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Die Suche



„Wen hat Pol da mitgebracht?“, fragte Gerry, baumelte mit den Beinen und stopfte sich die letzten Reste des Sandwiches in die Backen. Er hatte einen neugierigen Blick über den Parkplatz geworfen, als Pol und Christy endlich aus dem Wartesaal geschlichen kamen.
„Sieht so aus, als hätte Pol jemanden gesucht, der den Friseur noch mehr hasst als er.“
„Der sieht irgendjemandem ähnlich, den ich kenne“, sagte Gerry nachdenklich, „oder ich hab sein Gesicht schon mal irgendwo gesehen. Ich komm schon noch drauf.“
Zehn Minuten vor der geplanten Abfahrt sammelten sich die ersten Fahrgäste vor dem Einstieg. Gerry rief ein „Hallo“ in die Runde, machte Platz und ließ sie sich ihre Sitze suchen. Kieran trat auf die erste Stufe, sah zu Pol und Christy hinüber, die mitten auf dem Parkplatz stehen geblieben waren. Es sah nicht so aus, als würde Christy mitkommen wollen.
„Kommt er hier aus der Ecke?“, rief Gerry, meinte damit, ob Christy Nordire und wohlmöglich Prod

war, grübelte noch immer über dieses Gesicht nach. Er schmiss den Motor an und verzog das Gesicht wegen der stinkenden blauen Abgaswolke, die alles umnebelte wie eine Tränengasgranate. Der Haufen Schrott gehörte endlich in die Werkstatt, aber dazu musste er ihn vermutlich erst eine Klippe runterfahren.
„Nein“, sagte Kieran, „glaub ich nicht. Wenn es dich tröstet, irgendwas an ihm macht mich auch misstrauisch.“
Er warf Gerry die Plastiktüte entgegen und ließ sich auf die Straße zurückfallen.
„Warte auf mich“, rief er. Er trabte zu den Jungs hinüber, deutete ihnen mit dem Kinn, dass sie sich zum Bus begeben sollten.
„Rein mit euch.“ Sein Ton duldete keinen Widerspruch und es bestätigte ihn in seinem Misstrauen, dass Christy sich von ihm abwandte und ihn nicht direkt ansah.
„Was ist mit dir?“
„Ich muss noch telefonieren“, sagte Kieran.
Christy und Pol marschierten durch den Bus nach hinten, flüsterten aufgeregt und hektisch miteinander. Gerry drehte sich zu ihnen herum, trat dabei immer wieder auf das Gas und ließ den Motor aufheulen, aber an der Abgaswolke änderte sich nichts. Mit der Röhrerei machte er einigen Nachzüglern Dampf, die ihre Taschen und Tüten zum Bus schleppten.
„Was ist los, buachailli

?“, rief Gerry nach hinten, „seit ihr euch nicht einig, wo’s hingehen soll?“
„Er hat mich erkannt“, flüsterte Christy panisch, „er ruft jetzt irgendjemanden an, der in Maze gesessen hat und ich bin geliefert. Ich hätte mich nicht vor dir überreden lassen sollen.“
Pol konnte Christy nur mühsam im Sitz halten, als Gerry den Bus anrollen ließ und Kieran auf sie zugerannt kam und einstieg. Es war etwas passiert, aber er schien nicht wütend genug für eine seiner Aktionen, mehr beunruhigt.
Erst, wenn er ein Gesicht machte, als wolle er sie wieder zu den Hunden in den Zwinger sperren, war es Zeit, sich Sorgen zu machen.
Pol zischte Christy zu, er solle sich zusammenreißen, er kenne seinen Bruder gut genug, bei irgendeinem Verdacht würde er nicht einfach herumtelefonieren.
Kieran setzte sich zu ihnen, hatte aber keinen Blick für Christy, der den Kopf eingezogen hatte und niemanden anzusehen wagte.
„Darren ist weg“, sagte Kieran, „ich hab gerade mit Moira telefoniert, um ihr zu sagen, dass wir auf dem Weg nach Hause sind. Sie ist völlig aufgelöst. Verdammt.“
„Vielleicht spielt er nur irgendwo.“
„Er hat sich eine Tasche gepackt.“
„Scheiße.“
Kieran seufzte, schlug mit der flachen Hand gegen die Rücklehne vor sich, verfluchte den dahinkriechenden stinkenden Bus.
„Gerry“, rief er dann, beugte sich vor und stand dabei halb auf, „drück auf die Tube, wir haben es eilig.“
Gerry und die Fahrgäste reagierten vergnügt darauf, allerdings fuhr Gerry wirklich schneller, als er sich an einer Ampelanlage zu Kieran umdrehte und ihn ansah.
„Wir können nichts machen, solange wir hier in diesem Bus sitzen“, sagte Kieran, „und erzähl mir endlich, was los war in Schottland.“
Christy konnte der Geschichte, was geschehen war und wie sie bis in dem Burger King in Enniskillen gelandet waren, nicht vollständig folgen - seine Nerven waren vollkommen hinüber, und obwohl er sich erfolgreich hatte davon überzeugen lasen, dass Kieran kein Interesse an ihm hatte, konnte er sich nicht entspannen. Sein Kopfschmerz kam und ging wie beim Wechselstrom und auf der jeweiligen Spitze konnte er weder atmen noch etwas sehen. Es paralysierte ihn, ließ ihn schwitzen und frieren zugleich. Das, was er von den ungleichen Brüdern mitbekam, waren oberflächliche Spannungen und die Sorge um den Jungen, der verschwunden war.
Kieran schluckte die Geschichte, die Pol ihm auftischte, weswegen sie Glasgow geschmissen hatten und dass er, Christy, einfach nur ein Arbeitskollege war und aus Baile Átha Cliath

kam. Dann nannte er ihn einen Freund und fragte, ob er ein paar Tage bei ihnen übernachten dürfe. Kieran hatte nichts dagegen, machte sich aber auch zu viel Sorgen um seinen Sohn, um wirklich an etwas anderes denken zu können.
„Was hast du in Enniskillen gemacht?“, fragte Pol plötzlich.
„Mich mit ein paar Freunden getroffen.“ Er wischte das mit einer ungeduldigen Handbewegung beiseite. „Wenn Darren heute Morgen losmarschiert ist, wie weit kann er gekommen sein? In welche Richtung ist er gegangen?“
„Er hatte überhaupt keinen Grund wegzulaufen, oder? Wenn ihm etwas anderes passiert ist...“
„Sprich das nicht aus“, herrschte Kieran und Christy zuckte zusammen. Kieran konnte es nicht wirklich ausschließen, dass seine Leute den Befehl bekommen hatten, Darren zu entführen, um ihn unter Druck zu setzen, aber er wollte es einfach nicht glauben. Mit dieser Möglichkeit würde er sich erst auseinandersetzen, wenn es irgendwelche Hinweise gab, bis dahin war Darren einfach verschwunden.
„Er muss irgendeinen Grund gehabt haben“, sagte er, „aber ich hatte in letzter Zeit so wenig Zeit für ihn, dass ich es vermutlich nicht mitbekommen habe.“
Normalerweise hielt Gerry an den Haltestellen etwas länger, um auf verspätete Pendler zu warten, besonders, wenn die üblichen Leute noch nicht da waren, aber diesmal ließ er nur ein- und aussteigen und fuhr weiter, mit dem Ergebnis, dass er vor den festen Abfahrtszeiten schon längst wieder weg war. Gerry polterte schließlich durch Pettigoe, machte eine Abkürzung, dass Kieran und die Jungs direkt an der Straße zum Haus aussteigen konnten.
„Ruf über Funk die Jungs zusammen“, sagte Kieran, „wir müssen Darren suchen, er ist nicht nach Hause gekommen.“
Er machte einen Schritt zur Seite, ließ die Jungs aussteigen.
„Deine Kollegen sollen einfach die Straßen kontrollieren, ob ihnen etwas auffällt. Er hat sich seine blaue Sporttasche gepackt und könnte praktisch überall sein.“
„Das wird schwierig, ihn zu finden“, sagte Gerry, während er schon auf allen Kanälen die Suchmeldung weitergab, „der Junge kennt jeden Strauch in dieser Gegend.“
Moira kam ihnen aus dem Garten entgegengelaufen, fiel Kieran in den Arm. Sie war vollkommen außer Atem und aufgelöst.
„Eben hat Tom angerufen“, keuchte sie, die Augen groß und feucht, „das Pony ist auch weg. Er dachte, Darren hätte ihn auf die Weide zurückgebracht nach dem Reiten, aber Tadhg war nicht bei den anderen Ponys.“
„Was für ein Pony?“, fragte Kieran verblüfft.
„Mit einem Pony ist er längst in der nächsten Grafschaft“, murmelte Pol.
Auf dem Hof und im Garten hatten sich bereits Nachbarn versammelt, die Gespräche und Diskussionen verstummten, als Kieran und Moira zu ihnen traten.
„Tom hat mir noch was verraten“, sagte Moira, drehte sich zu Kieran herum, „er hat ein schlechtes Gewissen, dass er uns nicht bescheid gesagt hat. Er wollte Tadhg verkaufen und Darren wollte sich wohl nicht von ihm trennen, wie es aussieht.“
Kieran hatte Schwierigkeiten, dem Thema Pony zu folgen, er musste in letzter Zeit viel verpasst haben.
„Darren kann doch gar nicht reiten“, warf er verwirrt ein, „was redet ihr da dauernd über ein Pony?“
Zwar hatte Darren immer wieder von Ponys gesprochen, aber er hatte das stets als Schwärmerei abgetan. Und er hatte sich vorstellt, dass Darren den Ponys nur zusah, aber nicht mit ihnen durch die Gegend ritt.
Pol kam heran, stellte seine Tasche an den Gartenzaun und rief: „Er reitet wie ein kleiner Teufel, Kieran. Wenn wir ihn noch schnappen wollen, bevor es dunkel wird, sollten wir uns beeilen.“
„Ich helfe mit suchen“, kam es von Christy und alle anderen stimmten ebenfalls zu, helfen zu wollen. Man fand sich zu kleinen Gruppen in Autos und auf Motorrädern zusammen.
„Ich nehme Trash mit“, sagte Kieran in die sich auflösende Runde, „Pol und Christy, ihr kommt mit mir. Moira, du wartest hier und schickst uns die Nachzügler hinterher. Und sag Brendan, er soll bei dir bleiben, wenn er irgendwann wieder auftaucht.“
Moira klammerte sich an seinem Arm, wischte sich mit dem Ärmel undamenhaft über das Gesicht und sagte: „Wo soll ich die Männer hinschicken?“
Kieran kam der irrwitzige Gedanke, dass die verhassten Armeehubschrauber endlich zu etwas nütze sein könnten. „Sie sollen den Lower Lough Erne abfahren. Alle, die zu Hause sind, sollen ihre Freunde und Verwandte bis rauf nach Dun na nGall

