In der Hecke
Er konnte endlos über die vergangenen Zeiten mit Moira nachdenken, die Jahre, die sie in Belfast verbracht hatten, als sie geheiratet hatten und Darren zur Welt gekommen war. Seine Geburt hatte sein Leben verändert, aber nicht wirklich auf den Kopf gestellt, dazu war er zu selten zu Hause gewesen, die wirklichen Einschnitte brachten die nächtlichen Überfälle und Festnahmen der RUC.
Während seines Fußmarsches nach Hause versuchte er sich in allen Einzelheiten an die Belfaster Zeit zu erinnern, rauchte dabei eine Zigarette nach der anderen. Auf der B46 vor Dromore überholte ihn ein roter Wagen, verwirbelte den Regen und brauste den Hügel hoch, der noch vor Kieran lag. Er hatte in dem Dunst nicht einmal die Automarke erkennen können, aber etwas war an dem Wagen, das sein Alarmsystem aufheulen ließ.
Er marschierte weiter, nahm die Hände aus den Jackentaschen und zog ein letztes Mal an der Zigarette, bevor er sie wegwarf. Er drehte sich nach allen Seiten suchend um.
Oben auf der Straße hielt der rote Wagen an, die Bremslichter blinkten einmal auf. Er drehte auf der Straße, pflügte dabei durch die Hecke und kam zurück. Kieran hatte es geahnt, noch bevor er die Bremslichter gesehen hatte. Endlich hatte er diese Arschlöcher, die die Straßen unsicher machten, und er konnte nichts ausrichten, weil er nicht einmal in seinem Wagen saß und dazu noch allein an der Straße marschierte.
Ohne Zögern sprang er den Graben neben der Straße runter, wo Schafe und Hunde einen schmalen Trampelpfad hinterlassen hatten, landete in Gestrüpp und Dornen und kämpfte sich bis auf die Schafsweide durch, wo er geduckt in dem überwucherten Graben nach vorn weglief. Schafe galoppierten vor ihm davon, sammelten sich auf der anderen Seite ihrer Weide, von wo aus sie zu ihm zurückstarrten.
Nur wenige Meter von ihm entfernt auf der Straße, verteilten sich die Straßenrowdys, warfen Steine in die Hecken und brüllten durcheinander, dass sie ihn gleich holen würden, er solle besser freiwillig zurück auf die Straße kommen.
Kieran hatte abgestandenes Wasser und Schlamm in den Schuhen, und als er vor einem faustgroßen Stein in Deckung ging, der knapp an seinem Kopf vorbeiflog, hatte er den kalten Schlamm auch in den Hosenbeinen und in den Ärmeln. Er wagte keinen Blick nach oben, fürchtete, einer der Typen könnte direkt über ihm stehen, hielt den Atem an und hörte einen Brocken weit hinter sich durch die Äste brechen.
Sie johlten und lachten auf der Straße, Kieran kroch weiter nach vorn, bis er an eine Stelle kam, wo ein paar Bäume genug Schutz boten, dass er sich auf die Füße erheben und laufen konnte. Sie hörten das Knistern und Krachen der Zweige, das Planschen im Graben und folgten ihm. Sie brüllten noch immer, dass sie seinen katholischen Arsch gleich kriegen würden. Der Graben zwischen Straße und Schafsweide wurde so schmal vor ihm, dass er dort nicht mehr weiterkam, er drückte sich rückwärts in ein Brombeergebüsch, ungeachtet der Dornen, die sich überall in seine Haut stachen. Dort verharrte er, atemlos auf die Geräusche der Straße horchend. Sollten sie sich entscheiden, ebenfalls in den Graben zu springen, hatte er wenigstens den Rücken frei. Dann würde es sich entscheiden, ob sie ihn verprügelten oder ihm nur weiter Angst einjagten. Er würde sich wehren, bis er stehend KO ging, soviel war sicher.
Wenn Lilians Bruder, dieser scheinheilige páiste gréine, bei ihnen war, würde er ihn sofort wieder erkennen. Dann würde er vermutlich mehr als nur KO gehen.
„Wir kriegen dich, du Bastard!“
Das war die Stimme von Lilians Bruder, kein Zweifel, das war Albert auf der Straße über ihm. Kieran wagte es, den Kopf zu drehen, um durch das dichte Gestrüpp zur Straße zu sehen, erahnte Bewegungen und wieder hagelten Steine. Der Graben war ihnen zu nass und zu schmutzig, sie blieben oben auf der Straße, patrouillierten hin und her, und Albert, noch immer in direkter Nähe, ohne es zu wissen, schrie seine Drohung heraus und Kieran machte sich noch kleiner in seinem Versteck. Es konnte doch nicht so lange dauern, bis sie den Spaß daran verloren, dumm durch die Gegend zu schreien und zu hoffen, dass der Paddy von alleine rauskam. Sie musste in ihren Wagen steigen und wieder verschwinden. Kieran steckte sich die blutende Hand in den Mund, begann zu beten, dass der Spuk ein Ende haben mochte. Albert hatte ihn nicht erkannt. Dann hätte er ihn längst beim Namen genannt, um ihn zu verunsichern und hätte auch nicht seine Zeit in der Distanz vertrödelt. Er wäre in den Graben gekommen.
Als die Schüsse fielen, die Idioten sich vor Begeisterung fast totlachten, drückte Kieran seinen Kopf nach unten und dachte nur noch an die vielen Schießereien in den Straßen und Hinterhöfen in Belfast. Es traten immer die selben Bilder vor seine Augen, sobald er auch nur ein Geräusch hörte, das einem Schuss ähnelte. Manchmal genügte schon die Fehlzündung eines Autos und er wurde zurückkatapultiert in die Zeit, als er jeden Tag um sein Leben gekämpft hatte.
