Cover

Beeinträchtigungen



Ganz langsam dämmerte Kieran an die Oberfläche, wachte für wenige Augenblicke auf und schlief wieder ein. Die Geräusche um ihn herum verwirbelten zu einem undurchdringlichen Brei, an dem er keinerlei Interesse hatte. Lieber schlief er wieder ein. Er konnte die Augen nicht lange offen halten und in den wachen Momenten sah er schemenhafte Gesichter und verstand kein Wort von dem, was sie sagten. Sagten sie überhaupt etwas? Schnell tauchte er wieder ab, ohne zu begreifen, was los war, wo er war und was hinter ihm lag. Als er endlich das erste Mal richtig wach wurde, fühlte sich sein Schädel betäubt an, er konnte sich überhaupt nicht bewegen und sein Mund war so trocken, dass ihm die Zunge am Rachen klebte.
Heilige Mutter

, dachte er, das kann nur der Whiskey gewesen sein.


Jemand beugte sich über ihn, er bemühte sich das Gesicht zu erkennen und es machte ihm Angst, dass das viel zu lange dauerte. Er kannte dieses Gesicht, aber der Name wollte ihm nicht einfallen und er wusste auch nicht mehr, woher er den Mann kannte, der ihn grübelnd anstarrte. Erst, als er sich wegdrehte und Kieran hörte, wie er jemanden fragte, ob er überhaupt wach sei, fiel es ihm wieder ein. Es war Malcolm und ihm selbst musste bei einer Aktion irgendetwas zugestoßen sein, woran er sich jetzt auch nicht mehr erinnern konnte. Was sicher schien, war, dass er im Krankenhaus lag und Malcolm ihn besuchte, dabei ein Gesicht machte, als sei er bereits gestorben.
Etwas ist explodiert

, dachte er müde, ganz nah an meinem Kopf. Wir waren auf dem Land. Es hat nach feuchter Erde und Gras gerochen. Hunde. Etwas hat mich umgehauen. Was haben wir da gesprengt?


Er versuchte etwas zu sagen, aber es fühlte sich an, als hätte er tagelang durchgeschlafen und alles sei noch gelähmt, und als er endlich einen Ton herausbekam, war das nicht besser. Auf die Frage, die in seinem Kopf klar und deutlich geklungen hatte, drehte Malcolm sich schon wieder weg und schien überhaupt nichts verstanden zu haben. Endlich gaben sie ihm einen kleinen Schluck Wasser zu trinken, das Schlucken tat weh, das kam von dem Beatmungsschlauch, aber das wusste er nicht. Nach dem Wasser fühlte sich sein Hals besser an und er versuchte es ein zweites Mal.
„Haben wir irgendjemanden verloren?“
Malcolm hatte von Michael erfahren, was passiert war, hatte das Command benachrichtigt, von denen keiner wirklich überrascht schien. Einer der Männer, der Kieran gut kannte, wagte zu bemerken, dass es ihn überhaupt nicht verwunderte, dass sie für Kieran noch keine Beerdigung organisieren mussten.
„Der Junge war doch schon immer für eine Überraschung gut“, hatte er gesagt. Nachdem Tommy abgehauen und Moira schwanger geworden war, hatte Kieran die Zelle gewechselt und war die restliche Zeit in Belfast mit Malcolm unterwegs gewesen.
Malcolm beugte sich zu Kieran herunter.
„Es geht allen gut, Kieran. Wir haben uns nur Sorgen um dich gemacht. Draußen sind Moira und die Zwillinge. Ich hol sie rein, wenn du dich gut genug fühlst.“
Kieran nickte, obwohl er nicht verstand, wie Malcolm es geschafft hatte, seine Brüder nach Belfast zu holen. Das Command hätte das niemals erlaubt, aber darüber nachzudenken machte ihm Kopfschmerzen. Es war wundervoll, Moira zu sehen. Sie hatte Blumen mitgebracht, lächelte unter Tränen und sie sagte etwas sehr merkwürdiges, als sie sich zu einem vorsichtigen Kuss zu ihm herunterbeugte.
„Er geht zur Schule“, sagte sie. Sie sagte das in einem Ton, als müsse ihm das etwas bedeuten, aber das tat es nicht. Alles, was hier passierte, war verworren und undurchsichtig.
