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Sorley O’Cearnaigh
Boglands



Als ich das erste Mal die Boglands sah, bin ich mit einer kleinen Propellermaschine über sie hinweg geflogen und ich war maßlos enttäuscht. Dichter Regen und Bodennebel verhinderten die Sicht auf die Landschaft, nicht einmal die Hügel und weitläufigen kahlen Berge der Region waren zu erkennen und ich betete nur noch, dass der Pilot, den ich durch die offene Kabine bei seiner Arbeit beobachten konnte (keine vertrauensbildende Maßnahme), wusste, wo er den Flughafen finden würde.
Nun, Flughafen war übertrieben, es war eher ein Landefeld mit angehängtem einstöckigem Gebäude, in dem die wenigen Fluggäste auf ihre Taxis oder Mitfahrgelegenheiten warteten. Das Gepäck wurde von einem jungen Mann, der das schnelle und effektive Arbeiten noch nicht erfunden hatte, aus der Maschine in das Gebäude getragen, wo wir unsere Koffer entgegennehmen konnten.
Ich war genervt an diesem ersten Tag. Am Flughafen in Dublin hatte ich vier Stunden warten müssen auf meinen Anschlussflug über diese vermaledeite Insel und ich hatte immer wieder daran denken müssen, dass mir meine Sekretärin geraten hatte, den Flieger zu nehmen, obwohl das Reisebüro behauptet hatte, der Überlandbus sei zwar länger unterwegs aber billiger.
„Chef“, hatte Syb gesagt und mich über ihre Brille hinweg tadelnd angesehen, „sie wollen doch nicht allen Ernstes in einem Bus reisen? Wozu bezahlt die Stiftung die Reise? Dass sie mit Hühnern auf dem Schoß reisen müssen?“

In dem Flugzeug hatten keine Hühner neben mir gesessen, dafür aber eine schnarchende alte Frau, die sich während der Flugzeit von einer Stunde die Schuhe ausgezogen hatte. Es hatte gerochen, als seien in ihren Socken kleine Tiere hineingekrochen und gestorben.
Ich nahm mir vor, Syb vom Hotel aus anzurufen und sie darum zu bitten, den Rückflug zu stornieren, ich würde eine Busfahrkarte lösen und mir das andere Extrem zufügen.
Das Taxi, das mich abholen sollte, ließ auf sich warten. Der junge Gepäckträger erklärte mir, es gäbe nur ein offizielles Taxi hier und vermutlich sei es irgendwo unterwegs, aber es würde sicher noch kommen. Ich habe allerdings auch die Möglichkeit, bei jemandem mitzufahren. Ich erwiderte säuerlich freundlich, dass ich nicht sechsundfünfzig Jahre alt geworden sei, um im morastigen Niemandsland mit dem Trampen zu beginnen.

Zwei Stunden saß ich fest, suchte vergeblich ein Netz auf meinem Handy, wünschte mir einen Kaffee, beobachtete durch das Fenster den Regen, der vergeblich versuchte, das Land zu überfluten und es zurück ins Meer zu spülen und dann kam endlich mein Taxi.
Der junge Mann kam von seinem Wagen bis zur Tür gerannt, rief mit heller Stimme meinen Namen und ich winkte.
„Auf geht‘s“, rief er, „wir sind spät dran.“
Er nahm mir meine Koffer ab und wir spurteten durch den Regen zum Wagen. Er war schlau genug gewesen, sich die Kapuze der Regenjacke tief ins Gesicht zu ziehen und ich war schlau genug, misstrauisch geworden bei dieser Stimme, mich bei ihm zu erkundigen, ob er schon alt genug für eine Fahrlizenz sei.
„Machen sie Witze?“ Er schlug die Tür zu und startete den Motor. „Wer braucht hier schon eine Lizenz?“
„Sie erscheinen mir zu jung … oh.“
Der Taxifahrer war eine Sie. Unter der Kapuze kam ein rundes Gesicht zum Vorschein, eine Wollmütze wurde nach hinten auf den Rücksitz geworfen und lockiges rotbraunes Haar kam zum Vorschein.
„Einmal zum Hotel, Mr. Palfrey, jetzt sind wir unterwegs. Ich wäre ihnen aber auch nicht böse gewesen, wenn sie mit den anderen mitgefahren wären. Hätte sie jeder da abgesetzt.“
Ich nickte nur und schnallte mich hastig an, als sie die geteerte Straße, von beiden Seiten eng umwuchert mit hohen Dornengebüschen und Hecken, entlangraste. Ihr Name war Oife und sie aß während der Fahrt Cashewkerne aus einer Tüte, die sie zwischen ihren Knien geklemmt festhielt.
„Eve“, sagte ich (die einzige Art und Weise, ihren Namen aussprechen zu können), „ich habe es nicht so eilig, wie sie vielleicht annehmen. Der Tag war schon hektisch genug und ich möchte nicht, dass sie wegen mir noch einen Unfall bauen.“
„Ich hab‘s auch nicht eilig“, rief Oife und setzte ihre rasante Fahrt fort, „machen sie Urlaub bei uns?“
Fast hätte ich gelacht. Sollte es wirklich Menschen geben, die in diese Gegend fuhren, um Urlaub zu machen? Ich erklärte ihr in einigen Worten, weshalb ich in der Gegend war und sie sah mich mit erstaunten Augen an. Ihre Augen waren grün, ihre Haut blass (vermutlich hatte in dieser Gegend seit sechzig Jahren keine Sonne mehr geschienen) und makellos.
„Wegen der Ponys sind sie hier“, sagte sie, „fabelhaft. Sam wird sich freuen.“
„Wer ist Sam?”
„Sam. Sorley. Sorley O‘Cearnaigh. Er passt auf sie auf.“

Das Hotel hatte ganze fünf Zimmer zur Verfügung und ich war der einzige Gast. Obwohl ich die Ausstattung und das Niveau eines B&B erwartet hatte, wurde ich angenehm überrascht. Die Dame am Empfang, Berta Murphy, Eigentümerin des Hotels, rief unverzüglich nach ihrem Sohn, der mein Gepäck aufs Zimmer brachte, notierte sich, wann ich am Morgen geweckt werden wollte, wann ich zu frühstücken gedachte und ob sie etwas Spezielles für mich zubereiten sollte. Sie sagte, Sam würde mich um zehn Uhr abholen, aber ich sollte mir keine Gedanken machen, wenn er sich verspätete.
„Aber er ruft an, wenn er sich verspätet“, sagte sie.
Ich kannte Sorley (oder Sam, wie sie ihn hier nannten) nur aus einigen Briefwechseln, aus den Projektberichten und hatte nur ein einziges Foto von ihm gesehen, wie er mit dem Rücken zur Kamera eine dunkelbraune Ponyherde durch ein Gatter trieb.
Mein Zimmer war klein, altmodisch aber gemütlich eingerichtet und der feuchte Geruch, der sich im ganzen Haus hielt, war hier nach einer Weile nicht mehr wahrnehmbar. Ich machte mir einen Tee, packte meine Koffer aus und legte mir die Projektberichte zurecht, die ich noch durchsehen wollte.
Mrs. Murphy überraschte mich mit einem reichhaltigen Snack aus Brot, Obst und einer Schüssel Eintopf, deren Zutaten ich nicht erraten konnte, der aber hervorragend schmeckte. Außerdem legte sie mir ans Herz, den nahen Pub zu besuchen, falls ich nicht zu müde sein sollte (es war sieben Uhr abends), um die Leute kennenzulernen. Ich versprach, darüber nachzudenken, aber der anhaltende Regen hinderte mich daran, an diesem Abend noch vor die Tür zu gehen. Ich würde einige Wochen hierbleiben und nur um herauszufinden, dass es in diesem Bogland-Pub keinen anständigen Rotwein gab, war immer noch Zeit genug.

