur ein Säugling lag, sondern auch ein dreijähriges Mädchen, das aus vollem Halse brüllte und sich am Verdeck festklammerte. Ein junges Pärchen kam ihnen an der nächsten Straßenecke entgegen, hielten sich Arm in Arm und waren im Schock verstummt. Das Jaulen der Alarmanlagen und der Brandgeruch wurden lauter und intensiver, Kieran hatte das Gefühl, dass etwas furchtbar schief gelaufen war, wusste, was ihn in der Einkaufsstraße erwartete und war gleichzeitig doch nicht darauf vorbereitet. Das Mädchen, das sich an ihren Freund klammerte, blutete aus einer Kopfwunde, in ihrer Kopfhaut klaffte eine handtellergroße Lücke. Sie wollten helfen und kamen doch nicht an den Ort der Explosion heran, die RUC hatte bereits alles abgesperrt, drängten sie zurück. Jemand in ihrer Nähe schrie ununterbrochen „Ihr Schweine ihr Schweine“. Der Junge aus der Fabrik weinte hilflos vor sich hin, weil er seine Schwester nicht finden konnte und die RUC

ihn nicht durchließ.
Kieran wollte so schnell wie möglich nach Hause, wollte aber auch gleichzeitig nicht weg von hier, fragte einen der Passanten, der ein mobiles Telefon dabei hatte, ob er zu Hause anrufen würfe. Brendan nahm ab und sagte, Darren sei vor einer halben Stunde mit Tadhg zu Hause aufgetaucht, um ihm den Garten zu zeigen, hatte die Hunde zur Weißglut gebracht und war dann wieder zu Tom geritten.
„Er war ohne Sattel unterwegs“, sagte Brendan munter, „hat das Pony an die Mauer gestellt und ist von da aus auf seinen Rücken geklettert. Er ist davon galoppiert wie ein kleiner Indianer auf dem Kriegspfad.“
Die besten Ferien seines Lebens

, dachte Kieran betäubt.
„Wo steckst du, Kieran? Bei euch geht’s aber laut zu.“
Er mühte sich um Normalität in der Stimme, als er sich bedankte und Brendan keine Chance ließ, noch näher nachzufragen.

Die Szenerie um ihn herum war schrecklich, er hatte schon viele Explosionen und viele Opfer gesehen, aber dieses Mal war das etwas anderes. Seine Einstellung hatte sich geändert, er hatte das Gefühl, sich bei allen entschuldigen zu müssen, brachte aber kein Wort heraus. Sie wurden von den Polizisten ein Stück weiter zurückgedrängt, machten kleine Schritte rückwärts, bis sie von dem Trümmerfeld nicht mehr viel sehen konnten. Eine Windbö trieb Rauch und Staub in ihre Richtung, reizte die Nase und setzte sich in den Augen fest. Quinn zog die Nase hoch und spuckte aus, rieb sich die tränenden Augen. Kieran sah ihn von der Seite an, entdeckte, dass Quinn weinte. Es war nicht der Staub oder der Geruch, der ihn dazu brachte. Er stand an der Absperrung und weinte, weil alles schrecklich war. Einer der Arbeiter, die noch immer die Decken trugen, rief zu dem RUC

-Mann hinüber, wobei er die Arme hob: „Können sie die brauchen? Wir wollen irgendwie helfen.“
Als der Polizist zögernd näher kam, wandte Kieran sich halb ab, drehte das Gesicht von ihm weg. Er sah den Passanten nach, die aus den umliegenden Häusern und Geschäften flohen, Frauen und Kinder, Jungs in Darrens Alter, Jugendliche, junge und alte Männer. Er wollte nicht riskieren, von einem Polizisten im Feindesland erkannt zu werden, aber der RUC

-Mann hatte kein Interesse an ihm. Er nahm die Decken entgegen, nickte knapp und trug sie ins Zentrum der Explosion, rief einem Kollegen zu, er solle für einen Moment auf die Absperrung achten. Ein Lastwagen der britischen Armee kam die Hauptstraße herunter, Soldaten sprangen von der Ladefläche, nachdem er knapp vor dem zerstörten Supermarkt gehalten hatte. Sie waren schwer bewaffnet, verteilten sich sofort auf der Hauptstraße und gingen in Stellung. Kieran wandte sich wieder ab, machte einen Schritt zurück.
„Was ist los?“, fragte Quinn.
„Nichts“, sagte Kieran ausweichend, „ich muss nach Hause. Wenn du willst, zieh mir den halben Tag vom Lohn ab.“
„Achtundsiebzig hab ich einen Onkel, eine Tante und einen Bruder verloren bei so einem Scheiß.“ Quinn nahm seine Brille ab, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und rang um Fassung. Plötzlich sah er aus wie ein kleiner Junge in einer dunklen Gasse, der nach seinem Daddy schrie. „Meine Mutter hat es nur überlebt, weil sie noch ein Brot nebenan holen wollte, sie ging in den Laden und draußen flog ihre halbe Familie vorbei. Ich war in der Schule zu dem Zeitpunkt und mein Dad hatte einen Job in Manchester. Der Direktor der Schule kam in die Klasse, hat meinen Namen aufgerufen und ich bin aufgestanden. Er hat gesagt, jemand würde mich nach Hause fahren, es sei etwas Schlimmes passiert. Ich hab geahnt, was passiert war, ich wusste nur nicht, wen es erwischt hatte. Das haben sie mir erst im Krankenhaus gesagt. Meine Mutter ist ein Jahr später gestorben und mein Vater ist in Manchester geblieben. Die Terroristen können alle in der Hölle brennen, ganz egal, wie sie sich nennen und weshalb sie das glauben tun zu müssen. Sollte mir jemals einer über den Weg laufen von diesen Bastarden, wüsste ich genau, was ich tun würde.“
Kieran war klug genug, den Mund zu halten, dachte auf dem ganzen Weg heim nur darüber nach, ob er am nächsten Morgen zur Arbeit fahren sollte. Möglicherweise ließen sie ihn nicht durch die Straßensperren, oder Quinn bekam heraus, welche Kirche er sonntags besuchte und war dann so nett, ihn einfach nur vor die Tür zu setzen. Er war nicht der Boss der Fabrik, aber wenn er als Vorarbeiter dem Bos von einem schlechten Arbeiter berichtete, war er gefeuert. Als er nach Hause kam, wussten sie schon bescheid darüber. Der Fernseher lief, Moira saß davor und schaltete aus, als sie seine Schritte hinter sich hörte.
„Ich dachte, es sei Darren“, sagte sie, „das sollte er nicht sehen.“ Sie sah Kieran ängstlich an. „Hast du was davon mitbekommen?“ Ihren Augen war anzusehen, was sie wirklich fragen wollte und es nicht konnte. In den Nachrichten von RTE

