Geheimnisse
„Was ist los mit ihm?“, fragte Brendan, als Christy auf Toilette verschwand. Pol blies die Wangen auf, streckte die Beine unter dem Tisch aus. Vom Herumsitzen tat ihm mittlerweile der Hintern weh.
„Ich kann dir nicht alles erzählen“, antwortete er, „aber er hat größere Probleme als wir beide zusammen. Er hat jahrelang für die Brits gearbeitet.“
„Was hat er getan?“ Brendan zog die Stirn in ratlose Falten. Er konnte sich nichts Besseres vorstellen, wollte er sich Feinde ohne Ende machen in Pettigoe, und besonders bei Kieran und seinen Kumpanen. In ihm quirlte eine Mischung aus Entsetzen und Neugierde und sie unterhielten sich sehr leise, obwohl nur noch Tim hinter der Theke war, die Zeitung las und Bonbons aus dem Spender mampfte. Pol machte kleine hektische Handbewegungen, als er seinem Bruder zuflüsterte: „Ich sag nur so viel: Wenn Kieran davon erfährt, erschießt er ihn entweder sofort oder fährt mit ihm nach Belfast und tut es dort.“
„Du hättest ihn nicht herschleppen sollen.“
„Es ist schon Okay, wenn Kieran nichts davon erfährt.“
„Von mir hört er nichts. Was genau hat er gemacht?“
Brendan machte ein winziges Zeichen, dass Christy von der Toilette zurückkam und sie verstummten peinlich berührt. Sie schafften es nicht, ein anderes Thema anzuschneiden und Christy denken zu lassen, dass sie über irgendetwas plauderten, und so herrschte eine unangenehme Stille an ihrem Tisch, in der Christy von einem zum anderen sah, zwischen ihnen saß, die Luft durch die Zähne zog und den Kopf zur Seite neigte. Das eine Auge wurde blind, hatte sich mal wieder selbstständig gemacht, um den Schmerzen von innen zu entgehen. Manchmal dachte Christy, dass es nicht schlimmer sein konnte, wenn die Sehkraft eines Tages nicht mehr zurückkehren würde. Er tastete sich blind zu seinem Glas vor.
„Wenn ihr euch so verkniffen anschweigt, wird das wohl heißen, dass du ihm von der Sache erzählt hast“, sagte er nüchtern, als die Attacke nachließ.
„Er wollte wissen, was mit dir los ist.“ Pol zeigte mit dem ausgestreckten Finger auf Brendan.
„Ich hüpfe im Moment durch ein Minenfeld“, erklärte Christy.
Er trank ungefähr das Doppelte von dem, was die Zwillinge schafften, seine Augen wurden rot und sein Gang zur Toilette ähnelte immer mehr einem Himmelfahrtskommando, von dem er nur mit viel Glück zurückkam. Trotzdem fand er irgendwann zu seiner guten Laune zurück und erzählte eine verwirrend lange Geschichte von einer Hunderennbahn, als sein Kumpel versucht hatte, das Rennen seines Greyhounds, den er alt und krank gekauft hatte und sich nicht eingestehen konnte, dass man ihn übers Ohr gehauen hatte, zu manipulieren, um den Köter wenigstens einmal gewinnen zu sehen. Nach einer Reihe von Fehlschlägen und irren Verwicklungen und Verwechslungen von Hunden und Startnummern, von Bestechungen der falschen Leute und dem Versuch, einen Hund umzufärben, landete der unglückselige Greyhound in einem Londoner Tierheim und Christys Freund vor dem Richter.
Das Geld war ihnen längst ausgegangen und trotzdem brachte Tim ihnen weiter Getränke an den Tisch, leerte den Aschenbecher, wischte die Bierlachen weg, die sie immer wieder hinterließen.
Brendan erzählte endlich von Lilians Entführung und zeigte seine blauen Flecken. Obwohl er sicher war, dass sie Lilian einfach nur nach Hause gebracht hatten, erwähnte er den beiden gegenüber seine Angst, dass er sie nie wieder sehen könnte.
„Früher oder später musste das passieren“, sagte Pol.
„Kieran würde das auch sagen. Was wirst du jetzt tun? Sie suchen und mit ihr durchbrennen?“
„Ich würde es tun, aber ich komm nicht an sie ran.“
„Kann ich bei irgendwas helfen?“, fragte Christy, „mich kennt hier niemand.“
Der Alkohol hatte seine Sprache verwaschen, seine Augenlider wurden schwer. Er grinste in sich hinein und setzte hinzu: “Romeo und Julia.“
Pol und Brendan sahen sich fragend an und sie verbrachten die restliche Zeit im Ryan’s damit, einen Schlachtplan auszuhecken, wobei sie alle zwei Minuten in brüllendes Gelächter ausbrachen. Die Runde wurde erst unterbrochen, als die Abendgäste hereinströmten und Papa Ryan den Tresen übernahm. Sie waren vom Nachschub abgeschnitten und Pol meinte, er wolle irgendwo was essen gehen, sonst könne es passieren, dass er zu kotzen anfing.