Nach einer ruhigen Nacht, reichhaltigem Frühstück, einem erstaunlich guten Kaffee in Gesellschaft von Mrs. Murphys Söhnen und drei Landarbeitern, die sich ebenfalls zum Frühstück eingefunden hatten, nachdem sie mitten in der Nacht angekommen waren, zog ich mich so wetterfest wie möglich an und wartete in der Empfangshalle auf Sorley. Er war sogar eine viertel Stunde zu früh. Ich war noch in die Tageszeitung vertieft, bekam nur am Rande mit, wie Mrs. Murphy jemanden begrüßte, dann in meine Richtung wies und „Mr. Palfrey?“ rief.
Ich legte die Zeitung beiseite, erhob mich aus dem durchhängenden Sessel und stand zum ersten Mal Sorley gegenüber. Obwohl ich wusste, dass er sich bereits seit fünfzehn Jahren um diese Ponys kümmerte, war ich erstaunt darüber, wie jung er aussah. Er war groß, dunkelhaarig und schlank (schlank soweit man es unter dem traditionellen Wollpullover und der Wachsjacke, Gummistiefeln und Cordhose sagen konnte), und ihn umgab eine Duftwolke aus verbranntem Torf und energischem Pferdegeruch.
„Nett, sie kennenzulernen, Mr. Palfrey“, sagte er und seine Stimme war angenehm leise und klingend, behaftet mit einem schier endlos ausgeprägten Dialekt dieser Gegend und ich konnte mir gut vorstellen, wie er den ganzen Tag so mit den Ponys sprach, „wenn sie nichts dagegen haben, fahren wir noch bei der Post vorbei, bevor wir in die Boglands fahren. Meine Bücherbestellung ist angekommen.“

Er fuhr einen drecküberzogenen Geländewagen, dessen Originalfarbe nur an den Stellen zu erkennen war, wo er die Motorhaube geöffnet und dazu den Dreck abgewischt hatte. Die Stoßdämpfer waren hinüber und der ganze Wagen klapperte vor sich hin, aber immerhin lief er ordentlich. Die Post war im hinteren Eck des Supermarktes untergebracht, dort holte Sam sein Paket von Amazon.uk ab und nahm dann die Landstraße, die aus dem Dorf ins Moor führte.
An diesem Morgen regnete es nicht, aber es war kühl und windig, ich konnte das nahe Meer riechen und wünschte, ich wäre im Sommer hergekommen, dann hätte ich ein paar schöne Strandspaziergänge machen können. Aber die Universität hatte mich im Herbst in die Boglands geschickt, um meinen Bericht abzugeben, denn noch vor Weihnachten wurde das Budget neu vergeben und bis dahin sollte eine Entscheidung gefallen sein.
In meinem Ankündigungsschreiben an Sam hatte ich davon allerdings nichts geschrieben. Dort stand nur, dass ich als Projektleiter endlich einmal die Gelegenheit nutzen wollte, mir das Moor, die Landschaft und die Ponys einmal persönlich anzusehen.
„Und sie sind nicht hergekommen, um mir zu sagen, dass ich mich von meinem Job verabschieden kann?“ fragte Sam während der Fahrt. Das Fenster auf der Fahrerseite war herausgebrochen und der Fahrtwind wirbelte sein dunkles Haar durcheinander. Ich verneinte es.
Die Straßenverhältnisse wurden sehr schlecht, selbst als es noch Straßen waren, auf denen wir fuhren. Alle drei Meter waren tiefe Schlaglöcher, die wir umrunden mussten, häufig standen Schafe im Weg, die sich nicht weg hupen ließen. An einem Hof kam ein Hütehund aus der Einfahrt geschossen und Sam hätte ihn überfahren, wenn er den Wagen nicht scharf nach links gezogen hätte.
„Hat er‘s überlebt?“, rief er, ich drehte mich um und sah den Hund hinter unserem Wagen her hetzen.
„Ja“, sagte ich. Ich vermutete, dass Sam nicht angehalten hätte, hätte ich „nein“ gesagt.
Die Landschaft, die ich bisher nur von Fotos kannte, wurde atemberaubend. Vor meinem Auge entfaltete sich eine weit gezogene Landschaft aus Hügeln, grünen und braunen Kuppeln, durchzogen von Bächen und Rinnsalen, eine Mixtur aus wilder unberührter Landschaft und kleinen vereinzelten Beweisen, dass Menschen hier lebten. Winzige Steinhäuser mit Strohdächern, Weiden mit Schafen und Ziegen, mit Mauern aus losen aufgehäuften Steinen erbaut, schmale geschotterte Straßen. Und überall an den Straßen standen die Masten der Überlandstromleitungen.
Der Himmel war strahlend blau, allerdings nur für wenige Minuten, denn blitzschnell hatten sich dichte Wolken gebildet und ließen die Sonne wieder verschwinden.
„Ich hab extra für sie die Ponys auf eine der nahen Weiden getrieben“, sagte Sam, „wenn sie wollen, können sie bei der Wurmkur helfen.“
„Ich dachte, die Ponys sind wild.“
„Naja, anfassen kann man sie nicht.“
„Ich glaube, dann verzichte ich auf die Wurmkur.“
Sam grinste. Er bog auf einen kaum befestigten Streifen Land ab und nun waren wir inmitten des Moores, um uns herum waren nur noch vereinzelte Sträucher, die in dem morastigen Boden überlebten, ansonsten wuchsen nur noch hohes steifes Gras, Moorgewächse und Schilfgras. Selbst der Geruch hatte sich verändert.
„In der Station, die wir aufgebaut haben“, sagte Sam, „können sie sich die Unterlagen ansehen. Dieses Jahr haben wir drei Fohlen verloren. Eine Stute hatte sich im Draht schwer verletzt und hat verfohlt, die anderen beiden Fohlen sind zwei Monate nach der Geburt gestorben. Irgendein Infekt.“
„Von den Drahtschlingen habe ich in ihrem Bericht gelesen.“
„Sie hat mir zwei Finger gebrochen, bis ich sie aus der Schlinge hatte.“
Ohne zu Fuß durch das Moor laufen zu müssen, konnte ich die zusammengetriebenen Ponys begutachten und ich machte eine Menge Fotos. Diese Ponys waren klein und trotzdem nicht stämmig, sie waren flink auf den Beinen, trittsicher und aufmerksam.
Sam zeigte mir die Station, die kleinen Stallungen, das Büro und den Schuppen. Alles war unordentlich, aber die Berichte, die er mir übergab, waren in einem guten Zustand. Es gab nichts, was er nicht dokumentiert hatte.
Sonst hatte ich nichts dafür übrig, aber ich ließ mich dazu überreden, in den Pub zu gehen. Sam wollte, dass ich die anderen Männer kennenlernte, die ihm ab und zu bei den Ponys halfen und außerdem sagte er, sei es unhöflich, sich nicht einmal im Dorf vorzustellen und ein paar Geschichten aus der Universität zu erzählen. Er meinte, es gäbe Leute im Dorf, die glaubten, an einer Universität ginge es zu wie in dieser komischen Schule von Harry Potter. Er sagte das so ernst, dass ich nicht sicher war, ob er mich auf den Arm nehmen wollte.
Wie es schien, hatte sich das ganze Dorf im Pub versammelt, Jung und Alt hockten zusammen, tranken und stritten sich, Kinder liefen umher, Hunde kläfften sich unter den Tischen an. Wir fanden Platz im hinteren Teil des Pubs, Sam bezahlte die erste Runde.
Wir einigten uns auf Sam und Jack, stießen auf eine gute Zusammenarbeit an und allmählich gewöhnte ich mich wieder an den Geschmack von Ale. Über den Köpfen der anderen Gäste hinweg rief Sam nach zwei Männern, die gerade hereingekommen waren und sich zu uns setzten und denen ich ganz genau erklären musste, wie eine englische Universität dazu kam, das Zuchtprogramm von irischen Ponys zu unterstützen.
„Es sind ja nicht nur die Ponys“, begann ich, „wir unterstützen das Programm für eine Langzeitstudie über die Ansiedlung von ursprünglichen Ponyrassen auf moorigen Flächen. Es ist ein Problem, dass Moore, die in ihrer Ursprungsform erhalten bleiben sollen, von Bäumen und Sträuchern zuwachsen und dadurch verschwinden. Wir wissen von einigen Gegenden, in denen Schafe die Aufgabe übernehmen, gebietsfremde Pflanzen abzufressen und so zurückzuhalten, und hier in dieser Gegend haben wir dem Pony den Vorzug gegeben. Wir wussten, dass diese Ponys hier früher schon einmal angesiedelt waren.“
„Bis in die Vierziger hat es diese Ponys hier gegeben“, sagte Tomas, der sich als Pferdehändler vorgestellt hatte, „bis sie alle abgeschossen wurden.“
„Und Sam hat wirklich gute Arbeit geleistet, diese Herde aufzubauen und alles zu dokumentieren.“
„Als ich deinen Brief bekommen habe, hab ich zu den Jungs gesagt, jetzt haben sie doch noch jemanden gefunden, der meinen Job übernehmen will.“
Wir tranken eine Menge an diesem Abend und ich erinnere mich noch vage daran, wie zur späten Stunde Sam auf dem Tisch stand und einen Song von Luka Bloom sang – so schräg und voller Hingabe, dass alle am Boden lagen vor Lachen. Zur Sperrstunde wurden wir sozusagen auf die Straße gefegt, Sam brachte mich bis vors Hotel und versicherte, er könne noch nach Hause fahren. Die Zeiten, in denen er sich so besoffen hatte, dass er nichts mehr hatte sehen können, seien längst vorbei und er würde schon heil zu Hause ankommen.

