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Flashback Belfast
Kieran und Sean hatten den Heckenschützen auf dem Flachdach der Fabrikhalle sofort entdeckt und beobachtet, flüsterten miteinander, auf wen er es abgesehen haben könnte. Die Fabrik war nicht gerade der ideale Platz für einen sniper, ebenso wenig wie die Umgebung, die er von dort aus ins Fadenkreuz nehmen konnte; Kieran vermutete, er müsste es auf jemanden Bestimmtes abgesehen haben.
SAS

?“ fragte Sean.
Die Brits dementierten noch immer die Tatsache, dass es eine shoot-to-kill-order

gab und die SAS davon immer wieder Gebrauch machte, wenn sie auch nicht üblicherweise auf den Dächern der katholischen Wohngebiete agierten.
„Glaub ich nicht, könnte aber sein. Wir bleiben erst mal an ihm dran.“
Der Mann trug dunkle Kleidung und eine Wollmütze, die er sich tief bis über die Ohren gezogen hatte, obwohl es auf dem Dach sicher nicht kalt war. Sein Gesicht war selbst durch das Fernglas nicht unbedingt zu erkennen. Kieran und Sean wechselten sich am Glas ab, reichten dabei die filterlosen Zigaretten hin und her. Rauchen war der einzige Zeitvertreib, wenn sie in der leer stehenden Wohnung über dem Wohngebiet wachten. Sie behielten den Mann im Auge, der entweder ein Spezialist der SAS

oder ein Protestant aus der Nachbarschaft war, der sich für diesen Morgen etwas Besonderes vorgenommen hatte. Nach einer halben Stunde schickte Kieran Sean ins Quartier zurück, weil er raus finden wollte, ob eine größere Aktion der Brits angelaufen war, von der sie nichts mitbekommen hatten.
Häufig räumten die britischen Streitkräfte in Blitzaktionen Häuser und Wohnung in den katholischen Sektoren, und obwohl die Freiwilligen es nicht verhindern konnten, hielten sie ein waches Auge auf diese Aktionen. Selbst bei der IRA gab es so etwas wie Bürokratie – sie dokumentierten alles, um es an die entsprechenden Stellen weiter zu geben, ebenso wie Berichte von Verhaftungen, Verhören und den Zuständen in den Gefängnissen.
Kieran hasste es, zum Zusehen verdammt zu sein, aber er hielt sich an die Befehle von oben. Sean war in Belfast aufgewachsen, in der unmittelbaren Nachbarschaft von Protestanten, Wachtürmen, Grenzübergängen und verbarrikadierten Straßen, all das zusammen hatte ihn schnell in die Arme der IRA getrieben. Er hatte Kieran erzählt, dass er als Jugendlicher in Derry gewesen und an dem Friedensmarsch teilgenommen hatte, an diesem Sonntag im Januar, und was er dort gesehen hatte, verfolgte ihn noch heute. Er war älter als Kieran, sie arbeiteten gut zusammen, wenn er auch kein Verständnis dafür hatte, dass Kieran immer wieder seine Frau besuchte.
„Das bringt euch beide in Gefahr“, sagte er, „es wäre das Beste, du schickst sie zu ihrer Familie.“
Sean war Spezialist für taube Aktionen, hatte die nötigen Verbindungen durch ganz Belfast und im Umland, aber nebenbei agierte er in derselben Zelle wie Kieran. Die ständigen Überwachungs- und Abhöraktionen der Brits nutzten sie häufig, um Ablenkungsmanöver zu starten, riefen offene Telefonate ins Leben und sprachen über Revierüberfälle, Waffenbewegungen und Sprengfallen. Das löste Hektik in den RUC-Stationen aus, und die Lockvögel wurden innerhalb von Stunden festgenommen. Gleichzeitig konnte man in aller Ruhe am anderen Ende des Viertels die eigentliche Aktion starten. Es ging nicht immer gut, aber es war eine Möglichkeit, die RUC und die Brits mit den eigenen Waffen zu schlagen. Einige Jungs standen für diese Ablenkungsmanöver regelmäßig zur Verfügung.
Sean kam nach einer Stunde zurück und sagte, dass niemand etwas wusste, also beobachteten sie weiter, was sich auf dem Dach gegenüber tat. Es vergingen zwei Stunden und sie konnten keine Veränderung im Verhalten des Mannes erkennen. Er lag oder saß auf dem Dach, unmittelbar an der kante, ab und zu war der Lauf des Gewehres zu sehen, wenn er es auf die andere Seite legte.
„Wir schnappen ihn uns“, sagte Kieran, „noch länger da oben und er wird ungeduldig und schießt vielleicht auf den Nächsten, den er unten auf der Straße sieht.“
In der Straße, in der die alte Fabrik stand, waren nicht viele Passanten unterwegs, ein paar Kinder spielten vor ihrer Haustür, Frauen kamen vom Einkaufen zurück und nur ganz selten rollte ein Auto vorbei. Wenn, dann war es ein Wagen der RUC, denn das Viertel war vom normalen Straßenverkehr abgeschnitten. Es gab in der Straße kein einziges Geschäft.

