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Flashback Tommy

Bei ihren Patrouillengängen durch die Straßen ihres Viertels trennten sie sich selten, aber es kam vor. Manchmal wurden sie gebeten, einen häuslichen Krach zu schlichten oder Jugendlichen ins Gewissen zu reden. Das machte meist Tommy, weil Kieran sich bei solchen Aktionen dumm vorkam.
Kieran kam mit einem Mann ins Gespräch, der ihm unbedingt von seinen Hühnern erzählen wollte, die er in seinem kleinen Garten hielt. Er habe eine der streunenden Katzen in Verdacht, sagte er, aber vielleicht war es auch ein missgünstiger Nachbar oder ein saighdiúir, ein Soldat, der es auf seine Hühner abgesehen hatte. Er war ein kleiner krummer Mann, der nicht mehr arbeiten konnte, nur in Ruhe gelassen werden wollte und es nicht verstehen konnte, dass jemand seinen Hühnern etwas antat. Kieran versprach ihm, sich in dem Garten auf die Lauer zu legen und herauszufinden, ob es eine Katze oder ein Brite war und der Mann war sichtlich erleichtert. Er sagte, er habe sich auch schon an den Gemeinderat gewandt, aber die hätten nur gesagt, dass er sich gegen die Katzen einen Hund anschaffen solle.
Als Kieran sich zu den anderen herumdrehte, war Tommy bereits oben an der Kreuzung und Sean wartete auf der anderen Straßenseite auf ihn.
„Kein Problem, Sir“, sagte Kieran, „wir kümmern uns darum.“
Er wartete, bis der alte Mann zurück ins Haus geschlichen war, lief dann zu Sean hinüber.
„Was für ein Scheiß Wetter.“
„Das kannst du laut sagen“, erwiderte Sean.
Es war nicht mehr ganz so nass wie noch am Vormittag, aber es pfiff ein eisiger Wind durch die Straßen, der einen den Sommer vergessen ließ. Sie blieben wieder zusammen, folgten Tommy zur Kreuzung. Sie waren umgeben von alten hohen Wohnhäusern, deren Läden in den unteren Etagen fast alle dichtgemacht hatten, nur ein paar Pubs zogen noch genug Kundschaft an.
An der Straßenecke stehend unterhielt Tommy sich mit einem Mädchen, das er aus dem Pub kannte, brachte sie zum Lachen und versuchte, sie in netter Form auf eine Verabredung festzunageln.
In dem Pub um die Ecke, in dem Tommy fast zu Hause war und trotzdem nichts trank, war es für ihn das natürlichste der Welt, die Mädchen aus der Umgebung nach Hause zu begleiten, wenn es zu spät geworden war. Una und ihre Freundin brachte er sehr häufig nach Hause, plauderte auf dem ganzen Weg mit ihnen und wartete vor der Haustür, bis oben in ihren Fenstern Licht angegangen war. Una nannte das manchmal seine Freundschaftseskorte und sie nahmen sie alle gern in Anspruch. Er war dabei aufmerksam und nie aufdringlich. Una war ein nettes Mädchen, trug ihr Haar in einem schwarzen Pagenkopf und wohnte ein paar Blocks weiter. Tommy sah sich an der Kreuzung um, fragte, ob sie sich später im Pub treffen könnten und sie verneinte lächelnd. Als sie sich nicht dazu überreden ließ, wollte er nur noch, dass sie nach Hause ging.
„Es passiert im Moment zu viel in dieser Gegend“, sagte er.
„Aber ich warte hier nur auf meine Freundin.“
„Ich richte ihr schon aus, dass du zu Hause bist.“
„Du bist doch bloß hinter mir her.“
„Ich will nur, dass dir nichts passiert.“