Sie waren mehr als einmal von den Briten beschossen worden, mit knapper Not entkommen und hatten nach solchen Erlebnissen immer wieder den Mut gefunden, weiterzumachen. Sniper hatten aus heiterem Himmel auf sie geschossen, sie waren in Panik an Mauern entlang gekrochen, während die Kugeln um sie herum eingeschlagen waren. In einer ähnlichen Situation hatte es Tommy erwischt in Belfast, getroffen von einem Sniper, während er mit einem Mädchen flirtete.
Kieran wartete zitternd auf den brennenden Schlag einer Kugel, ballerten sie nur oft genug in den Graben, würden sie ihn früher oder später treffen.
Dann, nach endlosen Minuten, hörte er, dass Albert seine Jungs zurück in den Wagen orderte, nachdem es nach den Schüssen totenstill geblieben war, und sie fuhren davon. Kieran blieb in der Hecke, dachte an eine Falle, an einen Trick, um ihm endlich aus der Deckung zu locken. Er konnte nicht aufhören zu zittern, kroch erst eine halbe Ewigkeit später ins Freie. Der Wagen war fort, trotzdem wagte er sich nicht auf die Straße zurück. Sein Nacken und seine Hände bluteten von den Dornen, er war nass und schmutzig bis an den Haaransatz, marschierte quer über die Weide von der Straße fort.
Nachdem er das hinter sich gebracht hatte, hörte der Regen auf und die letzte Sonne des Tages kam durch. Das reichte allerdings nicht, um ihn wieder aufzuwärmen.
Ab und zu warf er einen Blick zurück, ob ihm nicht doch jemand folgte. Er hatte das Gefühl, sich nicht gerade mit Ruhm bekleckert zu haben.
An einem Bauernhaus, das von herumlungernden Katzen bevölkert war, klopfte er an die Tür und fragte, ob er telefonieren dürfe. Die Hausherrin zerrte ihn ins Esszimmer, rief nach ihrem Sohn und wollte wissen, was passiert sei. Sie nahm es ihm nicht ab, als er sagte, er sei eine Böschung runter gefallen und wollte nur telefonieren, um sich abholen zu lassen. Ihr Sohn kam hinzu, zog sich gerade ein Sweatshirt über den Kopf.
„Meine Güte“, sagte er, „hab ich das jährliche Schlammfestival verpasst?“
Seine Mutter schlug mit der flachen Hand nach seinem Kopf und im gleichen Tonfall sagte er: „Wo müssen sie hin?“
„Pettigoe.“
„Da kann er sie hinfahren“, sagte die Frau energisch, „bevor sie sich noch den Tod holen.“
Ihr Sohn hatte in der rückwärtigen Werkstatt gearbeitet, seine Hose war ölverschmiert und er roch nach Benzin. Er grinste freundlich und hatte nichts gegen einen Ausflug nach Pettigoe einzuwenden. In dem aufgemotzten Wagen mussten sie sich schreiend unterhalten, aber Julian stand auf dem Geschwindigkeitsrausch und ging nicht vom Gas.
„Meine Mutter hat gesagt, sie sind ’nen Graben runtergefallen? Wie haben sie das denn geschafft?“
Dazu reichte ein Auto mit vier Idioten drin
, dachte er, und so wahr ich hier mit feuchtem Schlamm in meiner Unterhose sitze, dafür werden sie bezahlen.
„Ich musste einem Auto ausweichen, da blieb mir nichts anderes übrig, als in die Hecke zu springen.“
„Hat der Fahrer angehalten, ob ihnen was passiert ist?“
Das war komisch, denn so, wie Julian fuhr, würde er selber kaum Fußgänger am Straßenrand wahrnehmen, die sich in Sicherheit brachten. Kieran zog sich unablässig Dornen und kleine Zweige aus dem Haar, befühlte die winzigen brennenden Risse in seiner Kopfhaut.
„Ich bezweifle, dass er mich überhaupt bemerkt hat.“
Während der ganzen Fahrt nach Hause hielt Kieran den Blick auf die Straße gerichtet, aber der rote Wagen der Rowdys war nirgends zu sehen. Er bedankte sich bei Julian und sagte, wenn er mal in der Nähe war, würde er ihn gerne auf ein Bier einladen.
In ganz Pettigoe gab es kein einziges politisches Graffiti, nur an einem stillgelegten Bushaltestellenhäuschen an der Zufahrtsstraße klebten die undeutlichen Reste eines Bobby-Sands-Gedächtnistreffenplakates, und trotzdem strömte die Aura des Widerstandes gegen die Briten durch das Dorf. Alles sah etwas anders aus als ein oder zwei Dörfer weiter. Die Gegend hatte Straßen, aber keine Straßenschilder. Die Blumebeete waren nicht ganz so akkurat, wie es sonst üblich war, Schafe trabten übe die Dorfstraßen, ohne dass es jemanden störte. Man ging nett und höflich miteinander um, aber im Dorf wurden Waffen gelagert, um die Brits mit Gewalt aus Nordirland zu vertreiben. Fremden begegnete man mit einem gesunden Misstrauen. Julian sah sich nur einmal um und wusste, dass er sich hier nicht wohlfühlen konnte, er setzte Kieran ab und fuhr mit seinem Wagen und dem britischen Kennzeichen davon.
