Totenwache
Während eines gemeinsamen Fußmarsches durch die Umgebung versuchte Kieran seinen Sohn wieder einmal von den Vorzügen einer Schulausbildung zu überzeugen, redete auf ihn ein, während sie an Bächen, Schafen und verlassenen Häusern vorbeikamen. Auf dem Hinweg war Darren noch munter und kletterte auf Steinwällen herum, aber auf dem Rückweg wurde er müde und quengelig und Kieran ließ ihn auf seinen Schultern sitzen.
„Du würdest dort eine Menge Freunde finden, wenn du wieder in die Schule gehst. Das wäre doch klasse, oder?“
Immer wieder sprach er so mit Darren, aber er wusste, dass Darren die Freiheit, den ganzen Tag herumstrolchen zu können, viel zu sehr genoss. So toll konnte in seinen Augen die Schule gar nicht sein, um da mithalten zu können.
„Es gibt so viel, was du noch lernen kannst und dafür ist die Schule da.“
Sie kamen nach Hause, Kieran mit schmerzenden Schultern, Darren kurz vor dem Einschlafen, am Mittag schon so müde, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen. Die Hunde waren dreckverkrustet und hechelten um die Wette. Kieran brachte sie in den Zwinger, ließ seinen Sohn von seinen Schultern rutschen und trug ihn in die Küche. Während sie fort gewesen waren, war Pol nach Hause gekommen. Er saß am Küchentisch und das Haar hing ihm ins Gesicht.
„Bist du in Ordnung?“ fragte Kieran.
„Daid
sieht schlecht aus.“
Kieran setzte Darren in den Weidekorb auf den Torf, wo er sich gegen den Schrank mit dem Porzellan und Besteck lehnte, blinzelte und einschlief, ging hinüber in das Schlafzimmer seines Vaters. Moira war bei ihm, hatte die Vorhänge vor dem Fenster zugezogen, vermutlich, weil sie glaubte, der alte Mann würde sterben.
„Ich mach das schon.“ Er schickte sie aus dem Zimmer, zog die Vorhänge auf, ließ Licht und Luft herein. Der alte Patrick weinte und jammerte undeutlich, griff mit seiner linken Hand nach Kieran, der sich zu ihm herunterbeugte und ihn hochzog. Wenn Patrick seinen Arm um den Nacken seines Sohnes legte, konnte er sich hoch helfen, wenn er dabei auch vor Anstrengung zitterte. Kieran zog seine Beine aus dem Bett, stellte sie nebeneinander auf den Boden und Patrick konnte mit seiner Hilfe stehen. Unablässig flüsterte er mit seinem Vater, bis er zu weinen aufhörte, führte ihn in winzigen Schritten ans Fenster und ließ ihn hinausblicken. Die Sonne brach durch die Wolkenfetzen, zauberte hellgrüne Flächen auf die entfernten hügeligen Weiden und Wiesen. Die Schotterstraßen glänzten schwarz in der Sonne, durch die Bäume ging ein stetiger Wind, eine streunende Katze saß majestätisch auf der Steinmauer.
Kieran wusste nicht, wie viel von alldem sein Vater noch aufnehmen konnte, aber es beruhigte ihn, einen Blick auf sein Land zu werfen, zu sehen, dass die Bäume noch da waren, der winzige Geräteschuppen noch stand, dass die Schafe des Nachbarn noch auf der Weide standen. Sie waren noch immer in Pettigoe. Es war alles in Ordnung.
Als Kieran weggegangen war, hatte er bei seiner Seele geschworen, lieber mit seinem Hof unterzugehen und dort zu sterben, als ihn jemandem zu überlassen, der nicht zur Familie gehörte. Er hatte gehofft, Kieran würde zu Hause bleiben, sich in der Umgebung einen Job suchen, nachdem er von der Schule abgegangen war, aber sie hatten sich fast täglich bis aufs Blut gestritten, aus den dümmsten Anlässen und Bemerkungen, und das hatte Kieran aus dem Haus getrieben. Es hatte ihn sehr enttäuscht, dass sein ältester Sohn davongelaufen war, während die Zwillinge noch zur Schule gingen und zu nichts zu gebrauchen waren. Erst nach Jahren war er mit Frau und Kind zurückgekommen, hatte lange mit seinem Vater über das gesprochen, was er in Belfast getan und erlebt hatte und dass diese Jahre genug für ihn waren.
