Ein kurzer Besuch
An Samstagen fiel das Frühstück immer etwas reichhaltiger und ausgedehnter aus. Es war der einzige Tag in der Woche, an dem Kieran normalerweise nicht unterwegs war und sich Zeit nahm für die Familie. Sonntags hatten sie die Zeit nicht, denn da gingen sie pünktlich zur Messe.
Darren hatte seiner Mutter schon am frühen Morgen einen Strauß Blumen mitgebracht, gelben Ackersenf, Schlüsselblumen, großen Klee und blaue Kornblumen, hatte sie in eine Vase gestellt. Er wusste noch nicht, dass seine Eltern einen Gesprächstermin für die Schule hatten. Moira hatte auf die Nachricht mit Freudentränen reagiert, hatte die ganze Nacht nicht geschlafen vor Aufregung. Trotzdem lächelte sie den ganzen Morgen über, fingerte immer wieder an den Blumen herum. Sie saßen alle zusammen und sie wollte es Darren sagen, dass seine Einschulung vermutlich nichts mehr im Wege stand, als es an der Hintertür klopfte. Über den Hof kamen nur Nachbarn und Freunde, aber die klopften einmal an und kamen direkt hereinspaziert. Kieran stand auf und öffnete die Tür einen Spalt. Er erkannte den Mann nicht sofort, weil er mit ihm überhaupt nicht gerechnet hatte.
„Was willst du denn hier?“ Er zischte es so leise, dass hinter ihm niemand etwas davon mitbekam.
„Ich war in der Nähe. Kann ich reinkommen?“
Kieran drehte sich zu Moira und Darren um, hob die Hand und zog die Tür hinter sich zu, nachdem er hinausgegangen war.
„Nein“, sagte er mit genervter Stimme, „du kannst nicht reinkommen. Als wen soll ich dich verstellen? Als Vetter aus Connemara?“
Er stand mit nackten Füßen neben seinem unwillkommenen Gast, sah auf die Wiesen hinauf. Er musste Franklyn nicht unbedingt ins Gesicht sehen. Er hatte ihn das letzte Mal in Portadown gesehen, sie hatten zusammengearbeitet, sich aber nie angefreundet. Er hatte einen Tick mit seiner Sonnenbrille; nicht mal bei einem Gewitterregen nahm er dieses alberne Ding ab, als würde er verhindern wollen, zu viel von seinem Gesicht zu zeigen. Für irische Verhältnisse sah er nicht schlecht aus, er hatte gute Schnitte bei den Frauen, aber das war nicht das, was Kieran an ihm nicht leiden konnte. Wenn Kieran ihm gegenüberstand, wenn er sich mit ihm unterhalten musste, konnte er sich selbst sehen, ein Provo, ein Militarist, der über Leichen ging, wenn es nötig war. Kieran tat es, weil er es für seine Pflicht hielt, für seine Überzeugung zu kämpfen und alles einzusetzen, was er konnte, aber bei Franklyn hatte er immer das Gefühl, er machte es, weil er furchtbaren Spaß daran hatte. Solche Typen hatten in der IRA nichts zu suchen.
„Guter Witz.“
Franklyn grinste überzogen, versuchte einen Blick an Kieran vorbei durchs Fenster zu werfen, worauf Kieran ihn energisch zum Hundezwinger zog, dort erst wieder seinen Arm los ließ.
„Ich hab keine Zeit für irgendwelchen Blödsinn, also pack aus, was du loswerden willst.“
„Das Landleben scheint dir nicht zu bekommen. Du bist wirklich unausgeglichen.“
„Ist dir jemand auf den Fersen, Franklyn?“ Er wollte dieses Grinsen nicht mehr sehen, denn Franklyn grinste ständig, ob er gerade ein Mädchen anmachte oder jemanden im Fadenkreuz hatte – er verlor es nur, wenn ihm etwas gegen den Strich ging. So wie jetzt.
„Hinter mir her? Schwachsinn, Mann.“
Kieran nahm ihm die Brille ab, griff mit zwei Fingern nach Franklyns Gesicht und zog an dem einen Bügel und steckte ihn in den Halsausschnitt des Hemdes. Franklyn ließ immer die obersten beiden Knöpfe auf.
„Ich war in der Nähe, auf der Durchreise nach Leitrim. Ich dachte, ich könnte bei meinem alten Kumpel vorbeischauen.“ Franklyn blinzelte.
„Wir sind keine alten Kumpel.“
Kieran hätte ihn am liebsten in den Zwinger geworfen. Im gedämpften Ton sagte Franklyn: „Der Mann hat mich losgeschickt, um nach dir zu sehen. Nachdem wir nichts von dir gehört haben, hat er sich Sorgen gemacht, wie es hier läuft.“
„Ich befolge die Anweisungen und hier ist alles ruhig. Was soll das also?“
Franklyn wartete zwei Sekunden, bis er erwiderte: „Gibt es auf, Kieran. Tu dir selbst den Gefallen und gibt diesen Scheißplan mit der Schule auf.“
Mit vierzehn hatte Kieran drei Buchstaben an eine Hinterhofmauer geschmiert, nicht die offensichtlichen Kürzel der Irish Republican Army, sondern das frotzelige FTQ, was Fuck The Queen
bedeutete und war dabei von Patrick erwischt worden. In Pettigoe war man spezialisiert auf den Waffennachschub und Kieran wusste, was sein Vater machte, obwohl sie nie darüber gesprochen hatten. Er wollte mitkämpfen, aber er wollte nach Belfast. Als er sich endlich durchsetzte, löste er damit eine kleine Katastrophe aus. Jahrelang hatte er alles getan, was von ihm verlangt worden war, aber dann entschloss er sich, seinen eigenen Wünschen zu folgen. Jetzt tat er etwas für seine Familie und sie versuchten, ihn daran zu hindern. Das ging über seinen Verstand.