Kieran sehnte sich nach einem heißen Bad, hoffte, dass noch genug heißes Wasser da war, um die Wanne zu füllen. Es passierte oft genug, dass er in einer lauwarmen oder kalten Wannenfüllung saß, frustrierend genug in einem kühlen Sommer; aber jetzt mit brennenden Wunden und noch immer eiskalt-klammen Klamotten am Leib, den Frust im Herzen, konnte es nur die Hölle werden.
Er betrat das Haus durch die Vordertür, stellte seine Schuhe ordentlich ab, starrte si sekundenlang an und wünschte sich, ihm würde eine einfache und harmlose Antwort einfallen, die Moira ihm auch abkaufen würde.
Honey, ich bin gestolpert und in eine Pfütze gefallen. Komisch, nicht wahr?
Er schaffte es ins Bad, ohne gesehen zu werden, aber das Wasser lief so laut polternd in die Wanne, dass man es im ganzen Haus hören konnte und das lockte Moira an, die beim alten Paddy gesessen hatte.
Zunächst klopfte sie nur an die Badezimmertür und fragte, ob etwas los sei. Sie konnte Kierans Antwort nicht richtig verstehen, klopfte wieder, horchte und sagte schließlich: „Ich komm rein, Kieran.“
Es beruhigte sie, dass er bis auf ein paar Kratzer heil und gesund aussah, aber allein sein Blick verriet ihr, dass sie besser keine Fragen stellte.
„Ich mach dir mehr heißes Wasser“, sagte sie, „das hier läuft nur noch kalt.“
Sie setzte den großen Kessel auf, schleppte das heiße Wasser ins Bad und goss es vorsichtig zwischen seine Füße. Es dauerte, bis die Wanne halbwegs gefüllt war und der Dampf sich am Spiegel niederschlug, dann brachte sie ihm einen Tee und setzte sich unaufgefordert neben ihn. Kieran hatte unter dem nassen Handtuch den Kopf hängen gelassen.
„Dein Nacken ist ganz zerstochen“, murmelte sie, „da schmier ich dir nachher was drauf. Du siehst aus, als hättest du in einem Wespennest gestanden.“
„Es war nicht ganz so schlimm. Ich muss nur eine Nacht drüber schlafen.“
„Hattest du Ärger?“
„Es hatte nichts mit dem Job zu tun.“
Sie knetete an seinen verspannten Schultern herum, wusch ihm die Haare und entfernte dabei vorsichtig die letzten Dornen. Nach dem heißen Bad wollte er schlafen gehen, aber da kamen die Zwillinge und Christy nach Hause und er setzte sich mit ihnen in die Küche, hörte sich stillschweigend ihre Diskussionen an. Darren kam aus seinem Zimmer, brachte einen Hauch von Pferdemist mit sich und sagte piepsend in die Runde, dass Tadhg ihm in den Hintern gebissen habe und sofort wollten sie von ihm wissen, ob er zurückgebissen habe. Es war selten genug, dass Darren von sich aus etwas sagte und dazu noch in ganzen Sätzen. Die geballte Aufmerksamkeit, die ihm durch diese Bemerkung zuteil wurde, verschüchterte ihn, dass er gar nichts mehr raus brachte. Moira gab ihm eine kleine Schüssel und den Rest Milch, schickte ihn vor die Tür um die Katze zu füttern.
„Was heckt ihr gerade aus?“, fragte Kieran und Pol begann munter zu erzählen und ließ sich auch nicht stoppen, als Brendan ihn unter dem Tisch anstieß. Er wusste nicht, dass Brendan von dem Kidnapping noch nichts erzählt hatte. Sie hatten einen Plan vorbereitet, in dem Christy den Lockvogel spielen sollte und Kieran hörte sich das alles stirnrunzelnd an. Brendan versuchte nach oben zu verschwinden und Kieran sagte: „Du bleibst hier.“
Selbst Moira unterbrach ihre restliche Hausarbeit und hörte sich an, was sie planten. Sie stand sehr unbeteiligt am Fenster, polierte an einem Teller herum, und als Brendan widerwillig sein Hemd hochzog und seine blauen Flecken präsentierte, schlug sie sich die flache Hand vor den Mund.
„Wann ist das denn passiert?“, fragte sie, „waren das diese Schläger?“
„Sie haben Lilian mitgenommen, da sind meine blauen Flecken vollkommen Nebensache.“
„Deshalb heckt ihr diesen Plan aus?“
„Nicht nur deshalb.“
„Wir ziehen das zusammen durch“, sagte Kieran, „das eine Mal werden wir zusammenarbeiten, um diese Penner aus dem Verkehr zu ziehen. Euer Plan ist nicht schlecht, aber Christy reicht als Lockvogel nicht. Und ihr wisst auch nicht, wo ihr den Lockvogel postieren sollt.“
„Weißt du das denn?“
„Darüber sprechen wir morgen früh“, antwortete Kieran.
Abends kam Michael vorbei, klopfte an die Hintertür und Kieran setzte sich mit ihm an den Hundezwinger. Die Hunde sprangen an der Tür hoch und Kieran ließ sie ein paar Runden durch den Garten und über die Felder drehen, damit sie ihre Ruhe hatten.
„Tim hat etwas über Christy in Erfahrung gebracht“, sagte Michael, „er muss irgendetwas getan haben, was die Zwillinge unter keinen Umständen verraten werden. Ich weiß es nicht genau, aber Tim hat gehört, dass die Drei etwas aushecken.“
„Es geht um die Straßenrowdys, das hecken sie aus. Aber was ist mit Christy?“
„Tim meint, er könnte für die Brits gearbeitet haben.“
Kieran seufzte, drehte sich zu den tobenden Hunden um, ließ sich Zeit mit der Antwort, weil er es in dem Moment hasste, seine Vermutung bestätigt zu sehen.
