Enniskillen
Kieran hatte nie klar ausgesprochen, was er tat, und auch diesmal machte er nur Andeutungen, aber er sagte sehr deutlich, dass er nach Enniskillen musste, um ein paar Dinge zu klären, und wenn es ganz schlecht lief, könnte es sein, dass er für einige Zeit nicht nach Hause käme. Sie tranken zügig ein Glas nach dem anderen. Brendan konnte sich die Frage, die ihm auf der Zunge lag, gerade so lange verkneifen, bis ihn das vierte Guinness alle Vorsicht vergessen ließ.
„Was bedeutet das, dass du nicht zurück nach Hause kommst? Tauchst du irgendwo unter, weil du dich vor deinen Kollegen verstecken musst, oder haben sie dir dann direkt ’ne Kugel verpasst?“
„Niemand wird mir eine Kugel verpassen, Brendan.“ Er dachte an die Arbeit eines Snipers, der ohne Warnung aus dem Hinterhalt schoss, immer mit der Absicht, tödlich zu treffen. Bei den Treffen beobachteten sie ihn sicherheitshalber, bevor sie Kontakt aufnahmen. Es war nicht vollkommen abwegig, dass sie statt dessen einen Sniper, einen naoscaire
auf ihn ansetzten in Enniskillen. Aber er hoffte, es würde nicht so sein.
„Es geht einzig und allein um die Schulsache und nur, wenn ich niemanden auf meiner Seite weiß, tauche ich unter. Wenn ich das tue, ist es nur das Beste für euch.“
„Wird jemand auf deiner Seite sein?“ Es war nicht nur das vierte Guinness, was Brendan feuchte Augen machte; er war wirklich in Sorge.
„Ich gehe nach Enniskillen, um das herauszufinden.“
Sie tranken zwei weitere Pints und zum ersten Mal wagte Brendan von Lilian und ihm zu erzählen, wie tief die Gefühle waren, trotz des ständigen Ärgers und der Zweifel, die sie immer wieder hatten. Mittlerweile hielt er das Glas mit beiden Händen, lag mit dem Oberkörper fast auf dem Tisch und war dabei vollkommen überzeugt, noch nüchtern zu sein. Er redete leidenschaftlich von Lilian, die nicht nur einfach ein Mädchen sei, sondern das Mädchen, ohne das er nicht mehr leben konnte. Er würde sich nie von ihr trennen.
Kieran, selbst nicht mehr nüchtern, hörte sich die Geschichte freundlich an und erinnerte sich an das Gefühl, das er einst für Moira gehabt hatte, eigentlich seit dem ersten Augenblick, als er ihr in dem Zug begegnet war. Mit den Jahren hatte es nachgelassen, hatte sich verändert, aber ein Rest davon war noch immer vorhanden.
„Soll ich dir erzählen, wie ich Moira kennengelernt habe?“, fragte er. Die ganze Geschichte hatte er den Jungs nie erzählt.
Am Morgen standen sie mit dicken Schädeln auf; Brendan hatte einen Aushilfsjob bei einem Getränkehändler in Pettigoe angenommen, Kieran musste nach Enniskillen.
Auch Darren war früh wach, hatte sich seine Sporttasche gepackt und sie wie einen Rucksack auf den Rücken geschwungen. Moira fragte ihn, ob er etwas Besonderes vor habe und er nickte und brachte in Bruchstücken hervor, dass er ein Picknick auf der Ponywiese machen wolle. Er habe seinen Zeichenblock und seine Stifte eingepackt, um Bilder von ihnen zu malen. Moira sagte, dass sie diese Idee ganz hervorragend fand, packte ihm noch ein paar Scheiben selbstgebackenes Brot ein, die Darren verschämt annahm. Er umarmte sie und rannte nach draußen.
Tom und Laoise würden keinen Verdacht hegen, denn er kam oft am frühen Morgen vorbei, um sich um Tadhg zu kümmern. Er hatte die Zeit auf seiner Seite. Bis zum späten Nachmittag würden sie ihn nicht vermissen und bis dahin war er schon so weit weg, dass sie ihn nicht finden würden.
Tadhg war gut im Training, er hatte längst keinen Weidebauch mehr und hatte ein gut bemuskeltes Hinterteil entwickelt. Zunächst hatte Darren überlegt, in der Nacht aufzubrechen, aber er konnte das Pony nicht im Dunklen über die Feldwege laufen lassen, ohne einen Sturz zu riskieren und er würde nur sehr langsam vorankommen.
Laoise schlief noch, in ihrem Zimmer war kein Licht und alles war still, als Darren den Hof betrat. Tom rumorte in der Küche, das Radio plärrte Nachrichten und Musik heraus. Darren betrat den Stall und holte Sattel und Zaumzeug, füllte sich so viel Hafer in einen Beutel, den er mitgebracht hatte, wie hineinging.
Tadhg war mit den anderen Ponys auf der Weide, stand in einer windgeschützten Ecke mit ihnen zusammen und döste. Wie bei den meisten ursprünglichen Connemaras kam seine Klasse erst zum Vorschein, wenn man ihn am Sprung oder bei der Jagd unter dem Sattel sah – auf der Weide sah er aus wie eines der gewöhnlichen Ponys, die kaum in der Lage waren, drei klare Gangarten zu zeigen.
Als Darren durch die Zähne pfiff, dabei innerlich zitterte vor Angst und Anspannung, hob das Pony den Kopf, senkte ihn wieder und kam zu ihm ans Tor getrabt. Darren hatte ihn nicht nur geritten, er hatte ihm auch einige schlechte Manieren anerzogen. Wenn man ihn von der Weide holen wollte, ließ er sich das Halfter nicht überziehen, wenn er vorher nicht ein Stück Zucker oder eine Möhre bekommen hatte; er hob einfach den Kopf in die Höhe und drehte einem den Hintern zu. Darren gab ihm die Möhre, schob ihm das Halfter über die Ohren und führte ihn durch das Tor, auf der anderen Seite sattelte er ihn und zog ihm die Trense über, führte ihn bis an den Rand der Wiese, wo die Straße begann. Tadhg kannte alle Wege im Umkreis der Farm, war offensichtlich einverstanden mit ein wenig Morgenarbeit. Darren zog sich in den Sattel, sah sich durch den Morgennebel um, ob ihn jemand beobachtete, und ließ Tadhg am langen Zügel lostraben.
Es ist falsch, was ich mache
, dachte er zitternd und weinend, zu Hause sind sie in Panik, wenn sie merken, dass ich weg bin. Aber Tadhg gehört doch mir.
Zunächst trabte er nur die Landstraße entlang, dann bog er auf einen Feldweg ab, ließ Tadhg in einen leichten Galopp fallen, stellte sich dabei wieder vor, er sei in einem Steeplechase Training, stellte sich in die Steigbügel und beugte sich nach vorn über den Ponyhals. Tadhg galoppierte wie ein guter Hunter es tun sollte, in weitgreifenden Sprüngen, ohne zu straucheln oder zu stolpern oder in einen übereilten Trab zu fallen. Der Morgen war kühl und feucht, das perfekte Wetter für einen Morgengalopp auf gewohnter Strecke, und als sie die Kreuzung erreichten, an der sie gewöhnlich umdrehten und nach Hause ritten, ließ Darren das Pony anhalten. Er sah sich einen Moment um, trieb es dann geradeaus weiter, nachdem er sich entschieden hatte, welchen Weg er nehmen wollte. Er weinte nicht mehr, konzentrierte sich auf das Ziel, was er vor Augen hatte und je weiter er kam, desto sicherer war er sich, dass er es schaffen würde.
Tadhg war aufmerksam und vorsichtig, als sie unbekannte Wege betraten, wurde nur einmal etwas schneller, als von hinten auf einer Weide Kühe angaloppiert kamen.
Vor Enniskillen kam keine Kontrollstation, man sagte von der Stadt, dass sie ruhig sei, obwohl das nicht immer zutraf. Vor einiger Zeit war in einem großen Hotel eine Bombe explodiert, wobei nur Sachschaden entstanden war, aber Aufregung und Entrüstung waren groß gewesen.
Kieran fuhr mit dem Linienbus bis zum Busbahnhof, schlenderte mit einem Softeis durch die hübsche Einkaufstraße, besah sich die Schaufensterauslagen und kaufte eine Kleinigkeit im Supermarkt. Wie immer hatte er beide Sorten von Kleingeld in der Tasche, fühlte sich trotzdem unsicher und beobachtet, als er unter dem Neonlicht an der Kasse stand und die irischen Münzen auf seiner Handfläche aussortierte. Sie mochten in den Supermärkten leisen Irish Folk aus den Lautsprechern rieseln lassen, aber sie waren nicht irisch. Enniskillen war ebenso britisch wie London oder die Queen.
In dem Pub, in dem ihre Treffen stattfanden, setzte Kieran sich an die Theke, fragte, ob der Barkeeper seine Lebensmittel in den Kühlschrank legen würde und reichte ihm die Tüte über die Theke. Er bestellte sich ein Wasser und einen Whiskey, sie plauderten über dies und das und Kieran behauptete, der Mann seiner Schwester würde ihm einen Job am Bau beschaffen, aber diesen Kerl habe er noch nie leiden können und er könne sich nicht vorstellen, dass daraus was werden würde.
„Bis vor zwei Jahren hab ich bei einem Bestatter gearbeitet“, sagte Kieran, sein Akzent unterschied sich gewaltig von dem, mit dem ihn die Leute zu Hause kannten, „ich hab die armen Teufel gewaschen, angezogen und aufgebahrt. War kein schlechter Job. Kein Kunde, der sich jemals beschwert hätte. Wenn die Angehörigen kamen, und man hatte seine Sache gut gemacht, konnte man noch ein traurig-feierliches Gesicht machen und dann gab’s noch Trinkgeld. Ich kann mauern und Dächer decken, aber ich weiß nicht, ob ich mit diesem Arsch von Besserwisser zusammenarbeiten kann.“
Kieran sah auf die Uhr und meinte, er habe noch eine Stunde, bis sein Schwager auftauchen würde, und orderte sich einen zweiten Whiskey.
„Betrunken wird er sie nicht mit aufs Dach nehmen“, wagte der Barkeeper zu bemerken.
„Was erwartet er denn, wenn er mich in einem Pub warten lässt?“ erwiderte Kieran aufsässig.
Bei jedem Gast, der hereinkam, drehte er sich halb auf dem Barhocker herum, grinste dem Mann hinter der Theke dann halb verzweifelt entgegen.
Als Malcolm in der Tür erschien, in einem viel zu dicken Mantel und deshalb schwitzend, sich kurz umsah und nach hinten durchging, stand Kieran auf und versuchte so auszusehen, als sei er angetrunken und versuchte dennoch, einen möglichst guten Eindruck auf jemanden zu machen, den er nicht ausstehen konnte. Der Barkeeper zeigte ihm den Daumen nach oben und räumte seine Gläser ab.
Malcolm war allein gekommen, setzte sich schweigend an den kleinen Tisch in der Ecke, quetschte Kieran neben sich förmlich ein. Erst dann kamen die zwei Männer hinzu, setzten sich ihnen gegenüber, mit so ernsten Gesichtern, dass Kieran schon versucht war, sich darüber lustig zu machen. Nur einer der beiden sprach mit Kieran, unfreundlich und verhalten, ließ ihn lange nicht zu Wort kommen, als seien alle anderen nur Statisten. Kieran zeigte sich sehr geduldig, und als er endlich etwas sagen durfte, kam er sich vor wie ein dummer Schuljunge auf einer Schulveranstaltung, bei der alles in die Hose ging, ganz davon abgesehen, dass er den Text vergessen hatte, den sie von ihm hören wollten.
Mit ihnen irgendwelche Verhandlungen führen zu müssen war schlimmer aus ein offener Krieg. So betonte er einfach nur noch mal, dass diese Schule für Darren nichts mit seinem eigenen Leben zu tun hatte, dass es auf keine seiner Entscheidungen Einfluss haben würde. Das musste einfach reichen. Die Männer, deren Positionen er kannte, aber nicht deren Nachnamen, von desgleichen er immer nur Befehle entgegengenommen hatte, entschieden jetzt über seine Zukunft. Einen Moment dachte er, es sei vorbei mit ihm.
Sie starrte ihm so unverwandt ins Gesicht, als säße ihnen einer aus dem anderen Lager gegenüber und kein Mitstreiter. Hätte Malcolm sich nicht zu Wort gemeldet, wäre Kieran wohl davon ausgegangen, sofort exekutiert zu werden.
„Hört mal“, flüsterte Malcolm, „hier geht es nicht um irgendjemanden, dem wir nicht trauen können. Wenn Kieran hätte aussteigen wollen, weil er nicht mehr hinter der Sache steht, hätte er das schon vor Jahren tun können. Jetzt will er nur das Beste für seinen Sohn, was ihm wirklich niemand zum Vorwurf machen kann, oder? Kieran ist gut wie Gold, das wissen wir. Weshalb, verdammt noch mal, geben wir ihm nicht die Chance, das zu tun, was er sich für seinen Sohn vorgenommen hat?“
Der Mann mit dem unangenehmen Blick und der Angewohnheit, mit einer Hand an seinem verborgenen Revolver zu bleiben, als lebe er im wilden Westen, zischte die Antwort zwischen seinen Zähnen hervor, zu giftig, um seine Lippen zu berühren.
„Maul halten, Malcolm. Wir bleiben bei unserer Entscheidung. Dass wir uns hier noch einmal treffen, ist ein Zeichen unseres guten Willens, nicht mehr. Wir könnten sofort einpacken, wenn jeder anfangen würde, sein eigenes Süppchen zu kochen.“
Er machte eine Pause, sah Malcolm von unten her an, als sei er an allem Schuld, weil er es gewagt hatte, Partei zu ergreifen.
„Das ist lächerlich.“ Kieran zog die Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Wie lange kennen wir uns?“ Er sprach den Mann, der gesprochen hatte, direkt an. „Es sind schon ein paar Jahre, oder? Als wir uns das erste Mal begegnet sind, war mein Sohn noch nicht einmal geboren. Ich habe dir das Bombenbasteln beigebracht, erinnerst du dich? Ich bin niemand, der mal eben reingeschneit ist. Und mit dieser Einstellung, die ihr hier an den Tag legt, sorgt ihr nicht gerade dafür, dass die Männer loyal bleiben.“
„Kieran
“, zischte Malcolm entsetzt.
„Schon gut, Mal, er wird die Wahrheit vertragen können.“
Das Gesicht des Mannes verfärbte sich langsam.
„Wem habe ich damals gesagt, dass mit Tommy etwas nicht stimmt? Dass er nicht in den Knast gehen wird? Dir hab ich es gesagt, mehr als einmal. Und? Was hast du unternommen?“
„Das ist eine ganz andere Geschichte.“
Malcolm sah die Sache schon eskalieren, wagte nicht mehr einzugreifen. Wer hätte geglaubt, dass das Thema Tommy in dieser Runde einen solchen Ausschlag geben würde.
„Ihr seid nicht für ihn da gewesen“, sagte Kieran, „und genauso riecht diese Sache heute auch.“
Malcolm zitterte innerlich, wie er es bei diversen Aktionen nie getan hatte.
„Das High Command
trifft sich nächste Woche und wir werden sehen, wie man sich entscheidet.“ Der Mann, dessen Gesichtsfarbe weiterhin bedrohlich gesundheitsgefährdend aussah, bekam seine Stimme wieder unter Kontrolle und fuhr fort: „Kieran, du bist draußen, wenn du diesen Blödsinn durchziehst, das kann ich dir versprechen.“
„Was bedeutet das? Soll ich schon mal anfangen, meine Biographie zu schreiben?“ Das war eine klare Anspielung auf Eamon, der ein Buch veröffentlicht hatte und sich jetzt auf der Abschussliste befand. Malcolm stöhnte.
„Warten wir einfach ab, wie das Command sich entscheidet“, sagte er.