„Okay“, sagte er, „du hast es mir ausgerichtet und jetzt kannst du verschwinden.“
„Wirst du dich dran halten?“
Kieran packte Franklyn bei den Schultern, riss ihn herum und stieß ihn einmal heftig gegen das Gitter des Zwingers. Die Hunde schlugen empört an, schnappten durch die Gitter nach der Jacke und Hose. Jep, der Hund mit der schmalsten Schnauze, kam durch das Gittergeflecht und zwickte ihm in die Waden. Zeppo, der rote irische Terrier, kratzte jaulend an dem Beton unter dem Zaun, bekam die Hose zu fassen, als er seine Nase durch die Lücke presste. Franklyn zappelte und versuchte wegzukommen, aber Kieran hielt ihn fest, lange genug, um ihn schön nervös werden zu lassen.
„Du kannst dem Mann ausrichten, dass ich alles tun werde, was man von mir verlangt, aber er soll nicht versuchen, sich in meine Privatangelegenheiten einzumischen. Das kannst du ihm ausrichten oder du kannst behaupten, ich hätte den Schwanz eingezogen und gekniffen. Wenn er das so schnell raus gefunden hat, dass ich es bis in das Büro des Schulleiters geschafft habe, wird er den Rest auch noch früh genug erfahren.“
„Du bist verrückt“, antwortete Franklyn, aber er hatte erwartet, dass Kieran so reagieren würde.
Bei der kurzen persönlichen Unterredung mit dem Mann hatte er es gewagt, zu bemerken, dass Kieran sich diese Art von Einmischung nicht gefallen lassen würde und auch Malcolm hatte das vorausgesagt. Die Reaktion darauf war gewesen, dass sie sich etwas über Linientreue und härtere Gangarten anhören mussten.
Kieran zog sehr deutlich seine Linie, bis hier hin und nicht weiter, hier beginnt Finnigans Land. Genau das würde er weitergeben, schön verpacken und den Kopf einziehen.
„Ich sag’s ihm“, sagte er, „lass mich los, Kieran. Ich bin nur der Überbringer der schlechten Nachrichten.“
Er verließ das Grundstück ohne sich umzudrehen, stieg in den protzigen Wagen, den er an der Tankstelle geparkt hatte und schwor sich, das nächste Mal ein paar der verfluchten Hunde zu überfahren, sollte er Gelegenheit dazu bekommen. Die Aufschläge an seiner Hose waren angekaut.
Kieran wollte nicht darüber nachdenken, woher der Mann so schnell Wind von der Schule bekommen hatte. Irgendjemand musste da sehr schnell nach Belfast telefoniert haben. Er ging in die Küche zurück und niemand fragte, wer das gewesen war.
„Ich fahr allein“, sagte Kieran.
Moira hatte der kleinen Runde die gute Neuigkeit überbracht und Kieran hatte es geschafft, das Hochgefühl direkt wieder zu zerstören. Moira sah ihn an und verließ die Küche ohne ein weiteres Wort. Es hatte keinen Sinn, ihn umstimmen zu wollen, das klappte bei ihm nicht, weder mit Betteleien noch mit Drohungen. Normalerweise erklärte er seine Entscheidungen nicht, aber diesmal folgte er ihr ins Schlafzimmer, nahm sie in den Arm und hielt sie fest. Sie weinte aus Wut über ihn, ließ es sich aber gefallen, in den Arm genommen zu werden. Er flüsterte nur, beugte sich zu ihr herab, dass er direkt in ihr linkes Ohr sprach, sein Atem in ihrem offenen Haar.
„Ich wollte dich nicht verletzen, aber ich sollte allein mit dem Schulleiter sprechen. Ich habe die Einladung zu diesem Gespräch bekommen, ich habe einen Fuß in der Tür. Das mache ich für Darren und für dich und es hält mich niemand davon ab. Wenn Darren groß ist, wird er nicht in meine Fußstapfen treten. Deshalb geht er an diese Schule.“
„Kieran.“
„Hör doch auf zu weinen.“
„Wie hast du’s geschafft, diesen Termin zu bekommen?“
Moira hielt den Kopf an ihn gedrückt, hörte sein Herz schlagen und es kam ihr plötzlich in den Sinn, wie sehr sie ihn vermisste und wie dumm es von ihr war, ihm die kalte Schulter zu zeigen. Manchmal verstieg sie sich in den Gedanken, sie habe etwas Besseres verdient als das Leben, was sie führte, aber das war ihr Platz, wo sie hingehörte.
„Ich hab ihm geschrieben, ich würde es an die große Glocke hängen, dass seine Schule einen Jungen nur deshalb nicht aufnimmt, weil er katholisch ist. Diese Schule liegt zwar in Tyrone, aber das Sprachzentrum ist ausdrücklich allen Konfessionen zugänglich. Sie halten sich nur nicht daran. Ich würde es an alle Zeitungen in Baile Átha Cliath
, London, New York geben, die so was gern aufgreifen. Ich hab gedroht, ich würde den Mund aufmachen, das ist alles.“
„Du bist verrückt.“
„Du bist nicht die Erste, die das heute sagt.“
Darren war um das Haus gewandert, hatte dann seine Gummistiefel ausgezogen und sich auf die Schwelle der Haustür gesetzt, wo er mit in die Handflächen gestütztem Kopf da saß. Zwei Mädchen gingen Hand in Hand auf der anderen Straßenseite vorbei, er hob vorsichtig die Hand und winkte, als sie zu ihm hinüber sahen. Sie winkten zurück, gingen aber weiter. Er hörte die Geräusche und Schritte hinter der geschlossenen Tür, klopfte und wartete ungeduldig darauf, dass Moira ihm öffnete. Er sah ängstlich zu ihr hoch. Moira wischte sich schnell die Tränen aus dem Gesicht, blinzelte und lächelte mühsam.
„Mom?“ sagte er.