Kieran und Sean waren an der Ausfahrt des alten Kohlehändlers vorbei, blieben stehen und zündeten sich eine Selbstgedrehte an, die sie zwischen sich hin und hergehen ließen. Schon die Körpersprache bei Tommy und Una machte deutlich, was zwischen ihnen los war. Sie lehnte mit dem Rücken an der Mauer, hatte die Hände hinter sich verschränkt und blinzelte zu ihm hoch, den Kopf schief gelegt. Die Abendsonne blendete sie. Tommy stand neben ihr, das Gewicht auf einen Fuß verlagert und stützte sich mit einer Hand neben ihr an der Mauer ab.
„Der hat aber auch immer ein Schwein“, murmelte Sean.
„Der alte Sack sollte sich mal etwas zusammenreißen“, erwiderte Kieran trocken.
Tommy war zehn Jahre älter als er, Anfang dreißig. Er war so ziemlich der Einzige in der Truppe, der seinen Humor nicht verloren hatte, obwohl er meist mit einem konzentriert bitteren Gesichtsausdruck herumlief.
Der sniper

an der Dachluke des gegenüberliegenden Gebäudes musste sie schon eine ganze Weile im Visier gehabt haben. Sie hätten ihn bemerkt, wenn er sich bewegt, wenn er das Gewehr über den Rand der Luke geschoben hätte, aber so schien alles friedlich zu sein an diesem Abend. Erst letzte Woche hatten die Briten in der Nachbarschaft zwei Häuser gestürmt, alle festgenommen, denen sie habhaft werden konnten und einer der Jungs, den die Panik gepackt hatte, war durchs Fenster gesprungen und hatte zu flüchten versucht. Die RUC hatte ihn erschossen, weil er nicht stehen geblieben war. Die Nachricht war blitzschnell herum gewesen, und seitdem war es verdächtig still geblieben.

Tommy sah das Loch in der Mauer neben seiner Hand entstehen. Wie durch einen Zoom und in Zeitlupe sah er die Backsteinbrocken und Splitter herumsirren. Er hatte sofort den trockenen Steingeruch in der Nase, und obwohl er den Schuss nicht gehört hatte, wusste er sofort, was los war. Una lehnte noch immer an der Wand, den Kopf schief gelegt und der Wind hob ihren Rock ein wenig, mit einer Hand hielt sie ihn an ihrem Oberschenkel fest. Er hatte keine Zeit, Rücksicht darauf zu nehmen, ihr keine blauen Flecken zu bescheren – er packte sie an der Schulter und warf sie hinter sich, drehte sich zu der leeren Straße herum. Es ging alles so schnell. Er sah niemanden, aber gleichzeitig mit dem aufblitzenden Lichtpunkt unter dem Dach, was man für die Reflektion einer leeren Dose oder einer Glasscherbe hätte halten können, traf ihn das erste Projektil. Er fühlte, dass er getroffen wurde, trotzdem dachte er nur daran, das Mädchen in Sicherheit zu bringen. Sie war so klein und schmal, ging hinter seinem Rücken total verloren, ansonsten hätte sie möglicherweise auch etwas abbekommen.
Als sie das Blut auf seinem Hemd sah, wusste sie, was los war, versuchte sich in seinem Griff wegzudrehen und fortzulaufen, in die Richtung, aus der die Schüsse kamen. Die zweite Kugel traf ihn am Oberschenkel und er riss sie mit sich zu Boden, als sein getroffenes Bein unter ihm nachgab.
„In den Hauseingang“, sagte Tommy mit einer Ruhe in der Stimme, die Una noch lange im Ohr haben würde, „lauf rüber. Bleib nicht stehen und dreh dich nicht um. Lauf einfach.“
Sie lag zitternd unter seinem Arm, sah in sein furchtbar gefasstes Gesicht und drückte sich hoch. Die Straße war nicht breit, aber sie kam ihr endlos vor. Dort stand kein einziges Auto, hinter dem sie sich hätte ducken können, also versuchte sie sich ganz klein zu machen und spurtete los. Tommy brachte sich wieder auf die Beine, versuchte das Blut auf der Straße zu ignorieren. Es waren nicht nur Tropfen, es war eine Lache, die sich schnell ausbreitete.
Sieh nicht hin

, dachte er, es ist nur Regen.