Sprach sie von Darren? Der war doch noch viel zu klein für die Schule. Oder? Was war los mit ihm? Irgendetwas stimmte nicht, irgendwie passte alles nicht mehr zusammen, und wenn er versuchte, dahinter zu steigen, tat ihm der Kopf weh. Es war, als würde er gegen eine graue Mauer laufen.
„Gut“, flüsterte er heiser, weil er nicht wollte, dass sie sich Sorgen um ihn machten, weil er das alles nicht verstand. Die Zwillinge standen neben dem Bett, aber er erkannte sie nicht. Sie waren zu erwachsen. Es waren eher jüngere Brüder seines Vaters, die auf Besuch vorbeigekommen waren. Es schien, als wären ihre Gesichter nicht wirklich, als verberge sich etwas dahinter, was er nicht sehen wollte. Für einen Moment schloss er die Augen, die sich ausgetrocknet anfühlten und aus diesem Moment heraus schlief er wieder ein.

Das Treffen zwischen den Gruppen fand auf neutralem Boden statt, an einem Ort, den sie alle als sicher akzeptierten. Offiziell fanden diese Treffen nicht statt, denn es durfte diese Begegnungen zwischen den Lagern nicht geben, es gab nur wenige Eingeweihte, die darüber bescheid wussten. Es war jedes Mal eine kniffelige Angelegenheit. Beide Seiten sorgten mit einem übertriebenen Aufgebot für die eigene Sicherheit und das eigentliche Treffen fand nur zwischen zwei Unterhändlern und zwei stummen Protokolleuren statt. Länger als eine Stunde dauerten diese Treffen zwischen der IRA und der UDA nie, länger war nicht nötig.
„Der Junge geht seit einem Monat in die Schule, besucht die Kurse und nimmt an dem Programm für Sprachbehinderte teil. Bis jetzt ist nichts vorgefallen. Er macht keinen Ärger, er ist ein ruhiger intelligenter Junge, die Mitschüler und Lehrer lassen ihn in Ruhe und es sieht nicht so aus, als würde sich das ändern. Alles ist entspannt. Ich denke, wir sollten uns da nicht weiter einmischen.“
„Was ist aber mit Finnigan? Wie wird er sich verhalten, wenn er entlassen wird? Wir sind nicht die Red Hands und wir haben die auch nicht unter Kontrolle. Wenn er sich wieder mit ihnen anlegt...“
„Alles, was Finnigan wollte, war seinen Jungen zur Schule zu schicken und das hat er jetzt geschafft. Meine Leute haben das außerdem unter Kontrolle. Er erholt sich gut, aber er wird nicht mehr aktiviert. Wir schicken ihn in den kontrollierten Ruhestand.“
„Ihr hättet ihn von Anfang an besser unter Kontrolle haben müssen.“
„Wir konnten ihn nicht kontrollieren und ihr habt es nicht geschafft, ihn umzubringen. Damit sind wir quitt.“
„Das waren nicht wir.“
„Es gibt nur uns und euch, mein Freund.“
„Wir werden nichts unternehmen, um die Täter...“
„Das verlangen wir nicht. Dieses Thema steht hier nicht zur Debatte.“
Sie einigten sich in der Sache Finnigan auf einen Waffenstillstand, reichten sich sehr förmlich die Hände und trennten sich. Die UDA nahm Kontakt zur UUP auf, die stärkste und einflussreichste Partei Nordirlands und würde es hinbiegen, dass Darren an der Schule nichts passierte. Es war ein kleines Zugeständnis in einer Welt von großen politischen Verhandlungen und Übereinkommen. Der Unterhändler sprach direkt mit Malcolm, weil ihm sonst niemand einfiel, der einen besseren Draht zu Kieran hatte. Sie sprachen darüber, dass Kieran aus dem Spiel war.
„Ich bring ihm das schon bei“, sagte Malcolm, „im Moment konzentriert er sich noch darauf, die Scherben zusammenzufügen, aber bei der passenden Gelegenheit rede ich mit ihm.“
Er wird es schon vermuten

, dachte er, wenn er wieder alle Sinne beisammen hat.



