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Das Pony Tadhg


Tom O’Neill erlebte sein erstes Debakel mit den Reitgästen, die im Bus aus dem Hotel in Béal Atha Seanaidh

gekommen waren. Er hatte gehofft, seine Arbeit würde sich wieder darauf beschränken, die Leute auf die gesattelten Ponys zu setzen und die kleine Truppe durch die Landschaft zu führen, so wie er das mit den einzelnen Gästen auch machte.
Die Ponys hatten wochenlang keine Sättel auf den Rücken gehabt und nur auf der Weide gestanden, sie ließen sich zwar brav einfangen und aufsatteln, aber Tom war ratlos, wen er auf welches Pony setzen sollte. Nur zwei aus der Gruppe hatte überhaupt schon mal auf einem Pferd gesessen und die anderen sechs machten den Ritt nur mit, weil sie es spaßig fanden oder die Umgebung kennenlernen wollten, ohne zu Fuß gehen zu müssen.
Eine der Frauen, die gesagt hatte, sie könnten etwas reiten, setzte er auf Tadhg, die anderen verteilte er, ohne darüber nachzudenken. Er setzte sich auf seine alte Stute, ritt voraus vom Hof und bog auf den Feldweg ab. Die Ponys schlossen sich automatisch an, aber die Gruppe zog sich weit auseinander, weil die Touristen sich zwar im Sattel halten, aber die Tiere nicht vorantreiben konnten.
Unterwegs kam es Tom in den Sinn, dass es besser gewesen wäre, Laoise als Schlusslicht mitzunehmen, weil die Ponys rechts und links in den Büschen verschwanden, um dort Äste und Blätter zu fressen. Nur einige der Reiter trauten sich, ihnen die Köpfe aus dem Gestrüpp zu ziehen und sie wieder auf die Straße zu bringen.
Tom drehte sich im Sattel ständig nach hinten um, schwitzte Blut und Wasser und entschied sich, nicht die Route zu nehmen, die er sich am Morgen ausgesucht hatte. Mit diesen Chaoten kam er nie im Leben heil über die Schnellstraße.
Stattdessen bog er vom Feldweg ab auf eine Wiese, um die er im Zuckelschritt einmal herum und dann wieder nach Hause wollte. Alle Ponys legten beim Anblick der großen Weide einen Schritt zu und die Mannschaft rückte etwas zusammen. Die beiden Reiterinnen fragten, ob man ein Stück traben könne und Tom ließ die Stute antraben. Die erste Hälfte der Ponys kam nach, aber der Rest latschte im Schritt durch das hohe Gras, ohne sich darum zu kümmern, was die Leute im Sattel anstellten. Im Trab überholte Tadhg die alte Stute und Tom rief, sie solle ihn anhalten oder in die Hecke lenken, wenn er nicht reagierte, aber die Touristin, inzwischen bleich und mit verkniffenen Lippen im Sattel hoppelnd, fand den Brombeerstrauch zum Anhalten nicht ausreichend und lenkte den Grauschimmel auf die Steinmauer zu, die sich direkt vor ihr auftat.
Sie zog und zerrte am Zügel, aber um das Gleichgewicht zu halten, bollerte sie dem Wallach die Hacken in die Seiten, worauf der freudig in den Galopp fiel und mit gespitzten Ohren die Mauer ins Visier nahm.
„Reiß ihn rum“, schrie Tom, während hinter ihm die große Verwirrung ausbrach, „zieh ihn in die Wiese!“
Die Touristin war gelähmt vor Schreck und verstand ihn wohl auch nicht, bereitete sich nur darauf vor, vor der Mauer, die den Ponyrücken um einige Zentimeter überragte, abrupt zum Stehen zu kommen. Tadhg sah das Ganze als wirkliche Herausforderung, nachdem er mit Darren immer nur durch kleine Mauerbrüche gesprungen war. Jetzt visierte er ein richtiges Hindernis an. In seinem Herzen wusste er, dass das Problem nicht der Sprung, sondern die Landung war – vielleicht fielen sie kopfüber in Stacheldraht oder in ein dichtes Dornengebüsch, aber da die Reiterin ihm praktisch die Zügel hingab, taxierte er die Mauer an, fand den passenden Absprung und drückte sich elegant und kraftvoll über die Mauer.
Die anderen Ponys waren nach einem kurzen Herumtoben in die Mitte der Wiese getrabt und hatten zu fressen begonnen, nahmen nur am Rande wahr, wie ihr Kollege in einem olympiareifen Sprung auf die Nachbarsweide verschwand.