„Es ist alles in Ordnung, honey
, es ist nichts passiert. Ich hab nur Zwiebelsaft in die Augen bekommen. Komm rein.“
Er schüttelte den Kopf, schlüpfte wieder in seine Gummistiefel und sagte: „Tom?“
„In Ordnung, lauf rüber zu Tom. Aber wenn es dunkel wird, kommst du sofort nach Hause.“
Er nickte, warf ihr einen Luftkuss zu und trabte davon, die Straße herunter, wo er auf den Feldweg abbog. Der alte Tom brachte ihm das Reiten bei und sein Lieblingspony Tadhg, ein stahlgrauer Wallach mit schwarzer Mähne, gehörte schon fast ihm, wenn er Tom Glauben schenkte. Der alte Mann hatte immer Zeit für ihn, drängte ihn nie zum Sprechen, wie es die meisten anderen Erwachsenen taten. Saß er auf dem Pony, meist ohne Sattel, weil sich Tom nicht für jedes Pony einen leisten konnte, war er so glücklich, dass er häufig laut vor sich hinjohlte. Er ritt mit Tadhg über die Feldwege, durch kleine Bäche und über Wiesen, ließ ihn durch Lücken in Steinmauern springen und oft galoppierte er, bis er den Halt verlor und herunterplumpste. Wenn Tadhg übermütig wurde und er ihn nicht mehr gebremst bekam, schrie er „Wooaahh“ und steuerte ihn in die nächste Hecke. O’Neill lachte jedes Mal Tränen, wenn er ihn dabei beobachtete.
Kieran hatte die Tür abgeschlossen, nachdem Moira zurückgekommen war und gesagt hatte, dass Darren wieder nach draußen zum Spielen gelaufen sei.
„Das ist gut, dass er draußen ist“, hauchte sie, „es macht mich nervös, wenn er im Haus herumturnt.“
In den winzigen Bruchbuden in Belfast hatten sie nicht mal ein eigenes Zimmer für sich gehabt, da hatte es ihnen reichen müssen, einen provisorisch angebrachten Vorhang zuzuziehen und trotzdem hatten sie fast jeden Tag miteinander geschlafen, wenn Kieran nach Hause gekommen war. Sie hatten versucht leise dabei zu sein, so wie jetzt, aber irgendwann ging das nicht mehr. Moiras Lippen schmeckten süß und bitter, sie atmete schnell und stieß dabei heisere Töne aus, ihre Beine legte sie fest an Kierans Seiten. Er stützte sich mit einem Ellenbogen ab und bestimmte den Rhythmus. Er liebte ihr Haar und die weiche Haut an ihrem Hals, seine Finger drehten sich dunkelrote Strähnen heraus, während er seinen Mund von ihren Lippen löste, ihren Hals hinunter glitt. Sie drehte etwas den Kopf herum, hob das Kinn und zog leise stöhnend die Luft ein, eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sekunden, dann entspannte sie sich und Kieran hielt kurz in der Bewegung inne. Ihre Gesichter ganz nah beieinander, er ein wenig schlecht rasiert, eine dünne ausgefranste Narbe unter dem rechten Auge, tiefe Lachfältchen in den Augenwinkeln, obwohl er kaum häufig lachte; sie mit weichen erröteten Gesichtszügen, wundervollen blauen Augen und makelloser Haut, verschwitzten Strähnen ihres Haares an der Stirn klebend. Kieran presste die Augen so fest zu, als er kam, dass er bunte Lichtkreise sah, sein Blut rauschte und pochte durch seine Adern und er flüsterte Moira etwas ins Ohr, was er ihr schon lange mal wieder hätte sagen sollen und so selten die passende Gelegenheit dazu fand.
Pol war dabei, seine Tasche zu packen und halblaut schmutzige Lieder zu singen. Er hatte nicht viele Klamotten, die er mitnehmen wollte. Das meiste kaufte er unterwegs, verlor es wieder oder verkaufte es weiter, wenn er klamm wurde, und so kam er stets mit weniger nach Hause, als er losgezogen war. Er konnte nicht behaupten, dass er sich auf Schottland, Albain
, freute, aber die Gelegenheit musste er einfach nutzen, um von zu Hause wegzukommen. Es passte ihm nur nicht, dass Brendan nicht mit wollte. Sie hatten immer alles gemeinsam unternommen und er verstand überhaupt nicht, dass sein Bruder sich mit einmal so anstellte und das nur wegen seines Mädchens.
Er hatte die angeschrammte Tasche schon zugeschnallt, als ihm einfiel, dass er noch irgendwo ein paar Schuhe hatte, die er dreckig ausgezogen und irgendwo stehen gelassen hatte. Er suchte in dem Flurschrank nach ihnen, aber dort waren nur Patricks alte Klamotten gestapelt, nach Mottenpulver stinkend und trotzdem lochzerfressen. Pol lief die Treppe nach unten, überflog die Küche, aber das war Moiras Reich und seine Schuhe hätten dort nicht herumgelegen. Die hätte sie ohne Kommentar in den Garten geworfen. Wenn sie dort lagen, waren sie längst ein Opfer der Hunde geworden. Aus Kierans Schlafzimmer hörte er undeutliche Geräusche, die ihn neugierig machten und er schlich sich an die Tür. Er konnte kaum glauben, dass sein Bruder sich um diese Tageszeit mit seiner Frau vergnügte. Er wartete, horchte und wollte gerade das Ohr gegen das Holz legen, als der Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde. Es blieb ihm gerade noch Zeit, einen Satz nach hinten zu machen und so zu tun, als sei er auf dem Weg, um nach Patrick zu sehen. Wäre Moira in der Tür erschienen, wäre ihm das wirklich peinlich gewesen, aber es war Kieran, den Kopf gesenkt, und beim Heraustreten auf den Flur noch damit beschäftigt, seine Gürtelschnalle zu schließen. Pol und er sahen sich an und es hätte kaum eine bessere Gelegenheit gegeben für Kieran, seinem kleinen Bruder mal wieder den Kopf zu waschen. Aber diesmal zog er nur die Augenbrauen hoch und grinste. Pol wagte es, ihm den erhobenen Daumen zu zeigen, machte sich dann in aller Seelenruhe wieder daran, seine Schuhe zu suchen. Er fand sie schließlich hinter dem Haus bei den nassen Torfstücken und genau so sahen sie auch aus, dass er sich dazu entschied, sie nicht mitzunehmen. Aber es freute ihn diebisch, dass Brendan das Haus so früh verlassen hatte, um sich mit seiner Liebsten zu treffen, dass er das fröhliche Rohrverlegen nicht mitbekommen hatte. Das war etwas, worüber es sich bei einem Bier zu diskutieren lohnte.
