Es gibt T-Shirts mit dem Aufdruck: FRÜHER HATTE ICH ZEIT UND GELD – HEUTE HABE ICH EIN PFERD
.
Wenn man sich für ein Pferd und den Reitsport entscheidet, entscheidet man sich meist für eine gesunde Mischung aus tierischer Freundschaft und sportlichen Ansprüchen. Ein talentiertes Pferd und ein talentierter Reiter können mit Ehrgeiz und Fleiß weit kommen, aber auch, wenn man nicht hoch hinaus will, möchte man, dass man ein reitbares Pferd sein Eigen nennt. Das ist der Anspruch an ein Reittier.
Als ich Carly gekauft habe, stand er mit seinen dreieinhalb Lebensjahren ganz am Anfang seiner Ausbildung, und bei seinem Exterieur sprach nichts dagegen, aus ihm ein ganz passables Freizeitpferd zu machen. Mit der Hilfe einer sehr guten Reitlehrerin, die ihre Pferde alle selbst bis zur S-Dressur ausbildete, gingen wir die Sache an.
Einem jungen Pferd verzeiht man vieles, eigentlich verzeiht man ihm alles
, aber wenn man nach vielen Rückschlägen, die sich über zwei bis drei Jahre hinziehen, noch immer kein Licht am Ende des Tunnels sieht, kommen einem Zweifel.
Wenn man dann noch von einem Dritten hört: „Ich würde dich gern mal auf einem richtigen Pferd sehen – du reitest eigentlich gar nicht schlecht …“ macht man sich zusätzlich Gedanken.
Carly hat niemals versucht, mich abzuwerfen, er ist niemals kopflos durchgegangen, er hatte andere Methoden. Er wurde autistisch
. Er ignorierte mich, egal, was ich anstellte. Wurde er immer langsamer, versuchte ich es mit Sporen und er wurde noch langsamer. Versuchte ich es mit scharfen Sporen, blieb er stehen. Ich weiß nicht mehr, wie viele Gerten ich gekauft habe, wie viele Sporen ich durch die ständige Beanspruchung zerbrochen habe. Ich war nach einer Unterrichtsstunde in Schweiß gebadet, hatte das Gefühl, ihn durch die Gegend getragen zu haben und nicht er mich.
Am Anfang hatte ich geplant, ab und zu ein kleines Dressurturnier zu gehen, aber das rückte in weite Ferne. Selbst an Tagen, an denen Carly kooperativ schien, war es sehr anstrengend, ihn zu reiten, weil er nichts freiwillig machte.
Was ihn rettete, war sein absolut ruhiges Wesen. Nichts konnte ihn schocken oder aus der Fassung bringen, und auch mit seinen pferdigen Kollegen ging er immer freundlich und entspannt um. Eigentlich war er ein perfektes Anfängerpferd – außer, dass er jeden Anfänger auf seinem Rücken verhungern ließ.
Nach einer wiedermal frustrierenden Unterrichtsstunde sagte ich zu meiner Reitlehrerin: „Karin, ich glaube, ich kaufe mir ein neues Pferd. Ich bin’s echt leid, dass er so ein sturer Brocken ist und nicht mitarbeitet.“
„Deine Entscheidung“, sagte Karin.
Den Einzelunterricht machten wir trotzdem weiter, aber ich setzte mich und Carly nicht mehr unter Druck. Wenn er keinen verstärkten Trab zeigen wollte, egal. Wenn er langsamer war, als alle anderen, egal. Wenn das Einzige, was gut funktionierte, das Stehenbleiben war, egal. Ich zog die Sporen aus, ich ritt nicht mehr mit zwei Gerten, um ihn nach vorne zu treiben. Und was geschah?
Carly begann wie immer, langsam – steif – unmutig; aber er fand seinen eigenen Rhythmus und lief so gleichmäßig, dass Karin sagte: „Wie ein Uhrwerk.“ War er einmal warmgelaufen, wurde er von allein fleißig (es gibt einen Unterschied zwischen „schnell
“ und „fleißig
“), und er nahm plötzlich Paraden und Lektionen locker an. Er lief nicht mehr wie ein Emsa Bügelbrett, er wurde weich im Maul und im Genick.
Bei uns beiden war der Knoten geplatzt. Ich setzte mich nicht mehr unter Druck, mit den hochgezüchteten Dressurpferden Schritt halten zu müssen, und fand endlich den richtigen Weg zu ihm. Natürlich dachte ich, es sei eine einmalige Ausnahme, aber es blieb.