Tom drängte die Stute an die Mauer, sah hinüber und erwartete, die Touristin mit gebrochenen Knochen am Boden liegen zu sehen oder wie beide in einer verfilzten Hecke stecken und nicht mehr herauskamen. Stattdessen brachte die Frau Tadhg endlich zum Stehen, indem sie ihm das Gebiss auf der rechten Seite komplett aus dem Maul zog, sich zurechtsetzte und den flüchtenden Schafen hinterher sah. Zu ihrem Glück war der Boden hinter der Mauer eben und fest und das Pony hatte perfekt zur Landung angesetzt und war weiter gelaufen. Die Frau winkte zu Tom hinüber und rief: „Was war das

denn?“
„Nur ein kleiner Hopser“, sagte Tom, obwohl die Mauer so hoch war, dass ihn das Grausen packte, wenn er an den Sprung dachte, „kommen sie wieder rüber.“
„Wie soll ich das machen?“
„Galoppieren sie ihn an und springen sie zurück.“
„Ja, klar“, rief die Frau, „wenn sie’s mir einmal vormachen.“
Sie klopfte Tadhg den Hals, hatte aber noch immer so weiche Knie, dass sie nicht absteigen konnte. Tom ließ die Gruppe allein und öffnete ihr das Tor, durch das sie hindurch reiten konnte. Niemand machte mehr den Vorschlag, ein Stück zu traben und einem der Herrn ging nach diesem Anblick das Herz so in die Hose, dass er abstieg und sein Pony zurückführte. Immerhin konnten sie alle etwas erzählen, wenn sie zurück im Hotel waren. Die Frau hatte einen steifen Nacken, erzählte immer wieder, wie das Pony zu einem unglaublichen Sprung angesetzt und ihr den Kopf in den Nacken geschlagen hatte. Sie hatte sich nur mit Glück im Sattel gehalten, sich nach vorn geworfen und in die Mähne gekrallt, die Landung hatte sie nur überstanden, weil Tadhg den Kopf hochgerissen und sie wieder nach hinten bugsiert hatte.
Tom fand dieses Erlebnis weniger spaßig und würde keinen Touristen mehr auf Darrens Pony setzen. Er musste sich etwas einfallen lassen, wie er die Gruppen allein unter Kontrolle halten konnte. Niemand aus der Reisegruppe sagte, dass er wiederkommen wolle oder ihn weiterempfehlen würde.
Nach diesem Debakel brachte Tom die Ponys zurück auf die Weide und fuhr mit seinem Fahrrad ins Ryan’s. Dort holte ihn Laoise Stunden später ab und er erzählte ihr, was passiert war.
„Wie konntest du denn auch allein mit einer Gruppe losreiten“, schimpfte sie, „du solltest jemanden finden, der mit reitet. Es gibt genug junge Mädchen, die ohne Bezahlung mitmachen würden.“
„Beim nächsten Mal wird das nicht passieren.“ Tom war beleidigt, dass seine Tochter ihm nicht zutraute, es allein in den Griff zu kriegen. Junge Mädchen bedeuteten in seinen Augen nur Ärger.
„Ich werde einen kleinen Reitplatz anlegen und auf dem bleiben die Touristen dann.“
„Hört sich gut an“, sagte Laoise mit scheinheiliger Stimme, „aber in den Flyern, die ich für dich gemacht habe, steht was von ‚Erkunden sie die Landschaft um den Lough Erne auf dem Rücken der Pferde’

. Wenn du sie auf einen Reitplatz schickst, sehen sie davon nicht viel.“
„Dann ändern wir das in einer Fußnote ab, wenn die ersten Beschwerden kommen, dass die Anfänger auf dem Reitplatz bleiben.“
Tim hatte hinter der Theke die Diskussion mitbekommen und warf ein: „Du könntest die Ponys auch Kopf an Schwanz zusammenbinden."
Tom O’Neill machte ein Gesicht, als sei das gar keine schlechte Idee und seine Tochter schlug hinter seinem Rücken die Hände über dem Kopf zusammen.

Pol und Christy arbeiteten selten zusammen, nutzten aber jede Gelegenheit, um sich gegenseitig zu besuchen, eine Zigarette zu rauchen oder nur zu quatschen. Man hätte meinen können, dass die anderen es immer wieder schafften, die Arbeit so zu verteilen, dass sie nicht zusammenarbeiten konnten, während die Glasgower Jungs nur zusammen eingeteilt wurden.
„Wer das Kuchenmesser in der Hand hält, verteilt auch die Kuchenstücke“, sagte Pol.
Christy verbrachte die meist regnerischen Tage am Badesee, um dort Schilf, Igelkoben und Rohrkolben aus dem Schlick zu ziehen, stand dort dann bis zu den Oberschenkeln im kalten Wasser und wünschte, dass alle der Blitz treffen würde. Es konnte Jahre her sein, das sich jemand um den See gekümmert hatte und Christy fand es nur unfair, dass er die versäumte Arbeit in wenigen Wochen nachholen sollte. Er stand so oft im Wasser, dass er seine Sachen über Nacht nicht trocken bekam und Pol ihm seine Hosen lieh. Man sah schon von Weitem, dass sie ihm nicht passten.