„Das habe ich auch schon vermutet, so übervorsichtig, wie er hier durch die Gegend schleicht. Egal, was er getan hat, wir lassen ihn vorläufig in Ruhe. Morgen greifen wir uns die Rowdys, danach sehen wir weiter.“
Sie verließen alle das Haus, als die Sonne noch nicht aufgegangen war. Kieran und die Jungs fuhren los, um ihre Mission zu erfüllen und Darren lief nur Minuten später zu Tom O’Neill hinüber. Er wollte Tadhg von der Wiese holen, konnte ihn aber in der Ponygruppe nicht finden, und als er auf der mittleren Sprosse des Tores stehend nach ihm pfiff, wieherte er ihm aus dem Stall entgegen.
Im Stall kam Tom zu ihm und sagte, dass er Tadhg sicherheitshalber abends reinholte, um zu verhindern, dass er sich wenige Tage vor dem Verkauf noch eine Verletzung holte. Darren nickte und tat tapfer, aber die Angst nagte in ihm, dass Tadhg doch an den Händler gehen könnte, obwohl sein Dad ihm versprochen hatte, ihn zu kaufen.
Tom fuhr Darren mit seiner dicken schwieligen Hand durch das Haar, versuchte ihn aufzumuntern.
„Es wird schon klappen, dass dein Dad ihn kauft, mach dir keine Sorgen. Du kannst ihn jetzt für deinen Ausritt fertigmachen und danach stutzen wir ihm endlich die Mähne.“
Er beobachtete, wie Darren das Pony auf den Feldweg führte, dort aufstieg und losritt, bis er auf das abgemähte Feld abbog und dort seine Runden drehte. Er hatte sich die Steigbügel wieder so kurz gemacht, dass er wie ein Jockey im Sattel stehen konnte und Tadhg nutzte die Rückenfreiheit, um ein paar komische Bocksprünge zu machen. Der Acker lag etwas erhöht am Hügel und Tom konnte ihn gut bei der Arbeit beobachten.
Der Junge macht das sehr schön
, dachte er, hatte Spaß, ihm dabei zuzusehen, er wird mit jedem Tag besser.
Kieran arbeitete den ganzen Tag in dem Abbruchhaus, bis er sich an einer widerborstigen Bohle den Rücken verhob und sich nicht mehr richtig bewegen konnte. Sein Kollege griff ihm unter den rechten Arm und zog ihn ruppig in die aufrechte Position zurück, klopfte ihm der dicken behaarten Hand auf den Rücken, während er Kieran prüfend ansah.
„Geht’s wieder?“
„Ich glaub nicht“, keuchte Kieran, kurzatmig und mit einer Hand in den Rücken gestemmt, „ich hab das Gefühl, mich hätte ’n Pferd getreten.“
Mit steifbeinigen Schritten ging er zum Vorarbeiter, der den ganzen Vormittag damit zugebracht hatte, Zeitung zu lesen und sich am Sack zu kratzen, erzählte ihm, was passiert war und dass er sich den Rest des Tages freinehmen müsse.
„Kommst du morgen wieder?“
„Wenn ich mich bewegen kann, bin ich hier.“
Sein Rücken tat nicht wirklich weh, es war der reine Schwindel und er marschierte gehandicapt los, solange er noch in Sichtweite war.
Christy wartete auf ihn an der Bushaltestelle und sie gingen zusammen, zunächst ohne ein Wort zu wechseln. Es fuhren nur einige Wagen an ihnen vorbei, trotzdem zuckte Christy bei jedem Motorengeräusch zusammen, und warf Blicke über seine Schulter.
„Lass das“, sagte Kieran freundlich, „du wirst schon merken, wenn sie es sind, also hör auf damit. Du hast doch keinen Schiss, oder?“
„Nur ein wenig“, sagte Christy, „weil ich mich nicht darauf einstellen kann.“
Sie gingen nebeneinander her, Kieran mit einer Hand in der Jackentasche.
„Wir sind alles durchgegangen. Wenn sie auftauchen, haben wir sie.“
Christy setzte einen schritt aus, reihte sich hinter Kieran ein und ein Lastwagen zog stinkend an ihnen vorbei.
„Sicher wird alles so klappen, wie wir es ausgetüftelt haben.“
„Worüber machst du dir Sorgen?“
„Ich mach mir keine Sorgen.“
Sie umschritten eine riesige Pfütze, in der Regenbogen aus Benzin schillerten und die sich fast über die ganze Straßenseite zog. Kieran wollte gerade etwas über die Qualität des Straßenrandmülls sagen, als der rote Wagen in der Kurve vor ihnen auftauchte, zunächst im gemütlichen Tempo, dann immer schneller werdend.
Auf der Beifahrerseite hängte sich ein Rotschopf aus dem Fenster, johlte und schlug mit der geballten Faust auf das Autodach. Sie hörten seine Begeisterungsschreie, das Schlagen auf Metall, als schlage er eine Trommel.
„Es geht los“, bemerkte Kieran fast gemütlich, „jetzt ziehen wir ihnen das Fell über die Ohren.“
Sie rannten davon, jeder in eine andere Richtung, erst durch die Hecken, dann geradeaus über die Felder. Kühe und Schafe flüchteten und den Straßenrowdys blieb nichts anderes übrig, als den Wagen stehen zu lassen und sich aufzuteilen, wollten sie ihnen beide auf den Fersen bleiben. Es entsprach ihren Erwartungen, dass sie Katholiken wie die Karnickel jagen mussten.