Seine Frau, die Mutter von Kieran und den Zwillingen, war gestorben, als Pol und Brendan kaum laufen konnten und den beiden hatten sie nie etwas anderes erzählt, als dass sie plötzlich krank geworden sei und ihr niemand hatte helfen können. Die Wahrheit, das Geheimnis zwischen Kieran und seinem Vater, war schrecklich genug, dass es nie jemand erfahren hatte.
Bei einem Ausflug nach Armagh war ihr Wagen von Unbekannten beschossen worden, man hatte ihnen aufgelauert, und zwei Kugeln hatten Thea getroffen. Paddy wusste, dass der Hinterhalt ihm gegolten hatte, kehrte allein zurück und in der gemeinsamen Trauer konnte er keinen Trost finden und sich niemandem anvertrauen. Es verfolgte ihn, dass er unverletzt geblieben war, es ließ ihn lange Zeit verzweifeln und zuviel trinken. Er war einsam in seinem Haus und war unfähig, sich um seine Söhne zu kümmern.
Noch wollte Patrick nicht sterben, er wollte nur ab und zu einen Blick hinaus auf sein grünes Land werfen, auch wenn die Ärzte im Krankenhaus gesagt hatten, dass ihn jede Anstrengung umbringen konnte. Sein Herz machte einfach nicht mehr mit.
„Alles wird gut, Daid
. Komm, leg dich wieder hin, wenn du müde bist. Ich war drüben bei Michael und hab ihm Abe und Bee gebracht. Moira wird uns Kaninchenbraten machen. Die beiden Jungs sind wieder zu Hause. Sie waren drüben am Lough Derg. Ich deck dich zu, Daid
. Du bekommst noch kalte Beine.“
Kieran wischte seinem Vater die Tränen aus dem zerfurchten Gesicht, strich die Überdecke glatt und blieb bei ihm sitzen, bis er eingeschlafen war. Er fluchte, als Pol seinen Namen rief, anstelle an die Tür zu kommen und ihn zu holen.
Er trat in den Flur und rief: „Was ist?“
„Telefon.“
Der schwarze Apparat hing neben dem Kühlschrank an der Wand, der Hörer baumelte an der verdrehten Schnur. Sie alle waren in der Küche versammelt, Moira hatte Wasser aufgesetzt, um Darren die schmutzigen Beine zu waschen, der noch immer auf dem Torf schlief. Pol versuchte, die Fernbedienung für den Fernseher zu reparieren, aber so, wie er sich anstellte, nahm er das Teil nur unwiderruflich auseinander.
„Ja?“
Das Telefonat dauerte nicht lange und er sagte kaum ein Wort. Kieran legte auf und sagte: „Pol, denk dran, dass du die Hunde fütterst.“
„Was ist los?“
„Ich muss noch mal weg.“
„Soll ich mit dem Essen auf dich warten?“ fragte Moira.
„Kann spät werden.“
Es wurde spät. Als er endlich zurück war, schliefen sie alle und er musste sich rein schleichen. Totenwachen waren eine undankbare Aufgabe. Diesmal war es der heimliche und leise Killer gewesen, der den ehemals aktiven John aus dem Nachbarort Clonelly dahingerafft hatte. Zwischen der Diagnose Lungenkrebs und der Bestellung des Sarges hatten ungefähr sieben Monate gelegen. Kieran bevorzugte Totenwachen in den weiter entfernten Dörfern, denn dort kannte er niemanden näher, weder die Toten noch die Gäste. Er war froh, als er sich wieder auf den Heimweg machen konnte, die Uniform versteckte und leise das Haus betrat.
Moira hatte ihm das Essen in den Ofen gestellt, Spaghetti Napoli, Darrens Lieblingsessen, er verzichtete er aufs heißmachen und aß direkt aus dem Topf. Während er aß, polkte er sich den Dreck von den Schuhen, hatte sich dazu eine Zeitung auf den Küchenboden ausgebreitet und hielt auf dem Stuhl sitzend den Schuh zwischen die Knie geklemmt.