anrufen und ihnen sagen, sie sollen nach einem Jungen auf einem Pony Ausschau halten.“
„Graues Pony mit dunkler Mähne“, warf Pol ein.
„Darren wird bestimmt nicht Richtung Omagh geritten sein, er weiß, dass er dort schnell aufgegriffen wird.“
Zwei Freundinnen von Moira kamen dazu, die über das Telefon alarmiert worden waren und versprachen, sich um Moira zu kümmern. Sie würden dafür sorgen, dass sie nicht den Kopf verlor. Kieran drückte ihr einen raschen Kuss auf die Wange.
„Geh ans Telefon“, flüsterte er ihr zu.
Michael Doherty fuhr hupend an ihnen vorbei, den erhobenen Arm aus dem Fenster gestreckt als Zeichen, dass sie alles in Bewegung setzen würden, um Darren zu finden und nach Hause zu bringen.
„Du sitzt vorne“, sagte Pol zu Christy, deutete auf den abgestellten Datsun, „ich geh mit dem Hund nach hinten.“
Christy verdrehte den Kopf in die Richtung, aus der das scharfe Hundegebell drang und er dachte: Lieber Himmel, was für einen Köter will er denn mitnehmen?

und er befürchtete, er könnte scharf sein, weil Pol nicht wollte, dass er mit ihm auf der Rückbank saß.
Der Hund, mit dem Kieran um die Ecke kam, lief ohne Leine neben ihm, sah aus wie die Ausgeburt der Hölle. Grau-schwarzes Fell, zottig wie ein irischer Wolfshund, aber kräftiger und sicher nicht mit weniger Appetit. Er sah aus, als würde er ein Bein zum Frühstück bekommen.
„Das ist Trash“, sagte Pol, „Kieran hat ihn auf der Müllhalde gefunden, er war da an eine Öltonne angebunden und halb tot. Deshalb mag er keine Leine. Und versuch nicht, ihn anzufassen.“
Christy beobachtete blinzelnd, wie der Hund auf den Rücksitz sprang und sich dort in einer seltsamen menschlichen Aufrichtung auf das Polster setzte. Sein Gesichtsausdruck schien zu fragen, wann es endlich los ginge.
„Gut, dass du mich gewarnt hast“, sagte Christy, „ich hätte ihn glatt zum Knutschen in den Arm genommen.“
Sie stiegen ein, der Wagen holperte von der Straße herunter und auf den Feldweg, es schüttelte sie ordentlich durch in ihren Sitzen, aber das hielt Kieran nicht davon ab, noch schneller zu fahren, wenn der Boden es erlaubte. Ohne den Blick von der Straße zu nehmen, rief Kieran zu Pol nach hinten: „Und jetzt versuch mir doch mal zu erklären, wieso jeder weiß, dass Darren reiten kann und ich keinen blassen Schimmer davon habe.“
„Hör mal, du wusstest doch, dass er jeden Tag zu Tom rüber gegangen ist.“
„Aber ich wusste nicht, dass er die Ponys reitet.“
„Ich hab ihn irgendwann mal mit dem Pony getroffen, da hat er ausgesehen wie ein kleiner König.“
Wieder übernahm Christy die Rolle des unbeteiligten Zuhörers, hielt sich am Armaturenbrett und Türrahmen fest, er war nicht begeistert darüber, mit dem Kopf überall unkontrolliert gegen zu knallen, aber was blieb ihm übrig, als sich damit abzufinden. Immerhin machten sie viele Pausen, um an den öffentlichen Telefonzellen bei Moira anzurufen, ob sich schon jemand gemeldet hatte.
„Wie weit kann er schon gekommen sein?“, fragte Pol.
„Lass ihn zwanzig Kilometer pro Stunde geschafft haben, wenn das Pony gut drauf ist, dann kannst du dir den Rest ausrechnen.“
Sehr vorsichtig warf Christy nach dem nächsten ergebnislosen Telefonat mit Moira ein: „Es ist doch möglich, dass er auf den Feldwegen und Schleichpfaden die Orientierung verloren hat und im Kreis geritten ist. Dann ist er nicht unbedingt so weit gekommen.“
„Wäre schön, wenn’s so wäre, aber leider kennt Darren sich sehr gut aus in dem Gelände.“
Christy nickte, legte den Kopf schief.
„Zum Glück fällt er überall sofort auf, wenn er mit einem Pony auftaucht.“
Sie fuhren weiter, bis sie an der nächsten Farm vorbeikamen und fragten, ob jemand Darren gesehen habe. In der nächsten Ortschaft bekamen sie von einem Provo zwei Walkie-Talkies, Kieran schickte den Mann zu Michaels Gruppe, um mit ihm in Verbindung bleiben zu können. Sie fühlten sich etwas weniger hilflos. So verbrachten sie Stunden und es wurde so dunkel, dass die Suche eigentlich keinen Sinn mehr machte, aber Kieran wollte nicht aufgeben und Pol wagte nicht, ihn dazu zu überreden. Christy war kurz eingeschlafen, schreckte hoch und streckte seinen schmerzenden Rücken.
„Wenn ich das alles richtig mitbekommen habe, ist der Junge mit dem Pony unterwegs, weil er nicht will, dass er verkauft wird. Er benutzt ihn nicht, um möglichst weit wegzukommen.“
„Klingt einleuchtend“, sagte Pol. Er hatte Trashs Kopf auf dem Schoß liegen und kraulte ihm die Ohren. Kieran überlegte lange, nickte dann und sagte, sie müssten nach möglichen Verstecken und Hufspuren Ausschau halten. Vielleicht versteckte Darren sich ganz in der Nähe.
„Du hast ein helles Köpfchen auf den Schultern, Christy“, sagte er.

Die einzige Spur, der sie am Morgen folgen konnten, war die Straße nach Béal Atha Seanaidh

, auf deren Strecke ein Pendler einen Reiter auf einem grauen kleinen Pferd gesehen hatte. Es bestand noch die Möglichkeit, dass sie der falschen Fährte folgten und sie diskutierten noch lange darüber.
„Darren kennt niemanden in Béal Atha Seanaidh