Zwei verfolgten Kieran, darunter Albert, die anderen beiden rannten Christy nach. Noch hatten sie einen guten Vorsprung, peilten die verabredeten Treffpunkte an. Bei Kieran war es eine alte Scheune, auf Christys Seite ein Stück Steinmauer, in der auf der höchsten Stelle eine Art Wetterfahne steckte. Christy sprang über die Mauer, blieb mit einem Fuß hängen und fiel ungeschickt auf die andere Seite, wo er keuchend liegenblieb. Solche Dauerläufe waren überhaupt nichts für ihn. Er drückte sich in das Unkraut, hörte die zwei Verfolger näher kommen, und ihn packte die Angst, sie könnten ihn in eine Falle gelockt haben und niemand würde ihm zur Hilfe kommen. In seiner Panik dachte er, dass es auch egal sein konnte, welche Seite ihn fertigmachte, und er zuckte mächtig zusammen, als eine Horde Jugendlicher, fast noch Kinder, von allen Seiten der Weiden auf ihn zugerannt kamen, geduckt, um im Schutz der Steinwälle nicht gesehen zu werden. Es waren an die zwölf oder dreizehn Jungs, die in Lauerstellung auf die beiden Rowdys warteten.
Der Junge, der neben Christy hockte, trug abgeschnittene Hosen, die ausgefranst waren wie ein Schilfrock bei einem Kostümfest und aus seiner Hosentasche ragte die Schnauze eines Plastikspielzeugautos.
„Das Ding ist von meinem kleinen Bruder“, erklärte er, als er Christys Blick bemerkte. Dann sprangen die beiden Protestanten über die Steine. Sie fielen wie Heuschrecken über sie her.
„Ho“, sagte der Junge mit dem Spielzeugauto, als er auf einem der überrumpelten Proddys hockte. Er wischte ihn mit einer abfälligen Bewegung das Haar aus dem Gesicht, um ihn sich genauer anzusehen.
„Dich kenn ich doch. Du hast doch noch letztes Jahr auf meinen kleinen Bruder aufgepasst.“ Er sah in die Runde und rief: „Der hat so getan, als sei er ein Freund.“ Er stieß dem Mann die Knie in den Leib. „Hättest du uns auch Brandbomben ins Haus geworfen, wenn es dir jemand gesagt hätte?“ Er wartete nicht auf eine Antwort, trat statt dessen wieder zu. „Du blödes Schwein. Tauchst du noch mal in unserer Nachbarschaft auf, bring ich dich um.“
Auf Kierans Seite lief es ähnlich ab, er ließ sich bis zur Scheune verfolgen, wo bereits genug Provos auf sie warteten und albert und seinen Kollegen zu Boden rangen. Da sie die Streckenposten in Sichtweite auf den Feldern verteilt hatten, kam innerhalb von Minuten die gesamte Gruppe angelaufen. Es sah ein wenig so aus wie eine unkonventionelle Treibjagd, bei der man die Jagdflinten vergessen hatte. Eine stieg in den roten Ford und fuhr ihn von der Straße, mit Freunden demolierten sie ihn und ließen ihn dann in einen Tümpel rollen. Ganz ähnlich gingen sie mit den Rowdys um, besonders mit Albert, der die übelsten Verwünschungen ausstieß, was ihm aber nicht aus der Klemme half. Es wunderte Kieran, dass er mit dem Sack über dem Kopf überhaupt noch meckern konnte – dass er noch Puste und Mut dazu hatte, wo er wissen musste, was ihm zustieß, wenn er einmal in einem alten Kartoffelsack steckte.
Kieran hielt sich im Hintergrund, hatte seine Genugtuung daran, wie Brendan sich für die blauen Flecken bedankte, nachdem er erfahren hatte, dass sie Lilian nach Hause gebracht hatten und sie das Haus nicht mehr verlassen durfte.
Sie ließen die Vier dort, wo man sie so schnell nicht finden würde, angebunden in der Scheune, weitab von der Straße.
„Die können von Glück sagen, dass wir ihnen keine Kugeln verpassen“, sagte Kieran. Sie zogen in kleinen Gruppen ab, die Jugendlichen gingen zurück zu ihrem Fußballspiel, der Rest verstreute sich unauffällig. Kieran nahm Christy beiseite und sie gingen ein Stück über die Felder.
„Was ist los mit dir?“ fragte er, „ich werde aus dir nicht schlau. Ich weiß, dass du irgendwas verheimlichst, Christy, und das lässt mir keine Ruhe. Ich hab nicht gerne jemanden unter meinem Dach, dem ich nicht trauen kann.“
Christy blieb stehen, sah sich hilfesuchend um, aber es war niemand in der Nähe, der ihm hätte helfen können. Gleichzeitig würde sein Geständnis niemand sonst hören. Sein letztes Geständnis.
„Das ist nicht einfach so erzählt“, begann er, musste sich auf einen Begrenzungsstein setzen, weil ihm die Knie weich wurden, „ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.“
„Mach dir keinen Kopf deswegen, wo du anfangen sollst, ich will nur die Wahrheit wissen. Fang mit irgendetwas an und wenn ich etwas nicht verstehe, frag ich dich schon.“
„Ich glaube, es ist besser, wenn ich einfach verschwinde und wir die Sache vergessen.“
Kieran hielt ihn mit einer Hand an der Schulter, als Christy sich verdrücken wollte, setzte sich eng neben ihn. Von Weitem sah es aus, als säßen dort zwei gute Freunde, aber Kieran ging nur auf Tuchfühlung, weil er verhindern wollte, dass Christy ihm durch die Lappen ging.