Kieran übergab Sean das Fernglas, zog sein kariertes Hemd über und verschwand über die Feuertreppe in den Hinterhof hinüber. Bei jedem Schritt drohte die rostige Konstruktion zusammenzubrechen und sie wagten sich nie zu zweit auf die Stufen. In den Hinterhof führten hauptsächlich die Fenster der Hausflure und Toiletten, verdreckte blinde Augen der alten Häuser. Im Hof gab es einen Baum, in dessen Zweigen alte Flugblätter und Abfall hingen, die Mülltonnen waren überfüllt und umgeworfen. Kinder spielten hier nicht wegen der Ratten und wegen der bewaffneten Männer, die die eine Wohnung für ihre Zwecke nutzten. Durch die schmalen Seitengassen und durch die Hinterhöfe befreundeter Anwohner lief Kieran zum Quartier zurück, drehte eine zusätzliche Runde um das Haus, bevor er sich hineinschlich.
Es war ruhig in der Wohnung. Ian saß im Sessel am Fenster, blätterte in einer Zeitung und sah auf, als Kieran in der Tür stehen blieb.
„Auf dem Dach tut sich noch immer nichts“, sagte Kieran, „wir holen ihn jetzt runter. Wo steckt Tommy?“

An einer Hauswand in der Straße hatte jemand mit weißer Farbe geschrieben:

go home soldier
your presence here destroys the air
your smile disfigures us
go home soldier
before we send you home dead



Es war keine leere Drohung, nicht in diesen Straßen.
Tommy und Sean stiegen zu dem vermeintlichen sniper auf das Dach, während Kieran ihn von dem Dach des gegenüberliegenden Hauses im eigenen Fadenkreuz behielt. Er würde ihn sofort abservieren, sollte er eine falsche Bewegung machen. Für Kieran war es nicht das erste Mal, dass er einen Schädel anvisierte, aber er konnte nicht behaupten, dass es ihm nichts ausmachte. Er erledigte den Job und bemühte sich dann, keinen Gedanken mehr daran zu verschwenden.
Als 1969 die britische Regierung über die katholischen Straßen ein Ausgehverbot verhängt hatte, Familien vertrieb, war sein Vater Paddy aktiv gewesen in Pettigoe und von ihm wusste er, wie es damals zugegangen war. Jeder ältere Einwohner der Falls Road hatte es noch in Erinnerung. Rev. Ian Paisley war mit seinen Leuten durch die Straßen gezogen, mit Holzlatten bewaffnet, durch deren Ende sie lange Nägel getrieben hatten. Die RUC hatte bei allen Aktionen danebengestanden und keinen Finger gerührt.