Er trat auf die Straßenmitte der Kreuzung, um den sniper die Sicht auf Una zu verdecken, dachte schon, der Kerl hätte genug, aber die dritte Kugel traf ihn an der Hüfte. Es brannte zunächst nur wie ein Wespenstich und er schaffte es bis an die nächste Ecke, wo er sich in den schmalen Hausflur lehnte und die Beine unter ihm nachgaben.
Endlich reagierten Kieran und Sean, die an der anderen Straßenseite gestanden hatten. Sicher hatten sie sofort reagiert, als Tommy sich das Mädchen geschnappt hatte, aber ihm kam es vor, als hätten sie Stunden gebraucht. Er hörte die Schüsse, als sie den sniper

unter Beschuss nahmen und er hoffte, dass sie ihn sich lebend schnappen würden. Plötzlich war Una wieder an seiner Seite und er konnte ihr nicht sagen, dass sie verschwinden solle, weil ihm das Atmen schwerfiel. Er dachte, er sei in einen See gefallen und bekäme jetzt unter Wasser keine Luft mehr. Er wollte sich an die Oberfläche treiben lassen, aber die Schmerzen zogen ihn nach unten. Seans Stimme war mit einmal ganz dicht an seinem Ohr.
„Ich sag dir, das war das Schwein, das du hast laufen lassen. Das war ein Fehler. Wie sieht’s aus? Wo hat er dich erwischt?“
Seans Gequatsche brachte ihn auf die Palme und fast wäre er wieder auf die Beine gekommen, aber Kieran kam dazu und zu dritt hielten sie ihn am Boden. In seinem Kopf drehte sich alles wie auf einem Karussell. Kieran hatte sein Hemd ausgezogen und es gegen die Stelle gedrückt, von der das meiste Blut aus dem Oberschenkel lief. Die Kugel in der Lunge ließ ihn fast ersticken. Blutblasen bildeten sich unter seiner Nase. Kieran war nahe davor, in Panik zu geraten. Tommy sah ihn noch immer an, als wolle er sagen, es sei alles halb so schlimm, aber das viele Blut sagte etwas anderes.
„Wir brauchen ein Auto.“
Una sagte: „Mein Bruder hat einen Lieferwagen, aber der ist nicht zu Hause.“ Sie sah Kieran an. „Können sie kurzschließen?“
„Ich mach das“, sagte Sean.
Kieran blieb bei Tommy, hielt ihn gegen die Wand gedrückt und flüsterte ihm zu, dass sie den Kerl erwischt hätten, Tommy holte mühsam Luft und verdrehte die Augen, dass nur noch das Weiße zu sehen war. Mit jedem Atemzug strömte ihm mehr Blut aus Mund und Nase.
„Wir haben ihn vom Dach geholt“, sagte Kieran verschwörerisch, „der schießt auf niemanden mehr.“
Tommy blinzelte, in seinem Gesicht stand Müdigkeit und Lebenswille und Kieran schrie die Straße herunter, dass sie sich mit dem verfluchten Wagen beeilen sollten. Lange würde er nicht mehr durchhalten.

Der Lieferwagen kam rückwärts auf sie zugeschossen, hielt mit quietschenden Reifen direkt neben ihnen an. Sean blieb hinter dem Steuer sitzen, während Kieran und Una Tommy in den Stauraum zerrten. Fast hätten sie es nicht geschafft. Ganz undeutlich glaubte Kieran ihn etwas murmeln zu hören, das sich anhörte wie „Ihr werdet mich doch nicht fallen lassen“ und er sagte Una, sie solle seine Beine loslassen. Er zog Tommy hoch, stützte ihn und schaffte es tatsächlich, ihn auf die schwankenden Beine zu stellen.
Jetzt in den Wagen

, dachte er, visierte die offene Schiebetür an, wenn er mir hinfällt, krieg ich ihn nie mehr hoch.