Kieran hörte von morgens bis abends Radio. Er interessierte sich nicht nur für die aktuellen Nachrichten, er wollte auch Popmusik hören und herausfinden, was er wieder erkannte und mitsingen konnte. Er sang gewöhnlich nicht laut, meist nur in Gedanken und dann versuchte er sich die Witze und Sprüche zu merken, die er von den Moderatoren hörte. Konnte er nachts nicht schlafen, hörte er ein Londoner Talkradio, über deren tumbe und zugleich komische Anrufer er alles andere vergessen konnte. Irgendwann rief ein Oranier an und beschwerte sich beim Moderator, dass er sich abfällig über Nordirland geäußert habe.
„Es war nicht abfällig, mein Freund. Ich habe nur gesagt, dass niemand diese Märsche braucht und ihr alle albern ausseht, wenn ihr in euren Hüten und Schärpen durch die Straßen marschiert. Als wärt ihr alle aus dem Ministry of Silly Walks.“ Nach und nach wurde es besser mit seinem Gedächtnis, nachdem es ganz deprimierend angefangen hatte, aber sein Gefühl sagte ihm, dass es längst nicht so gut war wie vor der Kugel. Das sagte ihm niemand, aber er wusste es. Obwohl er von seinen Leuten jeden Tag Besuch bekam, hatte er viel Zeit zum Nachdenken, tastete in seinem Gehirn herum, um zu testen, was noch funktionierte und was nicht. Mittlerweile konnte er herumlaufen, telefonieren und sich in den Besucherraum setzen, aber meist blieb er in dem Zimmer bei seinem Radio, hörte Talk Sport und schottete sich auch gegen seine Zimmernachbarn ab. Es machte ihm zu schaffen, dass er sich nicht mehr an alles erinnern konnte, was geschehen war in der Nacht des Überfalls.
Mit der Zeit war vieles zurückgekommen, er wusste, dass er nicht in Belfast verletzt worden war, aber den Anschlag auf sich musste er sich von Pol erzählen lassen. Er konnte sich noch sehr genau und ohne Zweifel daran erinnern, dass er wegen der erneuten Geräusche in den Garten hinausgelaufen war und noch überlegt hatte, die Hunde doch wieder frei herumlaufen zu lassen, auch wenn es keine merkwürdigen Anrufe mehr gab. Die Nachtluft war kalt auf seiner nackten Haut gewesen, es roch frisch und es musste geregnet haben – dann hatte er die Männer entdeckt im Licht des Scheinwerfers. Trashs Bellen und Grollen, die Furcht einflößenden Geräusche der Hunde waren überall gewesen. Die Männer waren nicht geflüchtet, nachdem sie entdeckt worden waren und das, zusammen mit ihrer Kampfkleidung, konnte nur bedeuten, dass sie Krach gemacht hatten, um ihn nach draußen zu locken. Danach, kurz vor dem Kampf mit den Männern, verblasste seine Erinnerung und wurde ersetzt von den Bildern, wie es gewesen sein könnte, zusammengesetzt aus Pols und Brendans Erzählungen. Es war schwer zu akzeptieren, dass er eine Kugel in seinem Schädel hatte, die irgendwo steckte, wo man sie nicht einfach herausoperieren konnte und auch die Prognosen klangen nicht rosig. Bereits jetzt hatte er heftige Kopfschmerzattacken, die nach wenigen Minuten wieder abklangen und eine dumpfe Müdigkeit nach sich zogen. Wenn das alles war, konnte er damit leben, es gab eine Menge Leute mit Migräne, und an solche Dinge wie epileptische Anfälle und Persönlichkeits-veränderungen mochte er nicht denken, ganz zu schweigen von einer wandernden Kugel, die ihn von einer Sekunde zur anderen töten konnte.

Moira kam ihn besuchen, brachte frisches Obst und berichtete von den täglichen Kleinigkeiten. Darren machte sich gut in der Schule und er war froh darüber, jeden Tag nach Hause zu kommen, denn Pol oder Brendan fuhren jeden Nachmittag zur Schule, ebenso wie sie ihn jeden Morgen hinbrachten, ohne zu meckern und zu lamentieren, dass sie etwas Besseres zu tun hätten.
Kieran versuchte Moira von seinen Fortschritten zu erzählen, begann mit vorsichtiger Stimme und so leise, dass sie ihm ihre ganze Aufmerksamkeit schenken musste, um ihn zu verstehen. Er teilte sich seine Kräfte ein, weil er noch immer schnell müde wurde. Sie schälte und viertelte den Apfel für ihn, fragte nach seinen Kopfschmerzen. Kieran wollte antworten, dass er noch keine Attacke gehabt habe an diesem Morgen, aber Malcolm unterbrach ihn, als er zur Tür hereinkam. Ohne, dass sie etwas sagen mussten, packte Moira das Obst beiseite und sagte, dass sie einen Moment an die frische Luft wolle.