Franklyns Warnung hatte er noch immer im Ohr, aber an die Bosse in Belfast dachte er ohnehin ständig. Die Einladung galt für den nächsten Montag und man hatte darum gebeten, dass beide Elternteile zu diesem Gespräch erscheinen mögen, aber er würde einfach sagen, dass seine Frau verhindert sei. Die Fragen, die Jack Burren ihm stellen würde, konnte er sowieso besser allein beantworten. Er musste noch ein paar Stunden bei McGinty arbeiten, wenn er ihn nicht dazu bringen wollte, ihn rauszuwerfen, weil er Montag nicht erscheinen würde.
Natürlich hatte er ihm davon noch nichts gesagt, er würde einfach Dienstag auftauchen und sagen, ihm sei etwas dazwischen gekommen.
Er ging wieder zu Fuß, rauchte eine seiner Selbstgedrehten und half der durchgeknallten Ms. Reardon, ihre Schafe und Ziegen zurück ins Gatter zu treiben. Sie war nie in der Lage, sie auf ihrem Grundstück zu halten, ab und zu wurde eines ihrer Viecher überfahren, weil es auf der Straße herumlief und dann machte sie den Autofahrer dafür verantwortlich.
Sie hatte schon seit Jahren Fledermäuse im Glockenturm, aber ihr Geschäftssinn war noch intakt. Sie verkaufte ihre Milch- und Käseprodukte an Durchreisende, die auf dem Weg nach Sligeach
vorbeikamen und nahm so horrende Preise, dass die Ausländer dachten, es müsse etwas Besonderes an dem Zeug sein. Sie erzählte jedem, der es hören wollte, das sich ihre Ziegen und Schafe nur von ausgesuchten Kräutern ernährten, die sie selbst anbaute und dass diese für den besonderen Geschmack der Milch verantwortlich seien. Die Touristen bekamen nicht zu sehen, dass die Weide, auf denen sie ihre Lieblinge hielt, so abgefressen war, dass den Tieren gar nichts anderes übrig blieb, als über die Zäune und Mauern zu steigen und sich an dem Standstreifen und Feldwegen satt zu fressen.
Kieran packte jeweils eine Ziege am Gehörn und zerrte sie zurück ins Gatter, rammte die Tür zu und nickte nur höflich, als Ms. Reardon sich überschwänglich bedankte.
Er musste jedes Mal daran denken, dass er Pol und Brendan als Rotznasen dabei erwischt hatte, wie sie auf den Schafen der Ms. Reardon geritten waren, wie bei einem privaten kleinen Rodeo. Sie waren so oft von den blökenden Hammelviechern gefallen, dass sie die Schafscheiße selbst in ihren Socken stecken hatten.
McGinty saß in seinem in Plastik verpackten Wohnzimmer und sah sich irgendeine Sportsendung an, winkte Kieran nach oben auf den Dachboden, wo es ein paar alte Klamotten wegzuräumen gäbe. Immerhin besser, als wieder stundenlang Scheiß Staub einzuatmen.
Owen war bereits da, aber er tat keinen Handschlag, ließ nur ab und zu etwas fallen, damit es polterte und Kelly McGinty glaubte, er würde fleißig etwas tun für sein Geld.
„Du kannst wohl auch nicht von dem Scheißjob hier lassen, Finnigan.“
„Ich hab’s versucht, aber vergeblich.“
Er zerlegte einige Sperrholzkisten, dann legte er auch eine Pause ein und trat an die große Lücke im Dach, in der McGinty plante, ein Panoramafenster einsetzen zu lassen. Im Moment war es einfach nur ein herausgebrochenes Loch im Dach, gegen den ewigen Regen mit einer durchsichtigen Plane vertackert. Man hatte einen freien Blick auf die Zufahrtsstraße von Pettigoe, auf die Weiden und Wiesen dahinter und auf den Lower Lough Neagh in der Ferne, der allerdings die meiste Zeit des Jahres von Nebel verhangen war.
Owen warf ein Regal um, hustete und zündete sich eine neue Zigarette an, bohrte mit zwei Fingern ein kleines Loch in die Folie, um den Rauch nach draußen zu pusten. Es sah mehr als albern aus und Kieran ging an die Arbeit zurück, um es ihm nicht gleich tun zu müssen. Owen sah dabei aus wie ein erstickender Fisch in einem zu kleinen Aquarium. Das Rauchen auf diesem Dachboden war nicht unbedingt gefahrlos, denn unter dem niedrigen Ende der Schräge standen eine Reihe von Kanistern mit Farbe und Lösungsmitteln. Die Arbeit war nicht schwer, aber Kieran hatte schon bald Rattenscheiße unter seinen Schuhen, Spinnweben im Haar und im Gesicht, und außerdem ärgerte es ihn, dass der Krempel, wie McGinty die Sachen bezeichnet hatte, die er rausgeschmissen haben wollte, noch einiges wert sein konnten. Würde er ihn fragen, bekäme er nur zur Antwort, dass er das Zeug lieber verbrannte, als es jemandem zu überlassen.
Ein paar Kleinigkeiten, die er fand, steckte er sich in die Tasche. Er brachte Darren gern etwas als Überraschung mit.
Owen sah ihn einige Male komisch an, als wolle er etwas darüber loslassen, dass Kieran McGintys Sachen in seinen Taschen verschwinden ließ, aber da er selber keinen Handschlag tat auf dem Dachboden, behielt er seine Kommentare für sich. Als er wieder den Zigarettenqualm nach draußen atmete, warf er einen Blick auf die Straße und sagte: „Da hinten ist dein Bruder.“
Mit den Händen in den Hosentaschen kam Kieran an das Fenster, konnte zunächst niemanden sehen, dachte schon an einen blöden Scherz, aber dann erkannte er Pol, der auf dem Seitenstreifen der Straße nach Hause schlenderte. Er hielt den Kopf gesenkt, kickte Steine vor sich her und machte den Eindruck, als sei er zehn Jahre alt und auf dem Weg zur Schule.