Er hebelte sich unter Tommys Achsel, Una auf der anderen Seite und sie schleiften ihn in den Wagen. Mehr als die paar Schritte, die nötig waren, hätten sie nicht geschafft. Es war allen ein Rätsel, wie Tommy sein Kampfgewicht hielt, man sah ihn so gut wie nie essen, höchstens rauchen, aber trotzdem brachte er zurzeit etwa hundertzwanzig Kilo auf die Waage. Er trainierte in unregelmäßigen Abständen in einem Boxverein, aber dort machte er auch nicht mehr als ein wenig Sparring und ging in die Sauna.
„Fahr schon los“, schrie Kieran, zog von innen die Schiebetür zu, die allerdings nicht im Schloss einrastete und während der Fahrt wieder aufging. Kieran zog Tommy in die gegenüberliegende Ecke, setzte sich neben ihn und hielt ihn fest.
„Ich hab gesehen, wie der Mann aus dem Fenster gefallen ist“, sagte Una, „der auf ihn geschossen hat. Wer war das?“
Unter normalen Umständen wäre der sniper

nicht vertikal der Fassade gefolgt – er hätte sich nach hinten in den Speicher zurückgezogen und wäre unbehelligt geflohen, aber er machte den Fehler, sich weit aus der Luke herauszulehnen und neu anzuvisieren, vermutlich sehr verärgert darüber, dass dieser verfluchte Ire noch immer nicht umfiel. In dieser wenig vorteilhaften Pose hatten ihn Sean und Kieran erwischt. Sein Kopf war schon hinüber gewesen, noch bevor er mit dem Schädel auf das Pflaster aufgeschlagen war.
„Das würde ich ihn selber gerne fragen“, erwiderte Kieran. Una schwieg.
Bevor er mit Moira und Darren nach Pettigoe ging, sah er sie wieder, im Public Relationsbüro von Sinn Fein

.
Kieran drehte sich zu Sean herum, konnte in seiner Position nicht über die Rücklehne des Fahrersitzes hinwegsehen und rief deshalb, ob Sean überhaupt wisse, wie er fahren musste, um ins nächste Hospital zu kommen. Soweit er wusste, war oberhalb von Shankhill das Naheliegendste. Ihm war es im Moment egal, in welchem Hospital sie landeten.
„Ich weiß schon, wo ich lang muss“, schrie Sean zurück.
„Wenn du noch länger brauchst, lohnt sich die Raserei nicht mehr.“
Tommys Kopf hielt er fest an sich gedrückt, Una presste ihre Hände auf die Austrittswunde am Oberschenkel, aus der das Blut sprudelte. Ihr Rock hatte längst eine hellrote Färbung angenommen, klebte feucht an ihren Beinen.
Endlich erreichten sie das Krankenhaus, einen modernen Bau mit Parkplatz und einer extra Anfahrt für die Notaufnahme. Vor der Tür hätte Sean fast noch einen Pfleger umgefahren, der gerade aus der Tür kam und im letzten Moment zur Seite springen konnte. Sean würgte den Motor ab. Una sprang als Erste aus dem Wagen, rannte an dem Pfleger vorbei in die Notaufnahme, wo man sie zunächst für das Unfallopfer hielt. In ihrem aufgelösten Zustand sah sie aus, als sei sie gerade noch lebend einem Verkehrsunfall entronnen. Sie verteilte überall kleine hektische Blutspritzer.
„Nein, im Wagen“, sagte sie, „er liegt im Wagen.“
Fast erwartete sie, die beiden am Wagen nicht mehr anzutreffen, aber sie waren noch da, als sie mit den Ärzten der Notaufnahme wiederkam. Mit dem Hemdärmel wischte Kieran das Blut aus Tommys Gesicht und versuchte, Abschied zu nehmen. Er war fest davon überzeugt, dass sie es nicht geschafft hatten; Tommy war in seinen Armen gestorben und er hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Wem sollte er bescheid geben, wen sollte er darüber informieren?
Zwei Ärzte kletterten zu ihm in den Wagen, ließen Bemerkungen über die Schweinerei fallen und brachen dann in Hektik aus, als sie noch Puls und Atmung feststellten. Was weiter geschah, konnte Kieran nicht mehr weiter verfolgen; kaum hatte man Tommy in die Notaufnahme gebracht und für die OP vorbereitet, interessierte sich die RUC für sie. Zwei Männer in Zivil schlichen um den Lieferwagen herum, schnüffelten in ihrem herum und machten sich Notizen. Kieran beobachteten sie durch die Glastür, ging zurück zu Una, die in der Cafeteria saß, mit leeren Augen in ihren Styroporbecher mit Tee starrte.
„Du verschwindest besser“, sagte Kieran, „draußen haben sich die Bullen eingefunden. Hast du Geld für ein Taxi?“
Sie schüttelte den Kopf. Kieran und Sean legten zusammen, gaben ihr das Geld und Sean sagte, sie solle den Wagen als gestohlen melden, das sei schon in Ordnung.
„Verbrenn die Sachen, die du trägst, wasch dir zu Hause sofort das Blut ab. Erzähl niemandem, was passiert ist.“
Kieran begleitete sie zum Vordereingang, sagte noch: „Danke für deine Hilfe. Ohne dich hätten wir das nicht geschafft. Wenn du oder deine Familie Hilfe brauchen...“
„Ich hab’s für Tommy getan“, sagte Una und war verschwunden.
Als Kieran sie an dem Schreibtisch des Sinn Fein