Wenn die höchste Instanz meine letzte Chance ist, Okay
, dachte Kieran, das heißt, dass der Revolvermann hier mich nicht sofort abserviert. Noch eine Woche Aufschub. Möglicherweise kann Malcolm mir noch mal helfen.
Malcolm blieb bei ihm sitzen, nachdem die Männer aufgestanden und gegangen waren. Kieran starrte auf seine Hände, betrachtete die Linien in seinen Handflächen, in denen sich die schwarze Erde festgesetzt hatte. Es war komisch, dass seine Hände genauso aussahen wie die von Paddy. Der torfige Dreck ließ sich irgendwann nicht mehr abwaschen.
Und bei mir ist es nicht nur der Dreck
, dachte er, es ist so viel mehr.
„Bist du eigentlich verrückt geworden?“ herrschte Malcolm ihn an, wirklich verzweifelt. „Wie kannst du dich so weit aus dem Fenster lehnen und von Tommy anfangen? In deiner Situation?“
Kieran zuckte mit den Schultern. Er entschuldigte sich nicht. Malcolm konnte ihm nicht sagen, wie schlecht seine Chancen standen. Niemand im Command hatte ein Interesse an Einzelaktionen, sie mussten sich auf die Verhandlungen konzentrieren, stritten dabei ohne Pause mit Hardlinern und kleinen Gruppen, die sich abzuspalten drohten. Da hatten sie keine Zeit, sich noch über einen Aktivisten ein klares Bild zu verschaffen, dem man vorwarf, mit den Proddys gemeinsame Sache zu machen. Das musste er Kieran irgendwie klar machen, aber nicht jetzt und nicht an diesem Ort im Feindesland.
„Wir können eine andere Schule für Darren finden“, sagte er eindringlich, „damit wären deine Probleme vom Tisch. Ich helfe dir in dieser Sache.“
„So läuft das nicht. Wenn ich eine andere Schule hätte haben wollen, wär ich da auch von allein drauf gekommen. Keine Chance“, sagte Kieran.
Als er mit einmal in sich hinein grinste, sah Malcolm sich im Raum und fragte beunruhigt: „Was ist los?“
„Ich hab mir gerade vorgestellt, dass wir hier festgenommen werden und in Maze landen. Die würden auf Knien beten, sie hätten mich in Ruhe gelassen.“
„Ich erschieß dich eigenhändig, wenn du mit dem Gedanken spielst...“ begann Malcolm, brach ab, als er Kierans entschuldigende Geste sah.
„Lass uns an der Theke noch was trinken“, sagte Kieran, „und dann will ich von hier verschwinden.“
Sie kippten zwei Whiskeys, bezahlten und Kieran wurde vom Barkeeper zurückgerufen, der seine Plastiktüte in die Höhe hielt.
„Mein Semtex“, flüsterte Kieran vertraulich und Malcolms Gesicht zuckte einmal unkontrolliert.
Im Schaukasten des Burger Kings, an dem er auf dem Weg zum Busbahnhof vorbei kam, entdeckte Kieran alberne kleine Plastikfiguren, die auch als Comicfiguren auf der Kinoleinwand herumhüpften. Das war etwas, was er Darren mitbringen konnte. Er ging hinein und stellte sich in der Schlange vor den Schaltern an. Währenddessen fuhr Malcolm zurück nach Belfast, tat alles ihm mögliche, aber wer konnte schon sagen, ob er wirklich etwas ausrichten konnte. Malcolms Stimmung war so gedrückt gewesen, als sie sich getrennt hatten, dass er gar nichts weiter zu sagen brauchte. Kieran war in Gedanken, klimperte ruhelos mit den Münzen in seiner Jackentasche, rückte ein Stück in der Schlange auf und sah zu der Preistafel hinauf.
Zwei Figuren und einen Kaffee
, dachte er, und dann nichts wie nach Hause
.