„Ich hab einen Job in Fintona“, sagte Kieran am Abend, als sie beim Essen zusammensaßen. Moira hatte einen riesigen Topf Irish Stew gekocht, Sodabrot gebacken und sie stopften sich alle die Bäuche voll. Darren fand es aufregend, neben dem Gast sitzen zu dürfen, hoffte auf eine spannende und lustige Geschichte, aber Christy saß neben ihm und war stumm wie ein Stockfisch.
„Das hört sich aber nicht nach einem einfachen Job an“, sagte Pol, „mitten im Proddy-Land.“
„Wird schon schief gehen. Ich lass den Wagen hier, dann haben sie keinen Anhaltspunkt, wo ich herkomme. Wenn ich merke, dass ihr euch den Datsun für eine Spritztour ausgeliehen habt, könnt ihr was erleben.“
Pols Antwort ließ nicht lange auf sich wart.
„Keine Bange.“ Er machte eine Pause. „Du wirst es nicht merken, wenn wir ihn uns ausgeliehen haben.“
Sie warteten so gespannt auf seine Reaktion, dass für Sekunden niemand zu atmen schien. Möglicherweise wollte Kieran sich vor dem Gast nicht die Blöße geben, er aß jedenfalls ungerührt weiter und grinste Pol entgegen.
Scheiße
, dachte Pol, das dicke Ende kommt noch. Ich sollte endlich lernen, meine lose Klappe zu halten.
Nach dem Essen gingen sie ins Wohnzimmer hinüber, rückten auf der Couch und in den Sesseln eng zusammen, selbst Paddy wachte etwas auf, sie tranken Wein und waren eine gut aufgelegte Runde, die bis in den späten Abend durchhielt.
Pol und Brendan hatten viel zu erzählen, dass es nicht weiter auffiel, dass Christy so gut wie gar nichts sagte. Er hockte neben Darren, der zwei der Plastikfiguren in den Händen drehte, die Kieran ihm mitgebracht hatte. Er lauschte gebannt den Geschichten und kleinen Streitereien und weigerte sich, ins Bett zu gehen, obwohl ihm zur späten Stunde die Augen zufielen und er sich bei Christy anlehnte.
„Ich bring ihn nach oben“, sagte Moira. Sie hob ihn aus dem Sessel und er begann zu murren, aber darauf nahm sie keine Rücksicht.
„Morgen ist auch noch ein Tag“, sagte sie, als sie sich zu ihm herunterbeugte und ihn aufnahm. Automatisch legte Darren seine Arme um ihren Hals. Er schmollte still in sich hinein und winkte halbherzig in die Runde, um gute Nacht zu sagen. An der Treppe setzte Moira ihn ab und ließ ihn nach oben laufen. Ihre Kraft reichte nicht mehr wirklich, ihn auch noch zu tragen.
In seinem Bett wühlte er sich in die Kissen, grinste müde und gab seiner Mutter einen Gute-Nacht-Kuss. Wie immer, wenn er endlich im Bett lag, wurde er richtig müde und es dauerte nicht lange, bis er einschlief.
Stunden später wachte er auf, als er jemanden die Treppe hochkommen hörte. In seinem Bett setzte er sich verschlafen auf, horchte und wusste, dass es weder Pol noch Brendan war. Es musste der Gast sein, der mit schweren Schritten an seinem Zimmer vorbeikam und zum Schlafen in das Zimmer nebenan ging. Darren ließ ihm einen Moment Zeit, dann wühlte er sich aus dem Bett und schlich sich hinüber. Die Tür war nur angelehnt, er kratzte vorsichtig mit dem Fingernagel an dem Holz und schob sich durch den Spalt.
„Hallo?“, brachte er vorsichtig heraus.
Christy hockte auf dem alten Klappbett, auf dem er nur schlafen konnte, wenn er sich nicht zu heftig bewegte. Es war so klapprig, das es unter ihm zusammenbrechen würde. Er sah erstaunt auf, legte die selbst gedrehte Zigarette beiseite und machte eine große, einladende Geste.
„Komm rein“, sagte er, „du holst dir noch kalte Füße.“
Darren huschte in Brendans Bett, hockte dort im Schneidersitz unter der Tagesdecke und sah Christy erwartungsvoll an. Natürlich sagte er keinen Ton. Christy war hundemüde vom Rotwein und dem guten Essen, legte sich sehr vorsichtig zurecht, stützte den Kopf auf und sagte: „Du hast echt Schwein gehabt mit deiner Ponyaktion, weißt du das?“
Darren nickte, obwohl er innerlich davon überzeugt war, dass bei seiner Flucht mit Tadhg überhaupt nichts hätte schief gehen können; er wäre entweder bis nach Clifden gekommen und hätte dort das Ponygestüt gefunden, oder wäre nach seiner erfolgreichen Flucht noch einige Tage unterwegs gewesen und seine Familie hätte ihm jeden Wunsch erfüllt aus Erleichterung. Es war doch alles so gelaufen, wie er es geplant hatte. Christy hatte bei der Suche nach ihm geholfen, aber dabei sicher irgendwas falsch verstanden.