Büros wiedersah, hatte sie ihr Haar noch kürzer geschnitten und war richtig dick geworden, was ihrer Erscheinung aber nicht schadete. Es ließ sie energischer und unverwundbar erscheinen. Kieran wollte sie ansprechen, ein paar Worte mit ihr wechseln, aber dann hätte sie sich an ihn erinnert. Sie hätte nach Tommy gefragt und darüber wollte er selbst im Büro von Sinn Fein nicht sprechen.
Die RUC Agenten kamen herein in die Notaufnahme, fragten nach den Leuten, die in dem Lieferwagen gekommen waren und entdeckten Kieran in der Cafeteria. Er trank Unas Tee, der kalt geworden war, Sean war auf Toilette verschwunden. Sie stellten sich vor, behaupteten, sie wollten nur ein paar Fragen stellen. Dazu müsste Kieran sie aufs Revier begleiten.
„Wo sind die anderen?“, fragte der Erste, „man sagte uns, sie haben ihn zu dritt hergebracht.“
„Das Mädchen hat uns nur den Weg gezeigt“, sagte Kieran, „sie ist weg. Möchten sie hören, was passiert ist?“

Sean und Kieran wurden sechsunddreißig Stunden ohne Unterbrechung verhört und dann laufen gelassen. Sie waren hartnäckig bei ihrer Version geblieben, dass sie den angeschossenen Mann auf der Straße gefunden und ihn ins Krankenhaus gebracht hätten. Nein, sie kannten ihn nicht. Sie wüssten auch nicht, wer den anderen Mann erschossen haben könnte, dessen Leiche allerdings vor dem Eintreffen der RUC verschwunden war. Direkt nach den Schüssen hatten Kieran und Sean die Waffen in einen Gulli geworfen, und wenn die Verhöre überstanden waren, lag die unangenehme Aufgabe vor ihnen, dort hinunterzuklettern und sie herauszufischen. Die RUC machte nicht so viel Druck, wie sie hätte machen können – vermutlich interessierte es sie nicht wirklich, wenn sich Protestanten und Katholiken gegenseitig abknallten. Sie waren schon zufrieden, endlich Tommy gekriegt zu haben.
Auch nach den sechsunddreißig Stunden war Tommy noch nicht über den Berg, lag im Koma und niemand wusste, ob er es packen würde. Seine Schwester Aiofe, die einen Belgier geheiratet hatte und ausgewandert war, kam nach Hause und verbrachte jede mögliche Minute an seiner Seite. Wenn sie zum Schlafen nach Hause fuhr, berichtete sie Kieran, ob es etwas Neues gab. In den ersten Tagen sagte sie nur, dass noch immer Polizisten in Uniform vor der Abteilung Wache hielten und die Ärzte ihr nichts Neues sagen konnten.
„Ich wünschte, ich hätte mehr tun können“, sagte Kieran. Er wusste noch immer nicht, wer das Command der Einheit übernehmen würde, hoffte insgeheim, Tommy würde nach einem Monat zurückkommen, mit einigen Narben mehr, aber geheilt.
Nach einer Woche kam die Nachricht, dass Tommy aufgewacht und ansprechbar war – er war noch verwirrt und müde und konnte sich an die Schießerei nicht erinnern. Sobald die Ärzte ihn als transportfähig einschätzten, wurde er in die Krankenstation des Untersuchungsgefängnisses verlegt. Kieran hatte keine Gelegenheit, ihn noch einmal zu sehen, bevor sie ihn zu einer hohen Haftstrafe verurteilten. Es gab eine Menge, was sich gegen Tommy angesammelt hatte und der Staatsanwalt brauchte nur ein paar glaubwürdige Zeugen, um ihn zu verurteilen. Tommy saß unbeteiligt in seiner Bank, überließ alles seinem Anwalt und schien schon mit allem abgeschlossen zu haben. Die britische Presse stürzte sich auf diesen Fall, Fotographen schossen Unmengen von Fotos von ihm, wie er vor Verhandlungsbeginn mit seiner Krücke zur Bank humpelte, in Handschellen über die Straße geführt wurde, wo er in das Auto stieg, was ihn zurück ins Untersuchungsgefängnis brachte. Ab und zu zeigte er den Fotographen den Stinkefinger. In den Verhandlungspausen saß er zwischen Anwalt und RUC Agenten, etwas abgemagert und blass, aber noch immer einen imposanten Kopf größer als die, die auf ihn aufpassen sollten. Er rauchte ohne Unterlass. Ein Reporter einer Fernsehstation gelang es, sich bis zu ihm durchzuschmuggeln, seinen Kameramann anzuweisen draufzuhalten. Er schoss ein paar Fragen ab, die Tommy schweigend quittierte. Als sie wieder in den Gerichtssaal gerufen wurden, stand er auf, griff sich die Krücke und sagte im Vorbeigehen auf irisch: „Ich warte nur, bis es meinem Bein besser geht

