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Trash
Monate später, als sich der Frühling ankündigte und Kieran endlich so weit war, dass er wieder Auto fahren und arbeiten konnte, bekam er einen Anruf von Gerry, der etwas von einer Überraschung erzählte und ihm sagte, er solle ihn an der Bushaltestelle treffen. Als der Bus endlich heranrollte, stehen blieb und die Tür öffnete, musste Gerry sich ein paar wütende Kommentare und Beleidigungen seiner Passagiere anhören, aber darüber grinste er nur und machte eine Kopfbewegung zu Kieran herunter, dass er hereinkommen solle. Hinten an der letzten Bank hockte ein schwarzer Hund, der mit einem Stück Wäscheleine an den Sitz festgebunden war. Allein im Bus hatte er sich ruhig verhalten, aber als Kieran auf ihn zukam und ihn ansprach, warf er sich nach vorn, sprang nach oben und wurde vom Strick zurückgerissen. Er bellte und heulte gleichzeitig, ein lang gezogener Ton der puren Verzweiflung.
„Trash“, sagte Kieran mit ruhiger Stimme, ging in die Hocke und war mit dem Hund auf Augenhöhe, „hey, Trash, es ist alles in Ordnung. Ich würde gerne wissen, wo du die ganze Zeit gesteckt hast, Junge. Du hast dich rumgetrieben, was?“
Trash verstummte, aber er machte einen so misstrauischen Eindruck, dass Kieran es nicht wagte, näher an ihn heranzugehen. Seine Knie taten schon weh. Der Hund war klapperdürr und struppig, wäre da nicht der kleine Stern auf der Brust und die Zeichnung in seinem Gesicht gewesen, hätte er ihn nicht wieder erkannt.
„Wie hast du ihn in den Bus bekommen?“, fragte Kieran und Gerry antwortete: “Ich hab ihn bestochen. Hat mich zwei Schinkensandwiches gekostet.“
Ganz langsam zog Kieran seine alte Jacke aus, argwöhnisch beobachtet von Trash, der sich halb unter den Sitz der Rückbank zurückgezogen hatte. Kieran schob die Jacke zu dem Hund hinüber, bis er nur die Nase ausstrecken musste, um sie zu berühren- was der Hund nach wenigen Minuten auch tat. Er schnüffelte, schob seine Nase unter den Stoff, kratzte mit einer Pfote daran. Die Jacke musste ihn einfach noch mehr an sein altes Zuhause erinnern als Kierans Stimme, dort waren noch die frischen Gerüche von Jep und den Jagdhunden gefangen, von Moiras Küche und der frischen Erde des Gartens.
Trash ließ sich von Kieran anfassen, knurrte und bellte nicht mehr, aber er zeigte auch mit keiner Regung, dass er Kieran wieder erkannte. Er war ruhig und fügte sich einfach in sein Schicksal. Kieran nahm seine Jacke und zog den Hund am Strick aus dem Bus. Im Tageslicht sah er noch erbärmlicher aus. An seinem Hals war das Fell rund herum weggescheuert, als habe er an einer Kette gelegen und wäre ruhelos hin-und hergelaufen. Er war ein Bild des Jammers, stand mit eingekniffener Rute da und wagte keinen Blick nach oben.
„Wo hast du ihn gefunden?“
„Ich fahr schon seit Tagen an dem Hof vorbei, und jedes Mal hab ich ihn an dieser Kette zerren sehen. Tag und Nacht hat er sich zu befreien versucht und das allein hat mir schon das Herz gebrochen. Erst, als er sich gestern zu mir herumgedreht hat, als ich vorbeigekommen bin, hab ich ihn erkannt.“ Gerry seufzte. „Ich hab’s nicht wirklich glauben können, dass es Trash ist, aber selbst, wenn er es nicht gewesen wäre, hätte ich es getan.“
„Wie viel hast du denn für ihn bezahlt?“
„Gar nichts. Ich bin ganz früh morgens hin und hab ihn geklaut. Trash war eingeschüchtert genug, dass ich ihn einfach von der Kette machen konnte, er hat nicht mal gebellt. Die haben wohl gedacht, er wäre ein toller Wachhund, aber da draußen auf dem Hof hätte er irgendwann alle viere von sich gestreckt. Ich hab die Kette von seinem Halsband aufgebogen, dass es so aussieht, als hätte er sich selbst befreit. Einen Strick hatte ich mitgebracht, aber ich musste ihn nicht zwingen, mit mir mitzukommen, er konnte gar nicht schnell genug von dem Hof wegkommen.“
Gerry lief einmal durch den Bus, um den Müll von den Sitzen zu sammeln.
„Jetzt kannst du ihn wieder mit nach Hause nehmen und aufpäppeln.“
„Ich verstehe das nicht, Gerry. Wie kann man einen Hund so behandeln? Am liebsten würde ich diesen Leuten einen Besuch abstatten.“
„Lass das lieber. Sie würden es nicht begreifen.“
Gerry hatte noch eine Tour zu fahren, versprach am Abend vorbeizukommen.