Ich begann meinen Bericht, obwohl ich wusste, dass die Fakten, so gut sie auch aussehen mochten, keinen großen Einfluss mehr auf die Budget-Entscheidung hatten. Ich formulierte, formulierte um, fügte selbst geschossene Fotos bei und belegte mit Fakten und Zahlen, dass sich das Moor und das Umland bis in die kargen Berge hinauf in einem wunderbaren Zustand befanden, die Herde stabil war und alle Tiere gesund seien. Es sei eine richtige Entscheidung gewesen, die Junghengste jedes Jahr aus der Herde zu entfernen, um die Gruppe kontrolliert wachsen zu lassen. Sam kannte von jedem Tier die genaue Abstammung und Blutlinie, er hatte die Ponys der ursprünglichen kleinen Herde selbst zusammengekauft und ausgewildert.
Ich bemühte mich, nicht daran zu denken, dass ich es war, der ihm das alles wegnahm, denn so war es nicht. Ich war zwar der Projektleiter, aber die Entscheidung, dieses Projekt finanziell nicht mehr zu unterstützen, wurde eine Etage höher getroffen.
Das Problem war nicht, dass kein Geld mehr fließen würde. Die Ponys ernährten sich selbst, das Moor blieb das Moor, aber die Ponys gehörten der Stiftung. Sam hatte Geld bekommen, die Herde aufzubauen und jedes einzelne Fohlen, jede Stute und der Hengst gehörten der Universität. Ich konnte nicht absehen, was mit ihnen geschehen würde, wenn der Geldhahn einmal zugedreht war.

Drei Wochen lang arbeitete ich mit Sam zusammen, wir wanderten durch das Moor, fanden die Schlafplätze der Ponys, scheuchten seltene Tiere auf und während der ganzen Zeit sprachen wir nur selten über etwas anderes als über das Projekt. Ich fragte ihn, wie es seine Frau oder Freundin mit den Ponys und seinem abgeschiedenen Leben hielt und er sagte, seine Ex-Frau habe kein Problem damit.
Auf einem der Höfe in der Umgebung des Moores besuchten wir eine Familie und wurden sofort zum Tee eingeladen. Sie hatten einen der kleinen Hengste gekauft, inzwischen war er kastriert (was Sam „gelegt“ nannte) und war alt genug, um die Kinder durch die Gegend zu tragen. Es war ein freundliches und erstaunlich ruhiges kleines Pony. Die Großmutter der Familie erzählte, dass sie in ihrer Jugend selbst die Ponys im Moor beobachtet hatte, bis die Soldaten sich einen Spaß daraus gemacht hatten, sie als Zielscheiben zu benutzen und sie alle verschwunden waren.
Sie sagte, sie sei zusammen mit Sams Großmutter zur Schule gegangen, aber die habe sich nie etwas aus den Ponys gemacht.
„Den Pferdevirus habe ich von der Seite des Großvaters“, sagte Sam.

