Nächtliche Anrufe
Mitten in der Nacht bekam er einen Anruf. Die fremde bedrohliche Stimme feuerte ein paar übliche Sätze ab, auf die er nicht reagierte, dann war es einen Moment still und der Anrufer sagte: „Finnigan, tu, was für alle das Beste ist. Tanz nicht aus der Reihe. Dann kann jeder in deinem Haus ruhig schlafen.“ Diese Stimme, flüsternd und eindringlich, schien einzelne Sätze aus den Horoskopen der Tageszeitungen zu zitieren, aber er konnte abschätzen, wie ernst es war. Sie warnten ihn wieder davor, Darren an die Schule gehen zu lassen, aber sie sagten ihm noch immer nicht, mit welchen Konsequenzen er zu rechnen hatte, sollte er sich nicht daran halten. Er wollte mit dem Mann sprechen, stand auf nackten kalten Füßen in der dunklen Küche, wo der Kühlschrank ansprang und die Uhr an der Wand tickte, wollte ihn fragen, was sein Sohn mit der Sache zu tun hatte, aber die Leitung war tot, bevor er auch nur eine Silbe loswerden konnte.
Ich muss mich mit dem Command treffen
, dachte er, knallte den Hörer auf und hätte am liebsten irgendetwas durch die Gegend getreten, wenn die glauben, dass sie mich mit diesen dämlichen Anrufen klein kriegen, haben die sich geschnitten. Ich muss ihnen die Sache erklären können, vielleicht kapieren sie es dann.
Enniskillen war der übliche Ort für eine solche Zusammenkunft. Am nächsten Morgen wollte zunächst niemand mit ihm am Telefon sprechen, sie wollten ihn nicht einmal mit Malcolm verbinden, als er darum bat. Sie behaupteten, er sei in einer Besprechung und könne nicht gestört werden, worauf Kieran auflegte und eine Nummer wählte, die eigentlich dem absoluten Notfall vorbehalten war. Er wusste, welche Panik er verursachte mit diesem Anruf. Er fragte sehr freundlich nach Malcolm und bekam ihn sofort an den Hörer.
„Ich bin in zwei Tagen am üblichen Ort“, sagte er, „wenn sich einer von euch blicken lässt, können wir reden. Würde mich freuen, wenn du mit von der Partie wärst, Mal.“
Er legte auf, ließ Malcolm keine Zeit für eine Erwiderung.
Ein oder zweimal im Jahr, ganz nach der Stimmung auf dem Pferdemarkt, kam Charles Baldrick bei Tom vorgefahren und nahm ein paar Ponys mit. Er kam auf den Hof gerumpelt mit seinem Pferdetransporter, der vor Jahren mal so etwas wie eine Lackschicht besessen hatte, auf dem man heute nicht einmal mehr das Pferdekopflogo von den Rostflecken unterscheiden konnte. Seit den letzten Besuchen begleitete ihn sein Sohn Liam, weil er selbst langsam alt und steif wurde, sich nicht mehr für lange Strecken hinter das Steuer setzen wollte. Liam übernahm nicht nur das Fahren, er setzte sich auch auf die Ponys, die der alte Charles aussuchte und wenn ihm gefiel, was er sah, nahm er sie mit. Zu einem guten Preis, selbstverständlich. Liam hielt sich stets im Hintergrund, wenn sein Vater die Ponys begutachtete und er wurde nie nach seiner Meinung gefragt. Er war von der ruhigen geduldigen Art, einer, der mit den Ponys gut umging und sich bei seinen Mitmenschen zurückhielt, als könne er nicht wirklich etwas mit ihnen anfangen.
Tom hatte Laoise erzählt, dass der alte Charlie noch vor gar nicht langer Zeit als Traveller durch die Gegend gezogen und der Pferdeverstand in seiner Familie angeboren war. Selbst Liam habe auf den Reisen einiges mitgemacht und es sei eine gute Entscheidung gewesen, sesshaft zu werden. Laoise konnte den alten mürrischen Kerl nicht leiden. Nicht nur, weil sie immer das Gefühl hatte, er würde ihrem Vater nicht den reellen Preis für die Ponys bezahlen, sie war der Meinung, dass man einem Traveller, der sesshaft geworden war, nicht über den Weg trauen konnte.