“, murmelte Pol, „aber das spielt keine Rolle – er kennt niemanden außerhalb von Pettigoe.“
„Folgen wir der Straße und fragen jeden, der uns begegnet. Das ist hier keine Ponytrail-Route.“
„Er könnte etwas im Fernsehen gesehen haben. Was er sich als Ziel ausgesucht hat.“
„Mir reichen schon saubere Hufabdrücke auf einem Feldweg, wenn du mich fragst. Ich dreh ’ne Runde mit Trash.“
Christy hob den Kopf, war auf dem Beifahrersitz wieder eingeschlafen, und nachdem der Hund aus dem Wagen war, wagte er sich erleichtert zu bewegen.
„Wenn es regnet, kann er seine Spuren auch vergessen“, murmelte er.
An dem noch dunklen Morgen sahen sie Kieran und den Hund schon nach wenigen Schritten nicht mehr, stiegen dann aus, um frische Luft zu schnappen. Pol starrte in den sternenklaren Himmel, fror plötzlich und dachte, dass Darren möglicherweise ganz in der Nähe in seinem Versteck lag, ebenfalls in den Himmel sah und an seine Familie dachte. Brendan war zu Hause noch immer nicht aufgetaucht, aber um den machte sich niemand Sorgen.
„Was passiert, wenn wir ihn finden?“, wollte Christy wissen. Er saß auf dem Bordstein, hatte sich die Schuhe ausgezogen und spielte mit den Zehen. Pol setzte sich neben ihn, noch immer frierend.
„Wir bringen ihn nach Hause.“
„Das ist klar.“
„Vielleicht kann Kieran Tom überreden, das Pony zu behalten. Wenn Darren zum Ende des Sommers endlich zur Schule geht, ist für ihn das Herumstromern sowieso vorbei und dann hat er für das Pony auch keine Zeit mehr.“
„Bist du schon mal von zu Hause abgehauen?“
„Ständig“, grinste Pol, „aber wir waren jedes Mal wieder auf dem Heimweg, bevor Daid uns überhaupt vermisst hat. Wir wollten ihn nur ärgern, ihm einen Schrecken einjagen.“
Sie hörten Trash und Kieran zurückkommen, konnten sie aber erst vor sich sehen, als Kieran sein Feuerzeug anschnipste.
„Wollt ihr irgendwo was essen gehen?“, fragte er, „ich lass Trash im Auto und wir suchen uns ein Café.“
„Nicht nötig“, sagte Pol, „ich hab überhaupt keinen Hunger, wo ich weiß, dass Darren nicht zu Hause ist.“
„Er wäre zu Hause, wenn ich das von dem Pony gewusst hätte.“ Kieran lehnte sich gegen den Kotflügel des Datsun, schnipste mit den Fingern und Trash legte sich zu seinen Füßen ab. „Vor Wochen hat Tom mir das Pony zum Kauf angeboten, ohne zu erwähnen, dass Darren schon sein Herz drangehängt hat. Hätte ich das gewusst, wär’s anders gelaufen.“ Kieran klickte das Feuerzeug an und aus, an und aus, das kurze helle Flackern riss sein Gesicht aus dem Dunklen. Er fiel ins Schwarze zurück, sagte: „Das wäre mein

Job gewesen, oder?“
Nach einer Pause, in der sie nur das Hecheln des Hundes hörten, sagte Kieran: „Christy, was hast du vor deinem Trip nach Schottland gemacht?“
Vor seinen Augen tauchten die Gesichter der Männer auf, die ihn immer wieder in die Mangel genommen hatten, um ihn in die Sache zu zwingen, die er dann jahrelang getan hatte. Manchmal träumte er von diesen Gesichtern, von diesen brüllenden stimmen, die sich mit allen anderen schrecken vermischten. Mühsam unterdrückte er diese Erinnerung.
„Ich hatte ein paar Gelegenheitsjobs, nichts besonderes. Ich hätte in dem Pub meines Vaters arbeiten können, aber das hätte Mord und Totschlag gegeben. Irgendwann hat’s mich auf die Fähre verschlagen und ich bin in Schottland von Bord gegangen.“
Kieran hörte den Klang von Christies Stimme, beachtete nicht einmal so sehr, was er sagte. Diese Stimme ließ ihn denken, dass er Christy von irgendwoher kennen musste. Nicht sein Gesicht, seine Stimme. Es wäre ihm nicht aufgefallen, hätte er Christys Stimme nicht im Dunklen gehört, dazu kam noch, dass er ihm nicht glaubte. Eigentlich gab es keinen Grund dazu, denn er schien ein netter Kerl zu sein und die Geschichte seiner Familie hörte sich stinknormal an.
Es liegt nicht an dem, was er gesagt hat

, dachte Kieran, sondern wie

er es gesagt hat. Er lügt. Möglicherweise sind ihm seine Familienverhältnisse peinlich. Und ich denke, dass ich seine Stimme schon mal irgendwo gehört habe – oder jemanden, der so ähnlich klingt. Wie aus dem Nebenraum einer Polizeistation.



Trash gähnte, schnüffelte herum und rollte sich zum Dösen zusammen, als er begriff, dass es so bald nicht weiter gehen würde.
„Ihr hättet euch diese Behandlung in dem Hotel nicht gefallen lassen sollen“, sagte Kieran.
„Die waren in der Überzahl“, sagte Pol.
Es wurde richtig kalt, sie verzogen sich ins Auto und fuhren ein Stück, etwa eine Stunde, bis es hell wurde. Die ganze Nacht war klar, kalt und trocken gewesen, aber kaum kam die Sonne hervor, zogen dicke Regenwolken im scharfen Wind heran und sie kamen gerade noch trocken bis in die nächste Ortschaft. Danach regnete es wie aus Kübeln. Kieran fluchte. Er telefonierte lange mit Moira, während Pol und Christy halb schlafend an einem Tisch in dem kleinen Café saßen, sich Scones und Tee kommen ließen. Zunächst aßen sie ganz gemütlich, aber Pol machte ein Zeichen, dass Christy zulegen solle, als er Kierans Gesicht sah, der durch den Raum auf sie zusteuerte. Ihm sah man die durchgemachte Nacht nicht an.
Kein Wunder

, dachte Pol humorlos, der hat ja auch Übung darin

.
„Ihr könnt noch aufessen“, sagte Kieran, zog sich vom Nebentisch einen Stuhl heran und setzte sich, „aber beeilt euch. Wir wissen jetzt, wo Darren hin will.“

Die Nacht hatte Darren in einer einsamen Scheune verbracht, in der sie vor der Kälte einigermaßen geschützt waren, aber die dort hausenden Ratten und Mäuse hatten ihn stundenlang wach gehalten. Tadhg hatte mit den lästigen Untermietern weniger Probleme, er war von dem langen Ritt so müde, dass er nur ein wenig an dem alten Stroh knabberte und dann einschlief. Darren hatte vergessen, Streichhölzer oder ein Feuerzeug einzupacken, was ein Glück war, weil er vermutlich sonst die ganze Scheune abgefackelt hätte. Im Dunklen war das Wuseln und Fiepen um so unheimlicher und Darren zog die Beine ganz nah an sich heran, schlang die Arme um die Knie und hoffte, dass sie ihn nicht beißen würden. Die grobe Landkarte, die er aus einer Zeitung herausgerissen und mitgenommen hatte, eignete sich nicht dazu, die Entfernung abschätzen zu können, die noch vor ihm lag, er hoffte nur, er würde am nächsten Tag auch so weit kommen. Tadhg war so energisch vorwärts gelaufen, ohne müde zu werden, dass Darren das Gefühl gehabt hatte, er könne die ganze Insel an einem Tag umrunden. Die Brote seiner Mutter hatte er längst aufgegessen, getrunken hatte er gemeinsam mit Tadhg aus kleinen Bächen, an denen sie vorbeigekommen waren.
Die Nacht in der Scheune war so unangenehm, dass Darren so etwas nicht noch einmal durchmachen wollte, beim ersten Lichtstrahl sattelte er Tadhg, packte seine Sachen zusammen und führte das Pony ins Freie. Er gab ihm ein paar handvoll Hafer, stieg auf und ritt quer über die Wiese weiter, auf der Suche nach der nächsten Straße, um sich an einem Wegweiser orientieren zu können.
Bei Tag und auf seinem Pony, das er nie mehr hergeben würde, schmeckte ihm dieses Abenteuer schon wieder besser und es begann wieder Spaß zu machen. Die meiste Zeit ließ er Tadhg im Schritt gehen, trabte nur kurze Strecken, um seine Kräfte zu schonen, und seine Zuversicht schwand auch nicht, als es zu regnen begann. Er zog sich seinen Regenparka über, setzte auch die sonst so verhasste Kapuze auf. Er blieb weitgehend trocken, konnte nur nicht verhindern, dass seine Beine nass wurden. Tadhg bevorzugte die schmalen Feldwege, auf denen er der Fahrspur folgen konnte, auf weiten Grasflächen musste Darren ihn lenken und da kam es mitunter zu Missverständnissen zwischen den beiden. Außerdem blieb das Pony da sehr gerne zu fressen stehen.
Die Route war in Darrens Kopf verankert, er hatte die ganze Nacht die Städtenamen in der richtigen Reihenfolge auswendig gelernt, sicher war sicher, falls er die Karte verlieren sollte.
Bunduran – Sligeach – Ballina – Castlebar – Glennagevlagh – und endlich Clifden.
Er erreichte im strömenden Regen eine Kreuzung, auf deren Schnellstraße die Autos mörderisch an ihm vorbei rasten und er schrie seine Begeisterung triumphierend heraus. Er war nicht nur auf dem richtigen Weg, er war kurz vor Sligeach

und schon so weit gekommen, wie er es nicht vermutet hätte. Die Stadt würde er sehr großzügig umreiten, um nicht aufzufallen. Vor lauter Freude über seinen Erfolg ließ er Tadhg auf dem Weg antraben, weg von der Schnellstraße. Der Boden war trotz des Regens noch fest und so wagte er einen kleinen Galopp. Tadhg war schon längst nicht mehr so übermütig wie am Morgen zuvor, hatte keine Ambitionen zu einem Jagdgalopp. Darren verlagerte nur das Gewicht und schon fiel er in den Trab zurück. Erst im Galopp hatte Darren seinen schmerzenden Hintern bemerkt und beließ es beim Schritt für die Strecke bis zur nächsten Pause. Er hatte nicht bemerkt, dass er im Galopp einen Teil seiner Sachen verloren hatte, weil er seine Tasche nicht richtig verschlossen hatte. Es war nicht viel, was hinausgefallen war, aber es war wichtig für ihn.