Kieran hatte seine gepackte Tasche in Flur stehen sehen, aber Pol hatte sich nicht darüber ausgelassen, wann er die Reise nach Glasgow antreten wollte. Offensichtlich hatte er es nicht eilig. Wäre Owen nicht gewesen, hätte Kieran nach ihm gepfiffen und sie hätten sich vor McGintys Haus unterhalten, aber diese Gelegenheit ließ er verstreichen. Er beobachtete nur, wie Pol hinter der Biegung verschwand. Ging er in diesem Tempo weiter, wäre Kieran früher zu Hause als er, es sei denn, er blieb im Ryan’s hängen.
Owen zerlegte einen alten Schrank, aus dem die Fliegen und Käfer krabbelten, bemühte sich, sie mit den Schuhen zu zertreten, aber ein paar entwischten seinem hektischen Stepptanz und verschwanden in den Bodenritzen. McGinty steckte den Kopf durch die Bodenluke. Er sah sich um und wetterte, dass Kieran seine Arbeit nicht tat und lieber die schöne Aussicht bewunderte. Owen grinste breit und Kieran ersparte sich eine Entschuldigung. Er machte sich an ein Bambusregal, was ihm fast auf den Kopf fiel und McGinty ihm aufmunternd zurief, er solle so weitermachen.
„Wie steht das Spiel?“ rief Owen und McGinty, schon auf dem Weg zurück die Treppe runter, erwiderte: „Zwei zu Eins. Aber komm nicht auf die Idee, ständig aufs Klo zu wollen, nur damit du beim Fernseher stehen bleiben kannst.“
Als er verschwunden war, zeigte Owen ihm den Finger und Kieran sagte: „Gut zu wissen, dass er alle wie Arschlöcher behandelt.“
Im Ryan’s trank Kieran ein Pint, reihte die geklauten Sachen auf der Theke auf, rückte sie gedankenverloren hin und her wie Schachfiguren, während er den Schaum auf seinem Bier absinken ließ. Tim stand hinter der Theke, zapfte Bier und machte nebenbei seine Hausaufgaben. Er war achtzehn und versuchte seinen Schulabschluss nachzuholen, nachdem er vor drei Jahren nicht mehr zur Schule gegangen und lieber mit seinen Kumpels durch die Gegend gezogen war, von denen hatte keiner einen blassen Schimmer gehabt, was er in den nächsten Jahren tun wollte. Ein Haufen jugendlicher Herumtreiber, die in den Supermärkten Whiskey klauten und diesen dann in einer Baugrube untereinander aufteilten. Für die Schule war da kein Platz mehr gewesen und mit den Freunden Tag für Tag herumzuhängen erschien mehr als genug. Sie hatten Spaß, sie schmiedeten wilde Pläne und Tim wachte erst auf, als sich vier seiner Freunde mit einem geklauten Wagen in einer Herbstnacht totfuhren. Er hatte seinen Platz in dem Wagen mit einem anderen Jungen getauscht, weil er so viel billigen Fusel gesoffen hatte, dass ihm kotzübel geworden war. Ohne Ende hatte er sich in die Büsche übergeben und sich geärgert, die Fahrt nicht mitmachen zu können, war im Zickzack-Kurs nach Hause gekrochen und war ins Bett gefallen. Sein Vater hatte ihn sehr unsanft wach gerüttelt, ihm die Decke weggezogen und sich neben ihn gesetzt. Es war zehn nach acht Uhr morgens gewesen.
„Hör mal“, hatte Ryan gesagt, ohne zu warten, dass Tim richtig wach war, „diese Nacht hat’s hinter Pettigoe einen schlimmen Unfall gegeben. Im Radio haben sie ein paar Namen genannt, das waren Jungs, mit denen du rumhängst. Weißt du irgendwas von einem gestohlenen Wagen? Bist du dabei gewesen, Tim?“
Joy-riding
war schon zu seiner Zeit in gewesen. Er hatte es abgestritten, behauptete, früher nach Hause gegangen zu sein und fragte, ob seine Freunde schwer verletzt seien. Howard hatte es ihm nicht sagen wollen, aber er sah es als letzte Chance, seinem Sohn den Kopf zurechtrücken zu können. Er hatte ihm gesagt, wie die Garda seine Freunde aufgefunden hatte, dass die Wucht des Aufpralls einen von ihnen durch die Windschutzscheibe geschleudert und er noch nicht mal den schlimmsten Anblick geboten hatte. Tim war bei der vierfachen Beerdigung sehr still und in sich gekehrt gewesen und hatte sich seitdem mit den verbliebenen Freunden aus der Gruppe nicht mehr getroffen, weil sie noch immer soffen und fuhren – selbst direkt nach der Beerdigung waren sie besoffen nach Hause gefahren. Statt dessen hatte er sich bei der Abendschule angemeldet, um seinen Abschluss nachzuholen. Tim war nicht auf den Kopf gefallen, er wusste, was in Belfast unter den gleichen Bedingungen mit ihnen geschehen wäre, also zeigte er sich nach den Jahren der Rebellion wieder von seiner guten Seite, half seinem Vater im Pub und trank höchstens ein Glas am Abend. Seine ehemaligen Freunde waren inzwischen abgewandert, verschwunden, gestorben. Sie hatten stets behauptet, bei ihnen gäbe es keine Spaltung durch die Religionen, aber inzwischen war einer von ihnen der LVF beigetreten und machte Jagd auf Katholiken, als habe er nie etwas anderes getan.
Tim sah von seinem Buch auf, fragte, was der Flohmarkt auf der Theke zu bedeuten habe und Kieran rückte grinsend die Plastikfiguren, Glasmurmeln und die anderen Kinkerlitzchen zurecht.