„Das zieht nicht.“
Er wird mich umbringen
, dachte Christy, fühlte seinen Kopfschmerz näher rücken und hielt sich vorsorglich das empfindliche Auge zu.
Sie haben noch genug Säcke und sicher auch noch ein paar Kugeln übrig. Die Belfaster Bestrafung. Drei Kugeln. Eine in jedes Knie und eine zwischen die Augen.
„Ich hab in Maze spioniert“, sagte er endlich und seine Stimme hörte sich nicht mehr wie seine eigene an, „ich war ein Gefangener wie alle anderen auch, aber ich habe alle Informationen weitergegeben. Namen, Orte, Vorlieben, manchmal Schuldeingeständnisse, aber meistens nur so wenig, dass ich dachte, sie würden mich endlich gehen lassen. Mein Job war erledigt, bis zum nächsten Mal. Ich war lebendes Inventar für die Briten. Ich bin da reingerutscht, die haben mich mit Stoff erwischt und mich vor die Entscheidung gestellt. Sie haben mich gedrillt, behauptet, ich tue das Beste für Nordirland und für mich, aber es war nur das beste für die. Jahrelang hab ich eure Leute ans Messer geliefert, die sich gutgläubig mit mir unterhalten haben. Der Letzte, den sie ausgehorcht haben wollten, hat mir das hier verpasst.“ Er hob das Kinn. „Und aus dem Krankenhaus bin ich dann abgehauen. Ich konnte es nicht mehr aushalten, ständig mit dem Gedanken zu leben, dass sie mir jeden Augenblick auf die Schliche kommen können. Ich wollte nicht mehr nach Irland, aber Pol hat mich überredet. Wusste schon, dass es Folgen haben würde.“
Oben auf dem Feldweg tauchte Michael im Dunst auf, blieb stehen und steckte die Hände in die Manteltaschen. Kieran winkte ihn zu sich. Er stampfte wie ein Bär heran, hatte für Christy nur einen misstrauischen Blick und reichte seine Packung Zigaretten herum.
„Christy hat für die Brits gearbeitet“, sagte Kieran nüchtern, „er konnte aussteigen. Das bleibt unter uns, Michael. Christy ist einverstanden, dass er bis morgen die Gegend verlässt. Damit ist die Sache erledigt.“
„Du lässt ihn laufen?“
„Ja, ich lass ihn laufen.“
Michaels Augenbrauen hoben sich bei jeder Frage ein Stückchen mehr.
„Ohne dem Command
davon zu berichten?“
„Wir werden genug zu erklären haben, wenn die Straßenrowdys ihre geprellten Ärsche und gebrochenen Nasen in die Fernsehkameras halten.“
Michaels Gesicht wurde eine Spur dunkler. Er zeigte auf Christy, schaffte es, seinen ausgestreckten Zeigefinger ausgesprochen anklagend wirken zu lassen.
„Hast du mal dran gedacht, dass Typen wie er viele von unseren Freunden auf dem Gewissen haben? Bobby und die anderen könnten noch leben. Tommy wäre nie verurteilt worden und würde jetzt nicht auf der Flucht sein. Was hast du für die Brits getan? Kirchen angezündet? Familien ausspioniert?“
Christy wurde immer kleiner und Kieran sagte für ihn: „Es war nichts dergleichen und was er getan hat, hat er nur mir anvertraut. Im Moment kümmern wir uns um die Rowdys, klar?“
„Das stinkt.“
Christy konnte dazu nichts sagen, er hockte abwartend auf dem Stein, starrte zu Boden und beobachtete den Dunst, der zwischen seinen Füßen aus der Wiese kroch.
„Ich sage, Christy hat freien Abzug. Er wird wieder nach Schottland gehen. Ich habe im Moment kein Interesse daran, Kniescheiben zu killen.“
„Du bist der Boss.“ Michael stampfte davon, unzufrieden brummend und murmelnd verschwand er im dichter werdenden Abendnebel.
„Wir sollten auch losgehen“, sagte Kieran, „die Jungs warten beim Datsun auf uns. Die denken sonst noch, wir wären zusammen durchgebrannt.“
Christy konnte vor Kopfschmerz nicht aufstehen, nicht mal antworten, was ein übler Scherz war, denn die Ärzte, bei denen er gewesen war, hatten behauptet, er bilde sich diesen Schmerz nur ein. Sie hatten ihn total auf den Kopf gestellt und nichts gefunden, ihn mit zufriedenen Gesichtern nach Hause geschickt. Seine Attacken blieben, wurden nur häufiger, wenn er unter Stress stand und sich länger in engen geschlossenen Räumen aufhielt. Das musste er einfach umgehen und darauf hoffen, dass es irgendwann besser werden und aufhören würde. Es war seine H-Block-Allergie. Kieran trug ihn fast die ersten paar Meter, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte.
„Ich packe meine Sachen und verschwinde sofort“, sagte er, „wenn ich auch nicht weiß, warum du das tust.“
„Du warst ein Rädchen in einem schlechten System, und ich leiste meinen Beitrag zu den Verhandlungen. Vor ein paar Jahren hätte ich anders reagiert, aber du hast Glück, Christy. Ist das überhaupt dein richtiger Name?“
Christy gelang ein ehrliches Grinsen. „Ich habe ihn nur ein wenig abgewandelt.“
Sein Abschied verlief ruhig und unspektakulär; er packte seine Sachen in den Rucksack, ließ sich von Moira etwas zu essen einpacken. Pol brachte ihn bis zur Haltestelle.