Kieran brauchte lange, bis er wieder zu Hause ankam, weil der Hund so verschüchtert war, dass er kaum eine Pfote vor die andere bekam. Wenn er ihn mit Gewalt durch die Gegend zog, konnte er kaum sein Vertrauen zurückgewinnen. Erst, als Trash vor dem Haus stand und in den Garten sehen konnte, zog er auf den Zwinger zu, wo Jep, Abe und Bee zu kläffen begannen. Sie begrüßten Trash, aber längst nicht so ausgelassen, wie man es nach so langer Zeit erwartet hätte. Kieran beobachtete, wie sie sich umrundeten und beschnüffelten, dass Trash nichts mehr von seinem alten Chefgehabe zeigte. Er fühlte sich als letztes Glied in der Kette, noch unter den Babys Stan und Olli, und würde kaum fressen, wenn die anderen Hunde noch nicht fertig waren.
„Komm her, Trash“, sagte Kieran, „bis wir dich aufgepäppelt haben, bleibst du bei uns im Haus.“
Er machte eine halbe Dose Hundefutter fertig, um den ausgehungerten Hund sich nicht überfressen zu lassen, überlegte lange, wo er Trash ein warmes Plätzchen zurechtmachen konnte. Erst später fiel ihm ein, dass er die ganze Zeit über weder an die Kugel noch an die Kopfschmerzen gedacht hatte; er hatte sich wie in den alten Zeiten gefühlt und vielleicht war es genau das, was er brauchte – Ablenkung und eine Aufgabe. Brendan kam mit Darren nach Hause und bei der allgemeinen Unruhe verkroch Trash sich unter der Spüle und ließ sich durch nichts mehr hervorlocken.
„Haben wir einen neuen Hund?“, fragte Brendan, hing auf den Knien und versuchte einen Blick unter die Spüle zu werfen.
„Das ist Trash“, erwiderte Kieran, „ich kann’s selbst kaum glauben, dass er wieder da ist. Gerry hat ihn irgendwo gefunden, aber er wollte mir nicht sagen, wo.“
Darren setzte sich auf den Küchenfußboden, stützte das Kinn auf die Handflächen und wartete darauf, dass sich unter der Spüle etwas tat.
„Trash?“, sagte er, drehte den Kopf zu Kieran herum.
„Es ist Trash, ganz sicher. Es geht ihm nicht gut, aber wir kümmern uns um ihn, bis er wieder Speck auf den Rippen hat.“
Trash war nie Darrens Liebling gewesen, aber jetzt war er einer der Hunde, die seinen Vater verteidigt und von dem sie geglaubt hatten, dass er tot sei und allein schon deshalb war es ein kleines Wunder, dass er wieder da war.
„Musst du heute nicht zu Tadhg?“, fragte Moira, die sehr spät vom Einkaufen wiederkam und sich wunderte, dass Darren auf dem Fußboden hockte.
„Trash ist wieder da“, sagte Darren. Er ging sich schnell umziehen, legte seine Schulkleidung ordentlich zusammen auf die Kommode, fuhr auf seinem Rad zu Tom hinüber. Von Trash hatte er nicht mehr gesehen als eine Pfote und etwas Fell, aber er wusste genau, wie Trash sich fühlte und weswegen er es vorzog, unter der Spüle zu liegen und von der Welt nichts wissen zu wollen.

Er setzte sich mit einem Buch zu Tadhg auf die Weide, der zu ihm herüberkam, ihn neugierig anstupste und dann wieder davonschlenderte. Darren las einige Kapitel, bis es zu dunkel wurde und er bei Tom an die Tür klopfte. Es kamen in den ungemütlichen Monaten keine Reittouristen mehr und so sah er sich auf den Auktionen wieder nach guten Jährlingen um, die er aufziehen und weiterverkaufen wollte. Das Geld reichte wieder vorne und hinten nicht, aber darüber machte Tom sich keine Sorgen. Bisher waren sie noch immer über die Runden gekommen. Er erzählte Darren bei einer Tasse Tee von einer Auktion in Connemara, die er kommende Woche besuchen wollte.
„Darf ich mit?“
„Du darfst am Samstag mitfahren, wenn dein Dad es erlaubt.“
Durch die Sprachtherapie war Darrens Aussprache sehr viel deutlicher geworden, aber noch immer sprach er nur, wenn es unbedingt sein musste. Bei der Aussicht auf eine Reise nach Connemara lächelte Darren leise vor sich hin und Tom fand es beruhigend, sein Lächeln mal wieder zu sehen. Darren fuhr nach dem Tee nach Hause, strampelte so schnell er konnte, damit die Fahrradlampe heller wurde. An der Auffahrt kamen ihm Laoise und Liam entgegen, sie fuhren in seinem Wagen, mit dem er öfters vorbeikam und Darren hob eine Hand, das Rad schlenkerte über den holprigen Weg und er griff schnell wieder an den Lenker. Er mochte die beiden, aber er wollte sich nicht mit ihnen unterhalten müssen. Jetzt wollte er nur noch nach Hause und sehen, wie es dem armen Trash ging.

Für das Wochenende, das Darren mit Tom in Connemara verbrachte, überredete Kieran Moira sehr energisch, ihre Mutter in Dundalk zu besuchen, weil das schon über Weihnachten nicht geklappt hatte. Moira war nicht begeistert von der Idee, sie hatte kein gutes Verhältnis zu ihrer Mutter und das Wochenende über würde sie sich einige Vorwürfe und Anschuldigungen anhören müssen. Sie stimmte dem Besuch nur zu, packte ihre Tasche und stieg in den Zug, weil sie wusste, dass Kieran etwas zu erledigen hatte, bei dem er keine Augenzeugen brauchte. Pol und Brendan waren an den Wochenenden sowieso nicht zu Hause, sie nutzten die freie Zeit, um durch die Gegend zu ziehen, also hatte Kieran das Haus für sich. Bereits am frühen Morgen kam Malcolm mit zwei verkniffen aussehenden Männern vorbei, die Kieran nicht kannte und sie warteten ungeduldig, bis er die drei Hunde im Garten angebunden hatte. Trash bellte aus der Küche herüber, kratzte an der Tür und auch die Welpen fiepten um die Wette.
„Ich will eure Namen gar nicht erst wissen“, bemerkte Kieran, „aber ihr solltest hier mit anpacken, damit es schneller geht.“
Er schlug die dünne Betondecke des Hundezwingers auf, legte darunter einen sorgfältig ausgeschachteten Hohlraum frei, aus dem die Männer fünf schwere Holzkisten hoben, in den bereitgestellten Transporter trugen. Diese Arbeit dauerte kaum eine Stunde, wirklich zeitraubend und anstrengend war es, neuen Beton zu mischen, das Loch zu füllen und einen neuen Boden zu gießen. Kieran legte immer wieder eine Pause ein, weil ihm schwindelig wurde und er Kopfschmerzen bekam, aber bis auf diese kurzen Ausfälle arbeitete er genauso hart wie Malcolm und die anderen beiden Männer. Niemand störte sie bei der Arbeit und sie redeten wenig, weil Kieran nicht wusste, wie er die beiden Männer einzuschätzen hatte. Eine falsche Bewegung und Malcolm war in Schwierigkeiten.
„Ich mache jetzt einen endgültigen Strich unter die Sache“, sagte Kieran, „und obwohl ich ein verdammt dummes Gefühl dabei hab, bin ich froh, wenn es endlich vorbei ist.“
Sie standen außerhalb des Gitters, betrachteten die feuchte glatte Fläche des frischen Betons, der schon in Stunden hart austrocknen würde.
„Wart’s nur ab“, rief Malcolm grimmig, „du wirst dich nicht frei und ungebunden fühlen, jedenfalls nicht in den nächsten zwanzig Jahren.“
„Darüber mache ich mir weniger Gedanken. Wer weiß, ob ich überhaupt noch so lange durchhalte. Hauptsache ist, dass ich die Sachen los werde.“
„Was ist mit den Plänen?“
„Es gibt keine Pläne“, sagte Kieran. Er starrte den Mann an, der eine Zigarette nach der anderen rauchte und unter seinen Blicken wütend und nervös wurde. Seit seinem Unfall konnte er nicht mehr rauchen, schon beim ersten Zug hatte er das Gefühl, sein Kopf würde platzen und ihm wurde so schlecht, dass er sich wie ein Sechsjähriger übergab, der seine erste heimliche Kippe ausprobierte. Das genüssliche Qualmen hatte für ihn ein unfreiwilliges Ende gefunden, und wenn er andere beim rauchen beobachtete, bekam er einen starren nachdenklichen Blick und überlegte, ob er es nicht doch noch einmal versuchen sollte.
Es dauerte relativ lange, bis seine Leute ihm sagten, er solle damit aufhören, weil sie dachten, er habe eine Art von Anfall. Nachdem sie begriffen, dass er nur über die Möglichkeit des Rauchens nachgrübelte, sagte Pol oder Brendan ihm sehr deutlich, er solle diesen Monsterblick sein lassen.