Es wurde Zeit für meinen Bericht. Ich zögerte die Versendung bis zur letzten Minute hinaus, telefonierte mit Syb, damit sie das Flugticket stornierte und spontan bat ich sie, auch das Ticket von Dublin nach London zu stornieren.
„Ich bleibe noch eine Weile“, erklärte ich, „es ist nicht fair, die Entscheidung am Telefon zu überbringen. Von der Stiftung wird kaum jemand herkommen wollen, um alles zu erklären.“
„Sie warten bereits auf ihren Bericht.“
„Sagen sie ihnen, er ist in der Post.“
Ich schrieb den Bericht an meinem Laptop, aber ich konnte im Hotel nicht ans Internet und so druckte ich alles auf Sams Drucker aus und tütete den Bericht ein. Ich musste eine Menge fadenscheiniger Ausreden erfinden, bis Sam scheinbar akzeptierte, weshalb ich den Bericht nicht über seinen Rechner per E-Mail verschickte.
Ich hatte kein gutes Gefühl, als ich den dicken Brief im Supermarkt am Postschalter aufgab. Sam kaufte ein paar Lebensmittel, plauderte mit der Kassiererin und ich sagte, ich würde hinüber in den Pub gehen und dort auf ihn warten.
Bei einem Kaffee an der Theke sortierte ich den Tascheninhalt meiner dicken Regenjacke und staunte darüber, was sich in den Wochen so alles angesammelt hatte. Vertrocknete Gräser, Pferdehaar, das ich von Zweigen gezupft hatte, Reste einer Drahtschlinge, die wir gefunden und zerstört hatten, ein herausgerissener Artikel aus der Zeitung, in dem es über den Torfabbau ging, dazu jede Menge Kleingeld und einige Pferdeleckerlis, mit denen ich die Ponys zu mir locken konnten. Sie waren wild, aber sie waren auch schlau und wussten, dass sie aus menschlichen Händen gefüttert wurden. Wenn man sich hinhockte und sich ganz langsam bewegte, konnte man einige von ihnen sogar kraulen.
„Nur nicht klopfen“, hatte Sam gesagt, „dann sind sie sofort weg.“
Das alles wird verschwinden

, dachte ich, sie werden die Ponys loswerden wollen.


Jemand setzte sich neben mich und ich erkannte Oife, die Taxifahrerin. Sie bestellte sich ein Guinness und nahm sich über die Theke hinweg eine Tüte Erdnüsse.
„Mr. Palfrey“, sagte sie, „ich habe gehört, sie machen Sam den Job streitig.“
Sofort hatte meine spärliche Kopfbehaarung Stehplätze. Ich suchte nach Worten, wühlte dabei die Utensilien in meine Jackentaschen zurück und Oife deutete mit dem Kinn auf meine Hände.
„Ich meine, sie arbeiten mit ihm zusammen, als würden sie hierbleiben wollen.“
„Nennen sie mich Jack, bitte. Ich bin sehr gerne in dieser Landschaft unterwegs, obwohl ich einen schlechten ersten Eindruck hatte. Mittlerweile könnte ich den ganzen Tag dort draußen verbringen und Fotos machen. Das Licht ist unglaublich, so etwas habe ich noch nie gesehen.“
Sie schnipste sich die Erdnüsse in den Mund. Dann sah sie mich forschend an und sagte: „Jack. Es geht doch darum, ob das Projekt weiter Geld bekommt oder nicht, oder?“ Sie ließ mich nicht zu Wort kommen. „Sam ist nicht auf den Kopf gefallen. Die Stiftung der Uni setzt sich jedes Jahr um die gleiche Zeit zusammen und dann entscheiden sie darüber und bisher ist noch nie jemand aufgetaucht und wollte nach dem Rechten sehen.“
„Ich bin nicht derjenige, der darüber entscheidet“, sagte ich und die Erwiderung fühlte sich falsch an. Ich versuchte mich rauszureden. Natürlich hatte ich nicht die Entscheidung, aber ich hatte es auch versäumt, mit offenen Karten zu spielen.
„Wieso wissen sie darüber Bescheid?“ Ich sagte das etwas zu barsch und auf diese Frage reagierte Oife mit einer hochgezogenen Augenbraue. Bevor sie zurückschießen konnte, tauchte Sam bei uns auf, gut gelaunt und offensichtlich bereit, den Abend und die halbe Nacht im Pub zu verbringen.
„Oife“, sagte er, „Licht meines Lebens, ich wusste nicht, dass ihr beiden euch kennt.“
„Ich habe Jack vom Flughafen gefahren“, sagte sie.
Sam orderte sich ein Guinness und für mich ein Ale und sagte: „Oife kommt rum in dieser Welt.“
„Und Sam kann sich noch immer wie ein Arschloch benehmen, wenn er sich Mühe gibt“, erwiderte Oife. Sie erhob sich von ihrem Hocker und drückte ihm einen dicken Kuss auf die Wange.
„Sie ist meine Ex-Frau“, erklärte Sam endlich und begann die Geschichte eines Mannes zu erzählen, der einmal verheiratet und dreimal geschieden war, eine Geschichte, die nur in Irland passieren konnte. Ich war froh darüber, dass das Thema Stiftung und Geld vorübergehend vom Tisch war. Der Pub war kein Ort, um mit Sam darüber zu sprechen.

Allerdings war das Moor auch kein passender Ort. Wenn wir unterwegs waren, Fotos machten, Pflanzen sammelten und ihren Standort dokumentierten, hatte ich mich noch immer zu sehr darauf zu konzentrieren, nicht in die Löcher zu treten und zu versinken und im Zweifelsfall den Weg allein zurückzufinden.
Die Ponys hielten sich meist am Rande des Moores auf, wie ich feststellte, sie kannten die sicheren Wege, aber sie nutzten sie nicht häufig. Allein die Tatsache, dass sie am Rand die Vegetation abfraßen, verhinderte, dass das Moor zuwuchs und damit erfüllten sie ihre Aufgabe.
Ich ließ den Zeitpunkt verstreichen, an dem ich Sam noch hätte erklären können, was vermutlich auf ihn zukam und womit ich rechnete, weil ich die Konfrontation mit ihm scheute und dadurch wurde alles noch schlimmer, als ich angenommen hatte. Möglicherweise hätte ich einen großen Teil des Unglücks verhindern können, wenn ich Sam von Anfang an die Wahrheit gesagt hätte.