„Er will nach Clifden“, sagte Kieran, „nach Connemara. Laoise hat den Sohn des Pferdehändlers angerufen, der Tadhg kaufen wollte, um ihm zu erzählen, was passiert ist und der hat direkt seine Hilfe angeboten. Außerdem hat er gesagt, dass er sich eine Weile mit Darren über das Pony unterhalten hat. Und er hat ihm von einem Gestüt in Connemara erzählt, wo man nicht nur die besten Ponys züchtet, sondern auch Reiter ausbildet. Sie schicken ihre Ponys im ganzen Land auf Turniere und der Idiot hat zu Darren gesagt, dass er das Zeug dazu hätte, dort als Ponyreiter angenommen zu werden. Wie konnte er dem Jungen so etwas sagen? Er wollte ihn aufmuntern, aber musste er ihn noch mit der Nase drauf stoßen? Schnapp dir das Pony und brenn durch nach Clifden?“
„Das ist ’ne ganz schöne Strecke“, sagte Pol, „aber jetzt wissen wir, wo wir ihn abfangen können.“
Sie hatten eine ungefähre Route, an deren markanten Punkten sie Posten aufstellen konnten, sie sprachen mit Berufspendlern und Farmern und um die Mittagszeit des zweiten Tages, als der Regen endlich nachließ, waren so viele Freiwillige unterwegs, dass Pol zu bemerken wagte, ob nur noch die Lahmen und Kranken in Pettigoe geblieben waren und ob überhaupt jemand zur Arbeit gegangen war.
Brendan holte sie ein, hatte Tim Ryan mitgebracht, der auf die Idee gekommen war, Handzettel kopieren zu lassen, die sie schneller verteilen konnten.
Kieran schickte die vier los, um die Zettel zu verteilen, fuhr selbst mit Trash allein weiter, bis er kurz vor Castlebar war. Er bezweifelte, dass Darren schon so weit gekommen war, wollte ihm einfach einen Schritt voraus sein. Er benutzte das Walkie-Talkie, sprach mit Moira und den Suchtrupps und sagte allen, dass sie Darren bis zum Abend gefunden haben sollten, um ihnen allen eine weitere schlaflose Nacht zu ersparen. Er sprach mit niemandem über die Bilder, die ihm ständig durch den Kopf spukten, dass Darren von dem Pony gefallen sein könnte und irgendwo mit gebrochenen Knochen lag, dass sie einen fürchterlichen Unfall auf einer befahrenen Straße hatten, dass das Pony durchging, er herunterfiel, im Steigbügel hängen blieb und unter die galoppierenden Ponyhufe geriet. Diese Bilder konnte er nur verdrängen, wenn er so beschäftigt war wie möglich, deshalb hatte er den Hund mitgenommen, der jeden Strauch und jedes Gebüsch durchsuchte und bei dem kleinsten Geräusch anschlug. Das hielt seinen Motor auf Trab.
Der Regen hatte alle möglichen Spuren fortgewaschen, aber auf einem Feldweg in der Nähe von Sligeach

fand ein Suchtrupp einen aufgeweichten Briefumschlag mit einer herausgerissenen kleinen Landkarte und das Kleingeld aus Darrens Sparschwein, mit dem er sich etwas zu essen hatte kaufen wollen. Etwas weiter weg lagen Buntstifte und sein Pflanzenbuch, herausgeschüttelt durch den sauberen Dreitakt des Ponys. Die Nachricht über den Fund verbreitete sich sehr schnell und es ermöglichte, dass die Männer das Netz enger zogen, nachdem sich ein Großteil von ihnen in der Nähe des Fundorts getroffen hatten. Sie waren erfolgreich, wenn auch alle chaotisch und durcheinander wirkte.
Es lief erstaunlich gut, wenn man bedachte, wie sie vor Jahren einen vierjährigen Travellerjungen gesucht hatten und sich dabei zwei Männer derart verlaufen hatten, dass sie die kalte ungemütliche Nacht auf einer wilden Mülldeponie verbracht hatten. Den Jungen hatten sie nie gefunden und konnte nur vermuten, dass er in den Fluss gefallen und ertrunken war, an dem seine Leute campiert hatten.
Kieran fuhr zurück Richtung Sligeach

, stellte den Wagen ab und traf sich mit Pol und den anderen, währenddessen übernahmen Jungs auf Motorrädern und Fahrrädern die Aufgabe von mobilen Telefonen. Zwei Walkie-Talkies waren einfach nicht ausreichend.
„Wenn er uns jetzt noch durch die Lappen geht, lassen wir ihn bis nach Clifden durchreiten und packen ihn uns vor dem Gestüt.“
Brendan hatte noch Humor, weil er die Nacht gut geschlafen hatte, zwar nicht zu Hause in seinem Bett und auch nicht unter guten Vorzeichen, aber nichts ahnend, was geschehen war.
„Wir fangen ihn ab“, sagte Kieran, „nichts anderes wird passieren.“
Mit Trash marschierte er los, das Gelände war hügelig und von kleinen Wäldern unterbrochen, aber über den größten Teil hatten sie eine gute Sicht. Die Sonne brach durch die Wolken, zumindest jeweils für ein paar Minuten.
Kieran hatte sich ein Limit gesetzt und es sah ganz so aus, als würde er es nicht einhalten können. Nirgends war eine neue Spur von Darren und dem Pony, sie vermuteten schon, dass Darren die Richtung geändert haben und an der Küste entlang geritten sein könnte. Kieran hatte nicht geschlafen während dieser ganzen Zeit, nur wenig gegessen und etwas getrunken; Pol und Brendan flüsterten miteinander, wie er das wohl durchhielt. Er war so stoppelig im Gesicht, dass er Trash erschreckend ähnlich sah.
Christy verschwand von ihrer Seite, kam zurück und hatte Orangensaft und Shortbread mitgebracht.
Der zweite Tag neigte sich dem Ende zu, und er ging so, wiedergekommen war, mit Regen.
Kieran war ohne Regenjacke unterwegs, behauptete, das Wasser würde ihn wach halten. Er wollte nicht aufgeben, auch als es immer dunkler wurde und sie ihn zu einer Pause überreden wollten. Einer der Motorradjungs fuhr sie fast um, bremste schlitternd und rief, dass sie ein graues Pony auf einer Weide entdeckt hätten. Zumindest hätte das Pony im Licht der Taschenlampen grau ausgesehen. Er sagte, dass das Pony dort vermutlich auch hingehörte, aber sie müssten doch jeder Spur nachgehen.
Sie fuhren los, folgten dem Motorrad und Kieran hatte das Gefühl, sein rasendes Herz könnte jeder in seiner Nähe hören, jedenfalls war das Pochen und Rauschen alles, was er noch hören konnte. Der Mann, der seinen Wagen zur Verfügung gestellt hatte, fuhr mit der Nasenspitze an der Windschutzscheibe, um dem Motorrad folgen zu können, quittierte jede Fahranweisung, die von Kieran kam mit einem „Waas

?“

Die Weide, von der der Junge gesprochen hatte, war winzig und halb im Wald versteckt, einige Männer standen an dem Zaun, schwenkten Taschenlampen und schafften es, die zwei Ponys vollkommen irre zu machen. Sie rannten eng beieinander um ihr Leben, versuchten den tanzenden Lichtern zu entkommen, waren knapp davor, in Panik durch den Zaun zu brechen.
„Taschenlampen aus!“, brüllte Kieran, sprang aus dem Wagen. Die Lichtkegel verschwanden und in dem Dämmerlicht brauchten die Ponys ein paar Minuten, um endlich stehen zu bleiben. Ihr heftiges Schnauben war deutlich zu hören, obwohl sie am anderen Ende der Weide standen.
„Es sind zwei“, sagte Kieran unschlüssig, „aber ich kann beim besten Willen nicht sehen, ob eins davon grau ist.“
Sie fuhren eines der Autos an den Weidezaun, schalteten das Licht an und erhellten die Umgebung. Die Ponys, eines braun, eines Grau, erstarrten mit hochgerissenen Köpfen, aber da sich dieses Licht nicht bewegte, löste es keine Panik aus. Sie schnaubten, scharrten den Boden auf und hatten wieder Gelegenheit, sich zu beschnuppern und in die Mähnen zu beißen. Kieran stieg über den Zaun, Brendan folgte ihm.
„Ich hab Darren ein paar Mal auf dem Pony gesehen“, sagte er, „aber ich könnte nicht sagen, ob es das da ist.“
Im milchigen Licht der Autoscheinwerfer entdeckte Kieran einen kleinen Hügel auf der Weide, grau-grün, sich bewegend und etwa so groß wie ein kriechender Hund. Kieran hatte Trash bei Pol gelassen, um die Ponys nicht zu erschrecken, er rief etwas und rannte auf den Punkt zu. In diesem Moment hatte er Angst, die so ziemlich alles in den Schatten stellte, was er bisher erlebt hatte.
Wenn es Darren war, der dort mitten auf der Weide lag, auf der eben noch die Ponys wild hin und her galoppiert waren, konnte ihm alles Mögliche passiert sein.
Bitte lass ihn nicht verletzt sein