„Du siehst gut aus heute“, sagte Malcolm, sah Moira verstohlen nach, die das Zimmer verließ, ohne ihn zu beachten, setzte leise hinzu: „Sie konnte mich damals schon nicht leiden.“
„Die meisten können dich nicht leiden“, flüsterte Kieran grinsend, „aber sie wagen es nicht, dir das zu sagen. Was willst du?“
„Der Urlaub scheint dir gut zu tun.“
„Ich könnte drauf verzichten.“
Malcolm setzte sich an sein Bett, betrachtete Kierans Schädel, auf dem das Haar zentimeterweise zu wachsen begann, und er war froh, dass Kierans Augen wieder wach und aufmerksam waren, als wäre nichts geschehen.
„Ich wollte nur sehen, wie’s dir geht, deshalb bin ich hier. Wir haben uns alle Sorgen um dich gemacht.“
„Eine Karte hätte gereicht.“
Malcolm machte ein angespanntes Gesicht, überlegte, ob er von einem Halbtoten soeben auf den Arm genommen worden war. Eine Karte hätte gereicht? Das konnte doch nicht sein Ernst sein.
„Ich war sowieso gerade in der Nähe“, erwiderte Malcolm steif, „aber ich kann auch sofort wieder verschwinden, wenn ich dich und deine Familie in Ruhe lassen soll.“
„Sag mir, weshalb du wirklich hier bist und dann fahr zurück nach Belfast.“
„Wir haben beschlossen, dich in den Ruhestand zu schicken“, sagte er, „mit deiner Verletzung wollen wir es nicht riskieren, dich weiter einzusetzen. Es geht nicht darum, dass du die Befehle nicht beachtet hast, damit hat das nichts zu tun. Wir wussten, dass die UDA einen Anschlag auf dich plant, aber wir wussten nichts Genaues und unsere Warnanrufe hast du ignoriert.“
Kieran prustete, als er an die Anrufe dachte, die Moira immer Angst gemacht hatten.
„Die klangen nicht gerade wie Warnungen.“
„Du hättest es schon richtig deuten können, wenn du gewollt hättest. Wie hätten wir am Telefon deutlicher werden sollen, Kieran?“
Er hatte keine Lust, Malcolm zu erzählen, was sie alles hätten tun können, um ihn zu warnen. Er wusste, dass er nicht auf sie gehört hätte. Stattdessen fragte er: “Wie stellt ihr euch meinen Ruhestand vor? Soll ich zu Hause herumsitzen, möglichst mit einem Maulkorb an?“
„Du gehst nach Hause und bringst dein Leben in Ordnung, etwas anderes wird nicht passieren. Keine Nachschublieferungen mehr. Die Einsätze sind für dich vorbei, Kieran.“
Er hatte es gewusst, aber gehofft, er hätte sich geirrt mit dieser Ahnung. Malcolm umarmte ihn so vorsichtig, als könne er ihn zerbrechen, dabei hatten sie ihm längst die Schläuche und Kabel abgenommen, die ein Zeichen dafür gewesen waren, dass jede Minute seine Letzte sein könnte. Herrgott, er ging sogar allein aufs Klo und alle stellten sich an, als würde er jeden Moment abnippeln.
„Ich sag dir was“, flüsterte Kieran, während er Malcolm an den Schultern festhielt. Seine Stimme war heiser und schwach, aber sein Griff war erstaunlich fest. „Ihr säbelt mich ab, aber das nehm ich in Kauf. Weil ich nämlich gewonnen habe. Auf ganzer Linie.“
Als sie sich das nächste Mal sahen, kamen Malcolm und Moira gemeinsam ins Zimmer, unterhielten sich vorsichtig und weckten Kierans Misstrauen. Die beiden hatten noch nie unterhalten – sie hatten nichts, was sie verband und das sollte bitte auch so bleiben. Er setzte sich auf, stützte sich auf die Ellenbogen und sagte: „Hey.“
„Hallo, mein Schatz.“ Moira sah ruhig und zufrieden aus, aber sie konnte sich gut verstellen, vielleicht war das nur Fassade. Bevor sie sein Bett erreichte, sprang Malcolm dazwischen und rief: „Wir packen dich ein, Junge.“
„Was?“
„Nach Hause“, rief Malcolm, „die Entlassungspapiere sind schon fertig zur Unterschrift.“
Kieran bewegte sich mühsam aus dem Bett, blieb auf der Kante sitzen und machte ein so verwirrtes Gesicht, dass Malcolm es ihm noch mal erklären wollte.