„Das hab ich bei McGinty mitgehen lassen.“
„Du hast heute bei ihm gearbeitet? An einem Samstag?“
„Für fünf Tage zahlt Kelly McGinty nicht gut genug.“
Tim legte den Kugelschreiber in die Mitte des Buches, klappte es zu und rieb sich mit beiden Handballen die Augen.
„Wenn er hier mal auftaucht, bringt er Dad jedes Mal zur Weißglut, weil er sich den ganzen Abend an einem Glas Wein festhält. Wie geht’s mit seinem Haus voran?“
Kieran leerte sein Glas, nickte nach einem neuen und dachte an die wahnsinnigen Umbauten, die McGinty an seiner Hütte vornahm, dabei aber selbst die kniffeligen Sachen wie die elektrischen Leitungen von so einem Amateur wie Owen machen ließ. Seine Frau, die in dem Blumenladen arbeitete, kam jeden Abend nach Hause in ein verstaubtes, dreckiges Heim voller Löcher und beschwerte sich nicht. Sie beschwerte sich nie. Sie zog die Kinder groß, machte sauber, kochte für ihre Familie und benahm sich wie ein Gast im eigenen Haus. Traf Moira sie beim Einkaufen, sprachen sie über dies und jenes und obwohl es die übliche Masche war, über abwesende Ehemänner zu jammern, sagte Bridget McGinty nie ein privates Wort, ließ nie durchblicken, was sie von den Umbauten ihres Heimes hielt und was McGinty überhaupt plante. Kieran glaubte, dass er schon bald das B&B Schild in den Vorgarten hängen würde.
„Wenn wir oben fertig sind, fangen wir unten wieder von vorn an“, sagte Kieran, „dann ist ihm wieder etwas Neues eingefallen.“
„Hat er noch immer den Taubentick?“
„Er ballert noch immer durch die Gegend.“
„Möchte wetten, er ist als Baby im Kinderwagen von Tauben angefallen worden, kann sich aber nicht mehr daran erinnern.“ Tim sah auf, als ein weiterer Gast hereinkam, sich an einen der Tische setzte, sich dort in eine Straßenkarte vertiefte.
„Heute ist wirklich ein lauer Tag, “ sagte er, „Dad wird denken, ich hätte die Hälfte der Einnahmen in die eigene Tasche gesteckt.“
Kieran packte seine geklauten Kleinteile wieder ein, bekam nicht mit, wie Tim die Stirn runzelte und ihn abschätzend ansah. Ihm war der Gedanke gekommen, dass es Ärger geben könnte und deshalb alle zu Hause geblieben waren, aber dann hätte sein Vater irgendeine Bemerkung gemacht. Selbst in den wirklich heißen Zeiten, als es einmal pro Woche in der Umgebung Schießereien gegeben hatte, hatte Howard den Pub nie geschlossen. Die Männer waren nur stumm zusammengezuckt, wenn es in den Straßen um sie herum gekracht hatte, wenn die Polizei- und Feuerwehrsirenen näher und näher gekommen waren. Dann erst hatten sie einen nach draußen geschickt, um nachzusehen, welchen Teil es erwischt hatte. Einmal war eine britische Handgranate auf dem alten Friedhof explodiert und auf die Hilferufe hatten sie sofort reagiert. Sie fanden Stoney, dem es ein paar Finger abgerissen hatte, und der wie ein Schwein blutete, sich trotzdem nicht davon abhalten ließ, dem flüchtenden Mann hinterher zu laufen. Sie alle hatten die Verfolgung aufgenommen, aber der Mann hatte genug Vorsprung, um ihnen zu entkommen, aber unterwegs verlor er seine Brieftasche und sie erwischten ihn einige Tage später zu Hause in Drumquin. Stoney, der die Finger verloren hatte, wäre bei der Verfolgung fast verblutet, hätte einfach nicht laufen sollen und kurz bevor er das Bewusstsein verlor, hatte Kieran ihm versprochen, seine Finger zu rächen und den Scheißkerl zu erwischen, der das getan hatte. Sie überfielen ihn zu Hause, fesselten ihn und behängten ihn mit seinen eigenen Eierhandgranaten, entsicherten sie und ließen ihn allein. Sein Tod und das verwüstete Haus war der Presse dicke Schlagzeilen wert, nicht aber die Geschichte, dass der Kerl die Handgranate nach Stoney geworfen hatte, während der einfach nur beim Grab seiner Großeltern gestanden hatte. War Stoney betrunken, erzählte er die Geschichte vom Friedhof und mitunter waren es dann drei bis vier Männer und ebenso viele Handgranaten, wenn jemand wissen wollte, wie er seine Finger verloren hatte. Unter normalen Umständen sagte er, er habe die Finger in einer Säge gelassen.
„Ich nehm noch einen auf den Weg, Tim“, sagte Kieran.
Der Pub füllte sich innerhalb der nächsten zehn Minuten und Tim hatte so viel zu tun, dass er seine Schulsachen beiseitelegen musste und sein Vater einen munteren Haufen trinkender und lachender Leute vorfand, als er endlich kam, um ihn abzulösen.
