Im Hinterhalt
Da das Autoradio defekt war, sangen Pol und Brendan gut gelaunt und sehr laut ein paar Songs, die sie irgendwann einstudiert hatten, kamen problemlos durch mehrere Ortschaften, bevor sie unter einer Eisenbahnunterführung gestoppt wurden. Der graue Wagen, der quer unter der Unterführung abgestellt war, schien verlassen, aber als Pol abbremste und der Motor im Leerlauf brummte, sie sich beunruhigt ansahen, kamen von beiden offenen Seiten Männer herangestürmt.
„Ach du Scheiße“, entfuhr es Pol, ein Zittern in der Stimme, sah die Männer von vorn und die anderen im Rückspiegel. Zeitgleich, als Brendan sich mit einer Hand am Armaturenbrett abstützte, haute er den Rückwärtsgang rein und setzte mit quietschenden Reifen zurück. Die Männer, dunkel gekleidet und mit Masken über den Gesichtern, sausten an ihnen vorbei, aber bevor Pol den Datsun rückwärts aus dem Tunnel herausmanövrierte, stellte sich auch von der anderen Seite ein Auto quer auf die Straße, das zuvor auf dem Feldweg abgestellt gewesen war.
„Jetzt sitzen wir in der Kacke“, sagte Brendan. Es könnten Freunde und Verwandte von Lilian sein, die sich entschlossen hatten, es ihm heimzuzahlen, das war das Erste, was ihm in den Sinn kam, vielleicht waren es aber auch die Typen, mit denen Pol sich angelegt hatte. Jedenfalls waren die Männer bewaffnet, kamen an den eingekeilten Wagen heran, umstellten ihn und einer mit Maschinengewehr im Anschlag riss die Fahrertür auf. Pol und Brendan waren erstarrt vor Angst, starrten in die Augen hinter der Strumpfmaske und erwarteten, jeden Moment durchlöchert zu werden wie Bonny und Clyde. Keiner der Maskierten sagte ein Wort, aber sie waren deutlich verunsichert darüber, die Zwillinge in Kierans Wagen vorzufinden. Das Maschinengewehr blieb mehrere Sekunden im Anschlag, bis der Mann den Arm hob und ein Zeichen zu den Männern machte, dass sie sich zurückziehen sollten. Er schlug die Tür zu, deutete mit der Spitze des Gewehrlaufs, dass Pol durchstarten und verschwinden solle. Das waren weder protestantische Verwandte noch kleine Partydrogenhändler – wären sie nicht alle maskiert gewesen, wären Pol und Brendan aus dieser Tunnelhöhle nicht lebend herausgekommen, das war ihnen klar. Sobald die Straße vor ihnen frei war, nagelte Pol das Gaspedal auf das Bodenblech und legte einen solchen Kavalierstart hin, dass es beinahe den Motor ruinierte. Sie rasten die Straße so weit herunter, bis sie an eine Stelle kamen, wo die Hecken aufhörten und ein freies Feld auftauchte, Pol pflügte dort hinein, bis der Datsun von allein stehen blieb. Sie krochen heraus, blieben am Heck nebeneinander stehen und sahen zur Tunneldurchfahrt zurück, wo gerade der Blockadewagen drehte und verschwand.
„Sie haben gedacht, Kieran säße im Wagen.“ Brendans Stimme war brüchig.
„Jedenfalls hab ich René nie in einer solchen Verkleidung gesehen.“ Pol ging in die Knie, kam wieder hoch und schüttelte die Hände, um wieder Gefühl hinein zu bekommen.
„Sie hätten ihn umgebracht.“
„Das denke ich auch.“
„Oh Mann. Die sahen nicht so aus, als wollten die nur die Fahrerlaubnis sehen.“
Sie sahen sich zweifelnd an, noch immer zu geschockt für irgendeine andere Reaktion.