Er war froh, wenn Waldo ihm zur Hilfe kam, wenn es auch mühsam war, sich mit ihm zu unterhalten, aber richtig übel wurde es, wenn die schottischen Jungs meinten, ihren Spaß mit ihm haben zu müssen.
Pol schaffte es ein einziges Mal zu Hause anzurufen und zu sagen, dass es ihm gut ginge und der Job einfach Zucker sei. Als er Christy fragte, ob er auch jemanden zu Hause anrufen wolle, winkte der nur ab und griff sich wieder an den Schädel.
Samstagabend zogen sie ins nahe gelegene Dorf, tranken dort im winzigen Pub und versuchten Mädchen aufzureißen, wobei sie jämmerlich versagten und trotzdem ihren Spaß hatten. Sie standen eng zusammengedrängt in einer Ecke abseits der Theke, was bedeutete, dass sie sich abwechselnd durch die Massen wühlen mussten, um die nächste Runde zu holen. Einige Angestellte des Nidd Halls waren ebenfalls im Pub, aber Pol und Christy legten einen Wert darauf, den Abend mit ihnen zu verbringen.
„Ich bleibe keinen Monat mehr hier“, sagte Pol, hielt sich an Christys Schulter fest, weil er etwas zu schnell getrunken hatte, „lieber geh ich rüber aufs Festland oder nach Hause. Was ist mit dir?“
„Ich mach keine Pläne.“
Christy hatte bisher sehr wenig über sich selbst erzählt, war den Fragen geschickt ausgewichen und hatte es auch geschafft, seinen Familiennamen geheim zu halten. Wenn die anderen Arbeiter nach ihm riefen, nannten sie ihn nur Paddy, das taten sie mit Pol auch; wenn sie zusammen waren, versuchten sie erst einmal zu erraten, wer überhaupt gemeint war.
In den frühen Morgenstunden, als man in dem Pub wegen der Sperrstunde zwar hinaus, aber nicht mehr hineinkam, war die Luft in dem abgeschlossenem Raum zum Schneiden dick und angefüllt mit Gerüchen, die Pol und Christy auf die Toilette flüchten ließen, weil man dort wenigstens das Kippfenster zum Hinterhof aufdrücken konnte.
„Wie lange arbeitest du schon so?“ fragte Pol. Er stand schon seit einer kleinen Ewigkeit vor dem Urinal, Christy hockte auf der anderen Seite der Wand, hielt den Kopf gesenkt und durfte sich nur noch langsam bewegen, wenn er nicht kotzen wollte.
„Ich mach das schon lange“, sagte er, „es ist einfacher, den Job sofort hinschmeißen zu können, wenn mir was nicht passt. Ich hab nichts gelernt und die Schule hab ich auch ohne Abschluss hingeschmissen, also ist das die einzige Möglichkeit für mich, überhaupt Geld zu verdienen.“
„Schon mal gezapft?“
Christy schien überlegen zu müssen. „Ich bin in einem Pub groß geworden“, sagte er endlich, drückte sich von der Wand hoch, wanderte durch den gekachelten Raum, ohne dabei auf die schwarzen Fugen zu treten. Das Spiel hieß Himmel und Hölle. Drinnen im Pub ging es plötzlich hoch her, es klang wie eine Schlägerei, die niemand zu stoppen versuchte und dabei gingen den Geräuschen nach zu urteilen Stühle, Flaschen und Gläser zu Bruch.
„Wir hätten unsere Gläser mitnehmen sollen“, murmelte Pol. Ein paar der Gäste kamen in der Toilette gestolpert, dem einen blutete die Nase, sein Kumpel hielt ihm mit Daumen und Zeigefinger die Nasenflügel zusammen.
„Die sind alle verrückt geworden“, näselte der Getroffene und Pol fand das auch.
Es war Zeit, den Heimweg anzutreten, aber Christy musste er erst davon überzeugen, dass es besser war, endlich ins Bett zu kriechen.
Sie sangen den ganzen Weg schmutzige Lieder, verliefen sich im Dunklen und wurden von einem wütenden Hund verfolgt. Als sie endlich in Nidd Hall ankamen, machten sie vor dem Gebäude der Angestellten so viel Krach, dass die halbe Belegschaft ihnen Prügel androhte.
„Man könnte sich glatt zu Hause fühlen bei so einer Begrüßung“, rief Pol und Christy hielt ihm den Mund zu.
Sie hätten müde sein müssen nach dem Alkohol und dem langen Fußmarsch, trotzdem konnten sie nicht einschlafen und flüsterten noch miteinander, bis die Sonne aufging.