.“
Dieser Kommentar machte schnell die Runde, Kieran diskutierte mit den anderen endlos darüber, was es bedeuten könnte und kamen darüber ein, dass ihn sein Bein noch immer behinderte und er sich erst mal darauf konzentrieren musste.
Aber was Tommy damit wirklich meinte, war, dass er nach seiner Verurteilung und nach dem Antritt seiner Haft kaum ein halbes Jahr in Long Kesh saß – er kurierte seine Beinverletzung aus, die wegen einer Komplikation nach der OP sehr langwierig gewesen war – dann brach er mit drei anderen aus dem Gefängnis aus und tauchte unter. Niemand sah und hörte etwas von ihm. An dem Abend, als es bei den Provos kein anderes Thema als den Ausbruch gab, war Kieran im Pub versackt und hörte erst davon, als ein Mann hereingestürmt kam und rief, dass es wieder einen Ausbruch aus Long Kesh gegeben habe. Er brauchte keine Namen zu nennen, plötzlich fügte sich das Bild zusammen und Kieran wusste, dass Tommy auf diesen Tag hin gearbeitet hatte. Er lief ins Quartier, wo man bereits auf ihn wartete, sie unterstellten ihm, etwas davon gewusst zu haben, weil er mit Tommy eng befreundet gewesen war und er konnte nur beteuern, ebenfalls von nichts gewusst zu haben.
Einige Monate später war Kieran mit Moira übers Wochenende auf dem Land. Sonntagabend kamen sie nach Hause, stiegen die Treppen zu ihrer Wohnung hoch und entdeckten einen Mann, der auf dem Treppenabsatz hockte, auf der Treppe in die nächste Etage.
„Gehst du für ’ne Stunde zu Holly rüber? Ich bring die Sachen rein.“ Er nahm ihr die Tasche ab, flüsterte „Bitte“ und machte eine Kopfbewegung die Treppe hinunter. Holly war eine Freundin von nebenan, im siebten Monat schwanger und vom Freund sitzen gelassen. Moira machte auf der Treppe kehrt, sichtlich verstimmt darüber, keinen ruhigen Abend mit Kieran verbringen zu können. Wenn er eine Stunde ansetzte, dauerte es mindestens drei.
Kieran schloss die Wohnungstür auf, zischte zu Tommy hinüber: „Du hast echt Nerven. Komm rein, bevor dich noch jemand sieht.“
Tommy betrat die Wohnung seines toten Bruders, sah sich kurz in dem halbdunklen Raum um, setzte sich breitbeinig aufs Sofa.
„Wie lange wartest du schon auf mich?“, fragte Kieran.
„Keine Ahnung. Ich hab keine Uhr.“ Er rieb sich mit dem Handballen durch das Gesicht. „Kannst du mir aushelfen? Mit dem, was ich in den Taschen hab, komm ich nicht weit.“
Sein Schädel war noch grauer geworden, sein Kampfgewicht hatte er nicht wieder erlangt, aber er sah nicht krank aus. Kieran konnte nur die Tatsache nicht verdrängen, dass er ausgebrochen und auf der Flucht war. Über kurz oder lang würden sie ihn gefangen nehmen und zurückbringen oder einfach erschießen.