„Ich hab dich schon verstanden“, murmelte Kieran, „tu mir den Gefallen und pack meine Sachen. Der rechte Schrank.“
Moira legte ihm einen Apfel auf den Nachttisch. Sie brachte jeden Tag einen Apfel mit.
„Ich komme gleich wieder“, sagte sie, „ich hab einen Termin mit dem Doktor.“
Den Doc hatte er schon lange nicht mehr gesehen, eigentlich nur bei den Gelegenheiten, wenn er alle damit löcherte, wann sie ihn denn nach Hause ließen.
Zwei der Schwestern, eine aus der Tages- und eine aus der Nachtschicht, würde er am längsten in Erinnerung behalten, aber nicht den Doktor. Die Tagesschicht war ein großes schlankes Mädchen mit dickem Hintern, die den ganzen Tag irische Lieder vor sich hinträllerte, dafür aber kaum ein Wort sagte. Sie drückte alles mit den Liedern aus und Kieran fand das nicht schlecht. Konnte man jemanden nicht leiden, weil er zum dritten Mal ins Bett gekackt hatte, sang man einfach ein zotiges Lied über ihn. Die Nachtschicht war sehr dunkel mit kurzem Haar, die jede Arbeit so routiniert erledigte, als würde sie das schon seit zwanzig Jahren tun, dabei war sie kaum achtzehn, eher jünger. Sie hatte von ihrem behinderten Bruder erzählt, der zehn Jahre älter war als sie, und um den sie sich kümmerte, wenn sie zu Hause war. Er war ein lieber Kerl, er saß im Rollstuhl und war wegen der Treppen an die Wohnung gefesselt. Seit zwei Wochen wurde seine Nierenfunktion schlechter und sie machte sich Sorgen deswegen. Sie erledigte ihre Arbeit wie im Fluge und ohne darüber nachzudenken, denn der einzige Gedanke, den sie hatte, galt ihrem Bruder, der schwer krank war und es nicht einmal begriff. Sie hatte Kieran erzählt, dass sie alles tun würde, um ihm zu helfen, alles. Sie war verzweifelt und trotzdem sah man es ihr nicht an. Sie hätte in einem IRA-Kommando sein können und niemand wäre ihr auf die Schliche gekommen. Kieran traute ihr zu, dass sie einen ihrer Patienten mit der passenden Blutgruppe über die Klinge springen ließ, um an eine neue Niere für ihren Bruder zu kommen. Er hatte Angst vor ihr, und wenn sie Dienst hatte, schlief er schlecht.
Moira kam zurück, rief schon in der Tür stehend: „Ich habe die Papiere unterschrieben, Kieran, sie lassen dich nach Hause. Ist das nicht wunderbar?“
„Mir hat niemand was gesagt.“
Kieran hätte sich gern ins Bett zurückgelegt, beleidigt darüber, dass man ihn als dem Mann mit der Kugel im Schädel nichts mehr sagte, was wichtig war und was als Nächstes auf ihn zukam. Sie fragten ihn nicht einmal, was er essen wollte und das Essen war übel genug im Krankenhaus, dass er sich gern selbst etwas zusammengestellt hätte.
„Du willst doch nach Hause, oder?“
„Keine Frage“, murmelte Kieran müde, „aber ich möchte zu den Dingen gefragt werden, die mich betreffen, verdammt noch mal.“ Früher hätte er gebrüllt und es nicht auf sich sitzen lassen, übergangen zu werden, aber selbst nach einem Monat im Krankenhaus war er noch lange nicht wieder der Alte. Malcolm hatte seine Tasche gepackt und räumte den Nachttisch aus, starrte verlegen zwischen Moira und Kieran hin und her.
„Das wird sich ändern, sobald du wieder zu Hause bist“, sagte Moira, „die Ärzte behandeln einen doch immer so.“
Kieran wäre am liebsten selbst mit dem Datsun gefahren, aber er schaffte es kaum, aus eigener Kraft das Krankenhaus zu verlassen und ließ sich murrig in den Wagen helfen.