„Was machen wir?“, fragte Brendan, „erzählen wir ihm von der Sache?“
„Auf jeden Fall, Mensch. Sonst erwischen sie ihn das nächste Mal, wenn er unterwegs ist. Aber Moira darf davon nichts wissen.“
„Hast du einen von denen erkannt?“
„Keine Chance. Ich hab nur auf dieses Scheiß Gewehr gestarrt.“
Sie wollten nicht nach Hause und sie hockten mit den Hintern auf der Motorhaube, grübelten darüber nach, was sie tun sollten.
„Fahren wir weiter?“, sagte Pol schließlich, weil er nicht länger tatenlos herumsitzen wollte, „dann rufen wir Michael an und sagen ihm, dass sie aufpassen sollen. Wenn wir jetzt zurückfahren und es ihm erzählen, kommen wir gar nicht mehr weg.“
Brendan dachte an Lilian, wie sie auf der Lichtung getanzt hatte, so zauberhaft, als sei sie einem alten Film entsprungen. Er wollte sie wieder sehen, unbedingt, aber vielleicht war es besser, das Ganze zu verschieben.
„Ich weiß nicht“, sagte er, „ich hab keinen Bock mehr, nach Lilian zu suchen. Für heute reicht’s mir eigentlich.“
„Ich werd mich in Craigavon auch nicht wohlfühlen.“
„Eben, ich mich auch nicht, bloody hell
. Und wenn wir sie nicht finden, war die ganze Mühe umsonst.“
Brendan hatte vor Augen, wie Lilian durch das Heckfenster zu ihm zurückgestarrt hatte, Haarsträhnen in ihrem blassen Gesicht, verzweifelt und ängstlich. Dieses Bild konnte er nicht vergessen und ebenso wenig sein Gefühl der Ohnmacht.
„Aber ich will noch mal mit ihr reden“, sagte er, „ein letztes Mal. Nur nicht jetzt.“
„Als wenn’s darauf ankommt“, murmelte Pol.
Sie fuhren weiter, aber sie sangen nicht mehr, starrten ständig auf die Straße und Umgebung, ob ihnen eine neue Falle gestellt wurde. Von der nächsten Telefonzelle aus riefen sie bei Michael Doherty an, aber sie konnten ihn nicht erreichen und diskutierten darüber, während sie sich zu zweit in die Zelle drückten, wen sie stattdessen anrufen sollten. Die Wahl fiel auf Howard Ryan, den sie mit brummiger Laune erwischten, der nach ihrer Schilderung aber sofort hellwach war.
„Kieran war heute noch nicht hier, aber ich werd ihn schon finden. Verdammt, wie geht’s euch? Ist euch was passiert?“
Sie beteuerten, dass sie in Ordnung seien und dass sie sich gut fühlten und weiter nach Craigavon wollten.
Schließlich sagte Pol, ging es um die Jobs, die sie bekommen wollten.
Auf den letzten Kilometern entbrannte ein Streit zwischen ihnen, weil Pol plötzlich behauptete, er könnte einen von ihnen, den mit der MG, erkannt haben, obwohl nicht einmal die Augenbrauen zu sehen gewesen waren. Brendan hielt das für Schwachsinn und sie warfen sich allerhand Dinge an den Kopf, bis sie endlich das Ortsschild von Craigavon passierten.
Michael und Kieran hockten in einer abgelegenen kleinen Scheune, der Wagen war im Unterholz gut versteckt, weit abseits der nächsten Straße.
„Ich will niemanden abkommandieren, um mein Haus gegen Idioten zu schützen. So weit kommt’s noch.“
Sie diskutierten seit Stunden darüber, hatten sich festgesessen, obwohl sie nur hergekommen waren, um ein paar Pläne auszuarbeiten.