Der Mann mit der Landkarte kam an die Theke und fragte nach dem Weg nach Dun na nGall
, konnte sich aber kaum verständlich ausdrücken und Tim schrieb ihm den Weg auf, sagte noch, er könne es in zwei Stunden schaffen. Der Mann schüttelte den Kopf und deutete an, dass er mit dem Rad unterwegs sein. Er würde es kaum in zwei Stunden schaffen. Als er verschwunden war, sagte Tim: „Ich hoffe, er kommt mit meiner Beschreibung zurecht. Die Karte, die er dabei hatte, war die von Kerry.“
Zu Hause erwischte er Pol und Brendan bei einem lautstarken Streit Sie standen mitten auf dem Hof und brüllten sich an, während Darren auf der Steinmauer hockte, mit den Beinen baumelte und dem Streit begeistert folgte. Neben sich hatte er einen Notizblock liegen, in dem er Blumen eingeklebt und deren Namen er sorgfältig darunter notiert hatte. Moira hatte ihn darauf gebracht, um ihn nicht nur den ganzen Tag über die Weisen und Felder laufen zu lassen und ohne, dass sie es bemerkte, hatte Darren sich eines ihrer Gartenbücher geholt und versucht, damit noch mehr Blumen zu bestimmen. Bei den Shaughnessys, den direkten Nachbarn der Finnigans, war er über den Zaun geklettert und hatte sich auf den Kiesweg gesetzt, kleine einzelne Blüten aus dem Beet abgezwickt, sie lange betrachtet und zwischen die Buchseiten gelegt. Madlyn Shaughnessy hatte ihn zunächst sehr misstrauisch durch die Gardine hindurch beobachtet, dann hatte sie eine dicke Scheibe von ihrem Schokoladenkuchen abgeschnitten und ihm nach draußen gebracht. Als Dermot nach Hause gekommen war, hatten sie noch immer gemeinsam im Garten gesessen, allerdings in der roten Hollywoodschaukel, ganz vertieft in das Notizbuch.
„Dermot“, sagte sie an diesem Abend, „du hättest Darren erleben sollen. Er hat ein kleines Pflanzenbuch angelegt, ganz sorgfältig. Er hat kaum gesprochen, aber er kannte jede Pflanze, die ich ihm gezeigt habe. Und da behauptet dieser Lehrer in Belleek, er sei dumm und hat ihn nach Hause geschickt.“
Brendan und Pol standen sich gegenüber auf den Zehenspitzen, es mochte sich nur noch um Minuten handeln, bis sie sich auf dem Boden wälzten und sich die Augen blau schlugen, bekamen nicht mit, dass Kieran nach Hause kam. Darren sprang seinem Vater in die Arme, hielt sich an seinem Hals fest und Kieran roch an ihm Pferdemist und Torf, was ihn vermuten ließ, dass Darren bei Tom O’Neill gewesen war. Er trug ihn ins Haus, setzte ihn auf dem Tisch neben der Spüle ab, wo sie sich gemeinsam die Hände wuschen.
„Was machst du bei Tom?“ fragte er, „hast du bei ihm gegessen?“
„Ponies“, sagte Darren. Er hielt den Blick auf die Hände unter dem Wasserhahn gerichtet, während er dieses eine Wort aussprach.
„Du hast dir also seine Ponies angesehen, Okay.“
Darren sah ihn aufmerksam an, wie er es immer tat, wenn er jemandem zuhörte. Andere Jungs in seinem Alter zogen einen Flunsch, wenn man sie um etwas bat, wozu sie keine Lust hatten, aber Darren würde nur nicken und ganz leise „Okay“ sagen, wenn er gesprächig wurde.
Er hoffte, Kieran würde ihn irgendwann zu Tom O’Neill begleiten und dann hätte er die Gelegenheit, Tadhg vorzustellen. Er musste ihn einfach kaufen. Ein Pony konnte schließlich nicht so viel kosten.
Der Streit draußen vor der Tür wurde lauter und eskalierte, Pol und Brendan prügelten sich, fielen gegen den Schuppen. Die Hunde sprangen im Zwinger herum und wollten mitmischen und Kieran fragte: „Weißt du, weshalb die sich da draußen an die Kehle gehen?“
Darren schüttelte den Kopf. Kieran stapfte nach draußen und er ging in sein Zimmer hinauf, kehrte aber um, als ihm einfiel, dass er sein Notizbuch auf der Mauer liegen gelassen hatte. Er wurde Zeuge, wie Kieran die kämpfenden Zwillinge mit dem Wasserschlauch trennte. Der kalte Wasserstrahl brachte die beiden schnell zur Besinnung. Sie hockten prustend auf dem Boden, sahen sich an, als wüssten sie gar nicht, was sie da wieder angestellt hatten.
„Um was ging’s diesmal?“ fragte Kieran, stellte das Wasser ab und warf den Schlauch zur Seite. Brendan wischte sich das Gesicht ab, sah an sich herunter und hasste Kieran dafür, dass seine besten Klamotten hinüber waren.
„Ich wollte rüber nach Ederny. Das kann ich mir jetzt wohl abschminken.“
„Besser so“, setzte Pol hinzu.
Kieran trat an den Zwinger, beruhigte die Hunde und kontrollierte den Betonboden, so wie er es immer tat. Unter der Betondecke war ein Hohlraum und darin lagen etwas zwanzig AK47 Sturmgewehre, Munition und ein LPO50 Flammenwerfer. Die Waffen waren perfekt versteckt, durch das Metallgehäuse des Zwingers konnten die Suchhubschrauber der britischen Armee die Metalldetektoren nicht einsetzen und von den Nachbarn würde sich keiner an die Hunde heranwagen.
„Hatte angenommen, du wärst schon auf dem Weg nach Schottland.“
Kieran sah zu Pol hinüber.
„Ich musste vorher noch ein paar Dinge erledigen. Du wirst mich schon noch früh genug los.“
„Darum geht es nicht, Pol. Ich will nur, dass du dein Problem in den Griff bekommst.“
Er sagte ihnen, sie sollten ins Haus verschwinden und den Dreck abwaschen, aber nicht mit den Schuhen durch das ganze Haus laufen. Er schickte Darren mit einem Kopfnicken hinterher, der sein Notizbuch nahm und es unter sein Hemd steckte.