„Darren wird total aus dem Häuschen sein, wenn er dich sieht“, sagte Moira, obwohl sie sich dessen nicht sicher war. War er nach Tadhg aus sich herausgekommen und hatte von allein Fortschritte gemacht, war er nach dem Anschlag auf Kieran in ein tiefes Loch zurückgefallen.
In dem einen Monat, den er die Schule besuchte, hatte er zu Hause kaum ein Wort gesagt, machte sehr sorgfältig seine Hausaufgaben und ging zu seinem Pony. Tom erzählte, dass er auch bei ihm nicht mehr redete, stundenlang mit seinem Pony durch die Gegend ritt.
„Er grübelt die ganze Zeit“, sagte er, „über diese Sache ist er noch lange nicht hinweg.“
Immer wieder hatten Pol und Brendan versucht heraus-zufinden, was Darren in der Nacht gesehen hatte – stellten sie ihm Fragen, nickte er oder schüttelte den Kopf, sagte aber keinen Ton, und wenn es ihm zu viel wurde, schlug er sich die Hände vor die Ohren und begann zu heulte wie ein Hund. Davon konnte Moira Kieran nichts erzählen.
Moira plauderte während der ganzen Fahrt, wobei Kieran einfach nur aus dem Fenster starrte.
„Wenn dir schlecht wird, sag rechtzeitig bescheid“, sagte Malcolm. Ihm würde nicht schlecht werden. Bis auf die Kopfschmerzen gab es keine nennenswerte Ausfälle, obwohl die Ärzte ihn immer wieder danach gefragt hatten, wenn sie sich mal um ihn kümmerten.
„Ich kann ihnen ja was vorspielen, damit sie zufrieden mit mir sind“, hatte Kieran nach einer der vielen Untersuchungen gesagt.
Sie erreichten das Haus der Finnigans am Vormittag. Darren war noch in der Schule und die Zwillinge irgendwo unterwegs. Nur Paddy war zu Hause, der sie empfangen konnte. Malcolm setzte Koffer und Tasche im Haus ab, wollte aber nicht bleiben.
„Das ist jetzt eine reine Familiensache“, sagte er, umarmte Kieran und flüsterte ihm etwas zu, worauf Kieran nickte, „ich schau in ein paar Tagen mal wieder vorbei.“
Kieran setzte sich in seinen Sessel, fühlte sich dabei wie ein alter Mann nach einem Marathonlauf und hatte ernsthaft Sorgen, wie er es angehen sollte, aus diesem Tief herauszukommen. Er fühlte sich nicht in der Lage zu kämpfen, wollte ausruhen und schlafen und darauf warten, dass es von allein besser wurde. Wenigstens war er wieder zu Hause, der erste Schritt in Richtung Normalität. Vom Hinterhof hörte er das Gebell von Abe und Bee, das schrille Kläffen von Jep, das er sofort heraushörte und es wunderte ihn, dass die anderen Hunde still waren. Zunächst dachte er, Michael hätte sie zu sich genommen, um Moira zu entlasten, aber das war wohl ein reiner Wunschgedanke.
Was war mit den Hunden passiert?
Ich mache ab heute jeden Tag einen Schritt mehr

, dachte er, dann bin ich irgendwann wieder da, wo ich mal gewesen bin. Ich muss wieder arbeiten können. Ich muss lernen, mit der Kugel zu leben.


Obwohl er müde und zittrig auf den Beinen war, erhob er sich aus seinem Sessel, ging durch die Küche in den Garten.
Brendan hatte ganze Arbeit geleistet; alle Sträucher und Hecken waren zurückgeschnitten, die alten toten Bäume gefällt, die Mauer war ausgebessert. Es war ein ordentliches friedliches Bild und es erinnerte nichts an den Ort der nächtlichen Attacke. Es überfielen ihn keine plötzlichen Erinnerungen, aber das hatte er auch nicht erwartet, es war einfach nur der Garten hinter dem Haus. Im Hundezwinger standen Abe und Bee auf den Hinterpfoten, die Vorderläufe gegen das Gitter gestemmt, winselten in einer Tour vor Freunde und ruderten mit den Hinterteilen. Jep sprang wie ein Irrer am Gitter hoch, überschlug sich fast. Er konnte sie nicht rauslassen, weil sie ihn vor Freude umgeworfen hätten, steckte beide Hände durch das Gitter und klopfte sie ausgiebig. Keine Spur von den anderen Hunden. Besonders vermisste er Trash, der so scharf und misstrauisch gewesen war, dass ihn kein Fremder anfassen konnte, aber gleichzeitig hatte er mit Darren Bällchen gespielt wie ein junger Hund. Den hätte nichts aus seinem Revier verjagt, und das brachte Kieran die Bestätigung, dass die verschwundenen Hunde tot sein mussten.