, dachte er. Er fiel auf die Knie und griff mit beiden Händen nach dem Bündel. Unter der nassen Wachsjacke erschienen Arme und Beine und Darrens roter Kopf; er zappelte, als er hochgenommen wurde, und erstarrte wieder.
„Bist du verletzt?“, fragte Kieran panisch, „tut dir was weh oder bist du in Ordnung? Sag doch was.“
Darren konnte nicht antworten, er atmete schnaufend und rührte sich nicht, als Kieran ihn an sich drückte und einfach nur festhielt. Er brauchte eine Weile, um sich selbst zu beruhigen, bekam nur am Rande mit, dass Brendan über die Weide sprang, mit den Armen fuchtelte und schrie, dass sie ihn gefunden hätten. Darren begann zu weinen, zitterte vor Kälte und Nässe, versteckte sein Gesicht.
„Bist du in Ordnung?“
Er nickte heftig. Kieran stemmte ihn hoch, trug ihn an den Rand der Weide, wo er ihn auf die oberste Stange des Weidezauns setzte. Inzwischen sammelten sich die anderen Helfer um ihn herum, tätschelten seinen Kopf und jeder rief, wie gut es war, dass er wieder da sei. Pol rief von der nächsten Telefonzelle zu Hause an und sagte, dass sie ihn gefunden hätten und bald nach Haue kamen.
Kieran griff nach Darrens Kopf, hob ihn an und sah ihm ins Gesicht, viel zu erleichtert, um eine böse Miene machen zu können.
„Das ist also Tadhg, was? Junge, du hättest uns etwas von ihm erzählen können, dann wär das alles nicht passiert.“
Er trug Darren in den Wagen.

Darren hatte Tadhg in der hereinbrechenden Dämmerung auf die vermeidlich leere Weide gebracht und abgesattelt, hatte ihn dort angebunden übernachten lassen wollen, aber bevor er dem Pony das Halfter überziehen konnte, war aus der hinteren Ecke das andere Pony heran geschossen gekommen und die beiden hatten sich quiekend wie die Schweine über die Weide gejagt. Darren hatte Tadhg nicht mehr einfangen können, hatte immer wieder nach ihm gepfiffen, aber Tadhg fand es ganz toll, sich mit dem fremden Pony anzusteigen und zu raufen. Er hatte nur hoffen können, dass die beiden sich irgendwann von allein beruhigten. Das geschah auch irgendwann, aber dann waren auf dem Weg Männer mit Taschenlampen aufgetaucht, die Ponys waren wieder losgerannt und er hatte sich kopfüber auf dem Boden zusammengerollt, um nicht entdeckt zu werden. Um nichts in der Welt wollte er jetzt gefunden werden, hoffte, die Männer würden verschwinden und er könne Tadhg wieder einfangen und schnell weiter reiten. Er hatte nur Angst gehabt, dass die beiden sich im Dunklen noch gegenseitig wehtaten.
So verängstigt hatte Kieran seinen Sohn schon seit Jahren nicht mehr gesehen, er konnte ihn nur festhalten und immer wieder sagen, dass alles in Ordnung sei und sie eine Lösung für Tadhg finden würden.
Pol und Brendan hielten in der Nähe des Wagens Wache, tigerten unruhig durch den Regen, rauchten schnell, damit die Regentropfen ihre Zigaretten nicht löschten. Im Wagen dauerte es eine kleine Ewigkeit, bis Kieran mit ja- und nein-Fragen herausgefunden hatte, was ungefähr passiert war, dann quälte er Darren nicht weiter mit Fragen, zum Beispiel, wie er sich das auf dem Gestüt vorgestellt hatte als achtjähriger, der mit einem Pony vor der Tür stand und nach einem Job fragte.
Darren beruhigte sich, förmlich erschöpft, brachte dann nur noch ein fragendes „Tadhg?“ hervor und setzte sich in Kierans Armen auf. Durch die Dunkelheit versuchte er, das Pony auf der Weide auszumachen.
„Wir beide machen heute ein Geschäft, Darren“, sagte Kieran, „wenn du mir versprichst, dass du in die Schule gehst, dich anstrengst und keine Klagen hören lässt...“ Darren prustete empört. „Dann kauf ich Tadhg für dich. Deine Mutter wird mich zwar verprügeln dafür, aber das nehme ich in Kauf. Was ist, gilt unser Handel?“
Darren bekam vor ungläubigem Staunen große Augen, sein Mund war halb aufgeklappt und erst, als er langsam begriff, was sein Vater gesagt, und dass er es ernst gemeint hatte, warf er die Arme um Kierans Hals und drückte ihn, bis er keine Luft mehr bekam.
Danach war er nicht mehr zu halten. Er sprang aus dem Wagen, rannte zur Weide zurück. Inzwischen war es stockdunkel und Tadhg war bei den Bäumen nicht mehr zu erkennen, er hatte mit dem Pony endlich Waffenstillstand geschlossen und sich mit ihm in eine ruhige Ecke verzogen.
Kieran rief die Jungs zusammen. Die allgemeine Müdigkeit war verflogen.
„Wir müssen das Pony einfangen“, sagte er, „kann länger dauern, wenn er sich so benimmt wie vorhin.“
Mit Schaudern dachte Kieran daran, wie die Ponys panisch über die Weide galoppiert waren, während Darren zusammengerollt wie ein Igel im Gras gelegen hatte.
„Vor allem kann ich ihn nicht mal sehen“, sagte Brendan.
Sie standen aufgereiht am Zaun, das Regenwasser floss ihnen durch das Haar und tropfte in die Augen, einer sah zum anderen, wer wohl als Erstes sein Bein übe den Zaun schwingen würde. Sie hatten wieder nur das Licht des Volvos und die Batterie würde nicht die ganze Nacht halten. Es drängte sie alle nach Hause und Pol meinte, man könnte den Farmer zur Hilfe holen.
„Wenn er bei dem Krach nicht wach geworden und hergekommen ist, können wir den auch vergessen.“
Darren verdrehte sich den Hals, um ihnen folgen zu können, stieg von seiner Seite auf die untere Stange des Zauns und pfiff durch die Zähne. Er begriff überhaupt nicht, wieso die Erwachsenen es so kompliziert machen wollten. Sein schriller ansteigender Pfiff ließ Tadhg mit hoch erhobenem Kopf auf sie zulaufen, er blieb vor ihnen stehen und wartete neugierig, was als Nächstes passieren würde. Darren trat neben ihn und kraulte ihm die Stirn. Das Pony senkte den Kopf und schien schläfrig zu werden. Die Zwillinge konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Sie suchten Darrens Sachen und das Sattelzeug zusammen, packten alles in den Volvo, weil es zu nass war, um es Tadhg wieder auf den Rücken legen zu können.
„Wo steckt eigentlich Christy?“, fragte Kieran und sah sich um. Pol entdeckte ihn hinter dem Wagen, wo er, Trash neben sich, an der Böschung sitzend eingeschlafen war. Der Hund lag halb auf seinen Beinen. Sie rüttelten ihn wach und es war ihm peinlich, so erwischt worden zu sein.
„Wir passen alle in den Volvo“, sagte Brendan, kratzte sich am Kinn, „wo Tim mit den anderen weg ist, aber der Gaul ist zu groß für den Kofferraum. Wie kriegen wir ihn nach Hause?“
Kieran winkte Darren zu sich und sagte: „Tom hat einiges wieder gut zu machen, denke ich.“
Er schickte die übrig gebliebenen Helfer und Freunde dankend nach Hause, auch den Besitzer des Volvos, der sich von einem Freund zum Treffpunkt fahren ließ, wo sie die Wagen tauschen würden. Im irischen Hinterland, was eigentlich auf die ganze Insel bis auf Baile Átha Cliath