Kieran selbst setzte sich in Paddys Stuhl, legte die Füße hoch und schloss kurz die Augen. Es war Nachmittag, die Sonne kam durch die Wolken und es war richtig warm, wenn man die Sonnenstrahlen für länger als fünf Minuten erwischte. Kieran dachte, dass etwas bei den Bäumen und der wuchernden Bärentraube, Wacholder und Heckenkirsche nicht stimmte. Er öffnete die Augen, sah sich um und blinzelte umher. Bei den Bäumen tat sich etwas, Schatten huschten umher, die nicht von den Ästen und Blättern herrührten, aber es gab nichts Bestimmtes, was er hätte sehen können, es war nur eine schlechte Vorahnung, die ihn befiel. Diesen Gedanken und dieses Gefühl schob er schnell beiseite, denn es war nicht gut, sich mit solchen Ahnungen zu beschäftigen. Seine Großmutter hatte ständig schlechte Vorahnungen gehabt, die allerdings nie eingetroffen waren, deshalb hatte man auch nicht den Arzt gerufen, als sie sagte, dass sie sich nicht gut fühle. Kieran schlief ein, als er wieder die Augen schloss, dämmerte ganz langsam weg und zuckte bei einem Geräusch direkt neben sich zusammen. Er schnellte hoch und erschreckte die Katze fast zu Tode, die sich herangeschlichen und an den Stuhl gesprungen war. Es war Darrens Tabby. Kieran lockte sie wieder zu sich, hob sie auf seinen Schoß. Moira war inzwischen nach Hause gekommen, öffnete die Küchentür und sah Kieran dort sitzen, brachte ihm einen Tee nach draußen.
„Machst du dir Gedanken wegen Montag?“
„Ich weiß nicht, ob ich die Hunde wieder einfangen kann, wenn ich sie einmal von der Leine gelassen habe. Du weißt schon.“
„Aber du sagst mir, wenn etwas schief läuft.“
Kieran setzte die Katze ab, die sich erst die Pfoten leckte, dann durch das hohe Gras in den hinteren Teil des Gartens verschwand. Ein paar Amseln flüchteten aus der Ecke, in der sie verschwunden war.
„Es wird nichts passieren, wenn ich es vorsichtig angehe.“
Sie ließ sich auf seinen Schoß ziehen, nahm einen Schluck von seiner Tasse Tee. Moira konnte aus eigener Erfahrung von den Dingen erzählen, die schief gehen konnten; sie hatte Kieran in einem Zug kennengelernt, als er auf der Flucht bei ihr im Abteil gelandet war.
„Ich wäre am liebsten dabei in der Schule“, flüsterte sie, „also versprich mir, dass du vorsichtig bis, damit ich mir keine Sorgen machen muss.“
Er versprach es ihr, sah zu den Bäumen hinüber, die über dem hohen Gras standen. Die alte knorrige Eiche, die Ahornbäume und Birken, die er schon seit seiner Kindheit kannte. Er nahm sich vor, den Garten etwas in Ordnung zu bringen, sobald er Zeit hatte, vielleicht würde Brendan ihm dabei helfen. Sie verbrachten Stunden in dem Garten, bis es zu kalt wurde und es wieder zu regnen begann, dann gingen sie hinein und hatten einen ruhigen Abend vor dem Fernseher. Der alte Paddy saß bei ihnen, eingepackt in seinen Decken, blinzelte in den Fernseher aber er verstand wohl nichts von dem, was da vor sich ging. Ab und zu flüsterte er etwas auf gälisch, worauf Kieran antwortete und dann verstummte er wieder. Dieses eine Mal waren Pol und Brendan früh schlafen gegangen, machten keinen Krach und hätten sie nicht einiges zu besprechen gehabt, wären sie mit in dem winzigen Wohnzimmer gesessen. Sie lagen in ihren Betten, hatten ein paar Kerzen angezündet, die flackerndes Licht verbreiteten. Von unten hörten sie den Fernseher laufen, von draußen drang nur ab und zu das Motorengeräusch eines Autos zu ihnen. Obwohl es Samstagabend war, waren nicht viel Menschen unterwegs. In dieser Nacht weckte sie nur ein einziger Hubschrauber.
„Du weißt, dass das ein Scheißjob ist in Glasgow“, flüsterte Brendan, „ich würde an deiner Stelle nicht fahren.“
„Dir klebt ja auch kein Dealer am Arsch, der sein Geld haben will, Mann. Mir bleibt gar nichts anderes übrig, als für eine Weile zu verschwinden.“
„Ich bin echt froh, dass wir keine richtigen Zwillinge sind, sonst würde ich ständig die Prügel für dich kassieren.“
„Und ich könnte dein Mädchen vögeln.“ Pol klang sehr versonnen.
„Lil würde den Unterschied sofort merken.“
Pol steckte sich an einer der Kerzen eine Zigarette an, wedelte den Qualm von seinem Gesicht weg.
„Wirst du mit ihr Schluss machen?“
„Nein“, sagte Brendan gedehnt, drehte sich auf den Bauch und stopfte sich das Kopfkissen unter das Kinn. Direkt vor seiner Nase klebte ein karibischer Sonnenuntergang, ein Foto aus der Fernsehzeitschrift, darunter hatte er geschrieben „Überall ist es besser als hier.“
„Ihre Familie wird dich umbringen, wenn sie euch erwischen. Ach was. Nicht nur ihre Familie, ihre ganze Kirchengemeinde.“
„Wir wären längst zusammen weggegangen, wenn sie nicht die Schule beenden müsste.“
„Diese blöde Schule kannst du sowieso vergessen.“
Pol paffte Ringe in die Luft, streifte die Asche der Zigarette an einem leeren Marmeladenglas ab.
„Wir sind doch nicht die Einzigen, bei denen es klappt“, sagte Brendan, „selbst die McGintys führen ’ne Mischehe.“
„McGinty hat’n Rad ab. Der zählt nicht.“
„Kieran war heute wieder bei ihm arbeiten. Er hat irgendwas vor.“
Pol grinste breit, bewegte den Hintern auf und ab und brachte das Bettgestell zum Quietschen.
„Ich hab die beiden gehört“, sagte er, „der große Bruder scheint’s noch drauf zu haben. Jedenfalls lief Moira den ganzen Tag mit einem Leuchten auf dem Gesicht herum.“
„Du bist ein Arschloch, Pol.“ Brendan blies die Kerzen aus, warf sich in seinem Bett auf die andere Seite. Er wollte schlafen, aber er konnte es nicht. Er hatte Sehnsucht nach Lilian und es beschäftigte ihn die halbe Nacht, ob es ihr genauso ging.
Tag der Veröffentlichung: 27.11.2010
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