Der Mann mit dem Gewehr sprang hektisch auf, als Tommy und Sean auf ihn zukamen, hatte das Gewehr am Boden liegen gelassen, was für ihn sprach und ihn am Leben lassen ließ. Kieran schwenkte zwischen den drei Männern hin und her, Tommy dominierte die Szene auf dem Dach allein schon durch seine große massige Gestalt. Er wechselte ein paar Worte mit dem Mann und schon rannte dieser davon, Richtung Feuerleiter, als wäre der Todesengel hinter ihm her. Kieran hätte hinter ihm her schießen können, aber er tat es nicht. Er blieb auf dem Dach, bis Sean und Tommy außer Sicht waren. Häufig erledigten sie Mitglieder der protestantischen Terrorgruppen weitaus radikaler, aber Tommy hatte, als er das zurückgelassene Gewehr an sich genommen hatte, eine abwinkende Geste zu Kieran hinüber gemacht. Als sie sich später im Quartier wieder trafen, hatte Tommy schlechte Laune und Sean verzog sich sofort in das hintere Zimmer, knallte beleidigt die Tür hinter sich zu.
„Was ist denn jetzt los?“, fragte Kieran.
Tommy holt sich einen Aschenbecher, setzte sich an den Küchentisch und zündete sich seine nächste Zigarette an. Es gab kaum eine Gelegenheit, bei der er nicht rauchte.
„Sean ist ein rechthaberisches Arschloch“, sagte er als Erklärung, „er hätte den Jungen am liebsten vom Dach geworfen. Meinte, wenn wir ihn laufen lassen, würde er das nächste Mal mit einem richtigen Gewehr wiederkommen.“
„Das Gewehr war ’ne Attrappe?“
„Spielzeug.“
„Niemand hindert ihn daran, das nächste Mal Passanten abzuknallen“, schrie Sean durch die Tür.
„Der kommt nicht wieder. Der weiß, was ihm blüht, wenn ich ihn hier noch mal erwische. Und du, Sean, du bist wie ein Stock in meinem Hintern. Mit dir arbeite ich nicht mehr zusammen.“
Kieran durchwühlte den Hängeschrank nach einem letzten Teebeutel oder irgendetwas Ähnlichem, konnte aber nichts finden. Ian stand endlich aus dem Sessel auf und meinte, er würde in den Laden um die Ecke gehen und einkaufen. Er verzog sich immer, wenn Streit in der Luft lag.
„Ich weiß nicht, was du hast“, sagte Kieran, „ich komm mit Sean immer gut aus.“
„Nur, weil er den Bloody Sunday

miterlebt hat und es jedem mindestens einmal am Tag erzählen muss, macht ihn das nicht zu einem guten Mann.“
„Die meisten arbeiten mit ihm lieber zusammen als mit dir