„Ich vermisse meinen Bruder“, sagte Pol in die Dunkelheit, „es ist nicht das Gleiche, wenn ich allein unterwegs bin.“

Pol verbrachte einen langen Montag Vormittag im Gewächshaus, wo er Tomaten hochband, einen Haufen Blumen für die Tischdekoration schnitt und in Sperrholzkisten zur Küche brachte, wo ein Mädchen der Bankettabteilung sie abholte. Sie wollte die Kisten allein tragen, aber das schaffte sie nicht und Pol bot seine Hilfe an. Bevor sie ablehnen konnte, marschierte er bereits mit den Kisten mit den Armen hinter ihr her. Die Uniform stand ihr sehr gut, sie lächelte ununterbrochen und zunächst dachte Pol, sie würde es wegen ihm tun, aber nachdem er die Kisten abgestellt hatte und sie anquatschen wollte, entdeckte er, dass dieses Lächeln auch dem Gast gehörte, der nach dem Weg in den Wintergarten fragte.
Da ihn die Arbeit sowieso schlauchte, konnte er im Grunde auch drauf verzichten, Mädchen kennenzulernen, das redete er sich ein und irgendwann glaubte er es auch.
Mittags aß er nur Sandwiches im Garten, Christy leistete ihm Gesellschaft. Nach ihrer Sauftour war von ihrem Lohn nicht mehr viel übrig und Pol erwähnte, dass er eigentlich einen Teil davon hatte nach Hause schicken wollen.
„Als wir in Amsterdam waren, haben wir uns was nebenher verdient“, sagte er, „aber hier wird das wohl nicht laufen.“
„Bei so was mach ich nicht mit, Pol. Das ist nicht meine Art.“
„Manchmal sind die Angebote zu verlockend, als dass man sie ablehnen könnte, und jetzt erzähl mir nicht, dass du noch nie mit dem Gedanken gespielt hast.“
Christy warf sein angebissenes Sandwich ins Blumenbeet, obwohl Pol es gern weiter gegessen hätte.
„Das ist der Grund, weshalb ich nicht mehr nach Hause gehe“, sagte er abweisend. Sein kleines Lächeln war verschwunden, als er das sagte und Pol dachte sofort daran, von seinem Ärger mit René zu erzählen, weil er annahm, Christy könnte in ähnlichen Schwierigkeiten gesteckt haben.
Gordon, einer der Glasgower, schreckte sie hoch, versuchte sie mit ein paar groben Worten wieder an die Arbeit zu scheuchen, aber er war allein und sie ignorierten ihn nach dem ersten Schreck; nicht nur, weil er sie Paddys nannte. Pol ließ einfach etwas den Kopf sinken, sein Haar fiel ihm ins Gesicht und er versteckte sich hinter seiner Matte, ließ Gordon ins Leere laufen.
Endlich sagte Christy: „Du störst, Glaschú

, merkst du das nicht?“ und sagte das in seinem schottischen Akzent, dass Gordon Anstalten machte, sich auf ihn zu stürzen. Er tat es dann doch nicht, weil Pol und Christy gleichzeitig aufstanden und ihn auffordernd ansahen. Gordon war schlau genug, schweigend abzuziehen. Da er voll von Vorurteilen steckte, dachte er vermutlich auch, dass Iren sich mit jedem prügelten und daran die reine Freude hatten.
„Gehen wir“, sagte Christy, nachdem sie wieder allein waren, „wenn er seine Kumpel holt, sehen wir schlecht aus.“
„Gehst du wieder in den See?“
„Ich hab schon Schwimmhäute zwischen den Zehen.“

Kieran ging mit Moira schlafen, lag aber stundenlang wach und schlich sich aus dem Haus, nachdem er sicher ging, dass sie fest schlief. Die Hunde im Zwinger schlugen nicht an, wenn sie ihn erkannten und er konnte unbemerkt in den auf dem Feldweg abgestellten Wagen steigen, den Michael für ihn besorgt hatte.
Die Gewehre, die seit Monaten im Wald verborgen waren, grub er mühsam aus, verstaute die Kisten im Wagen und fuhr die ganze Nacht über Landstraßen, durch schlafende Dörfer und umging die Kontrollstellen, in dem er über Wiesen und Weiden fuhr, die im Grenzgebiet lagen. Er konnte nur die Weiden von sympathisierten Farmern als Übergang benutzen, weil die mit ihren Traktoren über seine Reifenspuren fuhren am nächsten Morgen, und sie holten nicht direkt die Garda, wenn sie einen Kleinlaster mitten in der Nacht auf ihrem Grundstück hörten.
Bei solchen Lieferungen nach Belfast war er allein unterwegs, weil er niemanden neben sich sitzen haben wollte, der in kritischen Momenten in Panik geriet.