Die Nudeln waren unter der Sauce angetrocknet, er spülte sie mit einem Stout hinunter. Kieran sah auf die Zeitung zu seinen Füßen, schob einen dicken feuchten Erdklumpen beiseite. Die Meldung war winzig, wohl deshalb hatte er sie übersehen auf der Seite der Lokalnachrichten.
Dr. Jack Burren, 57, wurde gestern in seinem Amt als Direktor der Schule für behinderte Kinder und des angeschlossenen Sprachtherapiezentrums in Irvinestown bestätigt. Diese Einrichtung besteht seit fünf Jahren und ist die einzige ihrer Art in Tyrone. Durch eine nationale Förderung ist es möglich, über einhundert behinderten Kindern eine Zukunft zu ermöglichen.
Das Foto darunter war grobkörnig und zeigte Dr. Burren mit einem Führerscheinlächeln und in Schlips und Kragen. Von diesem Gesicht hatten sie immer sehr deutlich formulierte Absagen bekommen. Kieran mochte dieses rosige Protestantenaussehen nicht, aber er wollte auch nur, dass Darren Hilfe bekam, mehr nicht.
In dieser kurzen Nacht konnte er nicht schlafen, er drehte sich von einer Seite auf die andere, starrte in die Dunkelheit und wurde dieses lächelnde selbstzufriedene Gesicht des Direktors nicht los.
Ich werde schon einen Weg finden
, dachte er, tastete zu Moira hinüber und konnte endlich einschlafen.
Michael war zwei Nächte mit den Hunden unterwegs und brachte sie dann zurück, zusammen mit einem halben Dutzend fetter Kaninchen, die er schon abgezogen und ausgenommen hatte. Kieran hatte den ganzen Tag das Haus noch nicht verlassen, telefonierte unablässig und jagte jeden aus der Küche. Er machte Michael einen Tee, begrüßte die hechelnden wedelnden Hunde und sagte mit beiläufiger Stimme: „Ich weiß, wie ich Darren an diese Schule bringe.“
„Mach nur keinen Blödsinn, Mann. Die Brits riechen irgendwas. Ich habe die Kaserne beobachtet und die sind da rumgewimmelt wie aufgeregte Ameisen. Morgens um vier. Da ist irgendwas im Gange.“
„Nicht von unserer Seite. Und ich mach schon keinen Blödsinn.“
„Du bist der Boss.“
„Was gibt’s sonst noch?“
Michael trank schlürfend den Tee, biss auf seinen Fingernägeln herum und war deutlich nervöser als sonst. „Dir hat noch keiner bescheid gesagt?“
„Wovon redest du?“
Sehr vorsichtig erklärte Michael: „Die Straßenrowdys sind wieder unterwegs.“
Kieran erhob sich fluchend, riss die Küchentür auf und brüllte ins Haus: „Ich nehm den Wagen!“
Abe und Bee, die braungefleckten Kurzhaarjagdhunde sprangen zur Tür, kratzten an dem Holz und winselten aufgeregt, bis Michael aufstand und sie raus in den Garten ließ.
„Willst du nicht vorher was essen?“ Moira drückte sich an Kieran vorbei und sagte: „Hallo Michael. Das sind schöne Kaninchen.“
„Hast du die Autoschlüssel?“
Kieran klopfte die Taschen seiner braunen Cordjacke ab, suchte in den offenen Schränken und auf dem Sideboard, das überladen war mit zusammengefalteten Programmzeitschriften, Schuhbürsten, alten Rechnungen und Werkzeugen, die Pol nicht weggeräumt hatte.
„Frag Pol“, sagte Moira nuschelnd.
Es sah ganz so aus, als würde Kieran nichts essen wollen.
Kieran stellte sich an die Treppe und rief: „Pol?“
Als er keine Antwort bekam, polterte er nach oben und marschierte in das Zimmer der Zwillinge. Pol war nicht da, Brendan lag auf dem Bett auf der Tagesdecke, Kopfhörer auf den Ohren und hörte laute Musik. Die Bässe wummerten aus dem Kopfhörer heraus und Kieran trat einmal hart gegen das Bettgestell, dass Brendan endlich die Augen aufmachte.