Der Mann, den er im Moment beim Hundezwinger anstarrte, schnippte die Kippe beiseite und sagte: “Was soll das heißen, es gibt keine Pläne?“
„Es hat nie irgendwelche Notizen über diese Dinge in meinem Haus gegeben“, erwiderte Kieran sehr ruhig, „und ich hätte jedem meiner Leute den Kopf abgerissen, wenn es einer gewagt hätte. Es ist alles in meinem Kopf, darauf werdet ihr euch verlassen müssen. Die Lager übergebe ich an Malcolm und an niemanden sonst. Ist das klar?“
Es gab keine Erwiderung, nicht mal von Malcolm, also wandte Kieran sich wieder dem Betonboden zu. An den Rändern sah der neue Boden bereits trocken aus, aber Kieran hütete sich davor, die Hunde zu früh zurück in den Zwinger zu lassen, er wollte keine Pfotenabdrücke als Beweis für den neuen Boden haben. Einer der Männer schlenderte im Garten herum, gelangweilt von der Warterei, kam dabei Jep etwas zu nahe, der schon gereizt war, weil er mit der Leine angebunden war und sich mit hysterischem Terriergebell auf die Beine des Mannes stürzte. Er strangulierte sich fast an der Leine, bellte und keuchte und benahm sich, als sei er mindestens schäferhundgroß. Der Mann machte eine Bewegung, als wolle er nach Jep treten, hielt sich dann aber zurück und ging ein paar Schritte von ihm weg, murmelte etwas vor sich hin, was sicher nicht nett gemeint war.
Kieran tat nichts, um Jep von der irren Bellerei abzuhalten, das wäre bei einem aufgekratzten Jack Russell sowieso fast unmöglich gewesen. Nach zehn Minuten war Jep von allein still. Kieran setzte sich mit Malcolm zusammen, während die beiden Beobachter im Wagen warteten, und nannte ihm die Stellen, an denen er im Laufe der Zeit alle wichtigen Utensilien vergraben hatte, die er immer wieder über die Grenze geschmuggelt hatte. Es waren viele Verstecke, und obwohl sein Gedächtnis in manchen Situationen nicht mehr gut funktionierte, vergaß er kein einziges und kam nicht einmal ins Stottern. Sie saßen an der Steinmauer, kauten auf Grashalmen herum, und weil die Beobachter im Wagen saßen und nicht mehr rauskamen, ließ Kieran die Hunde wieder laufen. Abe und Bee schnüffelten durch die Gegend, legten sich zu Kieran und Malcolm, um sich ein paar Streicheleinheiten abzuholen, Jep dagegen trabte behände wie eine kleine Ratte durch den Garten und steuerte direkt auf den fremden Wagen zu, vor dem er sich geduldig wartend hinsetzte.
„Das tut mir leid mit Paddy“, sagte Malcolm, „wir hätten ihm alle noch ein paar ruhige Jahre gewünscht.“
„Er wollte nicht mehr. Das hab ich ihm angesehen.“
„Du hast sicher nichts vergessen? Kein Waffenlager ausgelassen?“
Kieran kitzelte Bee mit einem langen Grashalm am Ohr und amüsierte sich über die Reaktion des Hundes, der müde vor sich hinbrummte und nur mit dem Ohr zuckte.
„Das sind alle, vertrau mir. Darunter sind auch die uralten Verstecke, die ich damals übernommen habe. Wäre interessant zu sehen, was sich darin gehalten hat im Laufe der Jahre.“
„Es gibt einige, die diese Verstecke überhaupt nicht mehr öffnen wollen. Die sind der Meinung, man solle Zement in die Löcher gießen und es gut sein lassen.“
„Das kann ich auch nur unterschreiben“, erwiderte Kieran, „aber ich kenne eine Menge Leute, die Angst davor haben, die Waffen abzugeben.“