Manchmal machte Kieran sich Gedanken darüber, ob Moira mitten in der Nacht aufwachte, neben sich tastete und seine Seite im Bett kalt und leer fand – was sie dann dachte, ob sie sich furchtbare Sorgen machte und sich schlafend stellte, wenn er sich ins Bett zurück schlich. Obwohl die Jahre in Belfast alles andere als ruhig gewesen waren, hatte Moira dort nie Fragen gestellt.
Es war immer gefährlich, sich in solche Gedankengänge zu verstricken, besonders, wenn man allen mit brisanter Fracht unterwegs war. Ursprünglich war es geplant gewesen, dass er die Fracht bis nach Belfast rein brachte, aber die Bosse hatten kurzfristig die Pläne geändert. Er solle nur bis Newport Trench am Lough Neagh fahren und die Kisten dort übergeben. Ein Boot würde den Transport bis auf die andere Seite übernehmen, das war dann nicht mehr seine Aufgabe. Offensichtlich wollte man ihn in der Stadt nicht haben.
Die Verhandlungen, die zwischen den Parteien liefen, hatten den Charakter von Fernsehduellen ohne Publikum; traten die Parteioberhäupter vor die Kameras, kam auf beiden Seiten nur das übliche blabablah heraus, die üblichen Anschuldigungen. Kieran wusste, dass es während der Verhandlungen und Gesprächen kaum Annäherungen gab, dafür aber Beinah-Schlägereien und massive Drohungen. Erst, wenn die Gespräche auf einer politischen Ebene stattfanden, schien es etwas zivilisierter zuzugehen. Er fragte sich, ob seine Anwesenheit in Belfast Unruhe bringen konnte und sie ihn deshalb außen vor lassen wollten.
Der Sporthafen von Newport Trench war still und verlassen, auf der Anlage standen ein paar Campingwagen, um diese Nachtzeit war alles dunkel und still.
Kieran blieb in dem abgestellten Wagen sitzen, wartete geduldig auf die Kontaktperson. Keine Sekunde dachte er an eine Falle, aber er verzichtete auf die Zigarette, um sich nicht ablenken zu lassen.
Irgendwann klopfte jemand mit dem Fingernagel auf der Beifahrerseite gegen die Fensterscheibe. Kieran wartete eine Sekunde, bis er die Innenbeleuchtung anknipste und dem Jungen, der er draußen erkannte, ein Zeichen machte, dass er hereinkommen sollte. Sie kannten sich von einigen Schmuggeltouren in den letzten Jahren, er schien kaum zwanzig zu sein und auch nicht älter zu werden. In letzter Zeit schien er allerdings seine Sorglosigkeit verloren zu haben. Kieran konnte nur raten, was passiert war.
Kieran fragte, wie es in Belfast lief zurzeit, erfuhr aber nicht viel Neues, was ihm Conor nicht auch schon berichtet hatte. Er schloss die Schiebetür des Ford Transporters auf. In dem Licht der schwachen Außenbeleuchtung des Hafens trugen sie die Kisten über den Steg in ein Touristenboot, sprachen dabei kein Wort. Sie waren vorsichtig, um nicht zu stolpern. Kieran nahm die letzte Kiste allein, brachte sie unter Deck und sah sich um, ob alles richtig verstaut war. Der Junge kam die Treppe herunter, rauchte eine filterlose Zigarette.
„Alles in Ordnung?“
„Alles bestens“, sagte Kieran.
Der Junge schnippte die Kippe über Bord und warf den Schiffsmotor an. „Willst du nach Belfast rüber?“ fragte er durch das Dröhnen hindurch, „soll ich dich mitnehmen?“
„Nein“, sagte Kieran, „ich lass mich da besser nicht blicken.“
„Ich weiß nicht, was du ausgefressen hast, aber es scheint ’ne Menge Staub aufgewirbelt zu haben.“
„Was weißt du denn davon?“
„Nur das, was man so hört in letzter Zeit.“
Kieran reichte ihm die Hand und erwiderte: „Es ist nicht immer alles wahr, was man hört.“
Auf der Rückfahrt wurde er müde, er machte eine kleine Pause, als er die heimischen Straßen erreichte und fast zu Hause war. Er fuhr den Wagen hinter eine Hecke und schloss die Augen. Am liebsten wäre er gar nicht mehr Heim gefahren, hätte sich gern irgendwo verkrochen und auf den Morgen gewartet, denn er wollte nicht nach Hause kommen und Moira wach und in Tränen vorfinden. Er wollte nicht gezwungen sein, mal wieder Ausreden für seine Abwesenheit zu erfinden. Kam er zur Frühstückszeit zurück, konnte er vorgeben, nur früher aufgestanden zu sein.
Er war müde, aber als er in der Dunkelheit in dem Ford saß, der noch immer nach Erde und Metall roch, bekam er die Augen keine Minute lang zu. Er war nicht sicher in dieser Gegend. Dafür hatte er in den Jahren ein Gespür entwickelt.