Unter den Dias, die die Burger und Specials so zeigten, wie sie in Wirklichkeit nie aussahen, hasteten die Angestellten in den scheußlichen Uniformen und Hütchen aus gefaltetem Papier zwischen Grill, Ausgabe und Getränkespender hin und her, bemüht freundlich und doch meist nur müde und genervt. Kierans Blick blieb an einem der Hütchenträger hängen, der wie erstarrt dastand und sich erst bewegte, als ihm der Mitarbeiter des Monats in den Rücken boxte.
Es war wirklich seltsam, wie langsam Kierans Verstand begriff, dass es Pol war, der ihn von der Burgertheke her anstarrte, mit so unglaublichen Augenrändern, als habe er sein Halloween Make-up bereits angelegt. Kieran machte eine wedelnde Bewegung mit beiden Händen, hob die Schultern und das konnte nur „Was machst du denn hier
?“ heißen.
Pol patschte den fertigen Burger auf das Tablett, nahm das Geld entgegen, ohne es anzusehen und ließ es in die Schublade fallen. Über die Köpfe der wartenden Kunden hinweg, wobei er sich auf die Zehenspitzen stellte und wie ein Ertrinkender winkte, versuchte Pol sich verständlich zu machen, dass er noch zwei Stunden bis zum Schichtende arbeiten musste.
Dem Teamleiter, der immer wieder hinter der Theke auftauchte, gefiel das offensichtliche Herumtrödeln nicht, er tippte Pol von hinten auf die Schulter und sagte ihm, er solle sofort wieder an die Arbeit gehen. Pol versuchte ihm zu erklären, dass er zehn Minuten Pause bräuchte, um etwas Privates zu regeln, aber der Teamleiter schüttelte den Kopf. Pol pfiff durch die Schneidezähne. Diesen Pfiff kannte Kieran sehr gut, so hatte er selbst immer nach den Zwillingen gepfiffen, wenn sie nach Einbruch der Dunkelheit noch draußen herumgerannt waren. Pol nahm den Papierhut ab, zog sich das zweifarbige Hemd übe den Kopf aus und drückte beides dem Teamleiter energisch in die Hand.
„Ich darf nicht mal zehn Minuten raus? Gut, Taoiseach, dann kannst du den Job selber machen“, sagte er.
„Das solltest du dir überlegen, Pol.“
„Ich hab schon bessere Jobs hingeschmissen“, erwiderte Pol ungerührt.
Der Teamleiter tat wirklich so, als habe noch nie jemand bei ihm gekündigt, in diesem gastronomischen Tempel.
„Noch kannst du es dir überlegen. Zieh das Hemd wieder an und ich vergesse diesen kleinen Vorfall.“ Er hielt Pol das Hemd entgegen. Der ignorierte das freundliche Angebot, kam durch die Schranke nach vorn, wo Kieran bereits auf ihn wartete, erwartungsvoll grinsend.
„Ist ’ne lange Geschichte“, sagte Pol, „wie meistens. Von mir aus können wir verschwinden.“
Er drehte sich zu den Schaltern herum, wo der Teamleiter seinen Platz eingenommen hatte, um den Ansturm bewältigen zu können. Der Mann fuhr zusammen, als Pol in einer hohen durchdringenden Stimme durch den ganzen royalen Burgerladen rief: „Christy
?“
Ganz hinten aus der Küche kam eine undeutliche Antwort, die sich kaum aus dem allgemeinen Gemurmel abhob. Pol stand mit schief gelegtem Kopf da, in Unterhemd und Burgerhose, die an seinem Hintern viel zu eng saß, hob wieder die Stimme und rief, wobei er mittlerweile die ungeteilte Aufmerksamkeit aller hatte: „Ich hab’s gerade hingeschmissen.“
Christys Antwort kam jetzt klar und deutlich, er stand an dem Rotlicht, wo die Pommes warmgehalten wurden wie mickerige Ferkel, hielt noch das triefende und geschwärzte Metallteil aufrecht in der Hand, mit dem er die ganze Zeit tiefgefrorenes Hackfleisch auf dem Grill umgedreht hatte.
„Schon wieder?“
Pol machte eine weitere alberne Geste der Entschuldigung. „Ich verschwinde. Was ist mit dir? Kommst du mit?“
„Ich hol nur meine Sachen.“
Kieran wandte sich ab, bemüht Fassung zu bewahren, was nicht ganz einfach war. Da war das ungläubige Gesicht des Teamleiters, und die Tatsache, dass sein Bruder und Christy sich in einem fürchterlichen schottischen Akzent unterhielten, zwei schlechte Schauspieler auf einer Naturbühne.
Bis Christy seine Sachen geholt und sich umgezogen hatte, vergingen nur ein paar Minuten und er spazierte mit ihnen nach draußen. Sie ignorierten die Proteste des Teamleiters und des herbeigerufenen Managers. Vor dem Burger King stellte Pol die beiden vor, vergaß endlich den Akzent und sah an sich herunter.
„Was mach ich mit der Hose?“
„Steck sie in die Post.“
„Bist du mit dem Wagen hier?“
„Mit dem Bus“, erwiderte Kieran, „fahren wir zusammen, du hast mir ’ne Menge zu erzählen.“
Er war neugierig darauf, wie es Pol still und heimlich nach Enniskillen verschlagen hatte, noch dazu mit einem neuen schüchternen Freund, der aussah wie ein Wasserspaniel.
Seine restlichen Klamotten hatte Pol im Schließfach am Busbahnhof, dort zog er sich auf der Toilette um und steckte die Stoffhose vom Burger King in den nächsten Abfalleimer. Bei den abgestellten Bussen von Bus Eireannn sahen sie Gerry, der mit einer Dose Coke und seinem Gurkensandwich in der offenen Tür seines Gefährtes saß. Kieran quatschte mit ihm, während Christy und Pol noch in dem Wartesaal hockten. Christy traute sich nicht hinaus. Seit Kieran bei ihnen war, hatte er sich sehr im Hintergrund gehalten und kaum ein Wort gesagt.
„Ich werde ihm doch nichts sagen“, meinte Pol, saß auf dem Fußboden bei seinen Füßen und drehte sich eine Zigarette, „was glaubst du denn. Du hast mein Wort drauf. Und wenn du nicht in Pettigoe bleiben willst, fahren wir durch bis nach Sligeach. Da hab ich ein paar Freunde, bei denen wir unterkommen können.“
Christy hielt beide Handballen auf die Augen gedrückt, presste sein Kinn nach unten, und obwohl er nicht gleich reagierte, konnte Pol schon sehen, was er antworten würde auf diesen Vorschlag.
„Deinem Bruder wird das nicht gefallen, wenn du direkt wieder verschwindest, also ist es besser, wenn ich allein weiterziehe.“
„Ach komm. Mit Kieran haben wir kaum was zu tun und Brendan ist verträglich. Der hat nichts dagegen, wenn wir zu dritt durch die Gegend ziehen.“
Jemand schaltete ein Transistorradio an und sie wurden mit den neuesten Nachrichten von RTE beschallt, anschließend mit aktuellen Popsongs von der Stange. Christy machte ein Gesicht, als versuche er die Musik zu ignorieren, um einen klaren Gedanken fassen zu können, hielt sich schließlich das eine Ohr zu.
„Du weißt doch, was los ist. Ich geh lieber runter nach Kerry, da sind so viel Touristen, dass man immer Jobs bekommt.“
„Galway ist Oberscheiße“, verkündete Pol grinsend.
Christy hob den Kopf und blinzelte durch die verschmierte Glasscheibe nach draußen, wo Kieran gegen den Bus gelehnt stand und plauderte.
„Ich kann nicht mit zu euch kommen, ich müsste ständig daran denken, dass dein großer Bruder mir auf die Schliche kommt.“
„Wie sollte das passieren?“
Christy sah Pol leutselig an. „Muss ich dir jetzt was über deinen eigenen Bruder erzählen, Pol? Der sieht einen doch nur schräg an und weiß genau, was los ist. Ich möchte meine Kniescheiben noch ’ne Weile behalten.“
„Das würde er nicht tun.“
„Nein? Vielleicht nicht eigenhändig, aber er würde es in Auftrag geben.“
Texte: Cover: eigene Fotos
Tag der Veröffentlichung: 29.03.2011
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