So kam es, wie ich befürchtet hatte. Auf meinem schriftlichen Bericht folgte ein sehr knapper Brief der Stiftung, dass für das nächste Finanzjahr keine Unterstützung mehr genehmigt, das Projekt somit eingestellt war. Sam wurde aufgefordert, die technische Ausrüstung einzupacken und zurückzuschicken, außerdem würde die Stiftung dafür sorgen, dass die Ponys verkauft wurden. Weil mein Bericht alles andere als objektiv bewertet wurde, würde ein Kollege anreisen, um sicherzustellen, dass ich die Interessen der Universität korrekt vertrat.
Sam knallte mir den Brief an die Brust, setzte sich in seinen Wagen und brauste davon, ich blieb an der Station zurück und wartete darauf, dass er zurückkam. Ich fühlte mich hundeelend und glaubte, er würde in den Pub fahren und sich die Kante geben, aber er kam mit Tomas zurück, der noch einen Kollegen mitgebracht hatte. Er machte eine Kanne Kaffee und wir setzten uns in dem kleinen Raum der Station zusammen.
Die Fakten kamen unverblümt auf den Tisch. Einzig die Fohlen und die jungen Stuten hatte reelle Chancen, als Reitponys in die Umgebung verkauft zu werden, aber weder der Hengst noch die alten Stuten würden sich verkaufen lassen, es sei denn, man steckte sie in die Wurst. Sam sagte, dass er das nicht geschehen lassen würde.
Tomas sagte, er hätte kein Problem damit, die Ponys nicht übernehmen zu wollen, sollte die Stiftung auf ihn zukommen, aber es würde die Stiftung nicht daran hindern, alle Ponys in einen Transporter zu stecken und in den nächsten County zu fahren, um sie dort zu Geld zu machen.
„Ich würde sie alle kaufen“, sagte Sam, „wenn ich das Geld hätte. Alle mögen die Ponys, aber niemand wird auch nur einen Euro für sie geben.“
„Vielleicht sollten wir uns damit abfinden, dass wir sie nicht alle retten können“, sagte ich vorsichtig, „bring die Fohlen irgendwo unter und überlass den Rest der Herde den Händlern.“
„Das ist es nicht“, erwiderte Sam, „es sind nicht nur die Ponys, es ist unsere Geschichte. Wir lassen uns nicht noch einmal auf den Rücken pissen und uns erzählen, es würde regnen.“
Ich wusste, dass er zu waghalsigen Aktionen fähig sein würde, aber zu dem Zeitpunkt wusste ich nicht, wie weit er gehen würde.
Es ging plötzlich alles rasend schnell. Als stünde die Universität unter Zeitdruck und als sei es nicht genug, die Geldmittel zu kappen, tauchte innerhalb von zehn Tagen Dennis MacKay auf, der offensichtlich kontrollieren wollte, ob Sam auch ja kein Stück der Ausrüstung für sich behalten hatte. Die Ponys wurden wieder zur Station getrieben und Sam bestätigte, dass sie alle da seien. Zunächst versuchten mitgereiste Männer, die allein für die Ponys gekommen waren, die Herde in einen großen Transporter zu bekommen, aber sie mochten den Umgang mit normalen Pferden gewohnt sein, aber sie wussten mit den Wildfängen nicht umzugehen. Mit ihren lauten Stimmen und hektischen Bewegungen erschreckten sie die wilde Herde zu Tode. Sie bekamen die Ponys nicht einmal in die Nähe der Laderampe.
Sam und ich standen daneben und rührten keinen Finger.
Dann entschloss MacKay sich, eine öffentliche Versteigerung zu organisieren und die Ponys so loszuwerden.
Sam wurde beauftragt, sich bis dahin noch um die Ponys zu kümmern, er sollte ihnen Halfter überziehen, an denen Nummern befestigt waren, um die schwarz-braunen Viecher voneinander unterscheiden zu können.

Als Oife mich am nächsten Morgen zur Station fuhr, weil Sam mich trotz Ankündigung nicht vom Hotel abgeholt hatte, waren er und die Ponys verschwunden.
Sam hatte keine Nachricht hinterlassen, sein Rucksack und seine Ausrüstung fehlten und als Oife durch die direkte Nachbarschaft telefonierte, stellte sich heraus, dass er sich von einem Nachbarn ein Reitpony ausgeliehen hatte.
„Er ist weg mit ihnen“, sagte sie, nachdem sie über das Gelände gelaufen war, um nach Spuren zu suchen, was passiert sein könnte, „er muss sie wieder in die Berge getrieben haben. So ein Idiot.“
„Was sollen wir jetzt machen?“
Oife starrte mich an, überlegte nur sekundenlang. „Wir suchen ihn. Du bist mit ihm unterwegs gewesen und weißt, wo sich die Ponys in den Bergen aufgehalten haben.“
Sam hatte nicht nur seine Ausrüstung, sondern auch sämtliches privat erstelltes Kartenmaterial mitgenommen, deshalb waren wir auf meine eigenen Aufzeichnungen und auf mein Gedächtnis angewiesen. Mit Tomas Geländewagen fuhren wir so weit, wie es nur ging, ließen den Wagen dann stehen und folgten den Pfaden, die am Rande des Moores in die Berge führten.
„Warst du nie mit ihm hier? Vielleicht kennst du dich besser aus als ich“, sagte ich, „ich fürchte, ich könnte uns beide in die Irre führen.“
„Seit er damals zurückgekommen ist, ist er immer allein hier gewesen. Ich wollte unsere tote Romanze nicht wiederbeleben, falls es dich interessiert.“
Wir wussten, dass es reine Glückssache sein würde, wenn wir Sam oder die Ponys fanden, bevor die Händler sich etwas einfallen ließen und wir hatten beide nicht damit gerechnet, wie schnell sie reagieren würden.
Das Verschwinden von Sam und den Ponys war nicht lange geheim geblieben und fast augenblicklich hatten die Männer, die von der Stiftung angeheuert worden waren, einen Hubschrauber organisiert, weil sich niemand gefunden hatte, sie in die Berge zu führen.
Tomas, Oife und ich waren schon früh morgens in die Berge aufgebrochen, allerdings hatten wir keinen Hubschrauber zur Verfügung. Meine beiden Begleiter glaubten, ich könnte die Ponys finden, aber ich war sicher, dass sie sich irrten, denn ich konnte mich an die meisten Plätze zwar erinnern, aber nicht an die Wege dort hin, diese hatte ich nicht in meinen Notizen festgehalten.
Einmal in den Bergen gab es nur noch die schmalen Pfade, die von den herumstreifenden Schafen, Rehen und eben den Ponys getreten wurden, wir stolperten stundenlang durch gestrüppgesäumte Wiesen, über fast kahle Felsen, Hügel hinauf und Hügel hinab. Obwohl es hier durch das raue Klima keine ausgedehnten Wälder gab, standen wir dem Problem gegenüber, dass wir die Gegend nicht bis über die nächste Bergkuppe übersehen konnten und erst wussten, dass wir dort hinter Sam nicht finden würden, wenn wir oben auf dem höchsten Punkt standen, uns dann überlegen mussten, in welche Richtung wir weiter ziehen wollten. Irgendwann schmerzten mir Knie und Füße, mein Kopf pochte und ich wusste, dass wir uns hoffnungslos verlaufen hatten.
Das Geräusch des Hubschraubers, der beständig näher kam und dann über uns kreiste, einen Augenblick tiefer flog und uns in Augenschein nahm, erinnerte uns daran, dass sie die besseren Chancen hatten.
Dennis MacKay, mein Kollege von der Universität, extra angereist um klar Schiff zu machen, nachdem er meinen Bericht gelesen hatte und an den mein bitterböses Telefonat mit der Stiftung weitergegeben worden war, saß vorn neben dem Piloten, selbst auf die Entfernung konnte ich sein Grinsen erkennen.
Kriecht ihr da unten schön über die Flechten, schien er zu sagen, wir werden die Viecher eher finden, und wenn sie uns alle in eine Schlucht fallen und krepieren, solls mir recht sein.