„Wo ist der Autoschlüssel?“
„Der Autoschlüssel? Keine Ahnung.“
„Raus mit dir.“
Brendan sah, dass er es ernst meinte, und es keine gute Idee war, sich mit seinem Bruder anzulegen. Seine Musik dröhnte weiter durch den plärrenden Kopfhörer, er schwang die Beine aus dem Bett und verschwand im Bad. Da hatte er wenigstens seine Ruhe.
In dem Bad lagen Pols Zigaretten, ein Wegwerffeuerzeug und die Autoschlüssel auf dem Holzbrett, was Kieran als Ablage an die Wand geschraubt hatte. Pol rauchte schon seit seiner Kindheit auf dem Klo, steckte dabei den Kopf aus dem Lukenfenster und glaubte, man könne seine Qualmerei dadurch nicht riechen. Als er noch zu klein gewesen war, um an das Fenster zu reichen, hatte er sich auf den Toilettendeckel gestellt, der sein Gewicht irgendwann nicht mehr ausgehalten hatte und unter ihm zerbrochen war. Alarmiert von dem Getöse war der alte Paddy in das Bad gestürmt. Geistesgegenwärtig hatte Pol die brennende Kippe aus dem Fenster geworfen, sein Vater erwischte ihn mit nassen Füßen in der Beckenschüssel und mit einem irritierten Ausdruck auf dem Gesicht.
„Was treibst du denn da bloß, Pol?“
Und Pol hatte sich zum Fenster umgedreht und geantwortet: „Ich hab die Katze raus gelassen.“
Kieran durchstöberte die beiden Schränke und das offene Wandregal, sah unter das Bett, unter dem sich nur der Staub und eine vergessene Socke sammelten. Schließlich zog er die Schubladen der alten Wäschekommode auf, begann in dem Durcheinander von Socken und Unterhosen zu wühlen, weil er nur zu gut wusste, dass die Zwillinge einfach keine Ordnung halten konnten und wer wusste, wo Pol den Autoschlüssel dieses Mal vergessen hatte.
Er warf die Hosen und alles andere mit Schwung hinter sich, dass es fast so aussah, als wühlte ein Hund im Dreck, erreichte den Grund der Schublade und seine Finger bekamen etwas zu fassen, was sich nicht wie Kleiderstoff anfühlte, allerdings auch nicht wie ein Schlüsselbund. Er zog es nach vorn und erstarrte einen Moment, weil er nicht einordnen konnte, was zum Teufel er da in der Hand hielt. In dem Gefrierbeutel, von der Sorte, in denen Moira Reste von Gemüse einpackte und dann in das zugeeiste Gefrierfach des Kühlschranks legte, steckten eine schwer zu schätzende Zahl von unglasierten Tabletten. Sie waren weiß, hellblau und rosa, rund, eckig und oval, hatten seltsame Aufdrucke. Durch die Plastikhülle hindurch ließ Kieran die Tabletten durch seine Finger gleiten, in seinem Kopf formten sich zwei Fragen: Die erste, Dringendere, war: Was war das für ein Zeug? und die Zweite, auf die er schneller eine Antwort bekommen würde: Wer von den beiden hatte sie ins Haus gebracht und in der Schublade versteckt?
Brendan war auf dem Klo und Pol irgendwo unterwegs, ohne dass jemand wusste, wann er zurückkommen würde. Kieran steckte die Tüte in seine Jackeninnentasche, klopfte mit der flachen Hand darauf und begann mit Seelenruhe, die Sachen wieder in die Schublade zu räumen. Einer der beiden würde die Tabletten suchen und nicht finden, darüber würden die Zwillinge in einen Mordsstreit geraten – wie immer. Da galt es abzuwarten.
Er trat vor die Klotür, klopfte an und sagte: „Ich reiß Pol den Kopf ab, wenn er die Schlüssel in der Hosentasche hat und sich irgendwo besäuft und vergisst, nach Hause zu kommen.“
„Ich weiß nicht, wo er hin wollte“, sagte Brendan von der anderen Seite der Tür, hielt den Autoschlüssel in der Hand und starrte die ganze Zeit darauf. Als er hörte, dass Kieran seufzte und sich von der Tür abwandte, beeilte er sich, den Haken über der Türklinke zu öffnen und den Schlüssel nach draußen zu reichen. Sicherheitshalber nur durch den Spalt der geöffneten Tür. Kieran nahm den Schlüssel sehr vorsichtig entgegen, sagte keinen Ton, dachte noch immer über die Tabletten nach.
„Wo willst du denn hin?“ fragte Brendan. Mit einem Auge linste er durch den Spalt.
„Wir reden darüber, wenn ich zurück bin.“
In Belfast während der Achtziger hätte Kieran beim Anblick der seltsamen Tabletten anders reagiert. Obwohl es ein offenes Geheimnis war, dass auch die Army in diverse Drogengeschäfte verwickelt gewesen war, waren sie hart mit Drogenhändlern umgesprungen. Sie hatten nicht dulden können, dass sich in den katholischen Vierteln Drogen breitmachten, der RUC
einen weiteren Grund gaben, dort Razzien durchzuführen. Drogen gingen Hand in Hand mit organisierter Bandenkriminalität und in Belfast sollte nur der Widerstand gegen die Brits organisiert sein – sonst nichts.
Ratlos blieb Brendan in der Toilette, machte sich Gedanken darüber, was es wohl zu bereden gab, denn er sagte niemals einen Ton über die Dinge, die er vorhatte oder tat. Erst, als Moira nach ihm rief, ging er nach unten.
Auf der Treppe hüpfte er wieder, brachte damit das ganze Haus zum Erzittern. Dieses Stufenhüpfen war eine der (wenn auch nervende) Kleinigkeit, an der man Pol und Brendan ganz genau unterscheiden konnte. Pol hüpfte nie.
Michael hatte die Suche nach den Autoschlüsseln mit einem geduckten Grinsen verfolgt, war dann erleichtert, als es endlich losging und Kieran dazu nicht erst noch seinen eigenen Wagen kurzschließen musste. Sie steigen in den Datsun, kamen bis an die Ortsgrenze von Pettigoe und Michael fühlte sich persönlich angegriffen, als Kieran ihn auf die Straße setzte.
„Was soll das heißen, dass du mich nicht dabei haben willst?“
„Von hier aus ist es nur eine viertel Stunde bis zu deinem Haus, wenn du querfeldein läufst.“
„Ich wollte von dir nicht nach Hause gefahren werden, verdammt, ich will mitkommen.“
„Schmink dir das ab.“
Kieran langte zur Beifahrerseite und zog die Tür ins Schloss. Sie schnappte erst beim zweiten Anlauf zu. Michael sah komisch aus in seiner wütenden Enttäuschung, er ruderte die Fäuste hin und her, beugte sich zum Wagenfenster hinunter und hoffte, ihm würde noch etwas einfallen, womit er Kieran umstimmen könnte. Aber natürlich fiel ihm nichts ein. Er trat einen Schritt zur Seite und der Datsun ratterte davon, in Richtung A35.
Später erzählte er, die ganze üble Geschichte wäre nicht passiert, wenn Kieran nicht ständig allein unterwegs gewesen wäre; wenn ein Freund bei ihm gewesen wäre, hätte sich alles ganz anders entwickelt, denn dann hätte ihm jemand rechtzeitig sagen können, was für eine dumme Idee er da ausgebrütet hatte.
Natürlich erwischte Kieran die Straßengang nicht mehr. Er war schon fast bei Enniskillen, als er ein Einsehen hatte und umkehrte, in einen dicken Regenschauer kam und dann doch noch fast mit einem Bus aus Galway zusammenstieß.
Die A35 war keine angenehme Strecke. Die zwei Spuren waren eng und ohne Standstreifen. Wenn man nicht von einem lebensmüden Überholer in die Hecken gedrängt wurde, dann fuhr man sich selbst hinein, wenn man herumwandernden Schafen ausweichen musste. Als er die nächste Ortschaft erreichte, schien bereits wieder die Sonne.
Auf einer angrenzenden Wiese, die mit Stacheldraht eingezäunt war, stand ein roter Zigeunerwagen, wie sie mitsamt Pferd an Touristen vermietet wurden, denen es immer wieder Vergnügen bereitete, für dieses fragwürdige Abenteuer viel Geld zu bezahlen. Der Wagen stand mitten auf der Wiese in einem Schlammloch, das Traveller-Pony graste ohne Geschirr und nur mit einem Halfter einige Meter weiter weg. Er war ein dickbäuchiger gescheckter Kerl mit Ramsschädel. Einer von der Sorte, die wie missglückte Versuche aus der Stofftierfabrik aussahen.
Eine Frau und ein Mann versuchten gemeinsam ihm das Geschirr anzulegen, schienen aber alle Gurte verdreht und alle Schnallen geöffnet zu haben, dass sie nicht mehr wussten, was nach vorn, nach oben oder nach unten gehörte. Das Pferd ließ alles in einer freundlichen Seelenruhe über sich ergehen; sie legten ihm den Bauchgurt um den Hals, wickelten die Leinen um seine Beine und wussten mit dem Schweifriemen nichts anzufangen. Obwohl sie hoffnungslos verloren waren, wenn nicht irgendjemand zur Hilfe kam, ignorierten sie diese Tatsache völlig. Sie versuchten Gurte zusammen zu schnallen, die nicht zusammengehörten und kombinierten dann auch noch Teile aus der Trense ins Zuggeschirr.
Die Chancen standen schlecht, dass sie durch Zufall das Pferd richtig angeschirrt bekamen.
Und das größte Problem, was ihnen noch nicht aufgegangen war, war der Zigeunerwagen selbst. Diese großen hölzernen Ungetüme aus Holz waren schwer, diese kleinen Ponys zogen mühsam an ihnen und das auch nur im Schritt. Es war unmöglich, dass er den Wagen allein aus dem tiefen Schlammloch herausgezogen bekam.
Kieran hielt den Datsun auf der Höhe des Pferdes, kurbelte das Fenster runter und rief: „Kommen sie klar?“ obwohl es offensichtlich war, dass die beiden sich mit den Ledergurten fast strangulierten.
„Oh danke“, rief die Frau zurück und winkte mit einer freien Hand, „wir haben nur eine Schnalle aufgemacht, um dem Pferd eine Pause zu gönnen.“
Sie trug Gummistiefel und hatte einen Strohhut auf dem Kopf sitzen.
„Das Schlammloch sieht tief aus.“
„Wir schieben mit an, dann geht das schon.“
Sie lächelten und winkten und das Pferd hob den Kopf, das Maul voller langer Grasbüschel und wanderte ganz gemächlich einige Schritte weiter, wobei er alle Gurte und gepolsterten Geschirrteile abstreifte und das Pärchen hinter sich ließ.
„Fast hätten wir’s gehabt“, hörte Kieran den Mann mit ärgerlicher Stimme sagen.
Der nächste Regenschauer kündigte sich an, frischer Wind trieb grau-weiße Wolken übe das Land und verdunkelte den Himmel. Bevor die ersten Tropfen fielen, kurbelte Kieran das Fenster hoch und fuhr weiter, um an der Tankstelle einige Meilen weiter anzuhalten und dort bescheid zu sagen, dass an der Straße nach Enniskillen Touristen Probleme mit ihrem Zigeunerwagen hatten. Der Tankwart grinste und nickte nur; als Kieran dann auch noch sagte, dass sie wohl einen Traktor brauchen würden, brummte er: „So was ist nicht billig.“
Jeder wusste, dass Touristen, die sich die Leihgebühr für einen Zigeunerwagen leisten konnten, in dem sie weder kochen noch auf die Toilette gehen konnten, auch bei einer frei definierten Gebühr fürs Abschleppen nicht Nein sagten.
„Ich warte noch bis nach dem Regenguss, dann sind sie so verzweifelt, dass sie gar nicht erst in die eigene Währung umrechnen werden.“
„Viel Glück“, sagte Kieran.
Er fuhr nicht direkt nach Hause, sondern machte einen Zwischenstop im Ryan’s, der gerade erst aufgemacht hatte und Howard die gierigen alten Männer launisch begrüßte, die er erst am Abend zuvor mit dem Besen hinausgefegt hatte. Es waren immer dieselben Säufer, die hereinschneiten, obwohl sie kein Geld in den Taschen hatten.
Kieran setzte sich an die Bar, ließ sich ein Guinness zapfen und hörte sich mit einem Ohr die Beschwerden des Oldtimers auf dem Hocker neben sich an. Er trauerte seiner Frau hinterher, die er vor zwanzig Jahren verlassen hatte, um mit einer jüngeren zusammenzuleben, die sich aber als treulose Seele erwiesen hatte und nach England abgehauen war – mit dem Großteil seines Geldes. Manchmal brachte er ihre Namen durcheinander, an manchen Abenden behauptete er, sie wären ihm beide davongelaufen.
„So ist das mit den Weibern“, sagte Kieran, eine Bemerkung, die immer den Punkt traf, wenn man neben dem Alten saß, ob man nun richtig zugehört hatte oder nicht.
„Was ist los?“ fragte Howard. Die Irish Independence lag aufgeblättert vor ihm auf der Theke.
„Ist Pol heute schon hier gewesen?“
„Also mal wieder Pol.“ Er legte die Zeitung beiseite. „Nein, der war nicht hier.“
Das letzte Mal, als Kieran nach Pol gesucht hatte, um ihn unangespitzt in den Boden zu rammen, war um die Weihnachtszeit gewesen. Da hatte Pol sich den Karpfen geschnappt, den Kieran als Festessen besorgt hatte, aus dem Plastikeimer befreit, und war mit ihm durchgebrannt. Wäre er zwölf Jahre alt gewesen, hätten sie vermutet, dass er ihm das Leben retten wollte, aber was konnte er jetzt mit ihm anstellen wollen? Kieran suchte ihn stundenlang, unverändert wütend darüber, dass er mit dem teuren Fisch abgehauen war und als er ihn endlich zu fassen bekam, steckte er ihm den Kopf in den leeren Eimer, bevor er sich die Erklärung hatte anhören können. Er hatte den Fisch genommen und sich mit ihm an die Tankstelle gestellt, um ihn an irgendjemanden teuer zu verkaufen, der verzweifelt auf der Suche nach einem Festtagsbraten war. Der Grund war einfach – er hatte einfach kein Geld mehr gehabt, um für alle Geschenke zu kaufen und da Kieran ihm auch schon Prügel angedroht hatte, sollte er sich wieder auf Klauereien einlassen, hatte er sich entschlossen, den Karpfen zu versetzen. Er hatte es geschafft; die Geschenke und den Tiefkühlersatzfisch bei Howard abgeladen, bevor er draußen vor der Tür den Eimer über den Kopf bekam.
Kieran sagte: „Schick ihn nach Hause, sollte er auftauchen.“
„Klar. Was hat er angestellt?“
Kieran leerte sein Glas und erwiderte: „Das weiß ich noch nicht so genau.“
Gerry, der Busfahrer, kam herein, warf seine Mütze auf die Theke und bekam unaufgefordert seinen Whiskey serviert. Kieran klopfte ihm im Hinausgehen auf die Schulter.
„Hast du’s heute eilig?“
„Ich muss Schlaf nachholen.“
An viel Schlaf war nicht zu denken, denn Pol kam nicht nach Hause und selbst Brendan begann sich Sorgen zu machen, weil sein Bruder einen seltsamen Eindruck gemacht hatte, als er das Haus verlassen hatte.
„Hattet ihr Streit?“ wollte Moira von Brendan wissen und der erwiderte: „Quatsch. Er wollte noch mal weg, das ist alles.“
Es war anzunehmen, dass er bei einem Mädchen war, dass sie in den nächsten Ort gefahren waren, um sich einen Film anzusehen, vielleicht verspätete er sich nur, weil sie den letzten Bus verpasst hatten und zu Fuß gehen mussten. Kieran wusste, dass es häufig der einzige Grund für solche Verspätungen war, aber manchmal steckte auch etwas ganz anderes dahinter. Die Jugendlichen im Grenzgebiet hatten keinen leichten Stand; sie mussten sich entscheiden, auf welcher Seite sie standen und egal, wofür sie sich entschieden, gab es immer genug von der Gegenseite, die ihnen das Leben schwer machen konnten. Pettigoe war kein so heißes Pflaster und auch keine republikanische Hochburg, aber es reichte für Zusammenstöße, die mitunter blutig endeten. Kieran und Michael hatten vor ein paar Jahren geholfen, einen vermissten Jugendlichen zu suchen, der nach der Disco nicht nach Hause gekommen war und sie hatten ihn zwei Tage später in einer Scheune Kilometer weit weg gefunden. Der Junge aus Ederny, siebzehn Jahre alt, war gefesselt und erschlagen worden, Augen und Mund mit Paketklebeband verschlossen. Dieser Mord war nie aufgeklärt worden, und man konnte nur vermuten, was dahinter steckte. Vielleicht gab es ein religiöses Tatmotiv, vielleicht Eifersucht. Kieran fürchtete immer, einer der Zwillinge könnte ebenso enden, wenn sie nicht genug auf sich achtgaben; aber bisher waren sie immer nach Hause genommen, zwar mit blauen Flecken und blutigen Nasen, aber immerhin lebend.
„Hat er ’ne Freundin, Brendan?“
„Nehm ich doch an.“
„Aber du weiß nicht, wer es ist?“
„Nein.“
Moira sagte vorsichtig: “Hoffentlich bringt er sie nicht in Schwierigkeiten.“
Kieran, der noch immer die Tüte mit den rätselhaften Tabletten in der Tasche hatte, machte sich weniger Gedanken um die Ehre eines unbekannten Mädchens.
„Ihr beide solltet schlafen gehen. Es bringt Pol nicht nach Hause, nur, weil wir hier zu dritt herumsitzen.“
„Was ist mit dir?“
Was ist mit mir? Ich bin zum Umfallen müde, habe vermutlich Rauschgift im Haus, vielleicht ist mein Bruder diesen Straßenrowdys in die Hände gefallen und ich muss unbedingt diesen Schulleiter erwischen. Und ich darf von all dem nichts erzählen. Das ist los mit mir, Moira.
Draußen schlug Jep an, als Einziger der Meute, sein schrilles Kläffen klang nach „Hey, da bist du ja“ und ganz deutlich hörten sie eine Stimme, die ihn beruhigte und dann Schritte an der Hintertür.
„Geht schlafen“, sagte Kieran, deutete mit einer Kopfbewegung nach oben, „ich will hier kein Tribunal abhalten.“
Pol sah aus wie eine gebadete Katze, er trug keine Jacke und das Jeanshemd klebte an seinem Körper.
„Hi“, sagte Kieran.
Das Wasser für den Tee war noch heiß, ohne ein weiteres Wort goss er schwarzen Tee auf und bereitete zwei Tassen vor. Unbeweglich stand Pol noch immer in der Tür, beobachtete, was Kieran da tat und wischte sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht.
„Setz dich endlich.“
Sie rührten in dem Tee, sahen aneinander vorbei, als sie am Tisch saßen und Pol musste seinen ganzen Mut aufbringen, um den Anfang zu machen und es nicht wie eine Rechtfertigung aussehen zu lassen.
„Hör mal, wenn irgendwas passiert ist, solltest du mir das sagen. Und wenn ich etwas verbrochen habe, weiß ich nicht, weshalb wir hier sitzen und Tee trinken.“
„Du bist zu alt, als dass ich dir jedes Mal den Hintern versohlen würde, wenn du Mist gebaut hast.“ Kieran sagte das mit einem kleinen Lächeln, aber Pol hatte ihn schon zu oft in Rage und Wut erlebt, als dass er jetzt auf ein freundliches Gesicht hereingefallen wäre.
„Ich hab keinen Mist gebaut, oder? Ich bin nur etwas zu spät dran.“
„Warst du im Kino?“ Kieran konnte sich kaum dran erinnern, wann er das letzte Mal einen Film gesehen hatte. Vermutlich war das noch zu der Zeit gewesen, als sie sich als Kinder durch den Hintereingang rein geschlichen hatten, um nicht bezahlen zu müssen.
„Nur einen trinken.“
„Allein.“
„Es waren noch mindestens zwanzig Mann in dem Pub.“
Pol musste ihn einfach hassen für diese ständige Kontrolle und dafür, dass er immer so deutlich machen musste, dass er der ältere war und das Sagen hatte. Kieran schob die Hand in die Jackentasche, seine Finger ertasteten die Tüte und den Inhalt, aber dann sagte er nichts deswegen.
„Ich habe mir nur Sorgen gemacht, weil die Straßengang wieder unterwegs ist. Wenn du das nächste Mal verschwindest, sagst du vorher, wo du hin willst. Geh schlafen.“
Tag der Veröffentlichung: 12.10.2010
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