„Das war doch das Beste. Niemand würde es dir verdenken. Diese Steinewerfer werden es nicht bei einer Aktion belassen, wohlmöglich sind es Leute aus der Straßengang, die sich an dir rächen wollen.“
„Selbst wenn, müsste ich auch allein damit klarkommen. Wir haben schon Schlimmeres überlebt. Ich überlege nur, ob ich die Familie von hier wegbringe.“
„Für wie lange? Es wird sich niemals vollkommen beruhigen in dieser Region.“
„Darren geht zum Herbst auf die Schule“, sagte Kieran, „das hab ich geschafft. Wenn das einmal durch ist, gibt’s von der Seite keine Probleme mehr.“
„Sie bedrohen dich doch wegen der Schule.“
„Aber ich glaube nicht, dass sie mir Steine durchs Fenster werfen würden.“
„Du wirst aber niemanden von weiteren Attacken abhalten, wenn du nur den Terrier laufen lässt. Lass uns deutliche Zeichen setzen, dass sie an euer Haus nicht rankommen, ohne sich die Finger zu verbrennen.“
Kieran schüttelte den Kopf.
„Komm schon“, sagte Michael ärgerlich, „wir sind jetzt hier, um eine Lösung für dieses Problem zu finden.“
„Es gäbe eine Lösung“, bemerkte Kieran in einem Unterton, als verrate er jetzt ein großes Geheimnis, „aber damit wärst du nicht einverstanden. Ich hab jemanden getroffen, der so etwas sehr gerne in die Hand nehmen würde. Du kennst ihn noch von früher. Aus Belfast.“
„Wen von den alten Haudegen hast du wieder getroffen?“
Kieran machte eine Kunstpause, zog einen Streifen Kaugummi aus der Tasche, packte ihn aus und rollte den Streifen zusammen, bevor er ihn sich zwischen die Zähne schob, sagte schließlich: „Tommy. Er könnte Unterstützung brauchen. Ich hatte den Eindruck, dass die Bosse sich nicht sehr für seine jetzige Situation interessieren.“
„Tommy? Ich dachte, der wäre längst in Amerika.“
„Wie sollte er ohne Hilfe da hinkommen?“
Malcolm biss sich auf die Lippen. Der Gedanke, sich mit einem Flüchtigen herumschlagen zu müssen, dazu noch von einem Kaliber wie Tommy, gefiel ihm nicht.
„Du willst ihn doch nicht etwa herholen? Ich weiß, was Tommy tun würde, selbst wenn es ihn wieder hinter Gittern bringen könnte. Sag mir nicht, dass du ihn herholst.“
„Nein“, antwortete Kieran schmunzelnd, „ich hab ihm Geld gegeben und ihm alles Gute gewünscht.“
„Gut. Lass uns das Haus gemeinsam beschützen, egal, wer dahinter steckt.“
„Nein“, erwiderte Kieran. Mal wieder dachte er an die Falls Road, an die anderen Straßen, in denen sie gewohnt hatten und es nie hatten verhindern können, dass die RUC ihnen das Leben schwer machte. Selbst umgeben von Freunden und Sympathisanten hatte das niemand verhindern können. Wie sollte es da in Pettigoe klappen.
„Ich will nur, dass ihr euch umhört und mir Bescheid sagt, wenn seltsame Typen in Pettigoe auftauchen. Ich will nicht die gesamte Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Ihr haltet euch im Hintergrund bereit. Ich will euch erst dabei haben, wenn ich einen von den Mistkerlen habe.“
„Du solltest Paddy O’Brien
darüber informieren. Wenn es Jungs von der UDA
sind, können die besser von oben gestoppt werden.“
„O’Brien
ist nicht gut auf mich zu sprechen. Das weißt du nur zu gut.“
Ihre Diskussion zog sich endlos hin und es kam dabei nichts herum, außer, dass Kieran keine Hilfe einfordern wollte, weder von den Provos, von den Hawks und Doves, noch von seinen Freunden und schließlich akzeptierte Michael es, obwohl er wusste, dass es ein großer Fehler war. Er versprach, nichts zu unternehmen, hatte aber im Hinterkopf, trotzdem etwas zu tun, sollte es nötig werden. Er würde so handeln, wie er es für jeden Freund tun würde, ob ihm as Ärger einbrachte oder Kieran ihm die Hölle heiß machte.