Unter normalen Umständen hätten Kieran und Malcolm sich noch ein paar Gläser vom Selbstgebrannten eingegossen, aber mit den beiden Aufpassern an seiner Seite verzichtete Malcolm. Es drängte sie nach Hause, nachdem sie endlich die Waffen im Wagen und die Lagepläne hatten, Malcolm versprach, Conor nach Pettigoe zu schicken, wenn es nötig sein sollte. Der Mann, der sich mit Jep angelegt hatte, kurbelte zum Abschied das Fenster herunter, hängte den Ellebogen heraus und sah sich ein letztes Mal abschätzig um.
„Du hast wirklich Schwein gehabt, Finnigan, und du kannst froh sein, dass du noch rechtzeitig ausgestiegen bist. Die Zeiten ändern sich schnell.“
„Wer hat behauptet, ich sei ausgestiegen? Ich hab einfach nur mein Operationsgebiet verlegt. Vielleicht sehen wir uns schneller wieder, als euch lieb sein wird.“
„Mach mir keine Angst, Kieran“, rief Malcolm von der Rückbank, es hätte komisch gemeint sein können, aber er sagte es sehr ernst. Insgeheim hatte er noch immer Angst, Kieran könnte sich aus Enttäuschung einer Splittergruppe anschließen, wo er mit einer Kugel im Schädel nicht mehr viel zu verlieren hatte. Sie fuhren davon und die beiden Männer, die selten aus Belfast herauskamen und für wirklich differenzierte Ansichten kein Verständnis aufbrachten, zerrissen sich die Mäuler darüber, dass diese blöden tumben Landeier keinen Durchblick hatten und es besser war, sie so wenig wie möglich in die wichtigen Dinge zu involvieren.
„Er war vielleicht gut genug, auf die Waffenlager aufzupassen“, sagte der eine, „aber ich wage es mir nicht vorzustellen, was er in Belfast hätte anrichten können.“
Malcolm biss sich auf die Zunge und schluckte seine Wut herunter, die bitter war wie heiße Galle, und er sagte nichts dazu, obwohl er einiges über Kierans Aktionen hätte loswerden können. Offiziell war Kieran wegen des Lochs in seiner Denkschachtel in Rente geschickt worden und etwas anderes wollte er weder hören noch verbreiten. Es musste Gras darüber wachsen, damit Kieran nicht auf die Idee kam, nach den genauen Hintergründen des Attentates auf ihn zu forschen. Es wussten nicht wenige, dass Paddy O’Brien sein stilles Einverständnis gegeben hatte, um Kieran loszuwerden, und es war besser, wenn niemand auf die Idee kam, darüber zu sprechen.

Kieran machte einen kleinen Spaziergang mit den Hunden, die Welpen sprangen herum wie zwei Clowns und Trash wagte sich kaum von seiner Seite, kam aber langsam aus sich heraus und schnüffelte umher. Stan und Olli gingen ihm mitunter tierisch auf die Nerven, aber der Welpenschutz verhinderte, dass er wirklich zubiss, meist knurrte er nur unwillig, wenn er von ihnen belagert wurde. Früher war Trash der Chef des kleinen Rudels gewesen, aber durch den Tod der anderen Hunde und seinem Verschwinden war jede Rangordnung verschwunden und langsam kristallisierte sich ein echter Kampf zwischen Jep und Trash heraus, denn Jep fühlte sich als Anführer, seit er das Haus hatte bewachen dürfen. Noch schaffte er es, Trash unterzubuttern und noch gab Trash klein bei, aber Kieran konnte sehen, dass er mit jedem Tag etwas stärker und selbstbewusster wurde.
Kieran konnte letztendlich einen Kampf zwischen den beiden nicht verhindern, aber er konnte einen der beiden bevorzugen und unterstützen und somit die Entscheidung vorwegnehmen. Jep war ein harter kleiner Kerl, aber er war kein Rudelführer, deshalb steckte Kieran Trash in den Zwinger zurück, ließ ihn zuerst fressen und begrüßte ihn grundsätzlich als Ersten. Jep war tagelang beleidigt, fügte sich aber dem Willen des Chefs, bis er eines Abends einen Kampf herausforderte und Trash nicht mehr zurücksteckte. Es flogen die Fetzen. Die anderen Hunde verkrochen sich ängstlich während des Kampfes und als Kieran und die Zwillinge aus dem Haus herausgelaufen kamen, um nachzusehen, was da vor sich ging, war der Kampf schon vorbei. Sie hatten sich ordentlich Fell herausgebissen, es flog in Flocken durch den Zwinger und Jep lag in Demutshaltung auf dem Rücken und rührte sich nicht mehr. Eines seiner Schlappohren blutete, er stand aber weitgehend unbeschadet aber als Verlierer auf, nachdem Trash einen Schritt zurückgemacht hatte und nicht mehr drohend über ihm stand.
„Guter Junge“, sagte Kieran. Trash wedelte mit dem Schwanz, leckte sich das Blut von den Zähnen. Er war noch immer struppig und zu mager, aber er war wieder der Chef im Zwinger.
„Der alte Kerl hat’s noch drauf, meine Güte“, sagte Brendan, trat mit den nackten Füßen unruhig hin und her, hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Pol gähnte in einem Zug, war nur mit nach draußen gerannt, weil Brendan ihn mitgezerrt hatte.
„Das wäre erledigt“, sagte Kieran zufrieden, mit einer seltsamen Betonung, als sei das erst ein Punkt auf einer langen Liste von Dingen, die er noch tun musste.
„Was war denn los?“
Moira trug Darren auf dem Arm, er hatte beide Arme um ihren Hals gelegt, den Kopf auf ihre Schulter gestützt und lugte aus dem Augenwinkel zu ihnen hinüber. Er war still wie immer, aber seine Augen waren wach und suchten misstrauisch nach einem Hinweis, der seine Alarmstimmung bestätigen könnte.
„Trash hat Jep gebissen“, sagte Kieran, „aber der Streit ist schon wieder beigelegt. Ab zurück in die Betten mit euch.“

Falls sie den neuen Boden im Zwinger bemerkt hatten, sprachen sie nicht darüber; Moira verlor kein einziges Wort in diese Richtung und die Zwillinge sahen sich nur einmal stumm an. Es war abgeschlossen und darüber gab es nichts mehr zu reden. Ohne, dass sie auch darüber nur ein Wort verloren hatten, lieferten Pol und Brendan das meiste Geld, was sie verdienten, bei Moira ab, rissen sich wirklich zusammen, und obwohl das Zusammenleben fast harmonisch und ruhig verlief, hatten die beiden das Gefühl, als steuerten sie nur durch ruhige Gewässer auf die nächste Katastrophe zu. Darüber redeten sie immer wieder, als würde ihnen das Chaos und die Anspannung der letzten Jahre fehlen, vielleicht war es wirklich so, sie waren wie Soldaten, die nach dem Krieg nach Hause kamen und mit sich nicht mehr zurechtkamen.

