Cover

Christy


Der Job, den man ihm in Glasgow versprochen hatte, war die Anreise nicht wert gewesen, denn der Pub, in dem er hatte arbeiten sollen, war vier Tage vor seiner Ankunft bis auf die Grundmauern niedergebrannt und trotz dieses Rückschlags konnte Pol sich nicht dazu durchringen, sofort wieder abzureisen. Er trampte ein wenig durch die Gegend, bis er in der Nähe eines Herrensitzes, das zum Hotel umgebaut worden war, einen Anschlag las, dass noch Personal gesucht wurde.
Er marschierte also vor, zeigte die Papiere, die er hatte, und wurde von der Managerin des Hotels eingestellt. Küchen- und Gartenarbeiten fand er weniger schlimm in der noblen Umgebung und stellte sich auf eine ausgelassene Zeit ein, denn alle, mit denen er zusammenarbeiten würde, waren in seinem Alter. Die meisten kamen aus Glasgow und Umgebung, aber es waren auch zwei Französinnen und ein paar Saisonarbeiter aus Tschechien oder Polen dabei, so genau hatte er das bei ihrem komischen Englisch nicht verstanden.
Das Nidd Hall lag inmitten einer Seen- und Parklandschaft und ein Einzelzimmer kostete dort 95 Pfund pro Nacht. Mrs. Antonia Madison betonte bei ihrem ersten Gespräch, dass sie bereits Hotel und Ferienanlagen in Singapur und in den USA geführt habe und sie wisse, „wie sie ihre Leute anzupacken habe“. Beim kleinsten Fehltritt könne Pol damit rechnen, ohne Lohn und Zeugnis hochkantig rauszufliegen. Damit hatte Pol kein Problem. Ihm geisterte nur der Begriff „meine Leute

“ durch den Kopf und überlegte, ob er mit der Arbeit im Nidd Hall eine Art freiwillige Leibeigenschaft einging.
Sie sah auf den Personalbogen, den er ausgefüllt hatte, schob ihre Lesebrille zurecht und bemerkte spitzer als nötig: „Sie haben ihren Vornamen falsch geschrieben, Mr. Finnigan.“
„Der ist so richtig“, antwortete Pol, „das ist gaelach

.“
Sie ging darüber hinweg, nannte ihn seinen Wochenlohn, ließ einen Jungen in Uniform kommen, der ihm die Küche, die Unterkünfte und den Rest zeigen würde. Pol trabte dem kurz abgebundenen Jungen durch den Verwaltungstrakt hinterher und fragte: „Bekomme ich auch so eine Uniform?“
Die Uniform blieb ihm erspart, weil sie ihn nicht auf die Gäste loslassen würden, und nach den ersten zwei Tagen in der Küche unter dem österreichischen Chefkoch nannte er das Nidd Hall nur noch Shit hole

.
Er versuchte mit den Angestellten ins Gespräch zu kommen, weil ihm Kartoffeln schälen und Sellerie schneiden ohne Ablenkung einfach zu öde war, aber die Jungs aus der Tschechei verstanden zu wenig und unterhielten sich nur untereinander und die Schotten ließen ihn abblitzen, sobald sie seinen Akzent hörten.
Die netten Mädchen, die in diesen weißen Schürzen und kurzen Röcken herumliefen und ab und zu in die Küche geschwebt haben, beachteten ihn überhaupt nicht und so hatte er auch nach Feierabend nicht viel Spaß dabei, sein geschmuggeltes Bier allein zu trinken.
Nach dem ersten Lohn wollte er schon seine Sachen packen und verschwinden, aber er blieb dann doch, denn die Madison setzte ihn in die Gärtnerei, wo ihm wenigstens der aufgeblähte Wiener nicht mehr auf den Sack ging. Dort allerdings arbeitete er mit drei unfreundlichen Einheimischen zusammen, die bei jeder Gelegenheit ein „das kennst du wohl von zu Hause nicht“ fallen ließen.
Er merkte sich ihre Namen nicht, weil er sich eh nicht mit ihnen unterhalten wollte, nachdem sie ihn immer wieder hatten abblitzen lassen. Er ließ die Witze über dumme Iren und Kartoffeln, über Bomben bastelnde Idioten über sich ergehen, vertraute darauf, dass sie sich an Madisons Anweisungen hielten und ihn nicht angreifen würden. Pol wollte sich nicht mit ihnen prügeln, brauchte solche Art der Konfrontation nicht. Alles andere konnte er perfekt ausblenden, als sei er Autist, dem die Umwelt zu viel wurde.