Der Verkauf war somit vom Tisch.
„Es sind immer
Reiterfehler“, sagte Karin und damit hatte sie Recht.
Und später, als sich herausstellte, dass er bei Stuten hengstig und unberechenbar wird, er komplett das Hirn ausschaltet, wenn er sich erschreckt, lernte ich sehr vieles von ein paar Westernreitern und deren Art und Weise, ihre Pferde zu erziehen.
Carly ging in den Ruhestand, weil seine Knochen und Gelenke nicht mehr mitmachten. Er war alle paar Monate lahm, und es war keine Besserung in Sicht. Jahre zuvor hatte er sich durch seine Huf-Fehlstellungen einen Sehnenanriss zugezogen und musste drei Monate stehen, und die Chancen waren nicht die Besten, dass es überhaupt wieder heilen würde. Aber er hat es geschafft und die Sehnen sind das kleinste Problem geblieben.
Ich wechselte den Schmied und begriff jetzt danach, dass Carly jahrelang mit Schmerzen gelaufen sein muss durch den falschen Beschlag. Kein Wunder, dass er niemals locker flockig gelaufen war.
Im Ruhestand tauchten neue Probleme auf, die mich so manches Mal verzweifeln ließen – er zertrümmert schon mal seine Boxentüren, wenn er sieht, dass seine Kumpel auf die Weide gehen und er meint, man würde ihn vergessen; man kann ihn auch nicht allein rausschicken, weil er dann Angst hat und meint, er würde den Weg nicht kennen.
Vor einigen Jahren ist er bei dem sehr beliebten "Mit-dem-Fuß-gegen-die-Tür-bollern" mit dem Huf in der plötzlich zerbrochenen Tür hängengeblieben, hat die Tür aus den Scharnieren gehoben und ist mit der Tür am Fuß hängend rückwärts in die Box gehüpft. Dabei hätte er sich leicht das Bein brechen können, aber Gottlob hatte er sich nur etwas die Haut aufgerissen. Und für den Rest des Tages musste er in eine andere Box umziehen, bis seine Tür wieder repariert war.
Manchmal vergisst er seine alten Knochen und versucht herumzuhüpfen und gleichzeitig wegzulaufen, was letzten Winter zur Folge hatte, dass er sich bei einer solchen Aktion nach hinten überschlug und sich dabei einen dicken Muskelriss an einer Hinterbacke zuzog, der nie wieder heilen wird.
Aber ich bin auch nicht ganz Ohne - ich hab's mit Augen. Ständig pieke ich ihm mit Daumen oder Finger ins Auge, aus Versehen natürlich, und ich fürchte, er ist es mittlerweile gewöhnt und nimmt es mit Seelenruhe hin.
Carly hat seinen Ruf weg – denn wenn man bei ihm nicht immer das erste Wort hat und ihm zeigt, wo es langgeht, nutzt er das schamlos aus.
Aber ich liebe ihn noch immer und gerade wegen seiner Eigenarten. Er hat sich in den siebzehn Jahren, die ich ihn jetzt habe, zu einem Charakterpferd entwickelt.
Beim auf die Weide bringen kann er in der Box empört toben, weil es endlich los geht, aber sobald er das Halfter an hat und ich ihn rausführe, bleibt er bei mir und ist brav. Wenn ich die Box sauber mache, brauche ich nur zu sagen: „Mach mal die Futt rum
“, und er macht mir Platz, rückt von mir weg bis an die Wand und frisst dabei ruhig weiter. Bei „Rübe runter
“ senkt er den Kopf und ich kann seine Mähne kämmen. Wenn wir ein wenig Bodenarbeit machen, und er alle vier Beine gerade nebeneinander stellen soll, brauche ich nur sagen: „Hinten links
“, und er korrigiert genau den Fuß. Alles, was er je unter dem Sattel und im Umgang gelernt hat, ist auch nach Jahren noch abrufbar.
Wenn ich ihn eines Tages gehen lassen muss, werde ich mir kein neues Pferd kaufen. Ohne Pferde kann ich vermutlich nicht leben, aber ich möchte kein Eigenes mehr haben. Immer wieder würde ich versuchen, einen zweiten Carly aus dem Nachfolger zu machen, was unmöglich wäre.
Texte: Cover-Foto: Ein Weidefoto von Carly, aufgenommen Ende Mai 2011.
Tag der Veröffentlichung: 01.06.2011
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