Was immer sie tun werden, dachte er, sie werden es selbst in die Hand nehmen.
Den Ford Transporter stellte er wieder in einem Wäldchen ab, von wo er schnell wieder verschwinden würde, und er ging zu Fuß nach Hause, während endlich die Sonne aufging.
Kieran setzte sich in Paddys Stuhl, strich sich das nasse Haar zurück. Es hatte zu regnen begonnen und er wartete einfach, was als Nächstes kommen würde.
Darren war der Frühaufsteher der Familie, er kam durch die Hintertür gerannt und stoppte auf Kierans Ruf. Er machte ein quiekendes Geräusch und sprang ihm auf den Schoß.
„Hey“, sagte Kieran, „wo willst du hin so früh am Morgen?“
Erst wollte Darren nur mit Handzeichen verständlich machen, dass es ihn zu Toms Pony zog, aber ihm fiel ein, dass er bald diese Schule besuchen würde. Und wenn er sich einfach überwandt und sich Mühe gab, mehr zu sprechen, würde sein Daid diese Idee vielleicht wieder fallen lassen.
„Toms Pony“, sagte er so deutlich wie möglich, wobei er immer Schwierigkeiten hatte, die Worte zu sortieren, bevor er sie aussprechen wollte. Deshalb mochte er es nicht, wenn ihn alle zum Sprechen bringen wollten und stellte sich stur. Sein Daid sah müde aus, aber er schien jedes Mal gerührt, wenn er etwas sagte.
„Die Ponys haben es dir angetan, ich weiß. Dann flitz mal rüber und grüß den alten Tom von mir.“
Darren kletterte über die Steinmauer und verschwand über die Felder, die in dem Nieselregen diesig und grau waren. Kieran zog sich die nassen Schuhe aus, bevor er durch die Küche das Haus betrat, einen Kessel Wasser aufsetzte und dabei von Moira überrascht wurde. Sie wollte nicht wissen, wo er gewesen war, die Atmosphäre war gut zwischen ihnen. Sie frühstückten und rückten näher zusammen, als Brendan sich zu ihnen setzte.
Im Radio liefen die Morgennachrichten, bis auf einige Unfälle und einem misslungenen Supermarktüberfall war es ruhig in der Gegend. Wäre in dieser Nacht irgendwo etwas explodiert, hätte Moira ihn mit ihrer üblichen Missachtung gestraft.
Sie stritten sehr aufgebracht und laut lachend darüber, als Brendan verkündete, er wolle sich das Haar färben lassen.
„Wenn du das machst“, sagte Kieran, „dann tacker ich dir Pols gestrickte Andenmütze am Kopf fest.“
Sie diskutierten, welche Farbe sie ihm gerade noch durchgehen lassen könnten, einigten sich auf ein etwas helleres Blond, worauf Brendan vom Tisch aufstand und sagte, dass ihm das alles zu blöde sei und er könnte mit seinem Kopf machen, was er wolle.
„Du hast da was falsch verstanden“, murmelte Kieran in seinen Tee, „ich kann mit deinem Kopf machen, was ich will.“
Kieran verschlief den ganzen Morgen und den ganzen Vormittag, stand dann wieder auf und kümmerte sich um ein paar Sachen, die während der Zeit, die er bei McGinty gearbeitet hatte, liegen geblieben waren. Er fand endlich die Zeit, zwei neue Wäscheleinen im Garten zu spannen, was er Moira schon lange versprochen hatte, das wuchernde Gras an der Mauer und an den Beeträndern zu mähen.
Sie riefen ihn nicht an, wie sie es sonst taten; sie meldeten sich nicht bei ihm, aber Kieran hatte längst seine eigenen Fühler ausgestreckt und erfuhr, dass die Bosse fast schon enttäuscht darüber waren, dass er bei der Lieferung nicht geschnappt worden war.
Conor, den er losschickte, um von zufällig ausgewählten Münzfernsprechern im ganzen County einen Kontaktmann in Belfast anzurufen, kam mit seinem Moped am Haus der Finnigans vorbei und dann wechselten sie ein paar Worte, wie Nachbarn sich über den Zaun hinweg unterhielten.
Conor war etwas jünger als die Zwillinge, kam ursprünglich aus County Mayo und hatte sich eine Zeitlang als kleiner Trickbetrüger durchgeschlagen, bis Kieran ihn zunächst für keine Kurierdienste angeheuert hatte. Anfangs konnte er von Kierans Aktionen nichts geahnt haben, er stellte nie Fragen, außer, wann er den nächsten Auftrag kriegen konnte. Seine Vergangenheit als Trickser und Taschendieb war perfekt für die Arbeit bei Kieran, er hatte das vorsichtige Gespür, was nötig war und wusste, wie er in brenzligen Situationen reagieren musste.