Darren fühlte sich an der Schule richtig wohl, bis auf zwei der Lehrer, vor denen er Angst hatte, fand er alle nett und er hatte sich mit einem Jungen angefreundet, der eine so ausgeprägte Lernschwäche hatte, dass er noch immer nicht richtig lesen und schreiben konnte, obwohl er in Darrens Alter war. Für Gilbert war es gar nicht leicht, eine Aktion zu beobachten und diese zu wiederholen; selbst, wenn er begriff, wie die Lehrerin ein „f“ schrieb, konnte er es nicht nachvollziehen. Abgesehen von dieser Sache war er ein munteres Kerlchen, der nichts lieber tat als sein spärliches Taschengeld im Kino auszugeben, natürlich für Filme, die er eigentlich noch gar nicht sehen durfte. Er erzählte Darren haarsträubende Actionfilme nach, die er gesehen hatte und Darren hörte dem ganzen atemlos zu. Seit er Gilbert kannte, lernte er seltsame Dinge kennen, fragte sich zum ersten Mal, ob er nicht auch Taschengeld bekommen könnte, selbst wenn es nur ein bisschen war. Er würde sich irgendetwas kaufen können, obwohl er nicht wusste, was er kaufen sollte. Bei Gilbert klang das alles so, als gäbe es tausend Dinge, die man am Tag kaufen konnte, und immer wieder sprach er über Spielzeug und Kleinkram, den er noch haben wollte. Gilbert quatschte die ganze Zeit außerhalb der Schulstunden, was Darren kaum zu Wort kommen ließ, wenn er es einmal versuchte; gleichzeitig zeigte es ihm, dass Gilbert nicht darauf versessen war, ihn reden zu hören und das machte es deutlich einfacher, doch mal einen Satz loszuwerden.
Von den Lehrern mochte er den dicken Henry Adams am liebsten, er unterrichtete Geschichte und Mathematik, hatte einen blonden Vollbart und seine Vorliebe für gestrickte Pullis mit Querstreifen ließ Darren an eine riesige Hummel denken. Er machte während seines Unterrichts kleine Witze und komische Bemerkungen, besonders bei den Geschichtsstunden fand er immer wieder Möglichkeiten, den müden Unterrichtsstoff aufzupeppen. Darren mochte ihn, weil er so lustig aussah und niemals diese Art Bemerkungen machte, die den anderen Lehrern ab und zu herausrutschten, bei denen Darren sich stets unbehaglich fühlte, obwohl er nie direkt angesprochen war. Es ging darum um Politik, soviel war klar, um den Ärger in Nordirland und den Terror, um die IRA und Sinn Fein, die sich erdreistete, in der Nordirlandversammlung mitwirken zu wollen. Er hörte einige Male, wie sie über den verdammten Adams diskutierten, sich wirklich aufregten, und es dauerte eine ganze Weile, bis Darren begriff, dass sie damit nicht seinen Hummel-Lehrer meinten. Er fragte Gilbert, wer gemeint sein könnte, wenn die Erwachsenen über Adams schimpfen und der erwiderte, ob er noch nie die Nachrichten gesehen hätte. Für solche Sachen hatte Darren sich noch nie interessiert und auch, wenn er aus der Zeitung vorgelesen hatte, war er immer bei den Lokalnachrichten gelandet. Zu Hause konnte er unmöglich danach fragen, also ging er damit zu Tom, nachdem er mit Tadhg die Springstunde absolviert hatte. Während er Tadhg trocken ritt, sich selbst die kalten Beine in die Decke einwickelte, die er dem Pony überlegt hatte, kam Tom auf den Platz und baute die Hindernisse ab. Er ächzte ganz schön und murmelte etwas von seinem kaputten Rücken.
„Tom?“, sagte Darren und hielt das Pony neben ihm.
„Was ist, mein Junge?“
Die Zügel hatte Darren locker auf den Ponyhals gelegt, das dicke Fell kräuselte sich vom Schweiß, aber Tadhg war trotz der anstrengenden Arbeit noch munter und aufmerksam. Er machte den Hals lang und stupste Tom mit der Nase nach ein paar Leckereien an.
„Wer ist Adams?“
„Ich kenne einige Adams in dieser Gegend. Wen meinst du?“
„In der Schule schimpfen sie über ihn, aber es hört sich nicht so an, als würden sie ihn kennen. Es geht um Politik, glaube ich.“
Tom brummte unwillig, blinzelte Darren entgegen und kämpfte mit sich, ob er Darren irgendwas erzählen sollte, entschied sich dann, ein paar klare Fakten abzugeben. Er erklärte Darren, was es mit Sinn Fein

auf sich hatte und deren Verbindung mit der IRA

, aber sehr viel mehr sagte er nicht. Darrens Gesicht war anzusehen, dass er ungefähr tausend Fragen zu diesem Thema hatte, aber bevor er auch nur eine loswerden konnte, hob Tom die Hand und sagte: „Mehr erfährst du von mir nicht, Darren, damit solltest du zu deinem Dad gehen, vielleicht auch zu deinen Onkeln. Das ist eine heikle Sache und da möchte ich nicht zu viel erzählen. Oder etwas falsches.“
„Wie kann man was Falsches erzählen?“
„Es gibt immer zwei Seiten. Und man kann alles in ein schlechtes Licht tauchen, wenn man will. Deshalb gehst du damit besser zu deinen Leuten, ich will wirklich nichts Falsch machen.“
Darüber musste Darren lange nachgrübeln, fuhr auf seinem Rad wie hypnotisiert nach Hause. Er entschied sich, niemanden aus seiner Familie zu fragen, sondern es über andere Wege zu versuchen. Zeitungen lagen genug als Anzünder bei den Torfstücken herum in der Küche, dort konnte er sich unbemerkt bedienen oder in die Schulbücherei gehen. Dort hatte er schon einige Bücher ausgeliehen, hauptsächlich Bücher übers Reiten und Pferdehaltung, und es würde niemandem auffallen, wenn er einmal in den anderen Abteilungen herumstöberte.
Zu Hause angekommen stellte er sein Rad ab, entdeckte seine Tabby hinten im Garten, lockte sie zu sich und steckte sie sich in die Jacke. Er polterte die Treppe nach oben in sein Zimmer, warf die Katze schwungvoll auf das Bett, die sich mit allen Vieren abfederte und es sich auf dem Kopfkissen gemütlich machte. Obwohl Darren wusste, dass Tabby draußen im Dreck herumlief und Mäuse fraß, trotzdem holte er sie sich immer in sein Zimmer und schmuste stundenlang mit ihr. Das lenkte ihn etwas von den vielen Dingen ab, die ständig durch seinen Kopf rauschten. Manchmal dachte er an seinen Gramps