Wenn Charles auf den Hof kam, verzog sie sich in ihr Zimmer, warf ab und zu einen Blick aus dem Fenster, um zu sehen, wann er wieder verschwunden war. Seit er seinen Sohn mitbrachte, hatte sich ihr Verhalten allerdings geändert. Sie lief nicht mehr weg, sie wartete auf die beiden. Diesmal blieb sie in der Küche sitzen, während Tom und Charles sich auf dem Hof unterhielten. Eine der Hofkatzen saß bei ihr auf dem Tisch.
Liam kam an die offene Tür, steckte vorsichtig den Kopf herein und sagte: „Schöner Tag heute?“
„Ich hätte euch nicht vor dem Herbst erwartet.“ Eine freche Lüge. Sie warf jeden Tag einen Blick in Toms Kalender, um die Touristenbuchungen im Auge zu behalten und da hatte sie den Eintrag Baldrick schon vor Wochen entdeckt. Sie besann sich auf die Gastfreundschaft und machte eine einladende Handbewegung.
„Komm rein und setz dich. Tee?“
„Danke.“
Er kam herein, bewegte sich ungelenk, setzte die Füße weit nach außen gedreht auf. Die Reithose, die er trug, war alt und ausgebeult, hatte von vielen Waschgängen keine erkennbare Farbe mehr. Seine O-Beine schienen von Jahr zu Jahr ausgeprägter zu werden. Als er sich setzte, knackten seine Knie wie bei einem alten Mann.
„Daid
meinte, er würde den kalten Herbst lieber zu Hause bleiben, seine Knochen bringen ihn um. Wir haben in Ballymote zwei gute Jagdponys gesehen, die holen wir auf dem Rückweg ab.“
Laoise schenkte ihm eine Tasse Tee ein, von der guten Sorte, und stellte ihm auch einen Teller mit Keksen hin, was sie nicht nur aus Höflichkeit tat. Er sollte länger in der Küche bleiben als nur für eine Tasse Tee, sie mochte Liams Stimme, sie hatte etwas Beruhigendes und sie konnte sich nicht erinnern, dass es ihr früher schon an ihm aufgefallen war. Es war nicht nur seine Stimme, die sie reizte; er war zwar kaum einen Kopf größer als sie, wie hätte er sonst die Ponys reiten können, aber er war schlank und durchtrainiert und mit seiner zurückhaltenden freundlichen Art hob er sich wohltuend von allen anderen ab.
„Wie laufen eure Geschäfte im Moment?“, fragte sie, „wir kommen selbst kaum über die Runden mit den Ponys.“
Liam umfasste die Teetasse mit beiden Händen, schlürfte vorsichtig und sah Laoise immer wieder kurz an.
„Wir verkaufen sie hauptsächlich aufs Festland. Die Leute da scheinen der Meinung zu sein, dass irische Gäule jeden Preis wert seien. Es läuft ganz gut, aber wir werden nicht reich damit.“
„Wer wird das schon in diesem Land.“
Liam dachte an das halbe Jahr, das er auf einem Herrensitz an der Küste verbracht hatte, um dort zwei Springponys auszubilden, die für die Töchter der Familie angeschafft worden waren. Die hatten wirklich Geld gehabt. Mit diesen Welshponys hatte er viel Freude gehabt, sie waren lernwillig und begeistert bei der Arbeit, allerdings konnte man das von den Töchtern nicht behaupten. Nach einem Monat wurde für deren Unterricht ein anderer Reitlehrer eingestellt, weil sie sich heulend beschwert hatten, Liam würde ihnen nur Blödsinn beibringen, den sie nicht bräuchten. Liam hatte versucht, ihnen deutlich zu machen, dass man die Ponys nicht nur als Mittel zur erfolgreichen Turnierteilnahme sehen durfte und sie sollten doch auch mal am Strand entlang reiten und ihren Spaß haben. Davon wollten sie nichts wissen. Sonst stritten sie sich wegen jeder Kleinigkeit, aber da waren sie sich einig, dass sie einen professionellen Reitlehrer bräuchten. Also beschränkte sich Liams gut bezahlter Job darauf, an fünf Tagen in der Woche die Ponys zu pflegen und zu reiten und die Fehler auszubügeln, die die ehrgeizigen Mädchen hineinritten. Freitags und Samstags kam der Reitlehrer und scheuchte sie über die Hindernisse, an diesen Tagen hatte Liam dann frei und verbrachte die Zeit allein am Strand.
Er wohnte in einer komfortablen kleinen Wohnung direkt neben den Stallungen und war selten so gut untergebracht gewesen, trotzdem war diese Hütte kein vergleich zu dem irischen Schloss, in dem die Familie lebte. Sein Geld bekam er als Scheck vom Oberbutler, als seine Arbeit beendet war.
Als wenn er es geahnt hätte, tauchten die Mädchen auf den Turnieren alle drei Monate mit neuen Ponys auf. Die Welsh-Stuten hatten es da noch gut getroffen – sie wurden als unreitbar zu Schleuderpreisen angeboten und Charles Baldrick war der Erste auf dem Hof und nahm sie mit. Liam hatte ihn direkt angerufen und gesagt, dass man sich diese Ponys nicht entgehen lassen durfte. Er brauchte einige Wochen, um die kleinen Schimmel wieder hinzukriegen, danach gingen die beiden für gutes Geld nach Belgien, wo sie auf Turnieren starteten und ihre kleinen Reiterinnen glücklich machten.
Liam konnte nur hoffen, dass die beiden verzogenen Mädchen am reiten die Lust verloren und ihren Daddy bedrängten, segeln lernen zu dürfen. Liam war nach Hause gefahren, mit dem Geld in der Tasche und hatte sich vorgenommen, so einen Job nicht mehr anzunehmen.
„Als wir an der Tankstelle angehalten haben, hab ich die Handzettel gesehen. Ist das hier wirklich ’ne gute Gegend für ein Touristengeschäft?“
„Tom ist davon fest überzeugt.“ Laoise goss ihm Tee nach, einen Moment hörten sie den beiden alten Vätern auf dem Hof zu.
„Und was hältst du davon?“
Ich könnte dir stundenlang zuhören
, dachte Laoise verträumt und erwiderte: „Wir werden Schiffbruch erleiden, das ist meine Meinung. Daid will davon überhaupt nichts hören, aber er hat schon einige Touristen im hohen Bogen in den Dreck fallen sehen und dabei ist das Geschäft noch nicht mal richtig angelaufen. Ich warte nur darauf, dass wir verklagt werden.“
Sie tranken eine ganze Kanne Tee, Liam erzählte von den Reisen nach Frankreich und Holland und von den wirklich guten Ponys, die er am liebsten behalten hätte, die aber sein Vater immer als Erstes verkauft hatte.
„Er hat mich schon auf die Ponys gesetzt, als ich kaum laufen konnte, aber er hat mir nie ein eigenes gegeben. Ich musste sie immer nur trainieren und den Käufern vorreiten und dann durfte ich mich von ihnen verabschieden.“
„Wirst du das Geschäft mal übernehmen, wenn dein alter Herr mal nicht mehr kann?“
Liam nippte an der Tasse Tee, machte ein Gesicht, als mache er sich das erste Mal wirklich Gedanken darüber, wie er sein Leben führen wollte, wenn er allein die Verantwortung dafür hatte. Er sah immer so aus wie jemand, der seine Sache nur gut machte, solange es jemanden gab, der ihm sagte, wo es langging.
„Ich werde wohl weiter mit Ponys handeln“, sagte er, „aber ich werde zwei oder drei wirklich gute für mich behalten und sie auf Turnieren vorstellen.“ Er machte eine Kopfbewegung nach draußen. „Habt ihr was Gutes da im Moment?“
Laoise schüttelte den Kopf, obwohl Tom vermutlich gerade etwas anderes erzählte. Charles und Liam Baldrick wären vielleicht vom Hof gefahren, ohne einen Blick in den Stall oder auf die Weiden zu werfen, wäre Darren nicht mit Tadhg vom Ausritt zurückgekommen. Sie waren beide verschwitzt und noch ein wenig aufgekratzt von der Galoppstrecke, Tom winkte Darren zu sich und griff in die Zügel, um das Pony bei sich zu halten. Während des Gesprächs mit Charles hatte er hin und her überlegt, ob er Tadhg vorführen sollte. Das Pony war noch mitten in der Ausbildung und vielleicht sollte er ihm noch ein Jahr geben und ihn dann selber verkaufen.
„Der Junge hier“, begann er, „der springt wie Gift. Ich hab ihn als Einjährigen gekauft, weil ich gesehen habe, dass er etwas Besonderes ist. Darren reitet ihn für mich. Er nimmt jedes Hindernis, das geborene Jagdpferd.“
Darren strahlte über das ganze Gesicht, nichts ahnend, dass der alte Mann mit der Schlagmütze ein Pferdehändler war und er mit jedem weiteren lobenden Wort über Tadhg Gefahr lief, ihn zu verlieren.
„Wie geht er den Sprung an, Junge?“, fragte Charles, auf seinen Stock gestützt und den Kopf schief gelegt. Darren hatte keine Ahnung, wovon der Mann sprach, aber weil der ihn so erwartungsvoll ansah, konzentrierte er sich auf eine deutliche Antwort.
„Ich zeig’s ihnen, wenn ich darf.“ Wie immer, wenn er sich einen vollständigen Satz abzwang, klang seine Stimme piepsig und atemlos. Tom nickte ihm zu und sie gingen zum Reitplatz hinüber, der durch die Touristen mittlerweile stark gelitten hatte. Einige Zaunlatten waren durchgebrochen, die Büsche dahinter angefressen, weil die Touristen die Ponys nicht davon abhalten konnten, daran herumzuknabbern. Tom und Charles blieben bei einem Hindernis stehen und beobachteten, wie Darren im Trab eine Runde drehte, dann angaloppierte und gerade auf den Sprung zuritt. Tadhg hatte immer Spaß am springen, übersprang sich vor lauter Eifer, machte aber einen flüssigen Galoppwechsel und ließ sich wieder versammeln und anhalten.
Charles brach nie in Begeisterungsstürme aus (das hätte nur den Preis nach oben getrieben) aber er drehte sich suchend nach Liam um, pfiff einmal schrill durch die Zähne, als er ihn nirgends entdecken konnte. Liam war es gewöhnt, dass der Alte nach ihm pfiff wie nach einem Hund. In der Küche nahm er sich einen letzten Keks und sagte: „Der Boss pfeift nach mir.“
Laoise sah ihm mit schief gelegtem Kopf nach.
„Liam soll ihn sich auch ansehen“, sagte Charles, und sie standen zu dritt auf dem Reitplatz, während Darren hin- und hergaloppierte und zum Abschluss auf die Steinmauer zuhielt. Charles sah beunruhigt von einem zum anderen, grunzte dann, als er sah, wie Tadhg über die Mauer auf die angrenzende Weide und wieder zurücksprang. Weil er so stolz auf das Pony war, zeigte Darren den Männern noch etwas, was er heimlich mit ihm geübt hatte. Er rutschte vor den Sattel, drehte sich herum, dass er mit dem Rücken zu den Ponyohren saß, und rutschte langsam nach hinten. Tadhg wusste schon, was kam und senkte den Kopf, dass Darren rückwärts über seinen Hals herunterrutschen konnte. Darren grinste breit und sah Tom erwartungsvoll an, was er zu diesem Kunststückchen sagen würde. Tom wedelte warnend mit dem Zeigefinger, machte aber ein freundliches Gesicht. Die beiden alten Männer schienen so etwas nicht zu mögen, jedenfalls sah der fremde Mann sehr missbilligend aus und er murmelte mit Tom so leise, dass Darren nichts verstehen konnte. Der jüngere verkniff sich ein Grinsen.
„Bring ihn in den Stall“, sagte Tom, „er hat genug getan für heute. Gib ihm eine extra Portion Möhren.“
„Weide?“, piepste Darren.
„Nein, heute bleibt er drin.“ Tom winkte ihn weg.
Das graue Pony folgte Darren über den Hof zum Stall, ohne dass er die Zügel aufnehmen musste. Liam blieb hinter den beiden alten Männern zurück, die darüber zu diskutieren begannen, was ein gutes Jagdpony wert sei und was nicht.
Charles würde ihn niemals um seine Meinung fragen in dieser Sache und diesmal war er wirklich froh darüber, denn er hatte den Ausdruck auf dem Gesicht des Jungen gesehen. Er ritt das Pony nicht, weil er unbedingt reiten und springen lernen wollte, er liebte das Tier. Wenn Charles den Grauen kaufte und mitnahm, würde ihm das Herz brechen.
Es war offensichtlich, dass der Junge keine Ahnung hatte, dass sein Pony zum Verkauf stand. Deshalb ging er in den Stall, wo Darren das Pony absattelte und putzte, ihm die Hufe auskratzte und die widerspenstige Ponymähne bürstete.
„Ich bin Liam. Du bist den Grauen gut geritten. Wie heißt du?“, fragte er.
Darren hob den Kopf, schloss die Augen und sagte: „Darren Finnigan.“
Laoise machte eine weitere Kanne Tee, holte neuen Kandiszucker und setzte sich zu den Männern an den Küchentisch, die schon darüber stritten, ob Charles das Pony gleich mitnehmen solle.
„Von welchem Pony sprecht ihr?“, fragte sie, obwohl es ihr bereits klar war.
„Charles hat mir ein gutes Angebot für Tadhg gemacht.“
„Das kannst du Darren nicht antun, dass er heute direkt vom Hof geht.“ Laoise stellte die Kanne beiseite, wischte ein paar Teekrümel auf den Boden.
Es wird ihm nicht gefallen, dass ich ihm das sage, dachte sie, wagte keinen Blick in die Runde, aber das macht mich wütend. Das kann er dem Jungen nicht antun.
Tom hob entschuldigend die Schultern. „Deshalb soll Charles ihn erst nächste Woche abholen, damit er sich noch von ihm verabschieden kann.“
„Unnötige Gefühlsduselei“, murmelte Charles.
„Du wirst ihn nie wieder auf deinen Ponys reiten sehen. Und er wird dich nie wieder so heimlich anhimmeln, wenn er glaubt, du beobachtest ihn nicht.“ Laoise benutzte den Teelöffel als drohenden Zeigefinger, sah im Augenwinkel, wie Charles sich zurücksetzte und sich mit zwei Fingern über den Mund strich. Darunter verbarg er einen weiteren unbeherrschten Kommentar. Sie holte zu einer Standpauke aus, aber Liam hatte mittlerweile ganze Arbeit geleistet. Darren kam schluchzend in die Küche gestürmt, stolperte an der Türschwelle und fing sich an der Tischkante mit beiden Händen ab. Er brauchte kein Ton zu sagen, wäre dazu auch gar nicht in der Lage gewesen, sein Schluchzen war herzzerreißend genug, Tom ein schlechtes Gewissen zu machen.
„Darren“, sagte er geduldig, „du weißt doch, dass ich vom Verkauf der Ponys lebe. Wenn ich ein gutes Angebot für Tadhg bekomme, kann ich nicht Nein sagen. Er wird es gut haben bei seinem neuen Besitzer, ganz sicher.“
Darren schüttelte den Kopf, drehte auf dem Absatz und flüchtete nach draußen.
„Hat er uns gehört?“ fragte Tom.
„Glaube eher, dass Liam ihm etwas gesteckt hat.“
Liam ließ sich nicht blicken. Er wartete im Wagen auf seinen Vater und auf den fürchterlichen Abriss, den er wegen dieser Sache bekommen würde.
„Daid
“, sagte Laoise, „du hättest versuchen können, es ihn schonender beizubringen.“ Sie räumte das Geschirr vom Tisch. „Ich sehe nach Darren“, sagte sie schließlich, als Tom nicht reagierte. Sie war aus dem Raum und Charles sagte seufzend: „Wir leben vom Pferdehandel, aber das begreifen sie nicht. Ich bin kein Freund von dieser Gefühlsduselei und ich hab es Liam auch nie erlaubt, sich an eines der Ponys zu hängen, selbst wenn wir es uns hätten leisten können. Als wir noch herumgezogen sind, musste er sie zu den großen Viehmärkten bringen und er hat von mir Prügel bezogen, wenn er deswegen geheult hat. Aber es ist deine Entscheidung.“
„Gib mir eine Woche, dann kannst du ihn mitnehmen.“
Charles mühte sich auf seinem Stock gestützt zum Transporter, wo Liam und Laoise auf der offenen Ladeklappe saßen. Liam hatte den beiden Ponys, die sie bereits gekauft hatten, Wasser gegeben und sich vergewissert, dass sie sich an den Strickhalftern nicht wund gerieben hatten. Er hatte Laoise versprechen müssen, wieder auf einen Tee vorbeizukommen, unabhängig davon, ob sie Tadhg kauften oder nicht und er hatte sich nicht wirklich dagegen gesträubt, was Laoise auch noch einen Schritt weiter gehen ließ und sie ihm ihre Telefonnummer aufschrieb. Sicher hätte Charles ihm die Telefonnummer nicht gegeben, wenn er danach gefragt hätte.