Die Informationen, die zwischen Pettigoe und Belfast hin und hergingen, kamen von Malcolm, wurden von Conor weiter getragen, der einfach nur die Nase in den Wind hielt und abzuschätzen versuchte, welche Richtung die Verhandlungen nahmen und was es sonst noch neues gab. Kieran nutzte diese stille Post besonders intensiv, seit er sich für Darrens Einschulung einsetzte. Er konnte sich nicht immer darauf verlassen, was die Bosse ihm persönlich sagten.
Conor rauschte auf seinem stinkenden Moped durch Pettigoe, sang lauthals gälische Volkslieder und legte sich auf den schlechten Straßen fast auf die Nase, weil er nicht daran dachte abzubremsen. Wenn er früh morgens unterwegs war, brachte er schon mal Zeitungen mit und verkaufte sie an die Frühaufsteher. Die Zeitungen ließ er vorher irgendwo mitgehen.
Mit quietschenden Bremsen kam Conor vor Kieran zum Halten, stemmte dabei die Absätze in den Boden, um das Gleichgewicht zu halten.
„Kieran“, rief er, „ich war nur auf den Nebenstrecken unterwegs, gibst du mir was zu trinken aus? Ich fühl mich, als hätte ich ’ne Tüte Fugenfüller gegessen.“
Kieran konnte eine Pause vertragen. Er hatte begonnen, einen uralten Haselnuss-Strauch zu schneiden und die Gartenschere, die er dazu benutzte, war so rostig, dass er die Äste auch hätte abbrechen können. Er drehte sich zu Moira herum, die in ihrem Gemüsebeet beschäftigt war und ihm zuwinkte, dass er verschwinden solle.
Sie gingen zu Fuß zum Ryan’s hinüber, hatten das Moped an der Hecke stehen gelassen.
„Wie geht’s Darren?“ fragte Conor.
„Gut, könnte nicht besser gehen. Er ist unterwegs im Moment.“
„Ich hab Brendan getroffen, aber er war nicht zum Quatschen aufgelegt.“ Conor machte eine Geste an seinen Ohren, als spiele er mit imaginären Zöpfen, „er war sehr beschäftigt mit einer hübschen Person.“
„Die wird ihn noch in Schwierigkeiten bringen.“
„Das tun die doch immer.“
Das Ryan’s hatte noch nicht geöffnet, aber Howard ließ sie rein und sie setzten sich in den Hinterhof in die Sonne. Dort konnten sie in Ruhe reden. Conor trank sein erstes Glas mit wenigen Zügen halb leer, rülpste genüsslich und rieb sich die tränenden Augen.
„Brendan hat nur gesagt, ich soll dir nicht sagen, dass ich ihn mit dem Mädchen gesehen hab. Ich hab’s ihm nicht versprochen – du bist derjenige, der mich über Wasser hält.“
Kieran grunzte nur. „Wie hat sie ausgesehen? Blondes langes Haar, schlank und etwas kleiner als er?“
„Ein richtiges Mäusschengesicht. Und mit furchtbaren Schuhen an den Füßen. Diese offenen flachen Dinger, bei denen man denkt, ihnen wären im letzten Gulli die Absätze abgebrochen. Aber ein hübscher Käfer.“
„Sie ist von der anderen Seite.“
Conor sah ihn von der Seite an, leerte sein Glas und sah sich nach Nachschub um.
„Die beiden“, sagte er, „machen dir wirklich nur Ärger.“
Kieran ging in den Pub zurück für zwei neue Pints, die leeren Gläser sammelten sie auf der Fensterbank hinter sich.
„Pol ist allein rüber nach Schottland, da machen wir uns jetzt nur noch Sorgen, ob wir ihn lebend wieder sehen. Ich sollte was unternehmen wegen Brendans Liebelei, aber ich bin mir nicht sicher, wie ich das anpacken soll. Was hast du aus der Stadt gehört?“
Seit Conor eingeweiht war, machte er sich seine eigenen Gedanken über die Dinge, die er hörte und mitbrachte.
„Malcolm macht sich Sorgen, dass die Stimmung gegen dich weiter umschlägt. Das Paket ist gut angekommen, aber ein paar Männer scheinen sich gewundert zu haben, dass du der RUC nicht in die Hände gefallen bist.“
„Haben sie dabei eine bestimmte Patrouille gemeint?“
Conor rückte etwas näher heran und fragte misstrauisch: „Du glaubst doch nicht etwa, dass sie jemanden auf dich angesetzt haben?“
Kieran hätte nicht sagen können, ob in der Nacht des Transportes etwas anders als sonst gewesen wäre, er war die üblichen Straßensperren umgangen, war sonst niemandem begegnet. Aber vielleicht war er der RUC auch nur durch die eingelegte Pause entgangen.