Schließlich konnte Kieran es ihm nicht verbieten, vor einem Haus Wache zu stehen, selbst, wenn es das Haus der Finnigans war. Er würde Howard einweihen und zu zweit könnten sie eine Menge mehr ausrichten. Sie befreiten Michaels Wagen aus dem Gestrüpp, fuhren nach Pettigoe zurück und wurden von Howard an der Straße gestoppt.
Der kommt ja wie gerufen
, dachte Michael.
Er stand breitbeinig vor dem Pub, rauchte eine Zigarette, die er achtlos beiseite warf, als er Michaels Wagen erkannte. Mit beiden Händen winkte er sie auf den Parkplatz, wo ein paar Kinder auf Rollschuhen übten. Er rief zu ihnen hinüber, sie sollten verschwinden. Ryan konnte mit der Nachricht nicht warten, bis Kieran ausgestiegen war, beugte sich zum Fenster herunter.
„Dem scheint was auf den Nägeln zu brennen“, sagte Michael.
Kieran stieg aus, musste Ryan mit der Autotür beiseite schieben und unterbrach ihn sofort, als er ohne Punkt und Komma zu reden begann.
„How“, sagte Kieran mit einer leisen geduldigen Stimme, die Howard zum Verstummen brachte, „es ist wohl besser, wenn wir das drinnen in deinem Büro besprechen.“
Die Kinder, die Howard zu verscheuchen versucht hatte, standen am Rand des Parkplatzes, beobachteten die Männer, rollten schrittweise hin und her und machten Kaugummiblasen. Einer der Jungs trug ein Sex-Pistols T-Shirt.
„Geht schon mal vor“, sagte Howard, „ich fahr den Wagen in den Hinterhof.“
Michael gab ihm wortlos die Schlüssel. Im Hinterzimmer, nicht eigentlich ein Büro, schien Kieran von der Nachricht des Überfalls nicht überrascht, hörte sich alles mit gesenktem Kopf an und fragte nur, ob es den beiden gut ginge. Ryan beteuerte, dass die beiden es gut weggesteckt hatten, sich am Telefon ganz normal angehört hatten und weiter auf dem Weg nach Craigavon waren.
„Die beiden hätten tot sein können“, sagte Kieran scheinbar regungslos, aber diese Kühle nach außen war antrainiert und hatte nichts damit zu tun, wie es in seinem Inneren aussah.
„Aber die beiden sind auch schon extrem gefährdet, wenn sie betrunken auf dem Heimweg sind.“
„Was glaubst du, wer dahinter steckt?“
„Ist das wichtig?“, fragte Kieran. Er saß auf einem leeren Guinnessfass, schob eine Zigarettenkippe mit den Schuhspitzen auf dem alten Mosaikfußboden hin und her.
Manche Dinge blieben besser unbeantwortet, zumindest vorläufig.
„Wir wissen, dass sie es auf mich abgesehen haben, sie haben nur nicht gut gearbeitet, wenn sie nicht merken, dass da zwei Jungs drin sitzen. Wie viele waren es, sagte Pol? Zehn Mann? Es gibt nicht viele Splittergruppen, die so viel Mann zusammenkriegen.“ Er überlegte einen Moment. „Aber wenn ich darüber nachdenke, war es keine Splittergruppe.“
„Du wirst doch irgendjemanden benennen können.“
Michael wurde wütend, dass Kieran sich dazu nicht äußerte. Das hatte es noch nicht gegeben, dass ein Anschlag der Loyalisten (und sei es nur ein versuchter) unbeantwortet geblieben war.
„Von denen, an die ich denke, hat niemand MGs“, sagte Kieran, „das sind fast alle chaotische Bombenbastler, die aus allen Organisationen rausgeflogen sind.“
Er richtete die Kippe auf einem Mosaiksteinchen aus, stand von dem Fass auf und sagte: „Was ich denke, gefällt mir nicht. Das behalte ich für mich, bis ich Genaueres weiß, wer dahinter steckt und ob ich recht hatte mit meiner Vermutung. Bis dahin werden wir verbreiten, dass wir die Straßenrowdys verdächtigen.“
„Albert Hughes“, sagte Michael, „der ist Mitglied bei den Red Hands.“
Ryan hatte eine Flasche Whiskey aufgemacht und drei Gläser geholt, sie tranken, als wollten sie einen üblen Geschmack wegspülen.
„N’ bisschen weit raus für die Red Hands“, bemerkte Ryan.
„Das hat mir einer der Junge geflüstert, mit denen er zusammengearbeitet hat. Er brüstet sich nicht damit, aber er hat es erwähnt. Wir sollten überprüfen, ob er engere Verbindungen nach Belfast hat.“
„Wir brauchen nichts zu überprüfen, Michael. Warten wir erst einmal ab. Keine voreiligen Aktionen.“
„Okay“, sagte Michael. Später machte er sich Vorwürfe, ob es alles anders gelaufen wäre, hätte er nicht auf Kierans Befehl gehört und dem Stab in Belfast von dem Überfall und den Steinwürfen berichtet. Hätte er das Ruder herumreißen können? Das ließ ihm lange keine Ruhe.
„Michael?“, sagte Kieran, als Howard Ryan zurück in den Pub ging, dort nach dem rechten sah, „du fällst mir doch nicht in den Rücken.“
Michael hob ertappt die Hände.
Sie traten hinaus vor den Pub, verfolgten das wenig anmutige Rollschuhfahren der Kinder, die mehr auf der Nase lagen, als auf den Rollen standen. Der Teerbelag war einfach zu schlecht für so etwas. Überall waren Löcher, Blasen und das Unkraut kämpfte sich an die Oberfläche.
„Kein Wort zu Moira“, sagte Kieran warnend, „der Stein im Haus war schon schlimm genug.“
Es musste sie an Belfast erinnert haben. Manchmal dachte Kieran, dass es nicht richtig gewesen war, eine Familie zu gründen in seiner Situation, aber selbst er brauchte ein soziales Umfeld, in dem er abschalten und alles vergessen konnte. Er war kein Roboter, der nur für diese eine Sache lebte und kämpfte und er kannte auch niemanden, der es geschafft hatte, völlig ohne Freunde und Familie zu bleiben, nur um niemanden in Gefahr zu bringen. Es schien sogar so, dass die mehrfachen Familienväter am verbissensten kämpften, weil sie am deutlichsten wussten, für wen sie es taten und sich opferten. Ein kluger Kopf hatte irgendwann mal gesagt, dass nichts und niemand besser Freiwillige zur IRA rekrutierte wie die britischen Soldaten und die Oranierorden und nichts einen IRA-Kämpfer mehr an seinen Aktivitäten hinderte als eine berufliche Vollbeschäftigung.
Ich werde alles tun, um Schlimmeres als einen Stein im Haus zu verhindern
, dachte Michael, da kannst du dich drauf verlassen
.
1969 hatte sich die IRA gespalten, als es darum ging, entweder dem Kampf oder der Politik den Vorzug zu geben, daraus waren die Pins
und die Stickies
entstanden – die Provisionals
und die Officials
. Die Ziele waren die selben, nur die Methoden waren grundverschieden. Kieran hatte sich immer zu den Pins
gezählt, aber wurde jetzt auch von seinen Leuten Zurückhaltung gefordert, war das eine weitere Herausforderung, der er sich stellen musste. Für die Erreichung der Ziele würde er auch zu einem Sticky
werden. Es gab genug katholische Splittergruppen, die ihnen alle große Kopfschmerzen bereiteten. Nach dem Tod des Kopfes der INLA
1994 war es nicht ruhiger geworden, Paddy O’Brien
und Sinn Fein
distanzierten sich regelmäßig von den Taten der Splittergruppen, aber man unternahm nichts gegen sie.
Schließlich hatten sie selbst mit zwei großen Bombenanschlägen in London und Manchester vor zwei Jahren wieder Bewegung in die festgefahrenen Verhandlungen gebracht – Aktionen, die nur jemand verstehen konnte, der in diesem politischen Dschungel noch die Übersicht behalten hatte.