Der Hubschrauber machte eine Schleife, stieg höher und verschwand, nur das Motorengeräusch blieb länger in der Luft. Es begann zu regnen und wir legten eine kleine Pause ein. Oife verteilte die mitgebrachten Sandwiches.
Deprimiert und zerschlagen hockten wir unter einem verkrüppelten windschiefen Baum, das Wasser rann an uns herab und keiner von uns sprach ein Wort. Im Augenwinkel bemerkte ich eine Bewegung, drehte langsam den Kopf und sah undeutlich den dunklen Kopf eines Ponys, das uns aus sicherer Entfernung beobachtete.
„Ich seh eins“, flüsterte ich, „was passiert, wenn ich aufstehe? Rennt es weg?“
Oife drehte langsam den Kopf und wisperte: „Das muss eines von den Fohlen sein. Vielleicht ist es von der Gruppe getrennt worden.“
Es war tatsächlich eines der Fohlen und es lief auch nicht davon, als wir uns erhoben und so langsam und vorsichtig wie möglich auf das Tier zugingen. Tomas stöhnte auf und fluchte und ich hatte schon eine launige Erwiderung auf den Lippen, als ich sah, weshalb er fluchte. Das Fohlen war von der Gruppe getrennt worden, weil es sich verletzt hatte. Sein rechtes Hinterbein sah aus, als sei es mit einem Spargelschäler bearbeitet worden, vom Sprunggelenk hinab hing die Haut in Fetzen. Es setzte den Huf nicht auf und versuchte auch nicht wegzulaufen, als wir näher kamen. Oife war den Tränen nahe.
„Sie muss irgendwo hängen geblieben sein“, sagte sie, „und in ihrer Panik hat sie sich losgerissen. Kein Wunder, dass sie mit den anderen nicht mehr Schritt halten konnte.“
Oife wollte das Fohlen berühren, es wich von ihr weg, auf drei Beinen humpelnd und wieherte mit heller klarer Stimme. Irgendwo aus der Nähe kam eine Antwort, aber wir vermochten nicht zu sagen, aus welcher Richtung oder wie weit weg die anderen Ponys waren. Dann hörten wir den Hubschrauber wieder und ein anderes Geräusch, was uns veranlasste, dem undeutlichen Pfad zwischen den Hügeln zu folgen und einen Weg nach oben zu suchen. Es waren Schüsse.

Vom Hügel aus sahen wir hinunter in ein enges Tal, durchzogen von einem zugewucherten Bach, dichten Gestrüpp und wenigen Krüppelkiefern, der Boden war morastig und mit Schilf und Rietgras bewachsen. Bei den Bäumen stand eine kleine Gruppe Ponys, der Hengst war unter ihnen, der in deutlicher Panik seine Stuten umkreiste und sie zusammenzuhalten versuchte. Der Hubschrauber kreiste über sie hinweg, hatte aber keine Möglichkeit zu landen in dem Gelände, zumindest nicht in unmittelbarer Nähe. Das Wetter war so schlecht, dass wir kaum etwas sehen konnten, als wir rutschend und halb fallend den Hügel herunterliefen, Oife voran, Tomas hinter ihr und ich selbst hatte Mühe, mit ihnen Schritt zu halten. Mein Herz raste und wenn ich Zeit gehabt hätte, darüber nachzudenken, hätte ich mir ernsthafte Sorgen um meine Gesundheit gemacht. Sportlich war ich nie gewesen und es schien, als würde sich das nun rächen.
Von Seitenstechen ist noch niemand gestorben, hatte mir irgendjemand mal erzählt, aber die Symptome, die ich im Laufe dieses Tages entwickelt hatte, waren keine Seitenstiche. Gott sandte immer eine kleine Warnung und man trug selbst die Schuld und musste mit den Konsequenzen leben, wenn man sie ignorierte. Trotz des Flatterns in meiner Brust rannte ich den Hügel hinunter, hinein in den Bodennebel, den plötzlichen Regen und dem Dämmerlicht. Diese feuchte Luft konnte ich kaum atmen und ich zwang mich, langsam zu gehen, als der Boden wieder eben war. Meine Schuhe versanken in dem Morast, ich hatte das Gefühl, die Füße nicht mehr aus dem saugenden Boden herausheben zu können, aber irgendwie schaffte ich es. Das Flattern in meiner Brust breitete sich auf den Arm aus und wurde zu einem Stechen. Ich ignorierte es, denn plötzlich war ich umgeben von rennenden Ponys, panisch aufgerissenen Augen, wehenden Mähnen und vor Schweiß dampfenden braunen und schwarzen Körpern. Sie stießen sich gegenseitig an, schubsten sich, ich wurde ebenfalls umgerannt und strauchelte. Ich mühte mich wieder auf die Beine, versuchte, aus dem Pulk herauszukommen, dann war plötzlich Tomas neben mir, der mich an der Schulter packte und mich wegzerrte. Er lief mit ruderndem freiem Arm durch die Ponys, die vor ihm wegwichen.
Und über all dem drehte der Hubschrauber seine Kreise, kam tiefer, flog wieder höher und sorgte für ein akustisches Hölleninferno.
Tomas schrie mir ins Ohr, den Mund dicht an meinem Kopf: „Die Bastarde versuchen den Hengst abzuknallen, damit sie die Herde aus den Bergen treiben können.“
Ich wischte mir den Regen aus den Augen, entdeckte da erst, dass ich meine Brille verloren hatte. Meine Sicht war milchig und verwaschen. Das, was ich trotzdem sah, ließ meine Knie weich werden. Wieder hörten wir Schüsse, ich sah eines der Ponys im Nebel straucheln und stürzen, zwei andere fielen über ihm hinweg, kamen wieder auf die Beine und rannten weiter, versuchten einen kleinen Hügel zu erklimmen, von dem der Hubschrauber sie wieder herunterjagte. Ich sah drei Ponys tot am Boden liegen, Köpfe und Beine verdreht, die Körper noch immer dampfend, darunter eines der Jährlinge.
Wo steckt Sam?

dachte ich, er hat die Ponys doch nicht allein gelassen. Er hat sie doch nicht hier in die Berge gebracht und gehofft, sie würden verschwinden.


Oife war auf einen der Hügel geklettert, stand dort oben und winkte, sie schrie verzweifelt, dass sie aufhören sollten zu schießen, aber sie hörten erst damit auf, als Sam mit dem Gewehr unter den Bäumen auftauchte, im Nebel nur undeutlich erkennbar in seiner dunklen Kleidung, auf den Hubschrauber zielte und schoss.
Später behaupteten der Hubschrauberpilot und Dennis MacKay, Sam hätte die ersten Schüsse abgegeben und sie hätten nur versucht, sich zu verteidigen, sie hätten niemals vorgehabt, die Ponys zu töten, aber in der lokalen Presse wurde das als „selten faule Ausrede“ betitelt.
Der Pilot war angeheuert worden, die zwei Männer, Dennis MacKay und den Tierfänger in die Berge zu fliegen, die Ponys zu finden und zu versuchen, sie mit dem Hubschrauber aus dem unwegsamen Gelände zurück zur Station zu treiben, wo die beauftragten Händler bereits warteten.
Tatsache war, dass Sam ein Gewehr bei sich hatte, als er mit den Ponys in die Berge verschwunden war, aber die meisten Männer in dieser Gegend hatten Gewehre, weil sie Kaninchen damit schossen. Er hatte gesagt, er würde die Ponys mit allen Mitteln verteidigen und das hatte er auch getan.