zutraf, war es nichts Ungewöhnliches, dass kleine und etwas größere Tiere in Fahrzeugen transportiert wurden, die dafür nicht vorgesehen waren, aber Kieran konnte sich nicht daran erinnern, dass jemals jemand versucht hatte, einen grauen Connemara in einen Volvo zu stopfen.
Man konnte ihm nicht einfach sagen „Zieh den Kopf ein und rein mit dir, aber lass bloß die Hufe von den Polstern“. Es war rührend anzusehen, wie Darren und das Pony zusammenhingen; Tadhg knabberte an dem roten Haar des Jungen, so vorsichtig, als versuche er, einen Weidepartner zu kraulen. Während die Erwachsenen darüber redeten, wie das Pony nach Hause kommen sollte und sie mal wieder alles so umständlich angingen, knotete Darren den Führstrick an die Seitenringe des Halfters, ließ das Pony an den Zaun treten, von wo aus er auf den Rücken kletterte. Dort setzte er sich zurecht, baumelte mit den Füßen und ritt einfach los, nachdem niemand auf ihn achtete. Endlich brach der helle Mond durch die Wolken, tauchte die Männer in ein trübes Licht. Tadhg setzte sehr vorsichtig einen Fuß vor den anderen, benahm sich aber vorbildlich. Vom Ponyrücken aus hakte Darren das Tor auf, ritt hindurch und schloss es wieder. Nach einigen Metern ließ er Tadhg umdrehen und wartete.
Kieran hätte lieber die Mühe auf sich genommen, das Pony in irgendeinen Transporter zu laden, als Darren über die dunklen Wege reiten zu lassen, aber sein Sohn hatte ihm die Entscheidung bereits abgenommen. Er sagte zu den anderen, sie sollten mit dem Wagen vorfahren und Tom mit dem Pferdehänger zu ihnen schicken.
„Eigentlich sollten wir hier auf ihn warten“, sagte er, „aber Darren scheint es nach Hause zu ziehen. Ich laufe neben ihm her, bis der Hänger kommt. Wir bleiben auf der Straße.“
Der Wind, der die Wolken vertrieben hatte, sorgte auch dafür, dass der Regen weniger wurde und aufhörte. Kieran führte das Pony am Seitenstreifen der beleuchteten Landstraße, die einzige Möglichkeit, die sie hatten, ohne in Gräben und Löcher zu fallen, sollte das Mondlicht verschwinden.
Nachdem sich die Aufregung endgültig gelegt hatte und Darren merkte, wie müde er war, begann er vor Kälte mit den Zähnen zu klappern und es half auch nicht viel, dass er Kierans dicken Pullover überziehen durfte, denn der war schwer vom Regen. Kieran wäre gern schneller vorangekommen, aber nach den zwei Tagen auf der Flucht war Tadhg nicht mehr in Stimmung für einen flotten Schritt. Er trottete gemütlich neben Kieran her, trabte höchstens mal an, wenn Kieran fester am Strick zog. Die Straße war unbefahren an diesem frühen Morgen, die nasse Teerdecke glänzte im Schein der Straßenlampen, von der Umgebung und den wenigen Häusern war nicht viel zu sehen. Kein Fenster war erleuchtet, nirgends regte sich leben, als die unbeschlagenen Ponyhufe an ihnen vorbeiklapperten.
Der erste Wagen, der ihnen entgegenkam und freundlich abbremste, als das Pony im Scheinwerferlicht auftauchte, war ein großer Milchtanklaster, der so riesig war, dass er fast die gesamte Straßenbreite benötigte. Auf gleicher Höhe hielt der Fahrer an, kurbelte das Fenster runter und beugte sich ihnen entgegen. Er hatte einen Silberpudel auf dem Schoß sitzen, der gemeinsam mit ihm aus dem Fenster sah, schnüffelnd die Nase vorstreckte.
„Ihr seid hoffentlich nicht per Anhalter unterwegs.“
Der Pudelmann grinste, entblößte dabei einen praktisch zahnfreien Unterkiefer und sprach in einem verwaschenen Londoner Akzent, bei dem Darren verständnislos die Stirn runzelte und Kieran sich sagen musste, dass er nur ein Lastwagenfahrer war – mehr nicht.
„Wir trainieren für Aintree“, antwortete Kieran, „man kann nie früh genug damit anfangen.“
Der Lastwagenfahrer lachte scheppernd, der Pudel auf seinem Schoß wurde durchgerüttelt wie bei einem partiell begrenzten Erdbeben.
„Ich werde im Wettbüro nach euch beiden Ausschau halten – nach einem hübschen irischen Jungen auf seinem grauen Pony.“
Er hob die Hand zu einem Abschiedsgruß und fuhr weiter, der aufröhrende Motor ließ Tadhg einen Schritt nach vorn schießen und warnend schnauben.
„Was immer du vorhast mit deinem Pony“, sagte Kieran, setzte den Fußmarsch weiter fort, „du wirst kein Jockey. Wahrscheinlich wirst du sowieso zu groß und zu schwer sein, aber das Rennreiten ist viel zu gefährlich. Du wirst kein professioneller Reiter, ob Galopprennen oder Springen, hast du mich verstanden?“
„Okay“, sagte Darren.
Kieran hatte kein gutes Verhältnis zu Pferden, hatte er noch nie gehabt. Es war Jahre her, da hatte er von einem Kollegen seines Vaters den Auftrag bekommen, sich auf einer verlassenen Farm um einen Gaul zu kümmern, den sie versteckt gehalten hatten, aus welchen verdrehten Gründen auch immer und er hatte nur widerwillig zugesagt. Im Grunde hatte er sich nur einverstanden erklärt, um seinem Daid keine Schande zu machen und er ein paar Pfund dafür bekam.
Der braune Hengst mit der breiten Blesse hatte ihn auf Trab gehalten, weil er Tag und Nacht in dem alten Stall eingesperrt war und aus lauter Übermut die Wände seiner Box eingetreten hatte. Mit Futter war er nur kurzfristig abzulenken gewesen und Kieran hätte sich gewünscht, ihn einfach nach draußen auf die Weide bringen zu dürfen, dort hätte er sich austoben können, aber das hatte der Mann streng verboten. Kieran war sehr erleichtert gewesen, als sie ihn mitten in der Nacht in einen Transporter geladen und weggebracht hatten und erst Tage später hatte er von der Entführung eines Rennpferdes in der Zeitung gelesen und wie viel Lösegeld sie für ihn haben wollten.
So unglaublich viel Geld für ein Pferd, wie schnell auch immer es laufen konnte, das ging nicht in seinen Kopf. Er hatte nie danach gefragt, wo sie das Pferd hingebracht hatten. Jedenfalls hatte der Scheich sein Pferd nicht wieder gesehen und die IRA das Lösegeld ebenfalls nicht. Kieran gefiel die Vorstellung, dass eine Menge Fohlen von diesem Hengst auf Irlands Rennbahnen herumliefen. Vielleicht hatten sie dem Hengst noch ein paar schöne Monate bereitet, bevor sie ihn abserviert hatten, weil für ihn nicht bezahlt wurde. Vielleicht graste er als Wallach noch immer auf irgendeiner Weide.
„Wo soll Tadhg wohnen?“, fragte Darren und darüber musste Kieran sich wirklich Gedanken machen.
„Vorerst bleibt er bei Tom, bis ich mir etwas überlegt habe.“
Er nieste zweimal hintereinander, dabei zog ein stechender Schmerz durch seinen Rücken. „Wird Zeit, dass der Transporter endlich kommt.“
Sie marschierten noch eine halbe Stunde, bis sie einen Wagen hörten und die Scheinwerfer näher kommen sahen. Es waren Tom und Brendan, die auf einem Stück Schotterplatz vor ihnen auf der Straße warteten, dort das Pony verluden und sie endlich nach Hause fahren konnten.
Darren fuhr hinten in dem Anhänger mit, setzte sich auf einen Strohballen, lehnte sich in die Ecke und war augenblicklich eingeschlafen.
Tom O’Neill hatte sich nur Gummistiefel und eine Wachsjacke über seinen gestreiften Pyjama gezogen, beteuerte immer wieder, wie froh er war, dass die beiden Ausreißer wohlbehalten nach Hause kamen.
„Ich weiß“, sagte er, „ich bin der Auslöser für das Chaos, ich hätte Darren nicht sagen dürfen, dass ich Tadhg verkaufe, ich wusste doch, wie sehr die beiden sich mögen.“
„Wieviel willst du für ihn haben?“, fragte Kieran nüchtern und Brendan, der eingeklemmt zwischen den beiden saß, reagierte mit einem überraschten Grunzen. Er befürchtete, demnächst auch zum Stallausmisten abgeordert zu werden.

Auf Toms Hof luden sie das Pony aus. Beim Hängerabkuppeln klemmte Kieran sich den Finger, woraufhin er fluchend bis zur Straße marschierte und die Hängerkupplung danach nicht mehr anrührte. Tom und Brendan schoben den Hänger an seinen Platz zurück, hätten dann fast Darren vergessen, der noch immer tief und fest schlief, auch nicht wach wurde, als Kieran ihn zum Wagen trug und auf den Rücksitz des Datsun legte. An seinem Finger hatte sich eine dicke Blutblase gebildet, auf der er so lange herumbiss, bis sie aufging. Brendan durfte den Datsun fahren und zu Hause erwartete sie eine müde und überglückliche Moira, die Darren in ihr Bett trug und ihn nicht mehr aus den Augen ließ.