Wer kann mir schon mit Sicherheit sagen
, dachte Kieran, dass es nicht einer dieser sturen Typen gewesen ist, dem ein katholischer Junge auf einer protestantisch geführten Schule gegen den Strich ging und daraufhin eigenmächtig und ohne Kontrolle von oben gehandelt hat.
Das konnte Kieran aber niemandem sagen, das durfte er niemandem gegenüber äußern, Kannibalismus in den eigenen Reihen war tabu. Er trank noch zwei Guinness, ohne sie wirklich auf der Zunge zu schmecken.
„Alles in Ordnung?“, fragte Howard, als Kieran in sein Glas kicherte, obwohl es dafür wahrlich keinen Grund gab.
„Ich dachte nur gerade an dumme Spitznamen, die man sich so einfängt.“
„Was zum Beispiel?“
„Pins
und Stickies
. Nur, weil die einen die Osterblumen aufgeklebt und die anderen Nadeln benutzt haben.“
„Und jeder Dritte heißt Mad Dog
.“
„Ich geh jetzt nach Hause“, sagte Kieran.
Moira war dabei, in der Küche die Vorratsschränke aufzuräumen, drehte sich zu ihm herum, sah auf die Uhr und bemerkte, bereits wieder im Schrank verschwunden: „Ich hab dir doch gesagt, dass die Jungs nicht pünktlich nach Hause kommen werden.“
Die Zwillinge hatten Kieran nicht weiterhelfen können, auch, nachdem sie lange über den Überfall gesprochen hatten, konnte er nicht sagen, wer dafür verantwortlich sein könnte.
„Was ist mit Craigavon, hat’s da geklappt mit den Jobs?“
„Nein“, sagte Brendan, „es war doch alles anders, als wir uns das vorgestellt haben. Es hat sich erledigt. Wir bleiben hier.“
„Es könnte brenzlig werden, so brenzlig, dass ich überlege, euch für eine Zeit lang wegzuschicken.“
Pol machte ein trompetenmäßiges Geräusch. „Das kann nicht dein Ernst sein.“
„So was soll sich nicht wiederholen.“
„Wenn diese Typen hier wieder auftauchen, treten wir ihnen zu dritt in den Arsch. Es ist verständlich, wenn du Darren und Moira aus der Schusslinie bringst, aber uns wirst du nicht los.“
Kieran konnte gar nicht dankbar reagieren, weil es ihm grundlegend gegen den Strich ging, in den Zwillingen Verbündete zu sehen, er wurde richtig wütend, polterte herum und sie verbrachten die nächsten zwanzig Minuten damit, sich heftige Dinge an die Köpfe zu werfen und das alles in einer Lautstärke, die die Shaughnessys nebenan aufhorchen ließ.
Der Streit wurde ergebnislos abgebrochen, als Darren hereingeplatzt kam, sich neugierig umsah und eine ungeduldige Handbewegung machte, die sagen sollte, was zum Henker hier los sei und weshalb sie so ein Geschrei veranstalteten.
„Dein Daid ist ein sturer Schwachkopf“, sagte Pol sehr freundlich.
„Geh rauf auf dein Zimmer“, meinte Kieran, pfiff warnend durch die Zähne, als Darren nicht reagierte. Er schmollte sichtlich, trampelte die Stufen nach oben und schlug die Tür hinter sich ins Schloss. Die Luft war raus aus dem Streit. Pol und Brendan verzogen sich in den Garten, hatten auch keine Lust mehr, untereinander darüber zu diskutieren. Sie waren einfach nur sauer, dass Kieran so wütend reagiert hatte.