„Sie wünschen es sich vielleicht“, sagte er, blinzelte in einen Sonnenstrahl, „aber sie würden es nicht tun. Das ist so, als wenn eine Mutter ihrem Sohn hinterher brüllt, dass sie ihm den Kopf abreißen wird, aber sie würde es nie wirklich tun.“
Conor hob skeptisch das Kinn und sah ihn nur an, worauf beide dann lieber das Thema wechselten.
„Ich war mal ein paar Wochen in Schottland“, sagte Conor, „hab da eine Tante besucht, als ich klein war. Ich hab nicht viel Erinnerung daran, nur, dass es noch kälter war als hier und ich niemanden so richtig verstanden habe.“
„Wie alt warst du da?“
„Sechs oder sieben.“
„Da werden die dich auch kaum verstanden haben.“
Conor erwiderte gespielt beleidigt: „Ich war immer unter den ersten fünf in meinem Jahrgang.“
Sie tranken genug, dass Conors Heimfahrt stark gefährdet war, aber er sagte, er würde einfach einen Kaffee hinterher kippen und das würde schon gehen.
„Ich mach mir noch immer Gedanken wegen Tommy“, sagte Kieran, „es ist Wochen her, dass ich etwas von ihm gehört habe. Er wollte Verbindung zu mir halten. Vermutlich ist er nicht mehr in Nordirland, aber wenn du Neuigkeiten hast, ruf mich direkt an.“
„Ich hab ständig die Ohren offen wegen ihm. Wenn sie ihn geschnappt hätten, wären die Nachrichten voll davon gewesen.“
Seit Tommys Ausbruch und seiner Flucht hatte er sich bei Kieran ab und zu gemeldet und ohne Aufforderung hatte Kieran ihm Geld geschickt, postlagernd nach London. Inzwischen wusste er nicht mehr, wo es ihn hin verschlagen haben könnte und wie es ihm ging. Tommy hatte den Kontakt zur Army abgebrochen.
„Sie werden ihn nicht schnappen“, murmelte Kieran, „wenn sie ihn irgendwo zu fassen kriegen, erschießen sie ihn.“
Schon allein deswegen, dachte er gallig, weil sie seit Jahren vergeblich versuchen ihn zu erwischen.
Er leerte sein letztes Glas und verkündete, dass er nach Hause müsse und er flüsterte Conor eine letzte Anweisung und Nachricht zu, die er weitergeben solle. Conor verschwand mit wehendem Haar, Schlangenlinien fahrend und fröhlich vor sich hinpfeifend, nur unterbrochen von bestialischen Fehlzündungen seines Gefährtes.

Noch am Abend bekam Kieran einen Anruf. Er erkannte die Stimme, obwohl der Anrufer sie so stark verstellte, dass er sich nur noch lächerlich anhörte, und das, was er sagte, konnte Kieran nicht ernst nehmen. Er hörte sich die wütende Attacke ruhig an, hatte dabei nur eine hysterisch schnatternde Ente vor Augen und legte wortlos auf. Es war einer aus dem Lager, von dem er nichts anderes erwartet hatte. Er musste sich eingestehen, dass wieder die Zeit gekommen war, Moira nicht mehr ans Telefon zu lassen.
In Belfast hatte sie am Telefon immer erst ängstlich gehorcht, bis sie sicher war, dass es kein Drohanruf war und selbst dann war sie immer kurz angebunden und vorsichtig gewesen. Das hatte sich in Pettigoe gelegt und Kieran wollte ihr es nicht sagen, dass sie sich jetzt auch hier nicht mehr sicher fühlen konnte. Am liebsten hätte er das Telefon aus der Wand gerissen und behauptet, Paddy wäre es gewesen.
Moira hatte Paddy das Abendessen gebracht und danach Darren in die Wanne gesteckt, der sich mit Händen und Füßen wehrte und das Haus zusammenschrie. Er benahm sich wie ein Zweijähriger. Kieran vermutete, dass er sich einfach nur allein waschen wollte und er hatte versucht, es Moira zu erklären, aber das wiegelte sie energisch ab.
„Hast du ’ne Ahnung, wie lange es dauert, wenn ich ihn allein herumplantschen lasse? Dann schwimmt das Bad, dass es unter der Tür durchläuft und sein Hals ist immer noch dreckig. Wenn du es schaffst, uns statt des hochgewellten Laminatbodens schöne Kacheln ins Bad zu legen, dann darf Darren baden, bis er faltig wird.“
„Okay“, sagte Kieran daraufhin, „wenn du sein Gebrüll ertragen kannst.“
Wenn er wenigstens ganze Sätze schreien würde

, dachte er, das wäre ein Anfang

.

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Tag der Veröffentlichung: 30.01.2011

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