Ob er selbst gewusst hatte, wie es enden würde, kann ich nicht sagen, aber ich bin mir sicher, dass Oife es in der Sekunde wusste, als er den ersten Schuss auf den Hubschrauber abgab. Sie rannte den Hügel hinunter, ihre Schuhe verfingen sich und sie stürzte kopfüber in das Rietgras, kam wieder hoch, rannte weiter auf ihn zu und schrie, aber Sam sah nicht einmal in ihre Richtung. Hinter ihm galoppierte das gefleckte Pony davon, das er sich ausgeliehen hatte und auf dem er die Herde begleitet hatte, er wandte nur kurz den Kopf, machte einige Schritte nach vorn und sah nach dem Hubschrauber. Er legte erneut an. Ich habe in Erinnerung, dass ich sein blasses und konzentriertes Gesicht deutlich sehen konnte, als stünde er direkt vor mir, obwohl das unmöglich war in diesem Moment, da ich meine Brille verloren hatte und ich dachte: Wie kann er ohne zu zögern auf den Hubschrauber schießen?


Plötzlich war Sam inmitten der panischen Ponys, die ihm auszuweichen versuchten, und der Hengst, vor Schweiß schäumend, galoppierte auf ihn zu, stieß ihn mit der Seite an der Hüfte an und Sam ging zu Boden. Ich kann nicht sagen, ob in diesen Minuten der wahnsinnigen Ereignisse noch einmal Schüsse aus dem Hubschrauber abgegeben wurden; ich hörte nur noch das Rauschen des Blutes in meinem Kopf und konzentrierte mich darauf, nicht ohnmächtig zu werden.
Vom Boden aus, als könne er durch den Schlag des Ponys nicht mehr aufstehen, schoss Sam wieder in die Luft und er schaffte es, die Ponys von sich wegzutreiben. Sie flohen vor ihm, getrieben von dem Hengst, der sie mit letzter Kraft durch die Senke und durch den Bachlauf hindurch weiter bergab trieb, hinein in die schützenden tief hängenden Wolken. Nur die toten Ponys blieben zurück und Sam, der sich auf die Knie mühte, das Gewehr neben sich, aber nicht weiter hochkam. Oife erreichte ihn, versuchte ihn hochzuziehen, aber auch sie schaffte es nicht.
Tomas zerrte mich durch den tiefen Boden, aus dem ich meine Füße kaum noch heben konnte und fluchte, dass ich mich nicht schneller bewegte und es schienen Stunden zu vergehen, bis wir endlich bei Oife und Sam ankamen.

Sam sah fürchterlich aus. Er war durchweicht und schlammüberzogen und zunächst glaubte ich, das viele Blut sei von einem von den Ponys, aber wie Oife seine Schultern umklammert hielt und ihn an sich drückte, er darauf nicht mehr reagierte, wussten wir alle, was los war.
Oife flüsterte auf ihn ein und ich verstand kein Wort davon, ich hockte neben den Beiden, und während ich noch durch meine eingeschränkte Sicht und meinem schlechten Zustand zu begreifen versuchte, was überhaupt geschehen war, verloren wir ihn. Sam verblutete und wir konnten nichts dagegen tun. Oife wollte ihn nicht mehr allein lassen, sie murmelte, sie würde bei ihm bleiben, während wir Hilfe holen sollten, obwohl es für Hilfe längst zu spät war.
„Ich bleibe auch hier“, wollte ich sagen, aber die Kraft hatte ich nicht mehr. Als ich das Einschussloch in seiner Jacke sah, Oife hielt ihre Hand auf seinen Bauch gedrückt, Sams ausdruckloses Gesicht, überzogen von Blut und Dreck, gingen bei mir die Lichter aus.

Im Krankenhaus bestätigte man mir einen gottlob leichten Herzinfarkt, ich wurde mit Untersuchungen und Medikamenten belästigt und erst entlassen, als ich einen Wisch unterschrieb, der die Ärzte von jeder Verantwortung entbanden. Als wenn diese Leute jemals für etwas, was sie taten oder nicht taten, Verantwortung übernommen hätten.
Oife besuchte mich und sie hielt mich auf dem Laufenden, sie war damit beschäftigt, Sams Haus zu räumen und sich um alle anderen Angelegenheiten zu kümmern. Ich kann nicht sagen, ob sie ihre Finger im Spiel hatte, als die Ponys versteigert wurden.
Die Kugel, die Sam getroffen hatte, hatte seine Baucharterie verletzt und selbst, wenn wir ihn rechtzeitig in ein Krankenhaus hätten bringen können, wäre er gestorben, das jedenfalls erzählte man uns. Die Sache wurde als Unglück bezeichnet, man habe versucht, die Ponys wegzutreiben und es müsse ein Querschläger gewesen sein.
„Wenn, dann waren es eine Menge Querschläger“, sagte ich, „schließlich haben sie auch drei der Ponys abgeknallt.“
Sie hatten nur einen Teil der Herde wiedergefunden, fünf Stuten und die Jungtiere. Der Hengst und die anderen Stuten waren verschwunden, man nahm an, dass sie ins Moor gelaufen und ertrunken waren in ihrer Panik.
Der gescheckte Wallach hatte den Weg allein aus den Bergen gefunden und war zwei Tage später wieder bei seinen Besitzern vor der Tür gestanden.
Händler, Kaufwillige und Schaulustige tauchten am Morgen der Versteigerung auf, Tomas und Oife waren dabei und ich wurde ständig daran erinnert, mich ja zu schonen und ständig wurde mir ein Stuhl unter den Hintern geschoben. Ich fühlte mich nicht gut, aber das lag nicht an dem Infarkt, den ich überlebt hatte.
Die kleine Herde wurde begutachtet, eingeschätzt und es war offensichtlich, dass die ortsfremden Händler zwar nicht viel Interesse an den Tieren, aber das meiste Geld in den Taschen hatten. Es war ihnen egal, was aus den Ponys wurde.
Es war noch eine halbe Stunde bis zur Versteigerung, noch immer fanden sich Zuschauer auf der Station ein, unter ihnen auch zwei Männer, die in einem roten Ford gekommen waren, die scheinbar nebensächlich mit den Händlern sprachen, dabei rauchten, und ohne viel Worte, ohne viel Aufwand, eine seltsame Atmosphäre verbreiteten. Ich beobachtete, wie einer der Händler, der noch vor zehn Minuten deutliches Interesse an den Ponys gehabt hatte, seine Autoschlüssel herauskramte, zum Parkplatz ging und davonfuhr. Die beiden anderen Händler diskutierten miteinander, nachdem der Mann mit ihnen gesprochen hatte, stellten sich abseits der anderen und schienen unsicher darüber, was sie tun sollten.
„Was passiert hier?“ fragte ich. Oife machte ein finsteres Gesicht, sagte, ich solle auf meinem Stuhl sitzen bleiben und mich raushalten. Sie diskutierte heftig und wütend mit dem Mann, den sie auf dem Parkplatz abfing, wo er zurück zu seinem Kollegen wollte, der bei dem alten Ford wartete, er hörte ihr aufmerksam zu und ich hatte den Eindruck, er sagte nur einen einzigen Satz, der Oife sofort zum Verstummen brachte.
Sie kam zu mir zurück, und als ich fragte, was los sei, sagte sie: „Alles in Ordnung.“
„Was ist in Ordnung?“
„Das geht uns jetzt nichts mehr an.“
Es endete damit, dass die Versteigerung kaum fünf Minuten dauerte. Die beiden verbliebenen Händler gaben ein erstes Gebot ab, wurden von dem Mann aus dem roten Ford überboten und gaben auf. Die Ponys gingen für einen lächerlichen Preis an den Mann, der dem Auktionator das Geld gab, ihm die Hand schüttelte und dann ohne sich um die Ponys zu kümmern, in den Ford stieg und mit seinem Kollegen davonfuhr.
In der Zeitung stand, eine private Organisation habe die Ponys ersteigert , und dass alle froh und dankbar waren über diesen guten Ausgang, aber dort stand nichts darüber, was die Organisation mit ihnen vor hatte, und wohin man sie bringen würde.
Ich wollte bis Sams Beerdigung bleiben. Am Vorabend lud Oife mich in Sams Haus ein, wo sie alles in Kartons und Kisten gepackt hatte, wir saßen bei einem Tee zusammen und sie sagte, es sei möglicherweise keine gute Idee, auf die Beerdigung zu gehen.
„Sam hieß er schon als Kind“, sagte sie, „niemand hat ihn Sorley genannt. Seine Eltern sind schon lange tot und alle Geschwister haben die Gegend verlassen. Vermutlich glauben sie, dass Sam nicht alle Tassen im Schrank hatte, weil er hierhin zurückgekommen ist damals. Er hat Biologie studiert und sich auf Botanik spezialisiert und hätte einen guten Job bekommen, wenn er gewollt hätte. Nach dem Studium ist er dann verschwunden. Eines Tages war er weg, als habe sich der Boden unter ihm geöffnet und eines schönen Tages war er wieder da. Er stieg aus dem Bus, fragte, ob er bei mir übernachten dürfe und ich habe ihn rein gelassen. Sein Haar war verbrannt und er sah aus, als habe er drei Jahre lang nichts zu essen bekommen, aber er hat mir nie erzählt, was er angestellt hatte. Natürlich habe ich ihn wieder rein gelassen, auch, wenn wir nicht mehr verheiratet waren. Es ist ein Segen, dass wir uns auch scheiden lassen dürfen in diesem Land, sonst wäre er vermutlich gar nicht mehr zurückgekommen.
Er hat für die Bauern Schafe gehütet, als Landarbeiter gearbeitet und bei einem der Pferdehändler ausgeholfen. Bis er dann über Tomas die Aufgabe bekommen hat, ein paar der Ponys ausfindig zu machen, sie zu kaufen und auszuwildern. Sam konnte ein solches rechthaberisches Arschloch sein, aber wenn er mit den Ponys arbeitete, war er ein anderer Mensch. Ich weiß, dass er sich mit seinem Vater gestritten hat, bevor er verschwunden ist und ich möchte nicht aussprechen, was wir alle vermuteten, denn hier in dieser Gegend spricht niemand darüber. Jack, die beiden Männer, die die Ponys gekauft haben, werden sie wieder in die Berge schicken. Wenn der Hengst noch lebt, wird er seine Herde wieder zusammenführen. Diese private Organisation, von der in der Zeitung die Rede war, kümmert sich darum, dass das Moor so erhalten bleibt, wie es ist, aber ich werde nicht über die Beweggründe sprechen. Ich weiß selbst zu viel darüber und will darüber nicht nachdenken müssen. Sie werden zu seiner Beerdigung kommen, vermutlich werden sie stumm und unauffällig am Rande stehen, aber sie werden da sein.“
„Weshalb soll ich ihnen nicht begegnen?“ fragte ich.
Oife trank ihren Tee und sagte: „Ich habe schon viel zu viel gesagt.“

Ich ging zur Beerdigung, beobachtete die Freunde, Nachbarn und alle anderen, die erschienen waren, das ganze Dorf war versammelt, und wie Oife gesagt hatte, tauchten die beiden Männer auf, diesmal in schwarz gekleidet. Sie sprachen kein Wort, standen mit verschränkten Händen am Rande und erwiesen Sam die letzte Ehre.
Oife weinte die ganze Zeit.

Ich fuhr wirklich mit dem Überlandbus nach Dublin, nahm das Flugzeug nach Hause. Ich hatte nicht vor, meinen Job für die Universität zu gefährden, aber ich machte einen Heidenaufstand, als es darum ging, das Projekt natürliche Moorerhaltung als „perfekt abgeschlossen“ einzustufen. Kollege Dennis MacKay vertrat die Meinung, er habe korrekt gehandelt, und damit ich ihn nicht mehr zu sehen brauchte, unterzog ich mich einer gründlichen Nachuntersuchung und ließ mich für die nächsten zwei Monate krankschreiben.
Ich fand heraus, dass die wieder freigelassenen Ponys, die Stuten und der Hengst, der wieder aufgetaucht war, ungehindert durch die Berge zogen und ab und zu am Rande des Moores von den Farmern gesehen wurden. Ich hörte von Gerüchten, dass in den Bergen Geheimverstecke angelegt seien und da ich nichts anderes zu tun hatte, ging ich diesen Gerüchten nach und fand einiges heraus von dem, was Oife mir nicht hatte erzählen wollen.
Sam hatte in den Bergen nicht nur auf die Ponys achtgegeben. Er hatte dort die Möglichkeit gehabt, unauffällig nach den Verstecken zu sehen, die dort gelagerten Dinge an Dritte zu übergeben oder neue Verstecke anzulegen, was gerade notwendig war. Er hatte selbst gesagt, dass es nicht nur um die Ponys ging, es ging um mehr.
Ich begriff erst viel später, in was er verwickelt gewesen war, als im Rahmen der Friedensgespräche und Abkommen einige der Waffenverstecke ausgehoben und deren Inhalt vernichtet wurde.
Nach meiner Wiederherstellung reiste ich noch einmal in die Gegend und traf mich mit Oife. Sie sagte, sie habe die meisten Sachen von Sam behalten, und als ich sie darum bat, mir einige Dinge zu bestätigen, sagte sie: „Wenn ich nichts darauf sage, kannst du davon ausgehen, dass du recht hast.“
Ich fragte, ob die Republican Army die Ponys gekauft hatte, um ihre Verstecke zu schützen, ich fragte, ob Sam einer von ihnen gewesen sei und sie sah mich nur an und sagte nichts.
Ich schätze, das die einzig verdammt gute Sache, die die Army jemals getan hat.

Impressum

Texte: Cover: mit Genehmigung der Fotographen Daniele und Jade(www.morguefile.com)
Tag der Veröffentlichung: 31.03.2011

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