Mit Michaels Hilfe fand Kieran einen schlecht bezahlten Job, aber besser als gar keinen. An einem Sonntag Nachmittag hatte Darren sein erstes kleines Turnier in Drumskinny. In der geliehenen schwarzen Jacke und der hellen Hose sah er sehr schick aus auf seinem Pony, war überhaupt nicht aufgeregt und folgte gewissenhaft Toms Anweisungen. Scheinbar hatte er ganz vergessen, dass Hunderte von Zuschauern um den Platz herumstanden, unter ihnen auch Kieran und Moira. Sie sahen ihn das erste Mal springen und vergingen fast vor Angst. Darren flog mit Tadhg über die Hindernisse, ohne eine Stange zu berühren oder sich in der Reihenfolge der Sprünge zu irren, aber am vorletzten Hindernis verlor er das Gleichgewicht und plumpste Tadhg in den Rücken, worauf das Pony nicht mehr springen wollte und einen Schlenker um die Stangen herum machte. Darren konnte sich nicht mehr halten und rutschte herunter.
„Tu doch was“, jammerte Moira, „tu doch irgendwas
!“
„Was soll ich denn tun?“, erwiderte Kieran.
Darren platschte auf den weichen Rasen und sah Tadhg nur noch bockend davon schießen. Er rappelte sich auf, schob sich die Reitkappe zurecht und schämte sich wegen der grünen und braunen Flecken auf der weißen Hose und dass er heruntergefallen war. Außerdem hatte er wieder vergessen, die Zügel festzuhalten, um das Pony am Weglaufen zu hindern.
Tadhg trabte mit wehenden Steigbügeln und hoch aufgestelltem Schweif um die Hindernisse herum, ließ die Helfer, die ihn einfangen wollten, nah an sich herankommen und galoppierte dann wieselflink vor ihnen davon. Das Spielchen machte er auch, wenn er sich auf der Weide nicht einfangen lassen wollte, das machte ihm richtig Spaß.
Darren pfiff durch die Zähne, stand mit den Händen in die Seiten gestemmt da und bewegte sich nicht. Tadhg trabte mit gesenktem Kopf auf ihn zu und blieb bei ihm stehen, sodass er die Zügel greifen und ihn vom Platz führen konnte. Er bekam ein wenig Szenenapplaus, aber die meisten Zuschauer wollten das nächste Paar sehen und waren froh, dass dieses Pony endlich den Platz verließ. Moira und Kieran kämpften sich bis an den Ausgang vor.
„Hast du dir wehgetan?“, fragte Moira, „fehlt dir auch nichts? Kieran, sollten wir ihn nicht lieber von einem Arzt untersuchen lassen?“
„Ach was“, sagte Kieran, hob Darren auf das Pony und führte ihn in die Richtung, wo sie in etwa zehn Kilometer Entfernung irgendwo den Transporter geparkt hatten.
„Tut dir was weh?“
„Nein“, sagte Darren ungeduldig. Im Sattel sitzend drehte er sich zu Tom herum, der beladen mit Decke, Programmhefte, Springgerte und Regenumhang hinter ihnen hermarschierte.
„Mach dir keine Vorwürfe“, rief er, „für das erste Mal war das schon richtig gut. Alles, was du jetzt noch brauchst, ist etwas Routine.“
„Nicht, wenn’s nach mir geht“, sagte Moira.
Als sie am frühen Morgen angekommen waren, hatten sie Auto und Anhänger auf einer weitläufigen Weise abgestellt; jetzt hatten sie Stunden später Mühe, in dem Durcheinander von Autos, Transportern, angebundenen Pferden und Ponys und jede Menge freilaufender Hunde, ihren Wagen wieder zu finden. Sie bahnten sich einen Weg, Kieran ging voran, weil er der Größte von ihnen war und Toms Wagen schneller finden konnte. Tadhg war schnell abgesattelt und auf den Hänger gestellt, aber da alle Fahrzeuge kreuz und quer abgestellt waren, dauerte es eine halbe Ewigkeit, bis sie einen Weg zurück zur Straße gefunden hatten.
Von der Straße aus hatten sie einen schönen Blick zurück auf die Turnierplätze, wo sie verfolgen konnten, dass eines der Pferde in der höheren Klasse direkt vor dem Sprung verweigerte, der Reiter mit einem Salto über die Stangen flog und seinem Pferd dabei die gesamte Trense vom Kopf riss, weil er die Zügel festgehalten hatte. Darren entschied sich insgeheim dafür, die Zügel lieber loszulassen und Tadhg dann zu sich zu rufen. Er wusste, dass es teuer genug war, ständig zerrissenes Lederzeug flicken zu lassen.