Tom war auf dem Hof stehen geblieben und rief zu ihr hinüber: “Ich dachte, du wolltest dich um Darren kümmern.“
„Er ist weg“, rief sie zurück.
Liam senkte den Kopf und murmelte kaum hörbar zu ihr hinüber: „Ich sorge dafür, dass das Pony einen guten Besitzer bekommt, jemanden, der einen Connemara zu schätzen weiß. Wenn mir ein Kunde nicht gefällt, kann ich das beste Pony wie einen Klepper aussehen lassen.“
Laoise nickte dankbar, hätte fast seinen Arm berührt, aber das hätte Tom gesehen, der noch immer zu ihnen herüberstarrte.
„Vermutlich wird Darren nach dieser Woche untröstlich sein, aber es ist nicht zu ändern. Tadhg ist zu gut für die Touristen.“
Mit einer herrischen Kopfbewegung orderte Charles seinen Sohn, den Transporter zu schließen und einzusteigen.
„Wir haben noch die Ponys abzuholen“, sagte er, „und wenn wir nicht mitten in der Nacht ankommen wollen, müssen wir los.“
„Fahr vorsichtig, Liam.“
Sie fühlten sich von Charles über den Seitenspiegel mit Argusaugen beobachtet, trotzdem zögerte Liam die Abfahrt so weit hinaus, wie er nur konnte, dass auch Tom auf dem Hof die Hände in die Seiten stemmte und sich wunderte, was zum Kuckuck da so lange dauerte.
„Es bleibt mir gar nichts anderes übrig, wenn mein alter Herr neben mir sitzt.“
„Wir sehen uns dann nächste Woche.“
„Ich hoffe, ich verpasse dich nicht.“
„Ich werde hier sein.“
Laoise winkte dem Wagen nach, trat bis auf die Straße und sah ihm hinterher, bis die roten Rücklichter hinter den Bäumen verschwunden waren. Den ganzen Abend stellte sie sich die Frage, wieso sie es nicht früher gewagt hatte und ob sich etwas an ihm oder ob sie sich verändert hatte. Auf jeden Fall musste sie sich etwas Besonderes einfallen lassen für die kommende Woche und das schloss mindestens einen Besuch von Roisin ein, die eine Friseurlehre gemacht hatte. Ihr Vater war vermutlich so neugierig, dass er die ganze Nacht nicht schlafen konnte, aber sie kannte ihn – er würde nicht fragen, was sie mit Liam noch so lange besprochen hatte.
Darren hatte das Pony gut versorgt, bevor er davongelaufen war, hatte sogar den Boden gefegt und das Sattelzeug ordentlich weggehängt.
Was wird er tun
? dachte Laoise, wenn er weiß, dass er noch eine Woche mit seinem Pony hat? Ich weiß jedenfalls, was ich in seinem Alter getan hätte.
Darren konnte nicht geradeaus denken – er weinte nicht mehr, aber in seinem Kopf drehte sich alles nur noch um den Gedanken, dass er Tadhg verlieren würde. Noch nie hatte er sich so unglücklich gefühlt. Zunächst machte ihm der Gedanke einfach nur Angst, aber schon auf dem Weg über die letzte Rinderweide und in Sichtweite seines Elternhauses hatte er sich entschieden. Er würde nicht einfach den Kopf in den Sand stecken. Obwohl er nicht wusste, nicht einmal ahnte, was sein Vater machte, folgte er exakt den gleichen Gedankengängen. Er begann auszusortieren, was er tun konnte, um Tadhg zu behalten, damit war er so beschäftigt, dass er kaum noch etwas um sich herum wahrnahm.
Zwei Bilder, die zum Ausweg werden konnten, fügten sich schnell zusammen sein Traum von Tadhg, dem Steeplechaser, den er ritt und mit dem er an Rennen teilnahm, und das klare Bild, dass er mit dem Pony über die Feldwege und Weiden ritt, jedes Hindernis nehmen konnte, das sich ihnen in den Weg stellte. Es war ganz klar für ihn, was er tun würde und welche Vorbereitungen er treffen musste.
Moira glaubte, er sei einfach nur müde, weil er den ganzen Tag unterwegs gewesen war, brachte ihm etwas zu essen und machte sich keine Gedanken, dass er früh ins Bett gehen wollte. Er schlief schon einige Stunden, als Kieran nach Hause kam.
„Ist Brendan in seinem Zimmer?“, fragte Kieran, kaum dass er zur Tür herein war und Moira sagte, dass sie ihn noch nicht gesehen habe. Sie warf ihm einen vorsichtigen Blick zu.
„Hat er was ausgefressen?“
„Er zieht noch immer mit diesem Mädchen herum“, sagte Kieran. Er zog seine Jacke aus, hängte sie über die Stuhllehne. An dem linken Ärmel waren Flecken, die wie Blut aussahen und später würde er Moira erklären, die Hunde haben ein Karnickel halb totgebissen und er habe ihm schnell den Hals umgedreht.
„Ich hab’s ihm schon mehr als einmal gesagt, was ich davon halte, und er setzt sich darüber hinweg. Wahrscheinlich kapiert er nicht, was passiert, wenn diese Typen ihn erwischen.“ Er wurde etwas leiser, als Moira ihn weiterhin schief ansah. „Ich reiß ihm ja nicht den Kopf ab, meine Güte. Er soll nur endlich begreifen, wie gefährlich es ist.“
Moira hätte ihn am liebsten das Passende geantwortet, aber sie hielt sich zurück, weil sie nichts davon wissen durfte, was gefährlich war. Darüber brauchte sie gar nicht erst anzufangen.
Kieran ging nach oben. Es war ihm nicht danach, wieder in den Schubladen herumzuwühlen, um etwas zu finden, was er nicht finden wollte, stand nur am Fenster und sah sich müde um. Dieses Zimmer hatte sich seit zwanzig Jahren nicht wesentlich verändert. Pol und Brendan hatten ein paar neue Poster aufgehängt, die sie aus London mitgebracht hatten, aber sie schliefen noch immer in ihren alten Betten, hängten ihre Jacken noch immer in ihren alten Schrank, der schon so lange in dem Zimmer stand, dass sich der Fußboden an der Stelle abgesenkt hatte.
Kieran dachte, dass die beiden vielleicht nicht durch die Weltgeschichte tingeln würden, wenn ihr Heim etwas freundlicher und einladender wäre.
Ich könnte meine Hilfe anbieten
, dachte Kieran, das könnte ich immerhin tun. Aber ich will mich eigentlich gar nicht darüber beschweren, dass sie für Wochen und Monate verschwinden.
Wer weiß, vielleicht blieben sie irgendwann mal bei einem guten Job auf dem Festland hängen und kamen nur noch an den Festtagen nach Hause.
Er konnte bei diesem Gedanken nicht behaupten, dass er sich wohl dabei fühlte, Pol war seit Wochen weg und langsam machte er sich Sorgen, weil er sich nicht meldete.
Ich bin ein Arschloch
, dachte Kieran, drehte sich zum Fenster herum und sah hinaus, aber was bleibt mir anderes übrig, wenn ich die Familie zusammenhalten will.
Er saß auf Pols bezogenem Bett, grübelte in sich hinein, als Brendan die Treppe hochkam und sein Zimmer betrat. Sie sahen sich an und jeder wusste vom anderen, was er in dieser Sekunde dachte. Brendan konnte das Verhältnis zu Lilian nicht einfach so beenden, wollte es auch gar nicht, egal, wie ehr sein Bruder es von ihm verlangte. In dieser Sache gab es keinen goldenen Mittelweg, den man gehen konnte.
Kieran entdeckte Lippenstift an Brendans Kragen, seine Klamotten sahen aus, als habe er sie in Hast wieder angezogen, aber trotzdem sagte er keinen Ton deswegen.
„Du kannst die Jacke direkt anlassen“, sagte er, „wir gehen einen trinken. Ich muss mit dir reden.“
Tag der Veröffentlichung: 23.02.2011
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