Moira fand ihn auf den Knien hockend auf dem Rasen, wo er darüber nachdachte, ob Trash und die anderen las Heden gestorben waren und ob es ihm denn noch immer so schlecht ginge, dass man es ihm nicht erzählt hatte. Moira brachte ihn ins Haus zurück, so langsam und vorsichtig, als sei sie mit Paddy unterwegs und sie musste sich ernsthaft zusammennehmen, nicht auch so mit ihm zu reden.
„Die Hunde sind fort“, sagte er flüsternd.
„Sie haben dich verteidigt, Kieran, sie haben die Kerle blutig gebissen, die dich angegriffen haben. Jep und die Jagdhunde sind übrig geblieben. Wenn du möchtest, besorgen wir ein paar Neue. Die Tierheime sind überfüllt.“
„Nein“, antwortete Kieran, „ich brauche die Hunde nicht mehr. Habt ihr sie irgendwo begraben?“
„Gabe hat sie mitgenommen.“
Er stellte fest, dass er nicht mehr fernsehen konnte. Das Flimmern des Bildschirmes brachte seinen Schädel zum Singen, ein Gefühl, das er nicht unbedingt haben musste. So blieb er beim Radiosender RTE hängen, die ihn mit Nachrichten und Unterhaltung versorgten. Paddy setzte sich zu ihm, legte ihm die zitternde Hand auf den Arm anstatt vieler Worte. Er schlief vor dem Radio meist ein, weil die Bilder fehlten, die seine Aufmerksamkeit fesselten, aber saß er mit Kieran zusammen, blieb er wach.
Als Darren mit Pol von der Schule nach Hause kam, hatte Moira ein frühes Abendessen gekocht und es stand ein Teller mehr auf dem Tisch. Darren entdeckte diesen zusätzlichen Teller sofort, quiekte auf und rannte ins Wohnzimmer. Er wollte lachen vor Freude, aber er begann zu weinen, stürzte sich auf Kieran und klammerte sich an ihm fest. Wieder war sein Kopf angefüllt mit Worten, die er hinauslassen wollte, e aber nicht konnte. Er war kaum in der Lage, unter normalen Umständen ganze Sätze zu sprechen, ganz zu schweigen davon, wenn er wie jetzt unter Stress stand.
„Es ist in Ordnung“, murmelte Kieran und rückte ihn an sich, „ich bin ja wieder zu Hause. Ich hab gehört, dass dir die Schule richtig gut gefällt. Stimmt das? Hmh?“
Darren nickte, das Gesicht an Kierans Brust gedrückt. Kieran hielt seinen Kopf fest und flüsterte ihm ins Ohr, wobei ihm die plötzliche Erinnerung überkam, wie er Darren als Baby herumgetragen und an sich gedrückt hatte, das Gefühl und der Geruch waren wieder da.
„Du bist ein großer Junge und ich bin stolz auf dich. Du wirst sehen, dass alles wieder gut werden wird. Es gibt nichts, wovor du noch Angst haben musst.“
Darren schluchzte und schniefte, beruhigte sich aber erst wieder, als Kieran ihn von sich drückte, ernst ins Gesicht sah und sagte: „Ich verspreche dir, dass so etwas nicht wieder geschehen wird. Die Zeiten ändern sich. Es war richtig von dir, aus dem Haus zu laufen und bei Michael abzutauchen, aber jetzt musst du dich nur noch darauf konzentrieren, das alles zu vergessen. Wir schaffen das schon, Okay?“
Darren öffnete den Mund zu einem „Ja“, was aber nur stumm herauskam und trotzdem war es mehr als alles, was er in letzter Zeit rausbekommen hatte. Der alte Paddy zog Darren zu sich herüber, ließ ihn auf seinem Schoß sitzen, und so hockten sie gemeinsam vor dem Radio. Es war Kieran, der als Erster einschlief.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 13.07.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /