Royal Albert
Das Ryan’s war Kierans Pub, deshalb mussten sich Brendan und Lilian anderswo treffen. Mit dem Linienbus waren Pol und Brendan nach Dromore, Co. Tyrone gefahren. Pol war nur zur Ablenkung mitgekommen und weil er nicht allein zu Hause bleiben wollte. Nachdem Kieran ihm die Partydrogen nicht zurückgegeben hatte, war er noch immer sauer auf ihn.
Im Royal Albert setzten sie sich an einen Tisch und warteten auf Lilian, tranken Kilkenny und Cola und flüsterten miteinander. Es war nicht Lilians Art, zu spät zu kommen, aber sie kam zu spät.
„Sie versetzt mich nicht“, sagte Brendan, „vielleicht hat sie nur den Bus verpasst.“
„Nach Hause zieht mich sowieso nichts.“
Im Fernsehen lief ein Regionalfußballspiel, aber kaum jemand folgte dem Geschehen auf dem Spielfeld. Die Nachrichten waren das Thema. In der Nähe von Omagh war am Morgen eine Autobombe explodiert. Das Auto war vor dem Gebäude der Stadtreinigung abgestellt worden und aus welchen Gründen auch immer war der Warnanruf zu spät gekommen. Noch während die Polizei und die britischen Truppen das Gebäude und die Straßen evakuierten, ging der blaue Ford hoch, als habe ein und sein Spielzeugauto weggeworfen. Zwei Soldaten starben, eine würde im Rollstuhl landen, wenn er es überlebte.
Die Männerriege, die im Royal Albert saß, waren UDA Anhänger und ließen darüber keine Zweifel aufkommen; nur einer versuchte vergeblich, die Stimmung etwas zu mildern, als er begriff, dass ein paar Touristen am Nebentisch saßen und jedes Wort mitbekamen.
„Mein Vetter ist an der Ecke gewesen“, sagte einer der Männer, das Gesicht rot und verquollen und noch immer nicht bei seinem letzten Bier angelangt, „er hat’s mit eigenen Augen gesehen. Das Auto hat sich in zwei Teile zerlegt und das rumfliegende Metall hat dem ersten Soldaten glatt den Kopf abgerissen. Von dem anderen war nicht viel übrig. Überall lagen die schwarzen Planen, wo sie die abgerissenen Arme und Beinen abgedeckt haben.“
„Ich weiß, was ich mit diesen Bastarden anstellen würde. Ich wünschte, ich würde mal einen von ihnen in die Finger kriegen.“
„Verdammte Terroristen. Die Antwort wird nicht lange auf sich warten lassen.“
„Was ist mit dem Taxifahrer“, warf der Mann ein, der die Touristen entdeckt hatte.
„Was für’n Taxifahrer?“
„Der katholische Taxifahrer, den es in der Limestown Road erwischt hat und dem sie...“
„Was hatte der damit zu tun?“
„Was hatte der da auch zu suchen.“
„Soll froh sein, dass sie ihn am Leben gelassen haben.“
Mit unterdrückter Stimme sagte der junge Mann: „Er wird vermutlich richtig glücklich sein, ohne Beine leben zu dürfen.“
„Hast du irgendwas zu sagen, du Eierkopf?“
Der Mann beugte sich nach vorn in die Runde und flüsterte: „Es macht einen hervorragenden Eindruck auf die Bustouristen, die hinter euch sitzen und an euren Lippen hängen, als würdet ihr das neue Evangelium verkünden. Macht nur weiter so.“ Er stand auf und verschwand. Die Runde ging dazu über, nur noch zu trinken.
Pol seufzte und fragte: „War Kieran heute Morgen zu Hause oder war er unterwegs?“
„Du hast ein ganz schönes Lästermaul.“
Lilian kam durch die Tür gestürzt wie ein gehetzter Engel, sah sich um, entdeckte Pol und Brendan an dem Tisch und winkte. An der Bar orderte sie sich ein Tango.
„Ich bin per Anhalter gefahren“, sagte sie und setzte sich neben Brendan, „erst hab ich den Bus verpasst, und dann wollte ich ein Taxi nehmen, zumindest bis nach Bodony, um Geld zu sparen, aber dann kam auch kein Taxi und ich hatte zu wenig Geld dabei. Zurück nach Hause konnte ich auch nicht, weil ich mich heimlich rausgeschlichen hatte und es pures Glück war, dass meine Eltern mich nicht erwischt haben.“
„Atmest du auch noch?“ fragte Pol.
Lilian überging ihn freundlich lächelnd, nahm einen Schluck aus Brendans Glas und sagte ungerührt: „Dann hat mich eine nette alte Lady aus Enniskillen mitgenommen, die den Rücksitz voller schreiender Blagen hatte und mir die ganze Zeit Vorträge gehalten hat, wie gefährlich das Fahren per Anhalter ist.“ Sie holte übertrieben Luft und fuhr fort: „Schon von der Bombe heute Morgen gehört?“
„Ja, haben wir.“
„Hast du ne Zigarette für mich?“ fragte Brendan. Pol reichte ihm seine Packung, stand auf und ging.
„Was ist los mit ihm?“ fragte Lilian baff, drehte sich auf dem Stuhl um, um ihm nachzublicken.
„Nichts weiter, Lil. Er hat nur was vor. Wir müssen uns unterhalten.“
Zwischen den Zwillingen ging es selten höflich zu, Brendan wäre nie auf die Idee gekommen, seinen Bruder nach einer Zigarette zu fragen, er hätte in dessen Jackentasche gegriffen und sich die Packung raus genommen, aber wenn er danach fragte, war es das Zeichen für Pol, aufzustehen und zu verschwinden.
„Mein großer Bruder ist ein Arsch“, sagte Lilian und Brendan erwiderte Augen verdrehend: „Meiner auch.“
Die Männer am Nebentisch rollten weitere Bombenanschläge und bewaffnete Überfälle auf, die auf das Konto der IRA und der Splittergruppen gingen, redeten sich in Wut und tranken noch mehr. Da sie sich im eigenen Land befanden, konnten sie sich as erlauben und sie wurden noch schlimmer, nachdem im Fernsehen neue Bilder des letzten Anschlags gezeigt wurden. Lilian hatte den Männern den Rücken zugedreht, aber sie konnte sich kaum darauf konzentrieren, was Brendan sagte.
„Wenn es dir hier unangenehm ist“, flüsterte sie, „können wir auch woanders hingehen.“
„Es macht mir nichts aus, wenn es dir nichts ausmacht.“
„Ein wenig. Aber es ist Okay.“
Mit dem Hintergrund, was Kieran in Belfast getan hatte und vermutlich in Pettigoe noch immer tat, machte Brendan es sehr wohl etwas aus, aber das konnte er nicht sagen, und so tat er das, was irgendwie am sinnvollsten erschien. Er versuchte es zu ignorieren, Lilian war einfach zauberhaft, sie sah ihm immer wieder in die Augen, lächelte und nickte, als er zu erklären versuchte, dass ihre heimlichen Treffen von nun an noch heimlicher ablaufen mussten.
„Ich werde mich nicht von dir trennen lassen“, sagte er und sein Herz klopfte bis in seinen Hals hinauf, „ganz gleich, was mein Bruder von mir verlangt.“
Sie lächelte und eine Sekunde lang sah sie aus, als würde sie weinen. Was sie sagte, hörte sich dann so an, als habe sie sich auch schon Gedanken über die neue Situation gemacht.
„Sobald mein Motorroller aus der Werkstatt kommt, kann ich jeden Tag in unser Versteck kommen. Dort warte ich dann auf dich. Zu Hause werde ich einfach erzählen, dass ich mit einer Freundin unterwegs bin. Oder dass ich länger Schule habe.“
Dass sie noch zur Schule ging, erst in diesem Sommer ihren Abschluss machte, war Brendans Hauptsorge. Er wusste, was man alles seinen Freunden erzählte während der Pausen und den freien Stunden und Lilian war sicher keine Ausnahme. Als sie sich nach der Schule trafen, hatte er eines ihrer Schulhefte gesehen, die ihr aus der Tasche gerutscht waren. Sie mochte sich nichts dabei gedacht haben, ein „Lilian&Brendan
“ mit einem Herzen drum herum auf den Heftumschlag zu malen, blutrot mit schwarzer Schrift, aber die Sache konnte unangenehm nach hinten losgehen.
Brendan lief nicht mit geschlossenen Augen durchs Leben. Aus nichtigen Gründen entzündeten sich immer wieder Gewalt und Auseinandersetzungen, die troubles
nahmen kein Ende.
„Wir werden nie genug Touristen anlocken können, um von ihnen zu leben, wenn wir immer wieder als Unruheprovinz bezeichnet werden“, hatte Moira mal gesagt und niemand hatte ihr widersprochen.
In der Nacht wurden in Belfast zwei katholische Taxifahrer erschossen, die man auf protestantisches Gebiet gelockt hatte. Beide waren mit Kopfschüssen getötet und einfach in ihren Taxen liegen gelassen worden. Noch ehe die Presse darüber berichtete, wusste Kieran bescheid, war aber zum Nichtstun verdammt. Seit er für den Nachschub zuständig war, musste er sich aus allen Aktivitäten in Belfast raushalten.
Den ganzen Morgen war er damit beschäftigt, Pflastersteine zu verlegen. Den Brief an die Schule hatte er vor Arbeitsbeginn eingeworfen, dabei ein Stoßgebet gesprochen, sein Vorhaben würde endlich fruchten.
McGinty renovierte mal wieder sein Haus in Pettigoe und hatte ein paar Männer angeheuert, um ihm zu helfen. Sie zogen Wände im Haus, pflasterten die Einfahrt bis zur Garage. Es war ein Hungerlohn, den er dafür zahlte, aber es war immerhin ein Job, für den man nicht stundenlang über Land fahren musste.
Bis zur ersten Zigarettenpause, als sie sich auf der Mauer zur Straße niederließen und die Sonne genossen, hatte Kieran seine Ruhe, dann aber kam Owen dazu, der die alten Fliesen von den Klowänden abschlug, und ließ seine Sprüche los. Als Katholik war Kieran unter den drei Männern einsam und verlassen. Normalerweise war das kein Problem und niemand verlor ein Wort darüber, aber ein Arschloch wie Owen brachte alles durcheinander.
„Woher weiß du, dass du auf dem katholischen Kirchentag gelandet bist?“ Owen schnalzte mit der Zunge, grinste in die kleine Runde und hatte seine Freude daran, die anderen von der Arbeit abzuhalten. Er streckte die Arme vor und ließ die Knöchel knacken, seine LVF Tätowierungen kamen zum Vorschein, als die Ärmel seines T-Shirts hoch rutschten.
„Keine Ahnung.“
„Dreißigtausend Frauen und keine Einzige von denen gefällt dir.“
Seine beiden Kumpel wieherten vor Lachen, schlugen sich auf die Schenkel, obwohl der Witz weder neu noch besonders gut war. Kieran verzog das Gesicht zu einem schwachen Grinsen. Er dachte an die Zeit in Belfast. Wenn er die provokanten Tätowierungen der Loyal Volunteers sah, musste er daran denken, wie oft er mit ihnen in Belfast zusammengestoßen war.
Bei einer Racheaktion gegen die LVF hatten sie einen dieser Bastarde in die Zange genommen, in einer Sackgasse hatten sie den Mann zu Boden geworfen, ihm einen Sack über den Kopf gestülpt und so seine Schreie gedämpft. Er hatte um sich geschlagen und gezappelt, hilflos mit Armen und Beinen gerudert, ohne etwas ausrichten zu können. Kieran hatte den Mann mit einem Arm auf den Boden gehalten, das Gesicht nach unten auf dem Asphalt, die rechte Hand nach hinten auf den Rücken gedreht und nach oben gehebelt. Tommy hatte auf den Oberschenkeln gekniet, durch die schwarze Wollmaske hindurch geschnauft.
„Ich lasse ihn jetzt los“, hatte Kieran geflüstert.
Der Mann mit der Verrätermütze über dem Kopf hatte sich nicht zu bewegen gewagt, aber als Kieran ihm den ersten Schlag versetzt hatte, war wieder Leben in ihn gekommen. Er hatte Tommy von sich geworfen und es geschafft, einige Längen durch die Gasse zu kriechen. Bevor sie ihn wieder eingefangen hatten, war er ein ganzes Stück weit gekommen, diesmal hatte Kieran mit dem Kantholz zugeschlagen anstatt mit Faust und Ellenbogen und er hatte sich auch später nicht erklären können, wie der Junge in die Sackgasse gekommen war. Es war, als sei er vom Himmel gefallen.
Sie hatten ihn erst bemerkt, als er hinter ihnen zu weinen begann und nach seinem Vater rief. Eine Hand hatte er ausgestreckt, damit auf die reglosen Beine des Mannes gezeigt, der sich endlich nicht mehr rührte. Möglicherweise hatte er seinen Vater an den Schuhen erkannt, vielleicht war der Mann in dem Sack auch gar nicht sein Dad gewesen und er hatte es nur geglaubt. Kieran und Tommy hatten ihn nur entsetzt angestarrt. Der kleine Kerl hatte ein T-Shirt der letzten Fußballweltmeisterschaft und eine abgeschnittene Hose getragen, am toten Ende der Sackgasse gestanden und immer wieder „Daddy?“ gerufen.
„Wo kommt der denn her?“ hatte Tommy gestöhnt, wütend darüber, dass ihr Einsatz gestört worden war, während Kieran mühsam um Fassung gerungen hatte beim Anblick des Kindes, das nicht mal sieben Jahre alt sein mochte und zwei maskierte Männer dabei beobachtete, wie sie seinen Vater umbrachten.
„Daddy? Daddy!“
„Wir verschwinden.“
Das Strafaktionsopfer hatte sich zwar nicht mehr bewegt, aus dem groben Stoff des Sackes war dickes Blut auf die Straße gesickert, aber trotzdem war Kieran nicht davon ausgegangen, dass er tot war. Sie waren geflüchtet. Später hatte er in der Zeitung gelesen, dass der protestantische Bauaufsichtsangestellte zwei Wochen im Koma gelegen hatte, bevor er gestorben war. Durch die Kopfverletzungen und den Sauerstoffmangel unter dem Sack hatte er das Bewusstsein nicht wieder erlangt. Kein Wort von dem Jungen in dem Artikel. Kieran glaubte, dass sie einen Geist gesehen haben könnten, aber Tommy hatte ihn dafür ausgelacht.
Würde Kieran auch nur einen Teil von dem erzählen, was er in Belfast und Umgebung getan hatte, noch bevor er zwanzig gewesen war – Owen würde sein dummes Schandmaul halten, wenn er in der Nähe war.
Owen, selbst ernannter Alleinunterhalter, hatte noch mehr Witze auf Lager, brachte seine geistigen Brüder zum Lachen, während Kieran den Zement anmischte, seine Zigarettenpause nach hinten verschob. Er hatte Glück, dass in dem Moment McGinty der Hausherr um die Ecke kam und sie anpfiff, weil sie faul herumsaßen, anstatt zu arbeiten. Er war Protestant, der eine Katholikin geheiratet hatte, loyal eingestellt, es sei denn, es ging um sein Geld.
„Wofür, glaubt ihr faulen Hunde, bezahl ich euch? Macht, dass ihr an die Arbeit kommt.“
Owen wagte zu murren und Kelly McGinty setzte nach: „Auf deinen Job warten zehn andere, Owen.“
Kieran war der Einzige, der froh über diese Unterbrechung war.
Tage später fuhr Pol mit dem Bus nach Sligeach
. Gerry nahm ihn mit und wollte kein Fahrgeld von ihm, zwinkerte ihn nur launisch zu. Anstatt in Sligeach
zu bleiben, fuhr Pol weiter rauf nach Dun na nGall
, die Küste entlang. Wie jedes Jahr im Sommer war Dun na nGall mit Touristen überschwemmt, die in großen CIE-Bussen anreisten und die ganze Gegend aufrollten. Pol konnte es nicht leiden, wenn er ständig in allen möglichen Landessprachen angesprochen wurde, häufig tat er so, als sei er Holländer und verstünde kein Wort. Wenn er an holländische Touristen geriet, tat er wieder so, als habe er nichts verstanden. Er mochte Dun na nGall trotzdem, weil es direkt am Meer lag. Er trug einen verwaschenen grünen Parka mit abgewetzten Ärmeln, den trug er schon seit Jahren und er war ihm noch immer zu groß. Ständig fegte der Wind ihm das Haar ins Gesicht und seine Hosen waren an den Knien so blank geschabt und ausgebeult, als habe er sich in letzter Zeit nur auf Knien rutschend bewegt. Man hätte vermuten können, dass er den Berg des heiligen St. Patricks auf Knien hochgepilgert war, aber in Wirklichkeit hatten Brendan und er sich in Holland einer Gruppe Traveller angeschlossen, die mehr schlecht als recht Straßen und Wege teerten und so ihren Lebensunterhalt verdienten. Wochenlang hatten sie in einem winzigen Campingbus gehaust, waren mit den Männern umhergezogen und erst wieder abgesprungen, als sie irgendwo in der Nähe von Amsterdam gelandet waren. Viel Geld hatten sie mit der Teergeschichte nicht gemacht, dafür aber mit diversen Geschäften in Amsterdam. Das Einzige, was sie wirklich mit nach Hause brachten, war eine richtig gute Sonnenbräune.
„Hey, Pol!“
Keine Chance, noch schnell das Weite zu suchen. René hätte gar nicht in Dun na nGall sein sollen. Dun na nGall war nicht sein Revier, aber da stand er: mit einem breiten Grinsen im Gesicht, als wolle er nur gute Nachrichten verbreiten heute. Als er Pol freundschaftlich in den Arm nahm, brachte er seinen Mund ganz nah an Pols Ohr und flüsterte: „Gehst du mir aus dem Weg, Finnigan?“
„Wie kommst du darauf?“
„Du solltest mir schon letzte Woche die Glücksbringer bezahlen, erinnerst du dich?“
Als sie René über einen Mittelsmann in Amsterdam kennengelernt hatten, hatte es den Anschein gehabt, er sei ein netter Kerl und wolle ihnen gerne behilflich sein, ein wenig Geld nebenher zu verdienen. Aber dieses Bild hatte sich schnell getrübt und sie waren zu der Überzeugung gelangt, mit ihm keine Geschäfte mehr zu machen. Leider war Pol nicht schnell genug aus der Sache raus gekommen.
Pol sagte: „Es gibt da ein kleines Problem, René.“
Es war noch nicht dunkel, als Kieran auf dem Heimweg war, aber es regnete und die grauen Wolken ließen das Land fast schwarz erscheinen. Die Luft war erfüllt vom satten Geruch nach Kräutern und Torf. McGintys Haus lag nur einige Straßen weiter, die geteerte Straße mit ihren Schlaglöchern, in denen sich das Wasser sammelte, war so wenig befahren, dass Kieran in aller Seelenruhe in der Mitte marschieren konnte. Schon von Weitem sah er die Gestalt auf dem Stromverteilerkasten sitzen, umgeben von wuchernden Brombeerbüschen, in denen sich Plastikmüll und Schafswolle verfangen hatten. Kieran erkannte Pol erst, als er bis auf wenige Meter heran war und selbst dann hatte er noch seine Zweifel.
„Pol? Ich hoffe, der andere sieht mindestens genauso aus.“
„Sie waren zu dritt.“
René hatte zunächst freundlich und verständnisvoll reagiert, aber nachdem er begriffen hatte, dass Pol sagen wollte, dass er das dope verloren und nicht verkauft hatte, und somit auch noch nicht bezahlen konnte, war er richtig böse geworden. Seine Kameraden hatten in der Nähe gewartet. René war nie allein unterwegs. Pol das Fell über die Ohren zu ziehen, brachte das ausstehende Geld nicht ein, es sollte ihm zeigen, dass René keinen Spaß verstand in solchen Dingen.
„Ehrlich“, hatte er gesagt und Pol in die Zange genommen, „ich will dir nur zeigen, wie ernst mir die Sache ist. Es bereitet mir kein Vergnügen, wirklich nicht.“ Er hatte das immer wieder beteuert, noch während er Pol festhielt und seine Freunde ihn verprügelten.
Pols Nase war dick angeschwollen, hatte aber hinter der Stadtgrenze von Dun na nGall
schon aufgehört zu bluten. Von innen hatte er sich auf die Unterlippe gebissen, sein rechtes Auge war bis zur Schläfe hin rot-blau angelaufen. Nachdem Brendan und er René in Amsterdam kennengelernt hatten, waren sie eine Zeitlang wirklich versessen darauf gewesen, mit ihm Geschäfte zu machen, aber dann fanden sie, dass ihnen seine Methoden nicht zusagten.
Ein einziges Mal, hatte Pol gesagt, nur, um die Durststrecke zu überwinden.
„Ist die Nase gebrochen?“
In der Tasche hatte Kieran den Brief der Schule. Er trug ihn schon seit heute Morgen mit sich herum, hatte am Briefkasten auf den Briefträger gewartet und ihn persönlich in Empfang genommen. Alle anderen hatten die üblichen Schlitze für die Post in ihren Haustüren, aber bei den Finnigans war ein Blechbriefkasten am Hofzaun angebracht. Üblicherweise kam der Briefträger auf einem Moped die Straße herunter, war schon von Weitem zu hören, noch bevor er das Haus erreicht hatte. Kieran hatte sich noch nicht dazu durchgerungen, den Brief zu öffnen.
„Wieso gehst du zu Fuß nach Hause?“
„Den Wagen hat Moira.“
Pol zog die Nase hoch und sprang vom Verteilerkasten. Unter seinen Schuhen spritzte das Regenwasser weg und auf Kierans Blick hin antwortete er nur: „Es ist meine Sache, Okay?“
„Komm mir nicht mit diesem Okay. Wenn ich dahinter komme, wer dich so vermöbelt hat, kümmere ich mich darum.“
„Ich werd’s dir aber nicht sagen.“
Kieran zog den Brief aus seiner Tasche, betrachtete ihn und gab sich Mühe, die Regentropfen von dem Papier fernzuhalten. Der Umschlag war eingerissen und schmutzig, Kierans Fingerabdrücke waren darauf, in einer Mischung aus Schlamm und Regen, bereits angetrocknet zu einem Siegel.
„Irgendwas Wichtiges?“ fragte Pol.
„Gehen wir einen trinken, dann mach ich ihn auf.“
Im Ryan’s setzten sie sich nicht wie üblich an die Theke, sie bevorzugten einen Tisch in der Ecke, wo sie ihre Ruhe hatten. Howard schaltete das Radio aus und machte eine seiner Irish Folk Cassetten an, die er stundenlang laufen lassen konnte. Unter der Woche wollten die Gäste normalerweise moderne Musik und Nachrichten hören, waren mit dem Irish Folk nur an den Wochenenden einverstanden, wenn sie tanzen und feiern wollten. Kieran gab Pol einen Whiskey aus, sie lachten darüber, dass Pol kaum trinken konnte mit seiner wunden Lippe und zugeschwollenen Nase.
„Was steht jetzt in dem Brief?“
Kieran kippte den Whiskey und sagte: „Ich will Darren an die Schule in Irvinestown bekommen, deshalb hab ich einen Brief an den Schulleiter geschrieben. Sie wissen, dass wir keine Prods sind, aber vielleicht hat Darren eine Chance.“
„Was hast du ihnen geschrieben? Loyale Scheiße?“
Kieran sah ihn von unten her an, bis Pol zu grinsen begann, sich aber nicht entschuldigte.
„Was ich mache, hat mit Darren nichts zu tun. Deshalb sehe ich nicht ein, dass er nicht auf diese Schule darf.“
„Du hörst dich an, als hättest du noch nie etwas von unserem geteilten Schulsystem gehört. Jetzt mach endlich den Brief auf.“
Kieran steckte sich die Zigarette zwischen die Zähne, verzog das Gesicht und riss den Umschlag auf. Er blinzelte und sagte: „Wenn es wieder eine Absage ist, kein Wort zu Moira. Ich will sie mit dieser Sache überraschen und nicht erneut enttäuschen.“
„Du hast kein gutes Gefühl bei diesem Brief, was?“
„Es wäre nicht die erste Absage. Und wenn sie so schnell reagieren, kann ich mir den Rest fast schon denken.“
Pol betrachtete Kieran, wie er den Brief aus dem Umschlag zog, dachte darüber nach, dass sein Bruder ganz andere Wege hätte einschlagen können; es war eine verwirrende Seite an ihm, dass er nicht immer so reagierte, wie man es erwartete. Jetzt setzte er sich hin und verfasste Bittbriefe. Auf der anderen Seite hatte er vor Jahren durch Zufall mitbekommen, dass Kieran dafür gesorgt hatte, dass ein paar katholische Schulkinder sicher durch eine protestantische Straße zu ihrer Schule kamen – in dieser speziellen Situation hätte er die Schreibmaschine sicher dazu benutzt, um sie jemandem an den Kopf zu werfen.
Kierans Gesicht war so ausdruckslos, dass es nicht ersichtlich wurde, ob es eine Zu- oder Absage war, die er da in den Händen hielt. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er reagierte, dass Pol schon dachte, die ganze Welt sei eingefroren und zu Eis erstarrt. Selbst sein eigener Atem schien langsamer zu gehen.
Endlich faltete Kieran den Brief zusammen, steckte ihn weg und lächelte seinen Bruder versonnen entgegen.
Tag der Veröffentlichung: 16.10.2010
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