, weinte still und heimlich und fühlte sich danach wieder besser.
Eine der Lehrerinnen, vor denen er eine unbestimmte dunkle Angst entwickelt hatte, war Ms. Winstanley, seine Sprachtherapeutin, in die er unglaublich verknallt gewesen war. Sie war noch immer hübsch und sehr freundlich zu ihm, aber wie sie bei den Sprachübungen immer wieder Fragen über Belfast stellte, machte ihm Angst. Sie waren beiläufig und unspektakulär, aber es waren immer wieder die gleichen Fragen, die Darren erst misstrauisch werden ließ, ihm dann Angst machten. Er konnte sich nur an sehr wenig erinnern, sagte das auch immer wieder, aber Ms. Winstanley beharrte darauf, genaues von ihm zu hören, was ihm besonders große Angst gemacht habe. Er war zu höflich und zu schüchtern, um ihr zu antworten, dass ihre Fragerei ihm Angst machte, weil er das Gefühl hatte, sich auf ihre Anweisung hin an etwas schlimmes erinnern zu müssen – aber an was? Er hatte keinen blassen Schimmer. Es konnten doch kaum die üblichen Bomben und Schießereien sein, die sie meinte, denn das wusste doch jeder, der den Namen Belfast nur hörte. Es klopfte an seine Zimmertür und er war nicht schnell genug, die schlafende Katze unter seiner Decke verschwinden zu lassen, bevor sein Dad hereinkam. Kieran drückte die Tür hinter seinem Rücken ins Schloss, hatte die Katze sofort entdeckt und tat trotzdem so, als sei alles in Ordnung. Er setzte sich auf die Kante des Bettes, stützte einen Arm auf und entlastete seinen Rücken, der ihm mal wieder zu schaffen machte.
„Hi“, sagte er, „was macht mein großer Junge?“
Darren grinste vorsichtig, hielt eine der Katzenpfoten an seine Brust gepresst und das Schnurren der Katze war unüberhörbar. „Tom hat mir erzählt, dass ihr ’ne Menge Spaß hattet in Connemara. Hoffe nur, du hast dir nicht noch ein zweites Pony angelacht.“
„Nee“, sagte Darren, „Tadhg reicht.“
„Was mach die Schule?“
„Okay.“
„Du sagst mir doch, wenn dort etwas schief läuft, oder? Das hatten wir ausgemacht.“
„Ja, Daid. Alles in Ordnung.“ Darren schluckte, drückte die Katzenpfote etwas zu heftig und Tabby zog sie ihm murrend weg, verschwand unter der Bettdecke.
„Ich hab einen Freund, Gilbert. Er ist sehr nett.“
„Das ist super, Darren. Lad ihn zu uns ein, wenn du möchtest. Du kannst ihn jederzeit mitbringen.“
Er hatte Gilbert von seinem Pony erzählt, voller Stolz und so aufgeregt, dass er kaum ein deutliches Wort herausgebracht hatte, aber Gilbert reagierte so, als habe er gesagt, dass er einen Kanarienvogel zu Hause habe, wischte es beiläufig beiseite und erzählte von dem letzten Horrorfilm, den er sich heimlich angesehen hatte. Vielleicht mochte er keine Pferde, vielleicht lag es nur daran. Kieran wuschelte Darren durch das Haar und sagte ihm gute Nacht.
„Daid? Darf ich dir morgen wieder aus der Zeitung vorlesen?“
„Klar.“ Diese Idee fand Kieran gut, vor allem, weil Darren wieder mehr sprach und das auch noch aus freien Stücken und er freute sich darüber, dass sie das Vorlesen wieder einführten. Bevor er ging, machte er eine Handbewegung, als fordere er eine Schuld ein, Darren verdrehte die Augen und seufzte, schlug die Decke zurück und reichte ihm die schlafende warme Katze.
Kieran trug sie nach unten, und obwohl er stets allen sagte, die Katze solle draußen bleiben, setzte er sie in der Küche ab und fütterte sie mit Wurstresten. Tabby wusste die plötzliche Aufmerksamkeit richtig einzuschätzen, als Kieran die Hintertür öffnete und ihr einen schönen Abend wünschte, huschte sie ohne weitere Aufforderung an ihm vorbei und verschwand.

Pol kam als Erster nach Hause, hatte Darren nur abgesetzt und war mit dem Wagen wieder losgefahren; er hupte von der Straße her, und Kieran machte ihm das Tor auf. Pol fuhr an ihm vorbei und als Kieran die Kofferraumklappe seines Wagens sah, drehte er sich weg und musste sich am schwingenden Tor festhalten. Die Lachattacke war so heftig, dass seine Beine unter ihm nachzugeben drohten. Eigentlich war es gar nicht so komisch, was er da sah, da hatten Pol und Brendan schon bessere Dinger losgelassen, aber es löste einen unglaublichen Lachanfall aus, weil er überhaupt nicht damit gerechnet hatte. Und wie bei jedem Lachanfall ließ sich dieser nicht so einfach anhalten, er hörte sein schallendes Gelächter die Straße hinauf und hinunterhallen und bei dem Gedanken, wie einige seiner Nachbarn deswegen blöde aus ihren Fenstern glotzten, wurde es noch mal so schlimm. Seine Augen schwammen vor Tränen, als er sich endlich wieder in den Griff bekam, der Lachkrampf bis zu einem Kichern absank und er endlich das Tor ins Schloss zog. Pol war längst ausgestiegen, grinste schuldbewusst und triumphierend zugleich, dass sein Scherz so gut gelungen war.
In Castlederg, wo er irgendetwas zu tun gehabt hatte, war er auf der Einkaufsstraße an einem kleinen Metzgerladen vorbeigekommen, der statt der üblichen Würste, Schinken und Salamis ein paar Hühner im Schaufenster hängen gehabt hatte. Sie hingen mit den Köpfen nach unten, gerupft, orange Krallenfüße, rote Kämme auf den winzigen Köpfen. Pol ging daran vorbei, stoppte, drehte um und ging zurück, als ihm aufging, dass etwas an diesen präsentierten Vögeln falsch war; blieb vor dem Schaufenster stehen und sah nach oben, während drinnen im Laden die dicke Angestellte die Kunden bediente und dabei die Ruhe weghatte. Es war ihm in der ersten Sekunde aufgefallen, als er sie nur im Augenwinkel gesehen hatte, dass diese Hühner alle gleich aussahen – die gleiche Farbe, gleiche Größe, gleiche tote Körperform.
Und jetzt sah er, weshalb das so war. Sie kamen alle aus einem Guss aus Korea, es waren Gummihühner aus einem Scherzartikelladen, die man dort an den Füßen aufgehängt hatte. Es war zum Brüllen, und obwohl Pol es eilig hatte, nach Hause zu kommen, stürmte er in die Metzgerei und rief, obwohl er noch gar nicht an der Reihe war: „Was kosten die Hühner? Ich muss eins von den Hühnern haben.“
„Die Dekoration ist unverkäuflich“, bekam er zur Antwort, aber nachdem alle anderen Kunden gegangen waren, konnte er die Dicke davon überzeugen, ihm eines der Hühner zu verkaufen und die restlichen einfach etwas mehr auf Abstand zu hängen, damit die Lücke ausgeglichen war. Das Huhn aus Gummi war einfach nur albern, man konnte nicht wirklich etwas damit anfangen, außer es jemandem auf den Kopf zu hauen, wenn der etwas Dummes von sich gegeben hatte. Pol erinnerte sich an die Flying-Circus-Serie, in der ein Mann in einer Ritterrüstung mit einem solchen Huhn durch die Szene gestakst war, um es dem nächstbesten über den Kopf zu klatschen, aber man musste einem Huhn noch eine andere Aufgabe geben können.
Bei der Rückfahrt ließ er es auf dem Armaturenbrett sitzen, was allerdings nahezu unmöglich war, denn das Huhn war von Kamm bis Kralle lang ausgestreckt und konnte gar nicht sitzen, dann klemmte er es im hochgekurbelten Fenster ein und hoffte, ein paar Passanten damit überraschen zu können. Erst kurz vor der Grenze kam ihm die Idee, die seinem Bruder den Lachanfall bescherte, und als er von der Grenzkontrolle durchgewunken wurde, dachte er plötzlich ernüchtert, dass diese ganzen Verhandlungen und das Waffenstillstandsgeschwafel doch einen positiven Aspekt hatte. Die britischen Soldaten, die nur die Tage zählten, bis sie wieder zu Hause waren, zeigten ihm hinterher und riefen sich lachend ihre Kommentare zu, das sah er im Rückspiegel. Noch vor nicht allzu langer Zeit hätten sie das nicht mit Humor genommen, sie hätten ihn mit angelegten Gewehren zum Aussteigen gebeten und so gründlich gefilzt, als hätte er Semtex geschmuggelt. Das Gummihuhn, befreit aus seiner misslichen Lage am Fleischerhaken, hatte er in den Kofferraum geklemmt und die Haube zugeschlagen. Der Kopf und ein Fuß ragten heraus und man konnte fast glauben, das Huhn habe es erwischt, als es gerade aussteigen wollte.
„Pol“, sagte Kieran, „du hast keine Ahnung, wie sich so ein Lachanfall anfühlt, wenn man ein Stück Metall im Schädel sitzen hat.“
„Entschuldige“, sagte Pol hastig, aber Kieran knuffte ihn nur an.
„Das meinte ich nicht. Ich bin froh, dass ich unter diesen Umständen überhaupt noch lachen kann.“

Kieran suchte nach einem Job, als das Wetter zum Ende des Frühlings wieder besser wurde, wollte aber nicht wieder auf den Bau, weil er das Gefühl hatte, nicht mehr schwindelfrei zu sein. Er fuhr wieder den Datsun, konnte stundenweise fernsehen, aber das Rauchen hatte er nicht wieder angefangen. Ab und zu hatte er leichte Ausfälle, die er als geistige Kolbenfresser bezeichnete, aber das blieb noch immer das einzige Symptom in Omagh, wo er Gabelstapler fahren sollte, konnte auf dem Weg dorthin Darren zur Schule fahren und wieder abholen. In den Lagerhallen gab es genug Arbeit und Kieran war froh, wieder arbeiten zu können.
Ihm lief Conor scheinbar zufällig über den Weg, als er nach der Arbeit zu seinem Wagen ging. Conor hockte auf seinem Moped, wie immer ohne Sturzhelm und hob die Hand zu einem indianischen Gruß.
„Ich hab dich gesucht“, sagte er, „ich hab da was gehört, was dich interessieren wird.“
„Was immer es ist, es interessiert mich nicht mehr.“
Kieran lehnte sich gegen den Datsun, verschränkte die Arme vor der Brust. Conor rollte das Moped bis vor seine Füße.
„Lass uns irgendwo hin gehen, wo wir in Ruhe reden können.“ Conor deutete mit dem Kinn auf den Wagen. „Wir fahren ein Stück, Okay?“
In Omagh befanden sie sich im tiefsten Feindesland, wo Gespräche aus der Luft abgehört und Telefonate mitgeschnitten wurden. Kieran hätte sich eine bessere Gegend für ein heikles Gespräch vorstellen können, aber weil Conor es so dringend machte, fuhr er ein Stück die Landstraße runter und bog dann auf den Parkplatz eines Friedhofs ab, wo er den Wagen anhielt. Conor wollte sich eine Zigarette anstecken, wurde von Kieran daran gehindert. Er nahm ihm wortlos das Feuerzeug aus der Hand. Conor sah ihn erstaunt an, die Zigarette zwischen den Lippen hängend.
„Nicht im Wagen“, erklärte Kieran, „ich hab’s mir abgewöhnt.“
Conor nahm sich die Zigarette aus dem Mund, steckte sie in die Schachtel zurück, zuckte nervös zusammen, als Kieran etwas lauter wurde.
„Und jetzt raus damit.“
Conor hatte diese Informationen wochenlang mit sich herumgetragen, hin und her überlegt, ob er Kieran wirklich einweihen sollte. Jetzt, wo es endlich so weit war, hätte er am liebsten einen Rückzieher gemacht.
„Ich hab es aus einer absolut verlässlichen Quelle“, begann er, „das muss ich vorausschicken, ich verbürge mich dafür, dass es die Wahrheit ist. Es ist ein Hammer, es wird dich umhauen.“
„Conor...“
„Die Red Hands, die auf dich geschossen haben, kommen alle aus Ederny und Umgebung, man erkennt sie auf ihren Versammlungen sofort, weil sie sich nicht mehr die Ärmel ihrer weißen Hemden hochkrempeln.“
„Wegen der Hundebisse“, sagte Kieran mit Genugtuung.
„Einen von den Kerlen hab ich in Portadown gesehen“, sagte Conor und bleckte die Zähne, „ich wusste erst später, wer er war, aber ich hab seinen Arm gesehen, als ihm der Jackenärmel hochgerutscht ist. Mann o Mann, einer der Hunde muss ein Gebiss wie ein Hai gehabt haben. Das sah ganz nach einem Komplettverlust der Muskulatur aus.“
„Das freut mich wirklich zu hören.“
„Es geht aber darum, dass unsere Leute gewusst haben, was sie vorhatten mit dir.“
„Ich weiß. Malcolm hat gesagt, dass ich die Warnungen mit Drohanrufen verwechselt hätte.“
„Glaubst du das?“
„Nicht wirklich.“
„Begreifst du das nicht? Sie haben darüber gesprochen, sie wussten, wo und wann die Red Hands zuschlagen würden, das war nicht nur eine blasse Ahnung. Sie wussten es und sie haben nichts dagegen unternommen.“ Conor tastete nervös nach seinen Zigaretten, dann fiel ihm das Rauchverbot wieder ein. Er seufzte. „Sie haben dafür gesorgt, dass die Red Hands dich an diesem Tag auch erwischen konnten. Er hat nicht wirklich gewusst, wozu sie ihn überredet haben, du weißt, von wem ich rede. Sie haben ihn schon lange vorher dazu überredet, dich ein wenig auszuspionieren.“
Kieran nickte. Dass Howard schon vor einiger Zeit zu ihm gekommen und um eine Aussprache gebeten hatte, tat ihm jetzt gut. Er fiel nicht ins kalte Wasser und er war vorbereitet auf diesen Schock.
„Ich dachte, Malcolm würde es dir irgendwann sagen, denn er hat mir verboten, darüber zu sprechen.“ Conor tippte sich vielsagend an die Brust. „Aber ich bin der Meinung, dass du das wissen solltest. Du kannst solchen Arschlöchern nicht ahnungslos loyal gegenüber sein und die machen sich hinter deinem Rücken lustig über dich.“
„Was weißt du sonst noch?“
Conor wusste eine ganze Menge über die Red Hands und mehr, als ihm lieb war, diese Informationen waren sein Job, aber anders als bei den üblichen Dingen, die er sonst sammelte und weitergab, betraf es diesmal Kieran. Das war ihm zu persönlich, als dass er es ganz normal abgehandelt und wieder vergessen hätte. Er wusste, dass auch Malcolm von oben einen Maulkorb verpasst bekommen hatte und dass alle, die von der Absicht Kieran loszuwerden und es jemand anderem zu überlassen, gewusst hatten, kein Wort mehr darüber verloren.
„Ich kenne jemanden, dessen Bruder bei den Red Hands ist und von dem weiß ich, dass sie dich als Zielscheibe ausgesucht haben, weil du die Straßenrowdys lächerlich gemacht hast. Sie hätten dich in den nächsten Straßengraben getreten, Kieran, aber die Idee, dich zu töten, kam von woanders. Die Rowdys und die Red Hands haben irgendwo eine Verbindung.“
Albert