An manchen Tagen wünschte Pol sich fast in die hektische Küche zurück, wo der Waliser Küchenazubi Gavin zumindest zu einer gemeinsamen Zigarettenpause bereit gewesen war.
An einem Morgen wässerte er gerade die Tomaten, während die anderen Unkraut zupften oder vor dem Glashaus Zeitung lasen, als hinter ihm jemand betont deutlich sagte: „Zu wem muss ich gehen, wenn ich nach einem Job fragen will?“
Sie drehten sich zu ihm herum, taxierten ihn, und als keiner der Jungs reagierte, drehte Pol das Wasser ab und sagte: „Ich bring dich hin.“
Der Neue trug einen schwarzen Rucksack über der Schulter, versteckte sein Gesicht größtenteils unter einer Baseballkappe, die Klamotten schlabberten um seinen Körper. Der Pulli sah aus wie aus Waschlappen genäht. Er war einen halben Kopf größer als Pol, mochte aber nur die Hälfte wiegen.
„Bist du auch auf den Aushang reingefallen?“ Sie sahen sich abschätzend an, bis zu dem Moment, als Pol breit grinste und bei ein paar albernen Tanzschritten sagte: „Pol Finnigan, County Dun na nGall

.“
„Ich bin Christy. Bodensatz aus Baile Átha Cliath

.“
Obwohl Pol genug zu tun hatte, lungerte er vor dem Büro herum, während Christy bei Mrs. Madison vorsprach, mit einem Job herauskam und trotzdem nicht zufriedener aussah.
„Ich hab der Bantiarna

gesagt, dass ich alles mache, wenn’s an der frischen Luft ist und sie antwortet, dass sie Holzfäller im Moment nicht bräuchten.“ Er steckte sich zu einem symbolischen Kotzen den Finger in den Rachen. „Ich soll erst mal beim Badesee arbeiten.“
Sie zuckten zusammen, als die Madison ihre Bürotür aufriss, in einem beißend-süßen Ton sagte, dass Pol seinen Kollegen die Räumlichkeiten zeigen solle und dann könnte er wieder an die Arbeit gehen.
Christy sah sich in dem Schlafraum um, in dem vier Betten standen und sonst nur noch Platz für einen Schrank war.
„Sind alle Betten belegt?“ Er nahm die Baseballkappe ab, strich sich das Haar zurück und drückte mit dem Handballen gegen die rechte Stirnseite.
„Wir sind zu dritt, die beiden Betten sind noch frei. Wir haben uns allerdings die besten Teile schon unter den Nagel gerissen, Matratzen und Bettzeug. Waldo ist in Ordnung, wenn man auch nur die Hälfte von dem versteht, was er von sich gibt. Er ist aus Polen. Seinen Namen kann kein Mensch aussprechen, deshalb nenn ich ihn Waldo.“
„Du hättest ihn auch Karel nennen können.“
Christy setzte sich auf das freie Bett am Fenster, ließ die Träger des Rucksacks von seinen Schultern rutschen. Als er den Kopf hob, um nach oben aus dem Fenster zu sehen, entblößte er eine frische rote Narbe, die sich von einem Kinn zum Hals hinunterzog.
Pol räumte seine Sachen im Schrank zusammen, um Platz zu schaffen, dass begleitete er Christy zum sogenannten Badesee, an dem bereits zwei Männer arbeiteten. Pol kam zurück zu seinen Tomaten, pflückte sich drei Stück vom Strauch und jonglierte mit ihnen, bis ihm eine runterfiel. Er vernichtete das Beweisstück, in dem er sie sich in den Mund stopfte und aufaß.
Bis zum Nachmittag brachte er Kartoffeln und Zuckererbsen in die Küche, ließ sich von einem Koch in Ausbildung anschnauzen, dass die Kartoffeln nicht ordentlich gewaschen seien, worauf er nur mit den Schultern zuckte und sie wieder in den Waschbottich warf. Er hasste die Arbeit in der Großküche, weil alles hektisch abging und jeder jeden anschrie, wenn etwas nicht schnell genug ging. Der Einzige, der nichts abbekam und die ganze Zeit gebauchpinselt wurde, war der Chefkoch.
Die gut betuchten Gäste bekam Pol ganz selten zu sehen, selbst wenn er nach seinem Arbeitstag herumwanderte und sich das Gelände ansah. Die Angestellten hatten die Order, sich von den Gästen fernzuhalten, nicht durch die Gärten und über den Golfkurs zu laufen. Natürlich taten sie es trotzdem.
Früh morgens sammelten Pol und Christy die verloren gegangenen Golfbälle ein, um sie für ein kleines Trinkgeld wieder an den Mann zu bringe, aber Aufwand und Ertrag standen in keinem Verhältnis und so gaben sie es bald wieder auf. Außerdem hatten sie am Rande des Golfplatzes eine etwas unangenehme Begegnung, die sie veranlasste, sich von den Gästen fernzuhalten.
Sie waren gerade wieder dabei, Golfbälle einzusammeln, überlegten, wie sie die Bälle aus dem künstlichen Teich fischen konnten, ohne nasse Füße zu bekommen, als über ihnen ein dumpfer Knall ertönte, der wie Donner über den Himmel rollte. Christy und Pol warfen sich zu Boden, die Arme über den Köpfen und die Gesichter nach unten ins Gras gedrückt. Erst nach Sekunden sahen sie vorsichtig auf, kamen auf die Füße zurück und sahen sich dabei fast verschämt an.
Einer der Golfer, einige Meter von ihnen entfernt, rappelte sich ebenfalls gerade wieder auf, unter den neugierigen Blicken seiner Mitspieler. Sie sahen zu dem Mann hinüber, der etwa Anfang vierzig sein mochte. Er wechselte mit seiner Begleitung ein paar Worte, machte eine beruhigende Geste und hatte sehr wohl mitbekommen, dass auch Pol und Christy sich zu Boden geworfen hatten. Er sah zu ihnen hinüber und schickte einen zackigen militärischen Gruß an ihre Adresse.
„Heilige Scheiße“, flüsterte Pol mit eingezogenem Kopf, „lass uns von hier verschwinden. Ich fürchte, wenn der Soldat da drüben raus findet, wo wir herkommen, könnte es ungemütlich werden.“

Zum Ausspannen bevorzugte Pol die Wiese bei den Gemüsegärten, dort setzte er sich ins Gras und starrte in den Nachthimmel, meist in Begleitung einer Flasche Guinness. Das war atemberaubender als die farbig beleuchteten Bäume und Heckenlabyrinthe vor dem Hotel, die die Gäste zu sehen bekamen. Es war spät, als er in seinen Schlafraum schlenderte. Die anderen Räume auf dem Flur waren voll belegt und es reizte ihn herauszufinden, wo die Mädchen untergebracht waren. Es ärgerte ihn maßlos, dass er seit einer Woche kein anständig gezapftes Guinness mehr getrunken hatte.
Waldo lag bereits in seinem Bett und schnarchte, Christy hockte am Fenster und drehte sich eine Zigarette. Er hatte den ganzen Tag in Erde und Schlamm gewühlt und seine Finger nicht mehr richtig sauber bekommen.
„Hat seine Vorteile“, gähnte Pol, „mit den Pfoten lassen sie dich wenigstens nicht in die Küche.“
„Wo hast du gesteckt?“
Pol zog sich aus, behielt nur die Unterhose an und wühlte sich unter das Bettzeug.
„Ich hab den Mond angeheult. Am liebsten hätte ich unten im Pub ein paar Biere getrunken, aber das sieht man hier nicht gerne.“
„Die halten ihre Leute zusammen.“
Christy legte die gedrehte Zigarette sehr sorgfältig beiseite, schlug nach einer Mücke, die sich in seiner Nähe verirrt hatte, deutete mit einem schwarzen Finger auf Pol.
„Ich besorg uns für’s Wochenende was zu trinken“, sagte er, „egal, was die hier davon halten. Macht Waldo mit?“
„Ich hab ihn saufen sehen“, erwiderte Pol, „der ist auf jeden Fall dabei.“
Sie schliefen ein, ohne sich noch über etwas zu unterhalten und vielleicht hätten sie sich nicht so schnell angefreundet, wenn die schottischen Kellner Tom und Dick nicht gewesen wären. Die beiden betonten bei jeder Gelegenheit, dass sie sich für etwas Besseres hielten und gaben gegenseitig Stichworte für Irenwitze, sobald Pol oder Christy auftauchten. Besonders in dem Gemeinschaftsraum, in dem gegessen wurde, trafen sie aufeinander, und Christy begann damit, ihren schottischen Akzent bei jeder Gelegenheit zu imitieren, bis er und Pol sich nur noch in dieser Form unterhielten und es gar nicht mehr abstellen konnten. Sie versuchten sich gegenseitig zu übertrumpfen dabei.
Pünktlich zum Freitagabend, der zwar nicht ins Wochenende führte, es aber am Nachmittag den Wochenlohn gegeben hatte, besorgte Christy zwei Flaschen Whiskey.
Sie hätten ihre feuchte Party im Schlafraum gefeiert, hätte Dick nicht losgelassen, dass Alkohol in den Zimmern verboten sei, auch bei den irischen Mitarbeitern, die sich wahrscheinlich mit Whiskey morgens die Zähne putzten. Pol erwiderte darauf, dass sie auch woanders trinken konnten und so landeten sie mit Kartoffelchips, polnischen Würsten und dem Whiskey auf der abgemähten Wiese, von neugierigen Blicken durch Buxbäume und Hecken abgeschirmt.
Zunächst waren sie zu dritt, Pol, Christy und Waldo, saßen auf Kisten beisammen und tranken aus Zahnputzbechern und quatschten über den polnischen Papst, Gewerkschaften und Frauen im Allgemeinen. Dann tauchten noch zwei Mädchen auf, die sich zu ihnen setzten und Pol bemerkte einen seltsamen Zug an Christy; während er sich mit dem einen Mädchen unterhielt, legte er immer wieder den Kopf schief, drückte mit den Fingerspitzen gegen die Stirn, als habe er eine Kopfschmerzattacke, aber dann redete er ganz normal weiter, in einer Hand den Zahnputzbecher mit Whiskey.
Pol musste neidlos zugeben, dass Christy einen besonderen Schlag bei den Mädchen hatte, sein Gesicht war schmal geschnitten, ihm fielen ständig die lockigen schwarzen Haare in die Augen und er hatte einen stetig lächelnden Zug um die Mundpartie, was ihn auf die Mädchen sicher ganz anders wirken ließ. Pol fand, dass er dagegen wie eine Bogman aussah.
Waldo, ein kräftiger Kerl mit rundem Schädel und farblosen Augenbrauen, beobachtete das Ganze, begnügte sich mit seinen guten polnischen Würsten und verabschiedete sich recht bald. Das Mädchen, das hinter der Bar arbeitete, setzte sich zu Pol und sie tranken den Whiskey gemeinsam aus dem Becher, und obwohl sie sich schon lange unterhielten, weigerte sie sich, ihren Namen zu nennen.
„Das ist albern“, sagte Pol, „den krieg ich doch sowieso raus.“
Sie kicherte und er fuhr fort: „Ich brauch nur deine Freundin zu fragen.“
Ihre Freundin war mittlerweile mit Christy hintenüber ins Gras gefallen und flüsterten miteinander.
„Ich heiße Ginny“, sagte sie schließlich, „aber dass wir hier zusammen einen trinken, hat nichts zu bedeuten.“
„Was soll das jetzt?“
„Ich will das nur klarstellen.“
Ginny trank nicht viel, rauchte endlos, erzählte, dass sie schon zwei Jahre in Nidd Hall arbeitete und noch immer auf eine feste Anstellung wartete.
„Ich hätte auch eine Ausbildung gemacht“, sagte sie, „aber da nehmen sie lieber die blonden Dummchen mit dem hübschen Akzent. Mein Vertrag wird immer nur um ein Jahr verlängert. Jederzeit kündbar.“
Es war richtig gemütlich unter dem schmalen Mond, wäre Brendan dabei gewesen, hätten sie gesungen und bis in den Morgen hinein Musik gemacht und die beiden Mädchen wären hin und weg gewesen. Wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Pol ohne Hosen über eine nächtliche Wiese gelaufen wäre.
Inzwischen waren Christy und Pearl im Gras liegend etwas auf Tuchfühlung gegangen, was sie aber abrupt beendete, als es ihr zu weit ging. Sie rollte sich von Christy herunter, stand auf und klopfte sich die Halme und Blüten von den Kleidern. Christy blieb reglos auf dem Rücken liegen, worauf Pol die Zigarette zwischen die Lippen nahm, mit seinem Glas an ihn heranschlich und ihm von oben einen Schall Whiskey über das Gesicht goss. Er versuchte, Christys Mund zu treffen, verfehlte ihn aber und satt dessen lief der Alkohol über Christys Stirn, in seine Augen und in die Nase. Er kam prustend hoch, das Haar zerzaust, wischte sich die Augen und jagte Pol über die halbe Wiese, bis er ihn zu fassen bekam und ihn mit vollem Körpereinsatz wie auf dem Rugbyfeld zu Boden warf. Pol bekam keine Luft, lachte trotzdem wie von Sinnen. Er versuchte aufzustehen, Christy streckte ihm die Hand hin und zog ihn hoch, als es ihm nicht von allein gelang.
„Du hast harte Knochen.“
„Nee“, sagte Christy, „es muss sich so anhören, als hättest du dein Frühstück noch nicht runtergeschluckt und vergiss die Betonung nicht.“
„Du hast...“
„Du hast harte...“
Sie hielten sich lachend aneinander fest. Die Mädchen sahen sich misstrauisch an, schienen sich zu fragen, ob sie an zwei wirklich Irre geraten waren und Ginny sagte: “Wenn die sich weiter so benehmen, werden wir noch zu Babysittern mutieren.“
Pearl setzte sich neben sie, angelte nach der Whiskey-Flasche, nahm einen kräftigen Schluck und japste: „Besser, sie spielen mit sich als mit uns.“
„Kommst du mit rein? Wenn ich jetzt nicht schlafen gehe, krieg ich die Kurve nicht mehr.“
Pearl wäre noch geblieben, aber Pol und Christy saßen abseits auf der Wiese, unterhielten sich und schienen die Mädchen vergessen zu haben. Also nahmen sie sich die Flasche, in der noch etwas drin war, eine Handvoll Chips und gingen zurück um Haus.
„Meine Familie ist echt schräg“, sagte Pol, als sie auf das Thema zu sprechen kamen, „du würdest nur die Hälfte von dem glauben, was ich dir erzählen könnte. Ich bin jedes Mal froh, wenn ich von zu Hause wegkomme, damit ich mir den Ärger nicht immer wieder antun muss.“
„Nerven dich deine Eltern?“ Christy streckte sich einen abgerissenen Grashalm zwischen die Zähne, kaute darauf herum. Sie saßen mit den Rücken zum Nidd Hall, dessen Fassade selbst in der Nacht hell erleuchtet war und ihnen genug Licht zur Orientierung gab.
„Meine Mutter ist tot und Dad ist sehr krank. Mein älterer Bruder hat bei uns das Sagen, seit er aus Belfast zurück ist. Er hat dort...“
Christy hatte in den Garten hinausgestarrt und schlug Pol unvermittelt auf den Kopf, um ihn zu stoppen, in einer Bewegung, als sei er furchtbar erschrocken. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. „Du solltest mit so was nicht hausieren gehen, bist du eigentlich wahnsinnig? Ich könnte in der Gegenmannschaft spielen.“
„Das glaub ich dir nicht.“
„Vergessen wir das Thema.“
Sie starrten in die Dunkelheit. Pol stupste Christy an und fragte: „Was war der seltsamste Job, den du angenommen hast?“
Christy überlegte. „Ich hab mal in ’nem Zoo Elefanten gewaschen. Mit einem Schrubber und fünf Liter Shampoo. Und du?“
„Ich war mal Assistent in einem Flohzirkus.“
Sie lachten gackernd, warfen sich rücklings ins Gras. Christy suchte nach der zweiten Flasche Whiskey, entdeckte dabei, dass die Mädchen sich verabschiedet hatten. Die Party schien vorbei zu sein.
„Was ist?“ rief Pol, „wollten wir nicht die Nacht durchmachen?“
„Die Weiber sind mit unserem Stoff abgehauen.“
Sie fanden keinen rechten Antrieb mehr, beschlossen, schlafen zu gehen. Auf dem Flur vor den Zimmern sagte Pol. “Wir könnten unseren freien Tag zusammen verbringen und die Gegend unsicher machen. Was meinst du?“
„Okay“, antwortete Christy, aber es klang nicht wirklich begeistert.
Um Waldo nicht zu wecken, zogen sie sich auf dem Flur aus, vielleicht auch in der Hoffnung, ein paar Mädchen könnten vorbeikommen, dann fielen sie stöhnend in die Betten. Pol dachte, Christy sei irgendetwas über die Leber gelaufen und ließ ihn in Ruhe, aber als endlich Bettruhe eingetreten war, kam von Christy ein „Gute Nacht, Jim-Boy“, in einem so furchtbar übertriebenen Akzent, dass Pol laut lostrompetete und es doch noch schaffte, Waldo zu wecken.