hatten sie berichtet, dass die Continuity

verantwortlich für den Anschlag sei, das wurde aber bereits Minuten später korrigiert. Die Real IRA

hatte einen Warnanruf gemacht und man wusste noch nicht, ob die RUC

den Anruf falsch verstanden oder ob die Real

die Menschen in Omagh in die Falle gelockt hatte. Die RUC

hatte statt der Einkaufsstraße die Umgebung der Bank evakuiert, die Leute waren genau auf den abgestellten Wagen mit der Bombe zugelaufen.
„Nein“, sagte Kieran, „ich hab’s erst im Autoradio gehört.“

Er dachte an den Jungen, hoffte, dass er seine Schwester noch unverletzt gefunden hatte. Sie ließen den Fernseher ausgeschaltet an diesem Tag, nachdem Darren vom Hunger getrieben heimkam, schickte Moira ihn in den Garten, bis das Essen fertig war. Dort hockte er und zupfte Unkraut aus den Gemüsebeeten. Er hatte Stroh im Haar und seine Hosen waren bis an die Oberschenkel mit getrocknetem Schlamm bedeckt.
„Bist du in ein Schlammloch gefallen?“, Kieran setzte sich zu ihm, nutzte die letzte Sonne des Tages. Darren kniete vor dem Beet, besah jetzt seine Hose und blinzelte zu Kieran hinüber.
„Ich hab Tadgh geduscht“, sagte er, „aber er wollte nicht.“
Er grinste, begann aus eigenen Stücken zu erzählen, dass er mit Tadhg bis nach Hause geritten war, um ihm den Garten und das Haus zu zeigen, hätte ihm vermutlich auch noch das Haus von innen gezeigt, wenn Brendan ihn nicht daran gehindert hätte. Er musste von den vielen Toten und Verletzten nichts wissen, aber Kieran wusste nicht, wie er es verhindern sollte, dass Darren sich die Zeitung schnappte oder im Dorf etwas davon hörte. Diese Sache konnte er nur aufschieben und sich in der Zwischenzeit Gedanken darüber machen, wie er seine Fragen beantworten sollte. Es war Monate her, dass Darren so locker und fröhlich gewesen war, er erzählte mit Händen und Füßen, wie Tadhg sich auf dem Weg zurück vor einem flüchtenden Karnickel erschrocken hatte und ihm quer über das Feld durchgegangen war, und weil er wusste, dass er über die nächste Feldbegrenzung einfach drüberspringen würde, hatte er sich einfach fallen gelassen.
„Hast du dir wehgetan dabei?“
„Nee. Tadhg ist direkt stehen geblieben und hat auf mich gewartet. Und dann wollte ich ihn duschen und dabei hab ich mich schmutzig gemacht.“
„Du siehst aus wie mit Schokolade überzogen“, sagte Kieran. Er holte die alte rostige Schubkarre, damit Darren das Unkraut hineinwerfen konnte, und ermahnte ihn, die Setzlinge in Ruhe zu lassen.
„Daid?“
Er drehte sich zu ihm herum. Darren kratzte sich unter der Nase, hinterließ dort eine sandige Spur, hockte auf seinem Hintern vor dem Beet.
„War das schlimm, was in Omagh passiert ist?“
Es rauschte in Kierans Ohren, sein Kopfschmerz setzte ein und es war sehr schwer für ihn, seinem Sohn in die Augen zu sehen.
„Ja, es war schlimm“, antwortete er, „aber darüber sprechen wir heute nicht, Okay? Wenn du etwas darüber wissen willst, machen wir das morgen früh, wenn deine Mutter nicht in der Nähe ist.“
Darren nickte. Sie hatten über politische Gegner, Parteien und irische Historie gesprochen und jetzt kam auch noch das Thema Bombenanschläge dazu.