Pol jobbte vorübergehend bei einem Gemüsehändler, der sich den Fuß gebrochen hatte und dankbar war für jede Hilfe, aber das hantieren mit Tomaten und Zitronen war überhaupt nichts für ihn. Als er nach zwei Tagen sagte, dass er am liebsten kündigen wolle, jammerte der Händler herum und ließ sich dazu erweichen, ihm mehr Geld zu bezahlen. Das machte den Job nicht besser, aber Pol fand die Bezahlung nicht übel und er machte weiter. Er konnte das Getötter der Hausfrauen nur schwer ertragen und war jedes Mal froh, wenn er abends ausfegen und abschließen konnte. Immerhin war es besser als mancher Kneipenjob.
Natürlich spürte ihn irgendwann René auf, war überaus freundlich und erwähnte Pols Schulden nicht mit einer Silbe. Pol wähnte sich nicht in Sicherheit, er wusste, dass der Rest der Schulden nicht vergessen war und René nur keine Zeugen gebrauchen konnte. Der kleine Gemüseladen war voll mit Hausfrauen und kleinen Kindern und er tat so, als seien sie die besten Freunde, die sich zufällig wieder getroffen hatten.
Als er am Nachmittag endlich nach Hause ging, bepackt mit Tüten unverkäuflichem Obst und Gemüse, trat ihm René an einer Ecke gegenüber und kam sofort zur Sache. Pol gab ihm alles, was er bei sich hatte, aber damit war René nicht zufrieden und er wurde handgreiflich, wie das so seine Art war. Das Gemüse brauchte er danach nicht mehr nach Hause zu tragen, René war ordentlich darauf herumgetrampelt.
Als Pol das Haus betrat, rechnete er eigentlich damit, dass er sich unbemerkt rein schleichen könnte, aber Kieran erwischte ihn im Flur und ohne irgendwelche Fragen zu stellen, seufzte er nur und holte Jodoform und Pflaster für Pols Gesicht.
„Er haut immer direkt auf die zwölf“, näselte Pol, „damit es weh tut und man sich jeden Morgen im Spiegel sieht und an seine Schulden denkt.“
„Wie hoch sind deine Schulden?“
„Um die zweitausend.“ Er zwinkerte nervös. „Einen Teil hab ich schon zurückgezahlt und das ist der Rest. Ich hab keine Lust, ihm noch mal zu begegnen.“
Kieran verpflasterte ihm sehr vorsichtig die aufgeplatzte Nase, holte den Poteen
aus dem Schrank.
„Es hat wohl keinen Sinn, wenn ich jetzt damit anfange, dass du dich mit diesem Typen nicht hättest einlassen sollen. Wie willst du das Geld zusammen kriegen, bevor er dich das nächste Mal erwischt?“
„Ich such mir einen zweiten Job.“ Pol konnte Kierans Miene richtig deuten. „Ich mach keine krummen Dinger mehr nach dieser Sache, das kannst du mir glauben. Ich würde dich ja gern anpumpen, aber ich weiß, dass du die zwei auch nicht locker hast. Ich hab versucht, René davon zu überzeugen, dass es noch ein paar Monate dauert, bis ich ihm alles zurückzahlen kann, aber es hat nicht geklappt.“
Kieran hätte eine gute Lösung anbieten können, aber er hielt sich zurück, weil Pol sich schon beim ersten Mal geweigert hatte, dass er sich einmischte.
„Ich hör mich um wegen des Jobs“, sagte Kieran, „das kann ich für dich tun. Deine Nase hätte eigentlich genäht werden sollen. Wenn er dich also das nächste Mal erwischt, gehst du direkt in die Notaufnahme.“
„Nee“, erwiderte Pol, „das nächste Mal landet er
in der Notaufnahme.“
Tag der Veröffentlichung: 31.05.2011
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