Kieran hätte eine Dusche gebraucht, aber er war so müde, konnte selbst Moiras geflüsterte Fragen nicht mehr beantworten.
Er schien bereits auf dem Hof einzuschlafen, konnte sich kaum noch bewegen, aber letztendlich schaffte er es noch, sich auszuziehen und unter die Decke zu kriechen. Er hörte Darrens leises Atmen, bevor er praktisch ohnmächtig wurde.
Irgendwie schaffte man es immer – gerade noch auf die Toilette, bevor die Blase platzte; vor dem Niesanfall das Taschentuch aus der Tasche zu haben; vor der Bombenexplosion bei BBC angerufen zu haben und möglichst weit weg zu sein.
Moira hatte so viele Fragen, die Pol ihr nicht alle hatte beantworten können, als er nach Hause gekommen war, so blieb ihr nichts anderes übrig, als bis zum Morgen zu warten.
Dass Pol einen Gast mitgebracht hatte, ließ sie nicht in Begeisterungsstürme ausbrechen, und sie hatte ihm gesagt, dass er für Christy selbst das Gästebett aufbauen und zurechtmachen müsse. Beim Anblick des dürren Christy setzte sie allerdings sofort hinzu, dass sie sich um das Essen kümmern würde.
Brendan fand die beiden tief schlafend, als er endlich nach Hause kam und ins Bett kriechen konnte, hatte noch keine drei Sätze mit seinem Bruder gewechselt, seit er zurück war. Im Gegensatz zu allen anderen konnte er nicht einschlafen, er lag mit offenen Augen da, hörte nur auf die Geräusche der anderen und auf das Pochen seines Herzens. Sie waren alle froh und erleichtert, dass Darren wieder zu Hause war, damit waren die Probleme erledigt, aber Brendan hatte noch keine Gelegenheit gehabt, etwas von seinen Problemen zu erzählen. Er hatte sich mit Lilian getroffen, war so vorsichtig wie immer gewesen auf dem Weg zu ihrem Treffpunkt und da war auch noch alles in Ordnung gewesen. Sie hatten gemeinsam gegessen, etwas getrunken und Lilian war schon seid Wochen nicht mehr so fröhlich gewesen. Flüsternd hatte sie ihm gestanden, dass ihr Bruder Albert für ein paar Tage weggefahren war, also würde er ihr nicht nachschnüffeln können, wie er es so gern tat. Ihre Eltern waren unverändert misstrauisch, hatten aber zu viel zu tun, um ihre Schritte überwachen zu können. Sie wollte unbedingt tanzen gehen, obwohl es mitten in der Woche war und sie weit und breit kein Tanzlokal oder Disco finden würden, die geöffnet hatten. Deshalb überredete Brendan sie dazu, in dem Café zu bleiben, machten danach einen langen Spaziergang, bei dem Lilian sich über so interessante Dinge wie Haarfärbemittel und Lieblingsfilme schier endlos unterhalten konnte.
Zwei Stunden später, bereits auf dem Rückweg, konnten sie sich über den lauen gemeinsamen Abend nicht mehr beschweren. Albert war irgendwo unterwegs, aber seine Jungs waren zu Hause geblieben, hatten auf ihren Streifzügen Brendan und Lilian Hand in Hand spazieren sehen und keine Sekunde gezögert. Einer hatte Lilian weggerissen und festgehalten, während die anderen Brendan vermöbelten, der erfolgreich sein Gesicht schützen konnte, nicht aber den Rest von sich. Die blauen Flecken und Schürfwunden waren nicht das, was ihn jetzt wach hielt, es war die Erinnerung an die Drohungen, die sie ausgestoßen hatten. Brendan hatte Angst, bei der nächsten Begegnung mit den Jungs könnten sie ihre Drohung wahr machen; könnten ihn die nächsten Male scheinheilig davonkommen lassen, um ihn dann allein und unvorbereitet richtig fertigzumachen. Drohungen und Attacken hatte es schon immer gegeben und das auf beiden Seiten. Im Grunde kamen sie mit den meisten protestantischen Nachbarn im Grenzgebiet und in Pettigoe gut aus, es gab nur wenige, denen man besser aus dem Weg ging. Der wahre Feind flog täglich in Hubschraubern über die Häuser.
Sie hatten ihn getreten, geschlagen und bespuckt, Lilian von ihm weggezerrt und in ein Auto gezwungen. Lilian hatte geweint und sich gewehrt. Weil ihre Kräfte nicht reichten, um ihnen zu entkommen, versuchte sie es mit betteln und bitten, versuchte sie zu überreden, sie nach Hause zu lassen und Brendan in Ruhe zu lassen. Der Fahrer, ein kräftiger großer Kerl mit einem dicken Hintern erwiderte, sie würden sie nach Hause bringen und dafür sorgen, dass sie keine Dummheiten mehr machte. Lilian schlug von innen gegen die Fensterscheibe des Wagens, aber das nutzte ebenso wenig wie ihre Überredungskünste. Die anderen Jungs ließen von Brendan ab, stiegen in den heranrollenden Wagen und als er den Kopf aus den Armen hob, sah er Lilians Gesicht und ihre an die Heckscheibe gepressten Handflächen. Sie fuhren ganz einfach mit ihr davon und das war noch schlimmer als die Prügel. Er hatte Angst, er könnte sie nie wieder sehen, er könnte nie mehr die Gelegenheit haben, ihr zu sagen, wie leid ihm das alles tat. Es war alles seine Schuld und das hätte er auch ohne Zögern zugegeben, schließlich hatte er sie angesprochen, hatte er den ersten Schritt gemacht.
Lilian konnte als Mädchen an gar nichts Schuld haben.
Zunächst hatte er Kieran davon erzählen wollen, aber als er in dieser einsamen Nacht Zeit hatte, seine Gedanken zu ordnen, allein in dem heimlichen Liebesnest, in das er sich geflüchtet hatte, entschied er sich, allein dafür geradezustehen. Erstaunlicherweise hatte er gut schlafen können, fiel erst aus allen Wolken, als er nach Hause kam und von Darrens Verschwinden hörte.
Sein Bruder konnte nicht für alles herhalten, was in der Familie geschah. Das alles ging ihm kreuz und quer durch den Kopf, und als er für ein, zwei Stunden einschlief, träumte er wirr und verzerrt von dem Augenblick, als sie Lilian in das Auto zwangen und sie wegfuhren. Als er aufwachte, stand Pol neben seinem Bett und stieg gerade in seine Hosen.
„Hey Fremder“, murmelte Brendan, „hast du was Besonderes vor heute?“
Pol sprang einmal in die Luft, um sich die Jeans über den Hintern zu ziehen, musste den Bauch einziehen und die Luft anhalten, um den Reißverschluss zuziehen zu können. Die Hose war frisch gewaschen und steif wie ein Brett. Das verwaschene T-Shirt mit dem ausgerissenen Rand ließ er über den Hosenbund fallen.
„Wir gehen rüber ins Ryan’s. Ist besser, wenn wir Kieran die nächsten Tage nicht vor die Füße stolpern, der hat genug zu tun mit Darren.“
„Ich komm mit.“
Brendan fand es überflüssig, die Unterwäsche, die er nachts getragen hatte, zu wechseln, stieg in seine alten Klamotten und fuhr sich mit beiden Händen durch das Gesicht.
Christy war die letzte halbe Stunde, bevor sie zu Fuß ins Ryan’s gingen, auf Toilette verschwunden, sah blass aus wie ausgeblutet. Er lief herum, als hätte ihn jemand verprügelt und war leicht in Verlegenheit zu bringen.
Sie verließen das Haus, ohne Kieran oder Moira zu begegnen, so, wie sie es geplant hatten, und im Ryan’s saßen sie Stunde um Stunde zusammen, versuchten vergeblich, sich beim Trinken zurückzuhalten. Christy plünderte seinen Rucksack, drehte seine Taschen- und Hosentaschen von innen nach außen, um sein letztes Geld in britischen Pfund zusammenzukratzen, und er konnte zwei Runden spendieren.
„Scheiße“, sagte er, „für mehr reicht’s bei mir nicht.“
Tim bediente sie, weil sein Vater wieder unterwegs war, setzte sich zu ihnen, als noch nicht viel zu tun war. Pol erzählte Brendan, wie Christy das eifersüchtige Arschloch fertiggemacht hatte, ließ sich auch nicht unterbrechen, als Christy es herunterspielen wollte. Tim trank ein Kilkenny und hörte der Geschichte aufmerksam zu, wobei sie für ihn nichts weiter als eine der vielen Pubgeschichten war – das meiste davon frei erfunden und übertrieben, aber das störte niemanden, solange die Geschichte gut erzählt war.
„Wie läuft’s mit Lilian?“, fragte Pol. Brendan hob nur die Schultern und zog es vor zu schweigen.