„Das war das erste Mal, dass wir mit Kieran gemeinsame Sache gemacht haben“, sagte Pol, „und es war wohl auch das letzte Mal. Diese Lektion haben die Ärsche verstanden.“
„Das nimmt nie ein Ende“, erwiderte Christy, „es dreht sich immer weiter.“
Pol zuckte mit den Schultern. Sie hockten an der Bushaltestelle, gemeinsam mit anderen Fahrgästen, die zum Wochenmarkt wollten. Ein kleines herausgeputztes Mädchen in ihrem Buggy kaute auf einem Stück Shortbread und hatte dabei ihre Faust im Mund, strahlte über das ganze Gesicht.
Jede Frau, die vorbei kam, hockte sich vor den Buggy und kniff ihr in die runden Wangen. Der Bus rollte heran, Christy trug den Buggy die Stufen hoch und kam zurück an die Tür.
„Vielleicht laufen wir uns mal wieder über den Weg“, sagte Pol, reichte ihm die Hand nach oben.
„Ihr seid eine sehr seltsame Truppe“, sagte Christy, „aber ich werde nicht mehr wiederkommen. Dein Bruder war deutlich genug.“
Pol winkte nicht, als der Bus davon rollte, er wollte nicht aussehen wie jemand, der seiner verlorenen Liebe nachheulte. Er blieb an der Haltestelle sitzen, starrte trübsinnig Löcher in die Luft. Ein Farmer setzte sich neben ihn, blätterte durch die Tageszeitung, und als Pol die Überschrift sah, fragte er, ob er einen Blick hineinwerfen dürfe.
Der Überfall auf die vier Jungs, die sich mitten in der Nacht hatten befreien können, wurde als brutale Aktion der Provos dargestellt, ohne auf die Hintergründe einzugehen. Es wurde mit keinem Wort erwähnt, dass sie selbst monatelang Leute überfallen hatten. Ihre lädierten Gesichter waren auf Seite zwei abgebildet.
„Das ist eine Schande“, murmelte der alte Farmer undeutlich, leckte sich die schwarzen Fingerkuppen an, um weiterzublättern, „eine richtige Schande. Man sollte etwas unternehmen, Herrgott noch mal.“
„Vielleicht haben die Vier nur das bekommen, was sie verdient haben.“
Der Farmer drehte sich ihm entgegen, einen kalten Stumpen zwischen den Lippen, sah ihn entrüstet an.
„Was glaubst du, wovon ich spreche, Junge? Du brauchst diesen Bastarden doch nur in die Augen zu sehen und du weißt, woran du bist.“
Pol gab ihm die halbe Zeitung zurück, so gefaltet, dass die Schlagzeile nach oben lag.
„Das Schlimme ist, dass die nichts verstanden haben. Die jammern über ihre blauen Flecken und dass ihr Auto in einer Schweinekuhle gelandet ist.“
Auf der Baustelle meldete Kieran sich am Mittwoch zurück, setzte seine Arbeit fort und hielt sich von den anderen Männern fern, um nicht in Diskussionen verwickelt zu werden. Jeder von den Jungs hatte eine Tageszeitung dabei, in der der Überfall auf Seite eins prangte. Bei der Arbeit kam er nicht dazu, sich wegen der erfolgreichen Aktion gut zu fühlen. Bis zum frühen Abend konnte er allen aus dem Weg gehen, aber als er sich aus dem Bauwagen eine Dose Cola holte, fragte ihn der Vorarbeiter, wo er die dicken Kratzer auf den Händen herhabe.
„Meine Frau hat mich gezwungen, im Garten eine alte Heckenrose auszugraben“, sagte Kieran.
„Du hättest Handschuhe tragen sollen.“
Die Handschuhe, die er meist während der Arbeit trug, hatte er ausgezogen und in die Overalltasche gesteckt, um die Dose aufknacken zu können.
„Das hat meine Frau auch zu mir gesagt.“
„Deinem Rücken geht’s besser seit gestern?“ Der Vorarbeiter stand mit verschränkten Armen neben dem Getränkeautomaten, war ein gradliniger Mann in einer verdrehten Welt, kümmerte sich nur darum, dass es auf seiner Baustelle keinen Ärger gab. Machte jemand Ärger oder war er der Auslöser für Ärger, machte er kurzen Prozess. Er selbst war Katholik, fragte bei Einstellungen nicht danach, ob man sich sonntags die heilige Kommunion holte oder nicht, aber wer nicht ins Team passte, durfte sich die Papiere holen und verschwinden.
„Ich hab ein paar Tabletten genommen, es geht schon. Ich muss wieder an die Arbeit.“
„Hast du auch von dem Überfall gehört? Das ist doch deine Strecke nach Hause.“
„Ich hab davon gelesen. Gestern hat mich einer mitgenommen und ich war schnell zu Hause.“
„Und da habt ihr wirklich nichts gesehen?“
Kieran drehte sich zur Tür um, durch die er auf den sonnigen warmen Abend sehen konnte, auf die alten großen Bäume des Grundstücks, von denen er hoffte, dass sie stehen bleiben würden. Er blinzelte, nahm einen Schluck von der Coke, bei der er immer dachte, dass es besser sei, durstig zu bleiben, als diesen klebrigen süßen Geschmack im Mund zu haben. So lange, bis er endlich in der Lage war, es mit einem Guinness wegzuspülen.