“, bemerkte Kieran. Tommy drehte sich auf dem knarrenden Stuhl zu ihm herum.
„Wie meinst du das?“
„Sie verstehen deinen Humor nicht.“
„Ich hab keinen Humor.“
„Genau davon rede ich.“
Ian kam zurück und sie tranken gemeinsam Tee. Tommy klopfte persönlich an die die Zimmertür und rief nach Sean, sagte ihm, dass er ein feiner Kerl sei und dass ihm das Geschehen von vor zwanzig Jahren geadelt habe, wenn er es auch nicht geschafft habe, sich eine Kugel als Andenken einzufangen.
„Irgendwann wird dir mal jemand dein dummes Maul stopfen, Tommy“, sagte Sean.
Das Leben in Belfast war gefährlich und in diesen Zeiten war es die oberste Priorität, am Leben zu bleiben, den Scharfschützen zu entgehen und sich nicht schnappen zu lassen. Ihre Zelle hatte die Aufgabe, die Aktivitäten der Briten so oft wie möglich zu stören, aber sie legten keine Sprengfallen aus oder lockten Soldaten in den Hinterhalt – sie hatten nur ein paar Waffen zur Verfügung und sie schossen nur auf Soldaten, wenn sie sich der Sache sicher waren. Weil sie alle stets mit einer Verhaftung rechnen mussten, was eine siebentätige Verhörprozedur bedeuten konnte, waren sie mit ihren Unterkünften extrem vorsichtig. Kieran wechselte den Standort fast täglich, sah Moira so selten, dass er sich wunderte, dass sie ihn noch in die Wohnung ließ. Im Moment wohnte sie in einem Haus in Ballymurphy und ging man nach seinen Sachen, die er dort hatte, lebte er wohl auch dort. Wenn sie Glück hatten, sahen sie sich an den Wochenenden für ein paar Stunden oder mehr. Moira beschwerte sich nicht darüber, weder über die häufigen Umzüge, noch dass er so selten bei ihr war. Vielleicht dachte sie, er wäre ständig auf Jobsuche, vielleicht vermutete sie aber auch das Richtige.
Die ganze Nacht lag Kieran mit Tommy auf der Lauer, beobachteten einen Militärstützpunkt durch Nachtsichtgeräte. Sie hatten sich gut eingepackt und trotzdem wurden sie nass bis auf die Knochen. Es regnete ununterbrochen bis zum nächsten Morgen. An ihrem Versteck marschierten immer wieder Soldaten vorbei, die die Straße bewachten, die zu dem Stützpunkt führte.
Kieran und Tommy konnten sich nicht unterhalten oder rauchen, stupsten sich nur immer wieder gegenseitig an, wenn einer merkte, dass der andere einschlief. Als sie sich zurückzogen und über Umwege nach Hause gingen, versuchten sie sich mit allmöglichen Vorstellungen aufzuwärmen.
„Heißer Kaffee.“
„Ein angewärmtes Bett.“
„Ein warmer Ofen.“
„Ein offener Kamin mit Torffeuer.“
„Drei dicke Pullis.“
„Eine dicke Frau“, sagte Tommy.
Sie kicherten, wagten nicht laut zu lachen. Tommy würde den Bericht schreiben und weitergeben, währenddessen ging Kieran zu einem Freund, der ebenfalls in Ballymurphy wohnte und schlief dort ein paar Stunden. Wenn er so ausgelaugt war, ging er nicht gern direkt nach Hause.
Drei Tage später liefen Kieran und Sean einer Patrouille Soldaten in die Arme und rannten durch Seitenstraßen und Hinterhöfe davon. Bei solchen Verfolgungsjagden zogen die Briten fast immer den kürzeren; sie kannten sich in den verwinkelten engen Straßen nicht aus, wagten sich selten in die miteinander verbundenen Hinterhöfe und Gärten, weil es schon mal passierte, dass sie einen Mickey verfolgten und sich plötzlich in einem engen Hinterhof wieder fanden, wo sie beschossen wurden.
Kieran schaffte es, die zwei Soldaten abzuhängen, in dem er durch eine Hintertür in einen Hauseingang rannte, die Treppen nach oben hetzte und über die Dächer verschwand. Er hoffte, dass Sean es auch geschafft hatte und den sieben Tagen entgangen war.
Am Nachmittag kam er zu dem Haus zurück, um das beschädigte Türschloss zu reparieren, was er aufgetreten hatte. Eine Frau öffnete ihr Fenster und sah hinaus, was Kieran da machte, sie nickte freundlich und verschwand wieder in ihrer Wohnung. Als Kieran fertig war, klopfte er an die Tür der Hausmeisterwohnung. Es öffnete ein alter Mann, in Unterwäsche, unrasiert und zauselig, mit einem kalten Stumpen zwischen den Zähnen.
„Ich hab die Tür repariert, Sir“, sagte er und der Mann antwortete: „Ist schon gut, Junge.“
Hinter ihm in der Wohnung kläfften sich zwei Jackies heiser.
„Passen sie auf die Hunde auf. Gestern haben die Brits wieder einen erschossen, der nicht aufhören wollte zu bellen.“
Er schlich sich zu Moira, immer ängstlich, dass die Brits das Haus beobachten könnten. Sie war nicht zu Hause, er wartete auf sie, bis sie von einer Freundin in der Nachbarschaft zurückkam.
„Bleibst du diesmal länger?“, fragte sie und er versprach, bis zum nächsten Morgen zu bleiben. Bei Moira konnte er alles für ein paar Stunden vergessen, manchmal fuhren sie auf Land und dann machte Kieran sich erst wieder Gedanken über die Briten und Belfast, wenn sie zurück waren – er versprach ihr immer wieder, etwas an der Situation zu ändern, dass sie öfters zusammen sein konnten. Moira dachte manchmal, sie müsse erst schwanger werden, um wirklich etwas zu verändern. Auf dem Land war Kieran ein ganz anderer Mensch, er verlor sein Misstrauen und benahm sich endlich wieder wie ein 22-jähriger, der er noch immer war. Kamen sie aus Belfast heraus, fuhren sie in einem geliehenen Wagen bis in die 26-Counties

, übernachteten in einem Bed & Breakfast, wo sie jedes Mal behaupteten, in den Flitterwochen zu sein.
Zurück in Belfast nahmen sie Abschied auf Zeit, bis zu dem Augenblick, wo Kieran zurückkam und ihr sagte, dass sie die Wohnung wechseln müsse. Sie blieb in Ballymurphy, deshalb behielt sie ihre Nachbarschaft und die Umzüge waren einfach nur lästig. An einem Abend ging sie mit einer Freundin in den Pub, musste dazu nicht erst überredet werden, und traf dort Kieran, der sich einen Weg durch das Gedränge bahnte. Sie musste erst winken und rufen, bis er sie entdeckte und an ihren Tisch kam. Er versuchte, einen freundlichen Eindruck zu machen, aber sie sah sofort, dass es ihm nicht gefiel, sie hier zu sehen.
„Was machst du hier?“, fragte er, beugte sich zu ihr herunter, sein suchender Blick huschte über die anderen am Tisch, die er aber nicht einmal von Sehen kannte. Ihre Freundin, schon etwas angetrunken, hob ihr Glas und sagte: „Wir trinken einen. Was sollten wir sonst machen?“
Kieran zog zwei Geldscheine aus der Tasche und drückte sie Moira in die Hand, sie versuchte sie ihm wiederzugeben, aber er legte ihr die Scheine wieder in die Handfläche und schloss ihre Finger darum.
„Geht woanders einen trinken“, flüsterte er, „bitte tu mir den Gefallen.“
Moira hätte sofort reagiert, denn sie wusste, wann es brenzlig wurde, aber ihre Freundin hielt sie unter dem Tisch fest und sagte, sie wisse nicht, was los sei und weshalb Moira schon gehen wolle. Der Abend habe doch eben erst angefangen gemütlich zu werden. Kieran konnte nicht verhindern, dass Tommy auftauchte und sich interessiert zu ihnen gesellte. Sein Auftreten war energisch genug, dass einer der Männer, die mit am Tisch saßen, ihm seinen Stuhl überließ.
„Miss“, sagte er, „werden sie von diesem Kerl belästigt?“
Es war die erste Begegnung zwischen Moria und Tommy, die Kieran letztendlich nicht verhindern konnte. Moira sah erst diesen bulligen Kerl an, der abwartend grinste, dann zu ihrem Ehemann und sagte: „Als mein Mann belästigt er mich viel zu selten.“
Tommy lachte dröhnend durch den ganzen Pub, aber Kieran konnte nichts Komisches daran finden. Sie waren in den Pub gekommen, um einen Lastwagenfahrer zu treffen, der sich bereit erklärt hatte, ein paar heikle Dinge in seinem Wagen zu transportieren. Er kannte einige der Soldaten an den Straßensperren und wurde häufig durchgewunken, wenn er seine Lieferungen machte. Tommy hatte diesen Treffpunkt vorgeschlagen, obwohl er selbst ein gespaltenes Verhältnis zum Alkohol hatte. Er hatte Kieran erzählt, dass er versucht habe, sich tot zu saufen, dass es ihm nicht gelungen sei und dann das Gegenteil probieren wolle. Ganz ohne Alkohol ginge es ihm besser, aber er habe längst nicht mehr so viel Spaß.
„Irgendwann musste ich mit einer Sache aufhören – dem Alkohol oder der Army. Beides zusammen geht nicht.“
Kieran schaffte es nur mit viel Überredungskunst, Moira und besonders ihre Freundin loszuwerden; hatte ein schlechtes Gewissen, sie nicht zu begleiten, wenn sie in den nächsten Pub pilgerten, aber er konnte hier nicht weg. Er musste sich drauf verlassen, dass sie allein auf sich achtgeben konnte.
Tommy drückte ihn auf den Stuhl neben sich, schob die halb leeren Gläser von sich weg und begann, nach seinen Zigaretten zu suchen. Während er in den Taschen herumwühlte, sagte er: „Du solltest dieses Mädchen aus Belfast rausschaffen. Es wäre eine Schande, wenn ihr etwas zustoßen würde durch irgendwelche britischen Schweineköpfe.“
„Wenn, dann schaff ich uns beide hier raus“, erwiderte Kieran, „sie hat gesagt, sie geht ohne mich nirgendwo hin. Was soll ich also tun?“
„Da ist unser Mann“, flüsterte Tommy, „lass mich das machen. Er sieht in jedem fremden Gesicht einen Verräter.“