Obwohl er nur wenige Stunden Schlaf gefunden hatte, fühlte Kieran sich gut, stand auf und war bereits kurz nach Sonnenaufgang wieder unterwegs. Es war nicht nur die Jobsuche, die ihn umhertrieb, er machte ein paar Besuche und sprach mit einigen Leuten, die bei der Sache geholfen hatten. Auf der Suche nach einem Job klapperte er ein paar Baustellen ab. Die meisten Vorarbeiter schickten ihn kopfschüttelnd weiter, aber bei einem Abrissunternehmer, deren Schaufelbagger und anderes Equipment sie benutzten, um die Waffenlager anzulegen, bekam er einen Job auf einer Abrissbaustelle in Fintona.
„Mir fehlen die Leute“, sagte der Mann, „die meisten wollen dort nicht arbeiten, weil sie Angst vor Übergriffen haben. Du hast damit keine Probleme, oder?“
„Nicht, wenn du mir ’ne Gefahrenzulage zahlst.“
Mauern einreißen, Decken durchzuschlagen und Fußbodenbohlen aufzuhebeln war ein guter Job, bei dem man sich seine Arbeit frei einteilen konnte und niemand einem über die Schulter sah. Kieran war froh über solche Aufträge, auch wenn sie auf streng britischem Boden stattfanden. Es würde einige scharfe Kommentare geben, aber mit mehr rechnete er nicht. Auf der Rückfahrt besuchte er Tom O’Neill, der einigen Touristen Reitunterricht gab, während er an dem Zaun gelehnt dastand und einen Kaffee trank.
„Du kannst einiges wieder gut machen“, begann Kieran, grinste einer dickärschigen Frau zu, die sich auf dem Pony, das sich brav abstrampelte, mit herumfliegenden Unterschenkeln nur mit viel Glück im Sattel hielt, sich dabei aber offensichtlich wie die geborene Amazone fühlte.
„Ich bin Darren nicht böse, ganz sicher nicht, obwohl ich allen Grund dafür hätte. Charles Baldrick hätte mir für ein lahmes Pony keinen Cent bezahlt.“
„Und ich hätte dich umgebracht, wenn Darren etwas passiert wäre“, sagte Kieran munter, „aber schwamm drüber. Hast du mit ihm schon einen Preis ausgemacht?“
„Nein, hab ich nicht.“ Er hob die Stimme. „Dann steig wieder auf, hoch mit dir, junger Mann, sonst kannst du ihn sofort in den Stall zurückbringen.“ Er nahm einen schlürfenden Schluck Kaffee. Der Reiter rief atemlos zu ihnen herüber: „Der ist gestolpert und auf die Knie gefallen.“
Seine Entschuldigung, dass er heruntergefallen war.
Ungnädig erwiderte Tom: „Das ist nicht das Knie. Das ist das Vorderfußwurzelgelenk.“ Zu Kieran sagte er: „Was interessiert dich der Preis?“
„Das hatten wir doch schon. Ich hab Darren versprochen, Tadhg für ihn zu kaufen.“
In einer behäbigen Geste rieb Tom sich mit einer Hand über seinen zerzausten Schädel, wo sein Haar grau, flaumig und sehr dünn geworden war.
„Ich hab es nicht ernst genommen, vielleicht dachte ich auch, ich hätte es geträumt. Außerdem“, sagte er, „hab ich ihn dir schon vor Wochen angeboten, was hätte ich noch tun sollen?“
Kieran betrachtete eingehend die auf dem Zaunpfosten abgestellte Kaffeetasse, beugte sich Tom entgegen und erwiderte: „Du hättest mir sagen können, dass Darren in dieses Pony vernarrt ist und dass er außerdem so gut reitet, dass er das nicht innerhalb von zwei Wochen gelernt haben kann. Du könntest mir jetzt erzählen, wie lange Darren bereits deine Ponys reitet.“
Tom druckste herum, bis er endlich damit rausrückte, dass er Darren am Anfang des Jahres, als er sich böse den Rücken ausgerenkt hatte, gebeten hatte, einen Teil der Stallarbeit zu machen und weil der Junge immer wieder vorbeigekommen war, um zu helfen, hatte er ihn auf die Ponys gesetzt.
„Er ist ein kleines Naturtalent,“ sagte er zur Erklärung, „er hat überhaupt nicht lange gebraucht, um sich im Sattel zu Hause zu fühlen und er hat ein Händchen für die Ponys.“
„Davon hat er uns nichts erzählt.“
„Entschuldige bitte“, erwiderte Tom leutselig, „aber er wird Angst gehabt haben, dass du es ihm verbietest. Und außerdem ist er keine Plaudertasche.“
Kieran widersprach nicht. Vermutlich hätte er Darren die Ponyreiterei wirklich verboten. Wie sollte der Junge begreifen, dass es wichtig war, zur Schule zu gehen, wenn er ihm gleichzeitig erlaubte, sich den lieben langen Tag bei den Ponys herumzutreiben.

Und was hast du jetzt vor, du Dummkopf

, dachte er, jetzt kaufst du ihn dieses verdammte Vieh.


„Das Problem ist, dass ich Tadhg bereits Baldrick angeboten habe und der kommt in einer Woche, um ihn abzuholen. Du wirst ihn im Preis überbieten müssen und das kann schwer werden.“
„Das werden wir sehen.“
Kieran sagte das sehr gleichgültig und besonnen. Tom beendete das dilettantische Herumreiten der Touristen, ließ sie absteigen und die Ponys in den Stall bringen. Kieran hielt ein Pony fest, während der Reiter absteigen wollte, es aber nicht schaffte, das rechte Bein über den Rücken des Ponys zu schwingen. Er wollte einfach nicht stehen bleiben, während alle anderen in Richtung Stall marschierten. Kieran hielt das Pony mit einer Hand am Zügel, ruckte einmal, als es wieder vorlaufen wollte und endlich konnte der Mann mit zitternden Knien absteigen. Er war einer der Experten, die behaupteten, reiten sei nicht anstrengend und das einfachste der Welt und Tom hatte ihm aus Gehässigkeit das sturste Pony gegeben, das er im Stall hatte.
„Laoise hätte uns einen Tee machen können“, sagte Tom, “aber sie ist nicht zu Hause, ist schon wieder unterwegs, um sich neue Schuhe zu kaufen.“ Er zwinkerte. „Hat sie jedenfalls behauptet.“
Vielleicht ist sie verknallt

, mutmaßte Kieran, sagte aber nichts, da Tom nicht in der Lage zu sein schien, die Stimmungen seiner erwachsenen Tochter zu verstehen. Oder er wollte sie nicht verstehen.
„Danke für die Einladung“, sagte er, „aber ich muss wieder nach Hause, Tom. Wenn du erlaubst, komme ich vorbei und rede mit dem Händler. Wir werden schon eine Lösung finden.“
Kieran fuhr nach Hause. Pol, Brendan und Christy saßen noch immer im Ryan’s, tranken und redeten. Michael kam herein, machte eine Begrüßungsrunde und setzte sich an die Theke, wo er sich ein Bier zapfen ließ. Tim hatte laute Rockmusik angemacht, was sein Vater nicht erlaubt hätte, und durch die jaulenden Gitarren und wummernden Bässe hindurch hatte Michael etwas Mühe, seine Bestellung aufzugeben. Nach dem ersten Schluck und dem genüsslichen Lippenlecken machte er eine Geste mit dem Zeigefinger, dass Tim die Musik leiser drehen sollte.
„Tim“, sagte er mit zurückhaltender Stimme, „dieser Christy geht mir nicht aus dem Sinn. Wenn du zufällig etwas von dem Gespräch der drei mitbekommst und es kommt dir komisch vor, dann sagst du es mir, Okay? Und wenn ich nicht erreichbar bin, kannst du es Kieran sagen.“
Tim lief hinter der Theke einmal auf und ab, nahm dort Gläser heraus und rückte auf der anderen Seite die Flaschen zurecht.
„Was ist Besonderes an dem Typen, dass ihr ein solches Interesse an ihm habt?“
„Das wissen wir noch nicht“, sagte Michael, wischte sich den Schaum aus dem Bart, „deshalb sollst du für uns die Lauscher aufstellen.“
„Obwohl ich nicht mal weiß, was los ist und was mir komisch vorkommen soll? Vielen Dank auch.“
Michaels Stimme wurde noch leiser und freundlicher, er legte den Kopf schief und sah Tim fest ins Gesicht.
„Du musst es nicht tun, Tim, niemand zwingt dich dazu. Wenn du von den dreien etwas hörst, was du beunruhigend findest, behalt es für dich, deine Entscheidung. Kein Problem.“
Tim nickte, polierte an den Gläsern herum, drehte die Musik wieder auf. Er mochte den Job im Pub seines Vaters wirklich, aber wenn ihm etwas auf die Nerven ging, dann war es diese Geheimniskrämer-Scheiße.

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Tag der Veröffentlichung: 07.04.2011

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