„Ich geh wieder an die Arbeit“, sagte er, machte sich nicht die Mühe, sich noch einmal umzudrehen, „und wenn du irgendetwas von mir wissen willst, dann frag mich direkt und schleich nicht wie die Katze um den heißen Brei. Du weißt ja, wo du mich findest. Wir können über alles reden.“
Aber das wirst du dich nicht trauen, während ich einen Hammer in der Hand halte
, dachte Kieran.
Das wagte er wirklich nicht, aber er hatte an den Gesprächen seiner Leute rausgehört, was sie vermuteten, hatte das Brodeln ihrer Gerüchteküche vernommen und seine Entscheidung war bereits gefallen.
Als Kieran fragte, ob jemand in seine Richtung fuhr, meldete sich niemand und die meisten wandten sich demonstrativ ab. Er fragte kein zweites Mal und machte sich auf den Fußmarsch. Solange sie ihn nur ignorierten, konnte er damit leben.
Er betrat das Haus durch die Hintertür, horchte und rief: „Moira?“
Sie antwortete nicht. Er zog sich die Schuhe aus, seine Füße taten weh und er überlegte, sich mit einer Schüssel kalten Wasser in den Garten zu setzen. Er hockte sich an den Tisch und krempelte die Hosenbeine hoch, sah im Augenwinkel, dass Darren in der Tür stand.
„Wo steckt deine Mom?“
Darren zuckte mit den Schultern.
„Sie ist in der Kirche hängen geblieben, was?“
Ab und zu ging Moira in die Kirchengemeinde, traf sich dort mit ihren Freundinnen und wer wusste schon, was sie dort den ganzen Tag machte. Diesmal schien sie wirklich die Zeit vergessen zu haben, sonst hätte sie Darren nicht mit dem Essen warten lassen.
„Wie sieht’s aus?“, fragte Kieran, „hast du Hunger?“
Darren kam näher, strich um den Tisch herum und nickte schließlich. Kieran wühlte in seiner Hosentasche und drückte Darren ein paar Pfund in die Hand.
„Hol dir draußen was. Ich will’s dir nicht antun, dir was kochen zu müssen.“
Er war bereits auf dem Sprung nach draußen, schon ganz in Gedanken, was er sich holen würde, als Kieran ihn noch mal zurückpfiff.
„Du bist zurück, bevor es dunkel ist, klar? Sonst lass ich dich mit der Garda suchen.“
Darren zeigte den erhobenen Daumen und flitzte los, war in diesem Tempo innerhalb weniger Minuten vor dem Supermarkt. Er überlegte lange, ob er sich dort etwas holen sollte, oder in dem Imbiss weiter unten. Mit langsamen Schritten wanderte er hin und her und dann siegte der Hunger auf fettige Fish & Chips. Mit der tropfenden heißen Tüte, die Finger mit Salz, Essig und Fischpanade verschmiert, wanderte er nach Hause zurück, wieder in Gedanken versunken.
Als es Bindfäden zu regnen begann, klatschte sein nasses Haar an seinem kleinen Schädel fest und in dem Dunst verschwamm seine Gestalt au der Straße. Eine Nachbarin sah ihn, als sie ihre Wäsche reinholte, schüttelte den Kopf und teilte ihrem Ehemann mit, dass der arme Junge der Finnigans wie eine heimatlose Katze durch die Straßen streunte.
Lilian Hughes hatte es geschafft, einen Brief an Brendan zu schreiben und ihn einer Freundin mitzugeben, die ihn irgendwo im Ort einwarf. Inzwischen wusste so ziemlich jeder von ihrem Fehltritt und sie brauchten sie nicht einmal mehr einzusperren – es war ihr noch immer zu peinlich, sich den Blicken und den Kommentaren der anderen auszusetzen. Zwei Freundinnen waren übrig geblieben, die noch zu ihr hielten, zwei von vielen, und das deprimierte sie ganz besonders.
Es war ein langer Brief, den sie geschrieben hatte, sie hatte sehr viel hineingepackt und fürchtete, es könnte zu viel gewesen sein. Es gab eine Menge Briefe, die man schrieb und die nicht dazu gedacht waren, auch abgeschickt zu werden.
Bei ihrem Brief war sie nicht sicher, ob er auch unter dieser Kategorie fiel, aber trotzdem hatte sie ihn der Freundin mitgegeben, die wegen der Hausaufgaben zu ihr gekommen war. Obwohl schon einige Zeit vergangen war, konnte ihr Vater noch immer nicht mit ihr reden, ihre Mutter heulte die meiste Zeit und nur Albert hatte ganz andere Probleme.
Sein Auto war Schrott, er erstickte fast an der Demütigung, die er erfahren hatte und aus politischen Gründen durfte er nicht zurückschlagen. Zu Hause ließ er sich nur selten blicken, von seinen Kumpanen war nur einer übrig geblieben, der Fahrer und sein Bruder hatten ihm unmissverständlich klar gemacht, dass es ihnen reichte, einmal fast erschossen worden zu sein. Ging es an die eigene Haut, war es bei ihnen mit dem Loyalismus vorbei. Albert ließ sie gehen.
Er hatte Kontakte zu einigen Gruppen und konnte die zwei Luschen jederzeit ersetzen. Sein Problem war, dass er trotz der großen Verhandlungen nicht aufhören wollte, dumme Mickeys zu jagen, sie zu Tode zu erschrecken, sie zu verletzen. Er hatte einige große Ziele und zwei davon waren die Brüder Finnigan, Brendan und Kieran.
Tag der Veröffentlichung: 08.05.2011
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