Monate später hatte Tommy seinen Vater und zwei Brüder bei einer Aktion der Briten verloren und das war das erste und letzte Mal, dass Kieran ihn betrunken sah. Er saß im Quartier, weigerte sich, an den täglichen Aufgaben teilzunehmen und leerte eine Flasche Whiskey. Über den Verlust konnte er nicht sprechen, er war auch nicht in der Lage, zur Beerdigung zu gehen, was den Bruch mit der restlichen Familie zur Folge hatte. Die Kameraden aus den anderen Commands veranstalteten eine Ehrenwache, aber als einer der Männer Kieran ansprach, ob Tommy sich ihnen anschließen wolle, sagte er, dass das keine gute Idee war. Wäre er mit dieser Anfrage direkt zu Tommy gegangen, hätte er wohl sein Leben riskiert.
Drei Tage später war Tommy wieder der Alte – vielleicht hielt er sich mit seinen Witzen zurück und behandelte die Jungs, die er zwischen die Finger bekam, eine Spur härter, aber nach außen schien ihn der Verlust der Familie nicht verändert zu haben.

Wenn Kieran mit den anderen durch die Straßen schlenderte, machten sie das nicht, weil die Gegend so schön war und auch nicht, weil sie auf dem Weg in den nächsten Pub waren. Meist waren sie zu dritt, hielten die Augen offen, sprachen mit den Anwohnern. In den Straßen, in denen die Provos regelmäßig auftauchten, gab es weniger Überfälle der Protestanten und die Anwohner mussten nicht so häufig befürchten, von Räumkommandos auf die Straße gesetzt zu werden. Jeder aus der Organisation glaubte an die Wiedervereinigung mit der Republik, dass die Briten sich eines Tages zurückziehen würden. Mit den Protestanten konnte man sich schon irgendwie arrangieren, aber nicht mit den behelmten und schwer bewaffneten Soldaten, die auf der Straße herumstanden, wenn Kinder zur Schule gingen, wenn die Mädchen vom Tanzen kamen, wenn die Frauen ihre Einkäufe nach Hause trugen.
Kieran, Tommy und die anderen beherrschten den Guerillakrieg, den Häuserkampf, und sie würden niemals aufgeben. Die kurz- und langfristigen Ziele, die sie verfolgten, waren im Moment in den Hintergrund getreten, denn sie verbrachten die meiste Zeit damit, sich vor der SAS in Sicherheit zu bringen. Sie saßen in Belfast fest – andere Zellen operierten in England und deren Bombenanschläge heizten das Klima ordentlich ein. Kieran sagte, er würde gern ein paar von den patrouillierenden Panzern sprengen, aber an die kamen sie nicht ohne Weiteres heran und außerdem riskierten sie dabei, die Häuser und Passanten ebenfalls zu treffen. Es gab bewaffnete Überfälle auf Bars und Pubs und das auf beiden Seiten, es gab Erschießungskommandos und manchmal sagte jemand, dass es nötig sei, einen eigenen Mann zu erledigen. Die INLA

, mit denen Kieran nie etwas zu tun haben wollte, war mit Informanten und allen anderen, die ihnen nicht in den Kram passten, weitaus skrupelloser umgegangen und selbst Tommy hatte gemeint, dass es nie gut war, die Bodenhaftung zu verlieren.
Kieran und Ian trafen sich vor dem Kino, in dem die Kassenknüller des letzten Jahres gezeigt wurden, eine Ecke weiter stand Tommy und rauchte seine Zigarette. Sie befanden sich in einer Gegend, die nicht ganz so katholisch war, wie sie es gern gehabt hätten, deshalb waren sie auf der Hut. Sie waren bewaffnet, aber sie trugen die Waffen unauffällig. Hier vermischte sich das katholische und protestantische Leben, nach außen hin schien man gut zurechtzukommen, aber wenn man hinter die Fassade sah, zeigte sich ein anderes Bild. Die Kinder besuchten getrennte Schulen. Katholische Schüler, die durch protestantische Wohngebiete mussten, hatten schlechte Karten. Es wurden immer wieder Jugendliche erschossen und verprügelt, weil sie Katholiken waren. Hier waren die Protestanten die Hauseigentümer und die Katholiken die meist säumigen Mieter. Ab und zu kam es zu Feuergefechten mit der RUC oder der Army in den Straßen, ab und zu flog ein Polizeiwagen in die Luft.
Sie versuchten, die britische Army so häufig wie möglich zu stören, jedem einzelnen Soldaten klar zu machen, dass er besser zu Hause geblieben wäre.
Vor einigen Tagen hatten sie zwei Soldaten in eine Seitenstraße gelockt, ihnen so viel Angst gemacht, dass sie ihre Magazine in die Backsteinmauern verballert hatten und dann hatten sie ihnen die Köpfe und Gesichter mit Hunde- und Katzenscheiße gewaschen. Das war Seans Idee gewesen. Anschließend hatten sie sie laufen gelassen, aber es mochte Stunden gedauert haben, bis sie zu ihren Kameraden zurückgefunden hatten. Niemand hatte ihnen die Tür geöffnet, niemand hatte ihnen den Weg aus dem Labyrinth gezeigt. Sie waren ewig von Hinterhof zu Hinterhof geklettert, in der Hoffnung, irgendwo eine Straße zu finden, der sie folgen konnten. Ihre Waffen hatte Tommy behalten. Er war es auch gewesen, der es Sean untersagt hatte, die beiden zu erschießen.
„Sie werden stinkend und vollgekotzt zu ihrer Einheit zurückkommen“, hatte er gesagt, „sie werden vermutlich großen Ärger kriegen, weil sie uns nachgerannt sind und noch größeren, weil sie ihre Waffen an uns verloren haben. Bis zum Ende ihrer Dienstzeit werden sie Spitznamen tragen, die etwas mit Katzenscheiße zu tun haben. Und“, sagte Tommy, „sie werden sehr lange darüber nachdenken, dass wir sie ganz einfach hätten töten können und es nicht getan haben. Und das alles willst du uns versauen, indem du sie jetzt abservierst?“
Sean hatte in einer unbeherrschten Bewegung die Waffe weggesteckt, sich zu einem der Soldaten heruntergebeugt und ihm ein „Miauuuh“ entgegengejault. Tommy steckte sich eine Zigarette an. Er hätte ebenfalls gern geschossen, bei den Knien angefangen, weil er bei einem Soldaten sofort an seinen Vater und seine Brüder denken musste, aber das wäre ein Akt der persönlichen Rache gewesen und dafür war kein Platz bei den Provos.
Tommy war groß und wog in seinen guten Zeiten über hundert Kilo, bewegte sich wie ein durchtrainierter Boxer. Für neue Freiwillige war er der pure Horror, denn er war der Lehrmeister der Zelle. Er brachte ihnen bei, was sie wissen mussten, um den Verhören Stand zu halten und vertiefte bei allen Provos, die es nötig hatten, ihre Anti-Verhör-Techniken. Er wusste, was er tat – schließlich hatte er es oft genug selbst mit gemacht bei den tagelangen Verhören der RUC. Meist begann er damit, dass er den Neuen im Keller einschloss und allein ließ. Im Dunklen und ohne jede Orientierung hinderte er sie am Schlaf, drohte ihnen mal ruhig, mal wie ein tobender Irrer Prügel an, an die sie noch lang denken würden und alle, selbst die am Anfang ganz coolen kochte er weich. Erst jagte er die Neuen durch eine seelische und nervliche Hölle, dass sie alles getan und gestanden hätten, nur um den zu entgehen; dann half er ihnen, sich damit auseinanderzusetzen und sich somit auf den Ernstfall vorzubereiten.
„Es geht uns allen so“, sagte er, „wir haben mehr Angst davor, verhaftet zu werden, als uns eine Kugel einzufangen.“
Diese Art von Vorbereitung, die an einem geheim gehaltenen ländlichen Ort durchgeführt wurde, hatten auch einen anderen Effekt – Männer, die aus irgendwelchen Gründen der IRA beigetreten waren und nicht wirklich wussten, worauf sie sich einließen, konnten so sofort aussortiert werden.
Einmal hatte er einen Mann im Keller gehabt, der nach zwei Stunden Dauerlärm aus einer Bohrmaschine und Schüssen mit Platzpatronen, gefesselt und mit verbundenen Augen auf einem Stuhl sitzend, nur noch geschrien hatte, er wolle nicht mehr, er habe es sich anders überlegt, das sei nicht das, was er sich vorgestellt habe.
„Das ist jetzt nicht mehr komisch“, hatte er gejault.
Meist reichten nach den abgebrochenen Behandlungen ein paar blumige Drohungen, um diese Männer vor Verrat abzuhalten. In den Jahren, die Kieran bei ihm war, hatte er es nur ein einziges Mal erlebt, dass Tommy einen der Ausgeschiedenen ins Jenseits geschickt hatte. Er schien es geahnt zu haben – jedenfalls hatte er den Mann noch auf dem Weg zur nächsten Polizeistation abgefangen. Er behauptete später, er habe ihn mit dem Fahrrad überfahren, aber die Wirklichkeit hatte wohl etwas dramatischer ausgesehen.