„Du hast es geschafft, das Pony zu bekommen, wie’s aussieht, aber wenn dir was passiert wäre unterwegs, was hätte deine Mutter von deiner Flucht gehalten?“
Von der Familie hatte er solche Töne nicht gehört und es machte ihn nachdenklich, aber nicht lange. Er zeigte ein herausforderndes Lächeln und sagte: „Schottland?“
„Du willst was über Schottland hören? Ich muss dich enttäuschen, darüber kann ich dir nichts erzählen, aber willst du etwas anderes hören? Eine Geschichte, die dir die Schuhe auszieht und dich nicht schlafen lassen wird?“
Er beugte sich vor und flüsterte geheimnisvoll, wie man es nachts am Lagerfeuer und im Kreise von kleinen Jungs tun würde. Darrens Augen leuchteten.
„Dann leg dich ordentlich ins Bett, ich mach das Licht aus und lass nur die Kerze an. Ich werde es ganz leise erzählen, denn diese Geschichte könnte Geister wecken, wenn ich sie zu laut erzähle.“
Der alte Patrick hatte vor seiner Krankheit sehr gerne Geschichten von Waldgeistern und Feen erzählt, hatte Sagen und Märchen nur so aus dem Ärmel geschüttelt und Darren hatte stets an seinen Lippen gehangen. Jetzt deckte er sich sorgfältig zu, wartete gespannt auf die Geschichte, die Christy zu erzählen hatte. Vom ersten bis zum letzten Wort hörte er gebannt zu. In der wilden Geschichte ging es um zwei Könige, die seltsamerweise in einem Londoner Pub im Asyl lebten und zu verhindern suchten, dass ihre Kinder im irischen Heimatland heirateten. Es war eine komische und auch grausame Geschichte, die Darren nicht eine Sekunde langweilig wurde und die natürlich für die verliebten Königskinder gut ausging. Er seufzte laut.
„Genug Geschichten für heute“, flüsterte Christy, „du schläfst jetzt blitzschnell ein, verstanden?“
Darren drehte sich um und wühlte sich in das Kopfkissen, aber schlafen konnte er nach dieser Geschichte nicht.
„Christy?“, piepste er nach einer Weile, als das Kerzenlicht schon längst erloschen war.
„Psst, du sollst doch schlafen.“
„Bleibst du b’uns?“
„Nein“, murmelte Christy mit verschlafener Stimme und es klang fast bedauernd, „ich bin nur auf einen kurzen Besuch hier. Du gewöhnst dich besser nicht an mich.“
Mit dem Bus kam Kieran gut bis nach Fintona, hatte es von dort nicht mehr weit bis zur Baustelle, aber für den Weg am Abend zurück musste er sich etwas einfallen lassen, denn der letzte Bus Richtung Pettigoe ging gegen Mittag. An den ersten zwei Abenden nahm ihn einer der neuen Kollegen ein Stück mit, aber am nächsten Abend musste der in die andere Richtung und Kieran wartete im Nieselregen vergeblich darauf, dass ihn jemand per Anhalter mitnahm. Er hatte den ganzen Tag damit verbracht, alles Brauchbare aus dem letzten stehenden Haus rauszuschaffen, inklusive Zimmertüren, Kabel und Bodendielen, sie konnten sich dabei Zeit lassen, die Arbeit wurde allerdings nicht einfacher. Die alten Häuser wurden zugunsten einer modernen Wohnanlage geopfert, die vermutlich nach Fertigstellung aussah wie alle Wohnanlagen auf der Welt, kastenförmig, grau und langweilig. Nichts, worauf man sich wirklich freuen konnte.
Die Männer, mit denen er arbeitete, sprachen über ihre Frauen, Fußball und Rugby, aber niemand schnitt das Thema Politik an und Kieran hoffte, dass es so bleiben würde.
Der Fußmarsch, den er antrat, begann recht ungemütlich in dem Regen, aber als die Abendsonne noch einmal durchkam, legte er es nicht mehr darauf an, von einem Wagen mitgenommen zu werden. Er wanderte gemütlich neben der Straße her, was ihn weitaus weniger anstrengte als die Arbeit auf der Abriss-Stelle. An einem sperrigen Holzbalken hatte er sich einen Splitter eingerissen, der nicht sehr tief saß, aber er hatte ihn beim herauspulen abgebrochen und kam jetzt nicht mehr an den Rest heran. Er spürte nur das feine Pieken unter der Haut, wenn er über den Handrücken strich. Er hatte wieder zu viel gehoben, sein Kreuz zog, wenn er sich nach vorn beugte. Bis zum nächsten Morgen würde sich das wieder gelegt haben. Er mochte es, so langsam voranzukommen, drehte sich zu den Wagen gar nicht erst um, die ab und zu in seine Richtung fuhren, und die meisten traten nicht einmal auf die Bremse, um langsamer an ihm vorbeizufahren.
Kieran dachte an den Zug in Monaghan, in dem er vor vielen Jahren Moira kennengelernt hatte; ausgerechnet in einer Situation, in der er an alles, aber nicht an ein Mädchen gedacht hatte.
Tag der Veröffentlichung: 04.05.2011
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