„Ich kratz alles zusammen, was ich kriegen kann“, sagte Kieran, „was brauchst du sonst noch?“
Er setzte sich Tommy gegenüber. Am liebsten hätte er ihn über ganz andere Dinge ausgequetscht, aber bei Tommy konnte man nicht mit der Tür ins Haus fallen. Sie redeten schließlich lange und ausführlich über den Tag, an dem Tommy fast gestorben wäre. Kieran war erstaunt darüber, wie viel Tommy noch wusste, obwohl er während des Prozesses und auch vorher während der Verhöre stets behauptet hatte, er könne sich an gar nichts erinnern, er habe einen totalen Filmriss.
„Das meiste weiß ich noch sehr gut“, sagte er, „wenn ich auch die Reihenfolge durcheinanderbringe. Hast du Una danach noch mal wieder gesehen?“
Kieran schüttelte den Kopf. Die Mannschaft war nicht mehr die Selbe, seit Tommy nicht mehr das Sagen hatte, Sean versuchte alles, das Kommando zu bekommen, aber es lief darauf hinaus, dass sie einen neuen vor die Nase gesetzt bekommen würden. In dem letzten halben Jahr war Kieran fast ausschließlich mit Ian durch die Gegend gezogen, hatten sich um den täglichen Kleinkram gekümmert.
„Ich weiß, dass sie keinen Ärger hatte deswegen, wenn dich das beruhigt. Was hast du jetzt vor, Tommy? Wo willst du hin?“
„Erst mal nach London, dort tauche ich wieder unter. Ich werde den Kontakt zu den Provos abbrechen und mich allein durchschlagen. Sobald ich neue Papiere habe, bau ich mir irgendwo was Neues auf.“
„Weshalb bist du ausgebrochen? Du könntest die acht Jahre als Chef der Truppe abreißen und danach...“
„Acht Jahre sind eine lange Zeit. Ich könnte jetzt behaupten, ich hätte im Koma eine Nachricht von Gott erhalten oder so was, aber alles, woran ich mich erinnern kann aus dieser Zeit sind die Schmerzen. Ich geh nicht mehr nach Long Kesh. Ich will etwas anderes. Ich hab lang genug meinen Kopf hingehalten.“
„Du bist verdammt schwer zu ersetzen.“
„Das bist du auch, Kieran“, erwiderte Tommy. Er schaufelte sich die Reste des Fertiggerichts hinein, das Kieran für ihn warm gemacht hatte. „Vielleicht ist es besser, wir kümmern uns um guten Nachwuchs, bevor wir völlig aussteigen. Und erzähl mir nicht, dass du hier bleibst und deinen Nachwuchs in dieser Stadt aufziehen willst.“
Kieran machte ein Gesicht, als hätte er ihm einen Tritt verpasst, worauf Tommy zu lachen begann.
„Dieser Bauch war nicht zu übersehen, Junge, selbst unter dem Pullover nicht.“

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Tag der Veröffentlichung: 17.06.2011

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