Im Ryan’s aß er ein Sandwich und blätterte durch die Zeitung, bekam von Howard ein Guinness serviert, obwohl er es nicht bestellt hatte.
„Das geht auf’s Haus“, erklärte er.
„Was soll das? Ist bei dir der Wohlstand ausgebrochen?“
Howard setzte sich zu ihm, auf dem Gesicht ein Ausdruck aus Verlegenheit und akutem Unwohlsein.
„Ich stehe in deiner Schuld“, flüsterte er, „wenn ich bei dem Überfall richtig gehandelt hätte, wär das nicht passiert...“
„Darüber haben wir doch oft genug gesprochen, das ist erledigt.“
„Aber wenn ich etwas unternommen hätte...“
„How“, sagte Kieran lauernd aber nicht unfreundlich, „vermutlich hättet ihr euch alle eine Kugel eingefangen, wenn ihr versucht hättet, mir zu helfen. Ich bin dir dankbar, dass du die Jungs zurückgehalten hast. Und das brauchst du jetzt auch nicht mit Gratisverpflegung wieder gut machen zu wollen.“
Howard wollte noch etwas erwidern, beließ es dann aber dabei, dass er einfach darauf bestand, kein Geld anzunehmen. Er musste zurück an die Theke, stellte im Vorbeigehen die Tür fest, um ein wenig frische Luft hereinzulassen. Während er ein halbes Dutzend Guinness zapfte, wankte einer der Betrunkenen hinaus, blieb mitten in der Tür stehen und tat etwas, was er nicht hätte tun sollen – er atmete tief durch. Er hatte einen sehr ausgeprägten Kugelbauch, der es eigentlich erforderlich machte, dass er Hosenträger trug, aber er hatte sich die Hose mit einem Kunstledergürtel festgezurrt, der immer wieder ins Rutschen kam. Man hätte auch versuchen können, einen prall aufgeblasenen Luftballon mit einer Seidenschleife zu versehen. Er stand leicht schwankend in der Tür, atmete tief durch und war schon betrunken genug, dass er nicht bemerkte, dass ihm die Hose bis auf die fleischigen Knie heruntergerutscht war. Die Lacher hinter sich konnte er nicht einordnen, machte einen Schritt nach vorn und merkte da erst, dass ihn etwas am Gehen hinderte. Mit einem abwesenden Gesichtsausdruck zog er sich die Cordhose wieder hoch, machte sich auf den beschwerlichen Weg nach Hause.
„Der wird sich noch auf die Schlappen kotzen“, sagte Tim, vertiefte sich wieder in sein Buch.

Am nächsten Morgen fuhr Kieran nach Omagh in die Fabrik, allerdings trat er den Weg nur an, um zu kündigen. Die Arbeit lief dort wie immer, aber die Stimmung unter den Leuten war gedrückt, niemand lachte laut oder machte die üblichen Witze. Kieran gab Quinn seine schriftliche Kündigung.
Wenn ich die Clóscríobhán

noch hätte, hatte er gedacht, könnte ich das ganze in einer schöneren Form abgeben.
„Was soll das sein?“
„Meine Kündigung. Wenn du willst, kann ich sie auch oben im Büro abgeben.“
„Nein“, Quinn steckte den Umschlag in seine Brusttasche und klopfte darauf, „ich mach das schon. Sag mir jetzt nur noch, weshalb du den Krempel hinschmeißt.“
„Es ist persönlich. Nach dem, was gestern passiert ist, kann ich euch nicht mehr mit gutem Gewissen unter die Augen treten.“
„Du versaust mir den Tag, Finnigan. Es wäre besser gewesen, du wärst zu Hause geblieben und hättest die Kündigung mit der Post geschickt.“
„Ich weiß. Aber ich wollte nicht mit einem schlechten Gefühl verschwinden.“
Quinn war bleich geworden, nur auf seinen Wangen und an seinem Hals zeigten sich rote Flecken. Männer, die kurz vor einem Herzinfarkt standen, mochten so aussehen.
„Ich scheiß einen großen Haufen auf dein schlechtes Gefühl. Ich arbeite hier mit vielen Männern zusammen, mit Katholiken und Protestanten und Hindus und es gibt keinen Ärger, wenn alle ihre Überzeugungen vor dem Werksgelände ablegen. Wir kommen miteinander zurecht. Es gibt dumme Sprüche, aber ich achte darauf, dass niemand persönlich angegriffen wird. Wenn du was damit zu tun hattest oder glaubst, dich deshalb schuldig fühlen zu müssen, dann verschwinde und lass dich nicht mehr blicken. Das eine ist ebenso schlimm wie das andere.“
In Belfast hatte er ähnliche Dinge getan oder war daran beteiligt gewesen, das schien Jahrhunderte zurückzuliegen und gleichzeitig war alles noch so frisch in seinem Gedächtnis, als habe er ein altes Fotoalbum entdeckt und durchgeblättert.
„Ich hatte nichts damit zu tun und ich kenne niemanden, der darin verwickelt war. Ich weiche einfach nur den Schwierigkeiten aus, die auf mich zukommen, wenn ich hier bleibe. Ich hatte selbst genug Ärger, weil ich meinen Sohn auf eine protestantische Schule gebracht habe.“
Quinn schien sich etwas zu beruhigen. „Davon hab ich in der Zeitung gelesen, aber ich wusste nicht, dass du das bist. Du hast noch die Kugel im Schädel.“
„Es sei denn, ich hab sie inzwischen verloren und es nicht bemerkt.“
Quinn machte eine Kopfbewegung Richtung Fabriktor, und sie gingen gemeinsam aus der Halle. Seine Wut schien verraucht zu sein, aber deshalb wurde er nicht freundlicher.
„Es interessiert mich nicht, was bei euch los ist, und dass du hier bist, um dich zu erklären, ändert nichts daran, was ich über die irischen Terroristen denke. Ich weine keinem eine Träne nach, wenn ich höre, dass es einen erwischt hat oder ins Loch gesteckt wird. Es macht mich rasend, dass von diesen Verbrechern zu jedem Weihnachtsfest ein paar frühzeitig entlassen werden, obwohl sie es alle verdient haben, bis ans Ende ihrer Tage im Knast zu schmoren.“
Kieran blieb stumm, bis sie außerhalb des Tores auf der Straße standen. Eigentlich hatte er sich mit einem Handschlag verabschieden wollen, um einen Rest von Respekt und Haltung zu wahren, aber der Vorarbeiter war verbittert, wollte davon nichts hören, was Kieran noch zu sagen versuchte.
„Ich kann nur für mich sprechen, ich wollte, ich könnte es alles ungeschehen machen, was passiert ist. Es gibt viel zu viele, die an den alten Vorstellungen festhalten und die gibt es auf beiden Seiten. Ich kann nichts weiter tun als mich zu entschuldigen und ich hoffe, dass du mich nicht mit den anderen in eine Schublade steckst.“
Quinn drehte sich um, marschierte zurück in die Fabrik. Übrig war nur noch dumpfe Enttäuschung, die er am Ende des Tages mit einem Whiskey herunterspülen würde. Über seine schwarz-weiß Einstellung dachte Quinn lange nach, es tat weh, sich eingestehen zu müssen, dass man selbst Fehler gemacht hatte.

Kieran fand das Haus leer, weil niemand damit gerechnet hatte, dass er so früh zurückkommen würde. Er ließ die Hunde auf dem Feld herumlaufen, machte sich eine Tasse Tee und entdeckte neben dem Küchentisch Darrens Schultasche. Er trug sie in sein Zimmer zurück, in dem ein Chaos herrschte, wie es wohl in jedem Jungenzimmer anzutreffen war, er stellte die Tasche ab, entdeckte ein paar Bücher mit Büchereiaufkleber auf den Einbänden auf Darrens Nachttisch. Er hob sie auf, las die Titel, setzte sich auf das schmale Bett, die Bücher auf seinen Knien. Seine Kopfschmerzen wurden schlagartig so heftig, dass er die Augen schließen musste. Ihm wurde einiges klar. Endlich wusste er, was in Darren vorging, weshalb er sich für die Nachrichten interessierte, weshalb er nicht nur mehr die Lokalmeldungen lesen wollte.
Was mach ich mit ihm

? dachte er, rieb sich beide Seiten der Stirn, wie bringe ich ihn davon weg

?
Die Entscheidung war schnell getroffen, nur die Umsetzung würde länger dauern und er hatte nur begrenzte Zeit zur Verfügung. Anfang September ging für Darren das nächste Schuljahr los und sollte er es wirklich durchziehen wollen, musste er alle Verbindungen spielen lassen, die er noch hatte.

Pol hatte ein altes Fahrrad gefunden, kam auf ihm angefahren und kurvte die Straße rauf und runter, klingelte ununterbrochen und versuchte sich in halsbrecherischen Kunststückchen, obwohl das Rad quietschte, klapperte und zusammenzubrechen drohte. Er nahm keine Rücksicht auf die Autos, die ihm hupend auszuweichen versuchten, sauste immer wieder an dem Schlagloch vorbei, das vor dem Haus der Finnigans immer tiefer wurde. Als Brendan dazu kam, setzten sie sich zu zweit auf das scheppernde Rad, einer auf dem Sattel, einer auf dem Gepäckträger, und rasten an den Vorgärten der Nachbarn vorbei. Der Höhepunkt ihrer wilden Spielerei war, als sie sich rückwärts auf das Rad setzten und einen Abhang runterrollten. Pol lenkte blind, hielt den Lenker mühsam gerade, sie kamen bis an den Fuß des Abhangs, wo das Rad gutes Tempo drauf hatte, und hätten es fast heil überstanden, wäre Brendan nicht aus dem Gleichgewicht geraten und das Rad ins Trudeln gebracht. Pol konnte nicht mehr gegenlenken, sie schrien durcheinander und beschimpften sich, bis sie Schlagseite bekamen und seitlich umkippten. Sie fielen übereinander, verdrehten sich Arme und Beine und kamen in dem ganzen Durcheinander und vor lauter Lachen ewig nicht auf die Beine. Pol hatte sich die Lippe blutig gebissen und Brendan hatte sich das Knie verdreht, dass er nur noch humpeln konnte. Das Rad hatte den Sturz gut überstanden, der Lenker hatte sich umgedreht, ließ sich aber wieder in die richtige Position bringen.
„Ich werde es anmalen“, kündigte Pol munter an, „mit Blumen. Vielleicht Sonnenblumen. Muss mir nur noch Farbe besorgen.“
„Das werden sehr kleine Sonnenblumen.“
Brendan humpelte noch immer, als sie in die Küche kamen, sich zu Moira an den Tisch setzten. Sie war mit einem Kreuzworträtsel beschäftigt, während die Kartoffeln auf dem Herd kochten. Sie sah die beiden nur kurz an, bemerkte den Staub und die Blessuren, schüttelte nur den Kopf darüber. Brendan machte das Radio an, stellte den Musiksender ein. Als er sich wieder setzte, schlug er Pol mit der flachen Hand auf den Kopf.
„Mein Knie tut noch immer weh, du Blödmann.“
Sie hörten Musik und die Nachrichten, als Kieran nach Hause kam, sagte Moira: „Das Essen ist in einer halben Stunde fertig.“
Kieran sah seltsam aus, als habe er sich ständig die Augen gerieben und als sei seine Laune auf dem absoluten Tiefpunkt.
„Was ist das für ein Fahrrad da draußen?“
„Das ist meins“, sagte Pol.
„Kommt ihr mal mit nach draußen, ich muss was mit euch besprechen.“
Sie setzten sich im Garten unter einen Baum, dort hatte Kieran eine Holzbank aufgestellt, an der Stelle, von wo aus er den besten Blick über den Garten hatte. Kieran stützte die Ellenbogen auf die Knie und schien eine Ewigkeit zu brauchen, um einen Anfang zu finden, was den Zwillingen Zeit ließ, sich eigene Gedanken zu machen. Sie dachten, es ginge um Omagh und er hätte irgendwelche Informationen darüber, was dort wirklich schief gegangen war.
„Ich werde Darren und Moira von hier wegbringen, noch bevor die Schule wieder anfängt. Es wird wie ein Urlaub aussehen für die Beiden.“
Pol und Brendan sahen sich an, zuckten unmerklich mit den Schultern.
„Was ist mit uns? Bekommen wir auch einen Urlaub spendiert?“
„Wir drei bleiben hier. Es sei denn, ihr habt was anderes vor, dann lasse ich euch die Wahl. Und kein Wort zu Darren und Moira, das sage ich ihnen selber.“
Brendan hockte im Gras, das verdrehte Knie von sich gestreckt, Pol zog sich die Schuhe aus und warf sie Richtung Haus zurück.
„Sag mal“, meinte er, „wo willst du sie hinschicken? Zu ihren Verwandten?“
„Das hab ich noch nicht entschieden, aber es wird etwas weiter weg sein.“ Er sprach es nicht aus, was er plante, denn er konnte es sich selbst noch nicht eingestehen, dass er es durchziehen würde.
Möglichst weit weg, hatte er gedacht, und dann lange darüber nachgedacht, welche Verbindungen er nutzen sollte und wen er anrufen konnte.
„Es wird Zeit, dass ihr beide euch abnabelt. Wenn alles klappt, wie ich mir das vorstelle, behaltet ihr das Haus, was heißt, dass ihr für alle Kosten aufkommen müsst. Die Schulden sind noch im Rahmen des Erträglichen und wenn ...“
„Wir behalten das Haus?“
„Weshalb überschlägst du dich plötzlich, um Moira und Darren von hier wegzubringen? Was ist passiert?“
Pol rückte näher an Kieran heran, legte den Kopf schief und tat so, als wolle er darüber lachen, aber er konnte es nicht. Kieran sprach nicht von einer vorübergehenden, sondern von einer dauerhaften Lösung. Er brachte Moira und Darren aus Pettigoe fort. Sie würden nicht wiederkommen nach einem Ferienausflug, Darren würde nicht wieder auf die Schule gehen. Alle Opfer schienen umsonst gewesen zu sein. Das Haus blieb ihnen, weil es sonst leer stehen würde.
„Du hast doch keine neuen Drohungen bekommen, oder doch?“
Brendan war stumm, sah nur von einem zum anderen, starrte schließlich auf den Boden.
„Wenn sie’s noch mal auf mich abgesehen haben, werden sie ihre Zeit nicht mit Drohungen vergeuden, aber darum geht es nicht. Ich hab bei Darren ein paar Bücher gefunden, die er mit Sicherheit nicht aus der Schulbibliothek hat. Er stellt mir Fragen, er verschlingt jeden Zeitungsartikel über die Entwaffnung und die Nordirlandversammlung. Er hat mich gefragt, wer Adams sei. Ich will nicht, dass er sich mit diesen Themen befasst und sich möglicherweise in fünf Jahren dazu entscheidet, selbst etwas zu tun. Bei euch hab ich es verhindert, dass ihr euch irgendeiner Gruppe anschließt, aber wenn ich Darren nicht wegbringe, schaffe ich das nicht. Er geht anders an die Sache ran. Er studiert sie.“
„Was soll das heißen, du hast es bei uns verhindert?“ Pol kratzte sich den Dreck vom Ellenbogen, sah Kieran auffordernd an, als würden sie jetzt etwas hören, worauf sie schon lange warteten, und es gleichzeitig schon immer geahnt hatten. Kieran lehnte sich etwas zurück.
„Ich hab euch von morgens bis abends in den Hintern getreten, oder? Ich wollte nicht das falsche Vorbild für euch sein.“
Das war den Zwillingen schon lange klar gewesen, wenn sie es auch niemals in Worte gefasst hätten. Pol dachte an die Veränderungen, die über sie hereinbrachen und was noch alles auf sie zukommen würde.
„Und wenn Moira nicht von hier weg will?“, fragte er. Sie sahen zum Haus hinüber, wo sie Moira in der Küche wusste, wo sie eigentlich ständig zu sein schien, wenn sie darüber nachdachten, und sie konnten sich nicht vorstellen, dass sie sich leichten Herzens von dem Haus und allem anderen trennte. Es einen Urlaub zu nennen und sie dann vor vollendete Tatsachen zu stellen – das konnte Kieran ihr doch nicht antun.
„Wenn ich Darren wegbringe, wird sie bei ihm bleiben wollen und an meinem Entschluss kann sie nichts ändern.“
„Bleibst du bei ihnen?“, fragte Brendan plötzlich, ohne aufzusehen, seine Stimme war belegt, als kämpfe er mit den Tränen. „Oder bringst du sie irgendwohin und planst für dich etwas anderes?“
„Wenn alles gut geht, kommen wir in einem Haus unter, das groß genug für alle ist.“
„Was hätte Daid

wohl davon gehalten?“
Daid

hätte mich in seinen guten Zeiten grün und blau geprügelt, wenn ich ihm gesagt hätte, dass ich ihm die Totenwache verweigern würde. Und dann noch sein Haus verlasse.“
„Du wirst weit laufen müssen, um seinem Geist zu entwischen.“
Sekundenlang waren sie still, hingen ihren Gedanken nach. Pol und Brendan begannen zu kichern, genau auf dem Punkt und ohne sich zuvor angesehen zu haben. Sie hatten beide an Paddys blumige Flüche gedacht, die er von sich gegeben hatte, wenn sie ihm einen Streich gespielt hatten oder ein Nachbar sich über ihre Untaten beschweren musste. Und dann dachten sie jedes Mal an die Geschichte, wie Paddy in jüngeren Jahren mit einem Trick fremde Durchreisende Geld abgeluchst hatte; diese Geschichte hatte ihre Mutter ihnen erzählt und jeder in Pettigoe konnte sie ebenso gut erzählen. Daran mussten sie denken und lachten darüber und Kieran wollte wissen, was los sei.
„Daids Mitfahrnummer“, sagte Pol und Kieran grinste.
„Paddy war ein ausgekochter Hund“, sagte Kieran. Er stemmte sich von der Bank hoch. „Aber wenn ich ihn heute fragen könnte, ob es richtig ist, was ich mache, würde er hinter mir stehen.“
Er drehte sich zu den Zwillingen um. „Kommt essen. Und lasst euch um Himmels willen nichts anmerken.“

Nach dem Gottesdienst am Sonntag unterhielt Kieran sich lange und sehr eindringlich mit Father Cormac, sie standen vor der geöffneten Kirchentür, aus der die letzten Besucher langsam herausströmten und Father Cormac jedem Einzelnen zunickte, während Kieran redete. Er erwiderte nur wenig, nickte und als Moira ungeduldig näher kam, hörte sie noch, dass er sagte: „Es ist alles geregelt. Ich wünsche euch nur das beste, Kieran. Gott schütze euch.“
Sie hatte die Frage auf den Lippen, was Kieran mit ihm vereinbart hatte, aber Kieran kam ihr zuvor und legte den Zeigefinger über seine Lippen.
„Ich erkläre es dir gleich, aber nicht hier.“
Sie war neugierig, vollkommen ohne böse Vorahnung. Alles lief gut im Moment, auch wenn Kieran keine Arbeit hatte und sie Mahnungen wegen der hohen Krankenhausrechnungen bekamen; die Zwillinge brachten das Geld nach Hause und Darren schien den nächtlichen Vorfall fast vergessen zu haben. Er war munter und aufgeweckt wie schon lange nicht mehr, und sie selbst hatte noch eine kleine Überraschung für Kieran, die sie seit Tagen mit sich herumtrug. Aoife Skelly, eine ältere alleinstehende Frau zwei Straßen weiter, hatte sie angesprochen, ob sie nicht bereit wäre, zweimal in der Woche für sie einkaufen zu gehen und die Wohnung in Ordnung zu halten. Sie lebte von einer guten Rente, war aber selbst zu gebrechlich nach einem Unfall, um für sich selbst zu sorgen. Moira hätte sofort zugesagt, wäre es nur um sie gegangen, aber sie wollte Kierans Meinung hören und sich ein paar Tage Bedenkzeit lassen. Es war gut verdientes Geld, was sie dort verdienen konnte und die alte Dame Aoife war eine angenehme Gesellschaft. Nur, weil Kieran in letzter Zeit sehr beschäftigt gewesen war, hatte sie es ihm noch nicht erzählt.
Sie gingen zu Fuß zurück, kamen am Friedhof vorbei, der direkt an der Kirche angrenzte und Kieran sagte: „Lass uns hier langgehen.“
Sie glaubte, er wolle zu Paddys Grab, aber er bog bereits in die andere Richtung ab, zu einer Parkbank, die auf einem kleinen Hügel stand. Der Friedhof war still und menschenleer, sie setzten sich und genossen den Sonnenschein. Am Himmel zogen immer wieder dicke weiße Wolken vorüber, aber es war warm und fast windstill.
„Ich habe mit Father Cormac gesprochen, weil ich allein ein Problem nicht lösen konnte. Er hat Verbindungen nach New York, ist nicht selten gewesen in den letzten Jahren, dass er Auswanderer irgendwo untergebracht hat oder versucht hat, Jobs zu vermitteln.“
„Redest du von einem Job oder vom Auswandern?“ Sie zwickte ihm in den Arm, dachte an eine Jobvermittlung, weil das Thema Auswandern – Irland verlassen – ihr gar nicht in den Sinn kam. Es war nie zur Sprache gekommen. Kieran wusste nicht, wie er es ihr schonend beibringen sollte.
„Darren muss raus aus dem ganzen Mist“, begann er, verfolgte ängstlich ihre Reaktion, „ich weiß, dass er Bücher über Ostern neunzehn sechzehn liest und auch ein Buch über DeValera, und wir müssen was tun, bevor es zu spät ist.“
Sie wusste, worauf er anspielte. „Aber das sind nur Bücher, Kieran, er interessiert sich für die irische Geschichte. Was willst du dagegen tun?“
„Das ist erst der Anfang“, sagte Kieran. Er mochte nicht dran denken, wie viele Tote auf diesem Friedhof lagen, die nie eine Chance gehabt hatten, als sie noch lebten. Darren musste er diese Chance geben.
„Er interessiert sich dafür, was damals war und dann nimmt er sich jeden Morgen die Zeitung und liest die Artikel. Findest du das normal für einen Jungen in seinem Alter? Ich kann das nicht verhindern, dass er hier auf Leute trifft, die ihm sagen, dass man nur mit einer Waffe in der Hand für sein Land kämpfen kann. Deshalb bring ich ihn weg von hier und komme nach, sobald es geht.“
„Für wie lange? Im September fängt die Schule wieder an.“
Er verlor etwas den Mut und ließ sich zu einer Notlüge hinreißen, weil Moiras Hände zu zittern begannen und er den Schock abschwächen wollte.
„Bis zum neuen Schuljahr seid ihr zurück.“
„Aber du hast eben gesagt, du würdest nachkommen und das klingt eher so, als ...“
„Ich hab noch ein paar Dinge zu erledigen, aber eurer Abreise steht nichts im Wege.“
„Wo geht’s hin?“, fragte sie.
„Das wird eine Riesenüberraschung für Darren, es wird ihn umhauen. Ihr fliegt übermorgen nach New York und dann nach Boston. Ich hab alles schon bereitliegen, die Tickets, Pässe, Adressen. In New York holt euch beide Father Judge ab und kümmert sich um euch. Boston wird euch gefallen, und wenn ich hier alles geregelt habe, komme ich innerhalb von einer Woche nach. Das ist versprochen.“
„Boston“, murmelte Moira, „das ist sehr viel weiter weg, als ich gedacht hätte. Das ist eine riesige Großstadt. Kommen wir da auch zurecht? Und du denkst, es wird reichen, um Darren auf andere Gedanken zu bringen?“
„Wenn es nur eine Phase ist, wird es hoffentlich klappen.“
Es ist keine Phase

, dachte Kieran, Darren ist kein Junge für Phasen, wenn es um wirklich wichtige Themen geht. Er ist ein Junge, der mit einem Pony durch die Nacht davon galoppiert, um es nicht zu verlieren. Für die Straßenpropaganda ist er ein wenig zu schlau, darauf fällt er nicht herein, aber wenn er zu dem Entschluss kommt, dass er selbst mitkämpfen will, wird er sich davon nicht abbringen lassen. In Boston gewinnt er Abstand und dort bekommt er den Hass auf den Straßen nicht mehr mit. Ich kann einfach nicht zulassen, dass ihm etwas passiert.


„Wie willst du ihm das beibringen, Kieran? Er wird nicht weg wollen.“
„Ich mach das schon.“
Moiras Finger tasteten sich seinen Arm hinunter bis zu seinen Händen, ihre zitterten noch immer, sie hielten sich fest, bis das Zittern weniger wurde und schließlich ganz aufhörte.
„Ich möchte hier noch ein wenig sitzen blieben“, sagte Moira, „die Sonne ist herrlich. Noch mag ich es mir gar nicht vorstellen, wie es in Boston sein wird.“
„Es wird alles großartig werden. Glaub mir, in Amerika gibt es keine Bekleidungsgeschäfte, in denen nebenbei Konserven im Fenster stehen.“
Sie war froh, dass sie noch nichts wegen des Jobs bei Aoife Skelly gesagt hatte, sie würde einfach fragen, ob es möglich wäre, erst zum September die Arbeit zu beginnen. Immerhin war die Aussicht auf einen langen Urlaub besser als alles andere, was sie befürchtet hatte. Bei Kieran waren gute Neuigkeiten eine wirkliche Seltenheit.

Darren spielte mit Tabby im Garten, wirbelte einen Gummiball an einer Schnur durch das Gras und die Katze raste im Zickzackkurs hinterher, obwohl sie genau wusste, dass es nur ein geschmackloses Gummibällchen war. Sie konnte sehr gut zwischen Spiel und Jagd unterscheiden, wenn sie im Spiel mit Darren herumalberte, biss sie ihm nur mit halber Kraft in die Finger und fuhr dabei nie die Krallen aus.
Als Kieran in den Garten kam, scheinbar nach dem rechten sah und den Hunden frisches Wasser gab, sah Darren zu ihm hinüber und vergaß an der Schnur zu ziehen. Die Katze packte den Ball, biss energisch hinein und rannte mit ihm davon. Darren ließ die Schnur los, die wie eine sehr dünne fast unsichtbare Schlange durch das Gras verschwand, der Katze folgend.
Den ganzen Tag war sein Dad seltsam gewesen, unruhig und sehr still hatte er im Wohnzimmer gesessen, den Sessel vom Fernsehbild abgewandt. Es war wahrscheinlich, dass er wieder Kopfschmerzen hatte und das machte Darren Sorgen. Niemand aus der Familie hatte ihn bisher wirklich davon überzeugen können, dass so eine Kugel in einem Kopf nicht irgendwann richtig gefährlich wurde. Im Fernsehen hatte er eine Dokumentation über ein Land in Südamerika gesehen, in dessen Krankenhäusern man den Opfern von Schusswunden einfach die Wunde zunähte und sie wieder nach Hause schickte, wenn sie kein Geld für eine richtige Operation hatten. Er glaubte schon, dass man nicht an einer Kugel starb, die man im Arm oder im Bein stecken hatte, aber der Kopf war doch etwas ganz anderes. Darren wusste, was auf ihn zukam; so, wie sein Dad aussah, war es eine schlechte Nachricht.
„Hey“, sagte Kieran, „hast du Lust, ein Stück mit den Hunden zu gehen?“
Sie nahmen Trash, Stan und Olli mit, Darren warf die ganze Zeit Stöckchen, selbst Trash spielte mit ihm herum. Kieran begann von einem Urlaub zu erzählen, den sie machen würden, noch bevor die Schule wieder anfing und er wartete, bis Darren ihn neugierig und begeistert ansah, dann erst sagte, wo es hinging.
„So weit weg?“, fragte Darren, aber es klang nicht beunruhigt, sondern begeistert. Das war etwas, womit er Gilbert haushoch überlegen war, Urlaub in Boston, New England. Er würde eine der riesigen Städte sehen, die Gilbert sich nur auf Video ansah und dann würde er eine ganze Menge zu berichten haben. Gilbert würde die Spucke wegbleiben.
„Kann ich Tadhg mitnehmen?“, wollte er wissen, obwohl er genau wusste, wie die Antwort ausfallen würde.
„Nur, wenn du ihn während des Flugs auf den Schoß nimmst“, sagte Kieran. Er freute sich über Darrens fröhliches Lachen, sie drehten eine weitere Runde über die Feldwege und Boston kam nicht mehr zur Sprache. Für Darren würde es erst problematisch werden, wenn er in Boston die Wahrheit erfuhr. Bis dahin war es umso wichtiger, dass der Junge noch eine schöne Zeit hatte, unbelastet von dem, was auf ihn zukommen würde.
Moira wollte wissen, wo das Geld für den USA Aufenthalt herkäme, wo sie doch genau wusste, dass nicht einmal das Pony bezahlt war, und sie bekam zur Antwort, dass das Geld kein Problem sei, sie selbst müssten nicht für die Kosten aufkommen.
Wer finanziert uns das?

, dachte Moira.
Sie stellte diese Frage nicht laut, obwohl sie sich immer wieder Gedanken darüber machte, es sie kaum schlafen ließ. Am nächsten Morgen hatte sie dann aber so viel zu tun, dass sie nicht mehr ins Grübeln kam. Koffer und Taschen mussten gepackt werden und sie mussten sich zwei große Koffer bei den Shaughnessys leihen, weil sie die ganzen Sachen nicht verstaut bekamen.
„Was willst du noch alles einpacken?“, fragte Kieran.
Sie reagierte hektisch und aufbrausend, warf eins von Darrens T-Shirts nach ihm, was an seinem Kopf schlaff vorbeiflatterte.
„Ich pack ein, was nötig ist“, rief sie, „immerhin ist das nicht nur ein Wochenendausflug. Hast du denn eine Ahnung, was für ein Wetter dort sein wird? Wenn wir in einem Hotel unterkommen, können wir nicht in Sack und Asche herumlaufen, ich will doch nicht die Leute sagen hören ‚Sieh dir diese Schlampenfamilie aus Irland an, die laufen seit einer Woche in den selben Fetzen herum’. Und du weißt, dass Darren sich ständig dreckig macht.“
Nebenan hockten Pol und Brendan, lauschten angestrengt und hofften, irgendetwas Neues zu erfahren, aber nachdem Moira sich beruhigt hatte, wurde es wieder still. Pol sah sich in dem Zimmer um, zeigte dabei nicht gerade ein fröhliches Gesicht.
„Ich kann mir nicht vorstellen, hier allein mit dir zu wohnen. Das ist mir alles nicht geheuer.“
„Kieran wird doch irgendwann zurückkommen.“
Brendan steckte sich eine Zigarette an, wedelte den Qualm von sich fort. „Glaub ich nicht. Sieh ihn dir doch an, was er alles vorbereitet hat. Der verschwindet und kommt nicht zurück.“

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Tag der Veröffentlichung: 19.08.2011

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