Vor dem Kino sammelten sich gut gelaunte Kinobesucher, ein Mädchen sprach Tommy wegen Feuer für ihre Zigarette an und augenblicklich verwandelte er sich in einen Charmebolzen. Selbst mit seinem kurzgeschorenen Schädel, der mächtig grau wurde, hatte er etwas an sich, was die Mädchen anzog.
„Das ist erblich“, lautete seine Erklärung, „mein Daid

konnte das auch.“
Sean hatte einmal gewagt, darauf zu erwidern, dass sein Daid sich darauf hätte konzentrieren sollen, den Röcken nachzustellen, dann hätten sie ihm nicht die Augen zugedrückt bei der Straßenkontrolle, und daraufhin hätte Tommy ihn fast aus dem Fenster geworfen. Ian und Kieran hatten es gerade noch so verhindern können. Es hatte die Spannungen zwischen den beiden nicht gerade abgebaut.
Er wechselte ein paar Worte mit dem Mädchen, schüttelte bedauernd den Kopf und ließ sie allein ins Kino gehen. Kieran schlenderte zu ihm hinüber und sagte: „Du hättest ruhig mit in die Vorstellung gehen können. Die hätte dir zu Hause auch noch einen Rosie Lee

gemacht.“
„Nicht heute.“ Er sah zu Ian hinüber. „Sag ihm, er soll mit der Zappelei aufhören. Er sieht aus wie ein Junkie auf Entzug.“
„Er ist nervös. Du hast ihm Angst gemacht.“
Am Morgen hatte Tommy angekündigt, sie würden in einen Pub marschieren, der ein Treffpunkt der UDA sei und dort ein wenig für Stimmung sorgen. Ian war mindestens zwanzig Mal auf der Toilette gewesen.
„Er kann sich beruhigen. Selbst, wenn wir es heute durchziehen würden, würde ich ihn nicht mitnehmen. Ian ist ein guter Schütze, aber er hat zu schnell das Nervenflattern.“
Er latschte mit gemächlichen Schritten in das Kinofoyer, kam mit einer Tüte Popkorn wieder. Im Moment tat er alles, um sein Gewicht zu halten.
„Wie alt bist du jetzt?“, fragte er, „zweiundzwanzig? Mit dir arbeite ich noch am besten zusammen, Garsún

.“
Mit seinem Popkorn schlenderte er davon und sie trafen sich etwa eine Stunde später wieder, als in dem Kino die Vorstellung bereits begonnen hatte und der Platz vor ihnen fast ausgestorben war. Sie erwischten einen von denen, die sie erwischen wollten, und schleppten ihn zwischen die parkenden Autos im Schatten des Kinos. Ian ließ seinen Frust an ihm aus und Tommy schien endlich einmal halbwegs zufrieden mit ihm zu sein.

Da Tommy sich nach dem Ableben seiner halben Familie wieder gefangen hatte und mal wieder ein Umzug ins Haus stand, weil Kieran befürchtete, die RUC könnte ihm auf die Schliche gekommen sein, sagte Tommy ohne Umschweife, dass sie die Wohnung seines Bruders übernehmen könnten. Es waren noch immer die Möbel und seine privaten Sachen drin, aber er wollte nichts davon behalten.
„Was ihr nicht gebrauchen könnt, verschenkt ihr einfach an die Nachbarn“, sagte er, „der Vermieter ist ein alter Säufer, aber er hat ein Auge auf die Leute, die das Haus betreten. Als die RUC Kavan mal verhaften wollte, hat er sie so lange aufgehalten, bis er durchs Fenster verschwinden konnte.“
Moira mochte die Wohnung und sie mochte Tommy, war erleichtert zu hören, dass sein Bruder nicht in dieser Wohnung gestorben war. Tommy sagte ihr allerdings auch nicht, wie es passiert war.

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Tag der Veröffentlichung: 11.06.2011

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