, dachte Kieran.
„Die Red Hands haben mich schon lange auf dem Kieker. Aber das ist eine lange Geschichte. Die mussten nur einmal in die richtige Richtung geschubst werden.“
„Kieran, ich befürchte einfach nur, dass die irgendwann zurückkommen und es noch mal versuchen. Sie werden ihren Fehler ausbügeln wollen und ich glaube nicht, dass deine Leute dich davor warnen, wo sie’s das erste Mal auch nicht getan haben.“
„Darüber hab ich auch schon lange genug nachgedacht, glaub mir.“
„Das ist der Grund, weshalb ich dir das alles erzählt habe.“
Kieran klopfte mit dem Zeigefinger auf das Lenkrad, unrhythmisch und als habe er den Rest von sich abgeschaltet, während Conor zweifelnd neben ihm saß, sich wieder durch das Haar raufte.
„Was wirst du jetzt unternehmen?“
„Wenn ich das wüsste, Conor, würde ich es dir nicht sagen. Das ist eine Sache, die ich allein regeln muss. Ich danke dir, dass du mir davon erzählt hast, gegen Malcolms Willen, und er wird von mir nichts darüber erfahren. Ich denke, du solltest erst einmal verschwinden und abwarten. Wenn alles ruhig bleibt, kontaktiere ich dich wieder.“
Conor sagte, er wolle zurück zu seinem Moped, um nach Hause zu fahren. Er fühlte sich schlecht, hatte eine innere Unruhe im Bauch, die den Gewissensbissen, die an ihm genagt hatten, in nichts nachstanden. Jetzt konnte er von sich behaupten, nicht untätig herumgesessen zu haben, ganz egal, wie es ausgehen mochte. Er stieg auf sein Moped, sagte, dass Kieran sich auf jeden Fall wieder melden solle, ganz gleich, was er vorhabe.
Sie trennten sich, als seien sie sicher, in den nächsten Tagen wieder zusammenzutreffen, aber sie wussten beide, dass das nur Fassade war. Vier Monate später hatte Conor den County verlassen, lebte irgendwo in einer Touristenhochburg in der Republik und verkaufte Landkarten und Übernachtungsvouchers in einer Touristeninformation. Nebenbei hatte er noch andere kleine Geschäfte laufen, um über die Runden zu kommen, verkaufte Raubkopien von aktuellen Videofilmen, die aus Hong Kong bekam. Er hatte ein möbliertes Zimmer angemietet im Haus einer freundlichen alten Witwe, um deren Enkelin er sich emsig bemühte, die ihm gegenüber aber noch immer reserviert war, weil er von seinem bisherigen Leben nicht sehr viel erzählen wollte. Er verfolgte die Nachrichten und las die Artikel, aber er tat so, als habe er damit nie etwas zu tun gehabt, was in Nordirland vor sich ging.
Als die vier kleinen Jungs in ihrem Elternhaus verbrannten, weil jemand eine Brandbombe hineingeworfen hatte, war er entsetzt darüber, aber er fühlte sich nicht betroffen. Es war, als würde er von einem explodierten Schulbus in Kenia lesen – tragisch, schrecklich, aber sehr weit weg.

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Tag der Veröffentlichung: 12.08.2011

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