Kieran hatte eine Lieferung nach Belfast vorzubereiten, fand aber nicht wirklich die Zeit dazu. Manchmal waren es die Truppen oder die RUC, die die Lieferungen behinderten, manchmal einfach nur die Tatsche, dass er andere Dinge zu tun hatte. Nachdem er nicht zur Arbeit erschienen war, sagte McGinty, er könne ihn nicht mehr gebrauchen und schickte ihn wieder nach Hause. Owen, Bertie und die anderen glotzten und wagten nichts zu sagen, aber das würden sie am Nachmittag im Pub genügend nachholen.
Bertie schlug Kieran auf die Schulter und sagte, er würde sich umhören wegen eines neuen Jobs und Kieran erwiderte, dass er überall eine bessere Arbeit finden würde. McGinty zahlte ihm seinen Restlohn aus und tat dabei so, als müsse Kieran ihm dafür noch dankbar sein. Er hätte das Geld in den Pub getragen und es hätte bis zur Sperrstunde gereicht, wenn er gewollt hätte.
Er traf sich mit Howard Ryan, der seinem Sohn wieder den Pub überlassen hatte und sie fuhren gemeinsam durch das grüne Grenzgebiet.
„Ich hab Brendan gesagt, er soll zu Hause bleiben, aber wer weiß, ob er sich dran hält. Wenn hier alles ruhig ist und die Idioten nicht auftauchen, fahr ich heute Nacht die Lieferung rüber. Tu mir den Gefallen, How, und sag den Leuten, sie sollen die Augen offen halten. Wenn das Pack wieder auftaucht, sollen sie den Wagen von der Straße bringen und sie festhalten. Ich will mindestens einen von den Jungs haben.“
„Ich geb’s weiter.“
Howard fuhr den Wagen und Kieran war damit beschäftigt, nach allen Seiten aus den Fenstern zu sehen, den Himmel zu beobachten und zu hoffen, dass es ruhig bleiben würde.
„Brendan wird dir die Pest an den Hals wünschen deswegen“, murmelte Howard, „er wäre besser mit Pol nach Schottland gegangen.“
Kieran starrte in den bewölkten Himmel, zog erst den Kopf wieder ein und kurbelte das Fenster hoch, als es Bindfäden zu regnen begann.
„Pol ist nur verschwunden, weil er Ärger hat, den er nicht allein in den Griff bekommt. Was ist das da hinten?“ Howard hielt an, sie stiegen aus und taten so, als hätten sie nur für eine Pinkelpause gehalten, nahmen den Mähdrescher auf der Schafsweide genau unter die Lupe. Es mochte nichts bedeuten, aber es war möglich, dass die Brits dort irgendwelche Geräte angebracht hatten und testeten.
„Was hältst du davon?“ fragte Howard.
„Ich weiß nicht, wem das Land gehört, aber wenn der Drescher kaputt ist, wird er ihn kaum auf der Weide reparieren wollen. Finden wir raus, auf welcher Seite die stehen und dann sehen wir weiter.“
„Ich hab ein schlechtes Gefühl dabei, dass du die Lieferung allein machen willst.“
„Ich werde keinen zweiten Mann mitnehmen“, sagte Kieran. Er machte eine Kopfbewegung, dass Howard einsteigen und den Motor starten solle; er selbst starrte zu dem Mähdrescher hinüber und fragte sich, ob er zu misstrauisch war. Er stieg erst zu Howard in den Ford, als ein Armeehubschrauber über der Farm auftauchte und über ihre Köpfe hinweg flog. Er knatterte zwar der Straße folgend von ihnen weg und verschwand, aber Kieran hatte das Schlagen der Rotoren noch lange in den Ohren. Sie fuhren an mehreren Polizeistationen vorbei, an denen alles normal aussah und sie wieder nach Hause abdrehten.
„Ich spendier dir noch ein Pint“, sagte Howard, „wenn Tim den Laden nicht schon in Flammen aufgehen lassen hat.“
„Du bist zu hart zu dem Jungen. Er gibt sich doch Mühe.“
Howard prustete empört.
„Das musst du gerade sagen. Dir können es die Zwillinge doch auch nicht recht machen.“
Und das hat auch seinen guten Grund

, dachte Kieran.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 29.12.2010

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /