Ryan‘s Pub
Der Pub gehörte seit Generationen den Ryans, erfreute sich gleich bleibender Beliebtheit bei den Gästen aus der näheren Umgebung, das alte Haus lag etwas abseits von Pettigoe auf der Straße nach Belleek, profitierte davon, das einzige in der Umgebung zu sein. Man konnte dort gut trinken, Sandwiches essen, Freunde und Bekannte treffen. Im Ryan’s saßen bereits viele Leute, als sie dort eintrafen, sie hatten sich den Gang ins Restaurant gespart, weil sie das knappe Geld lieber im Pub ließen. Die Stimmung war ausgelassen, Kieran drängte sich durch bis an die Theke, Moira im Fahrwasser und Howard zapfte ihm das erste Guinness.
„Was darf’s sein, junge Lady?“ fragte er. Moira bestellte sich ein Cidre. Schon nach wenigen Minuten kamen ein paar Freundinnen mit Zigaretten und Bier zu ihnen herüber und entführten Moira mit sanfter Gewalt. Sie waren alle verheiratet und sie hatten Kinder zu Hause, trotzdem benahmen sie sich ausgesprochen albern und die anwesenden Männer, lachten dann schallend und Moira stellte erstaunt fest, wie sehr sie diese Pubrunden vermisst hatte. Es war eng und laut, in der Ecke beim künstlichen Kamin trafen ein paar Leute zusammen, die zufällig ihre Musikinstrumente dabei hatten, nach und nach stimmten sie Violine und Gitarre an, fielen in eine traditionelle Melodie, begleitet von Flöte und einem bodhran, steigerten sich in ein mitreißendes Finale. Moira wurde von einer Freundin zum Tanzen mitgerissen, obwohl es dazu viel zu eng war. Sie tanzten Jigs
und Reels
, die Mädchen, die Hosen trugen, banden sich Küchentücher als Röcke um, brachten die Männer zum Johlen.
Selbst Father Cormac schwang ein wenig das Tanzbein, obwohl er mehr als deutlich aus der Übung war und einige ältere Gäste sicher der Meinung waren, dass sich so etwas für einen Geistlichen nicht gehörte. Pettigoe war noch nicht lange seine Gemeinde, erst seit zwei Jahren, und hätte sein Boss auf Erden gewusst, welche politischen Aktivitäten er unterstützte, hätten sie ihn sofort nach Afrika versetzt.
Kieran stand mit seinem Bier bei Michael, versuchte ihm etwas von seinem Treffen mit dem alten Cavanaugh zu erzählen, dem pessimistischen Journalisten, der zwischen Baile Átha Cliath
, Belfast und dem Knast hin- und herwanderte. Er schrieb Artikel über Irlands Freiheitskampf und war der Meinung, dass die Verhandlungen und das zähe Ringen um Annäherung nichts brachte.
„Finnigan“, hatte er gesagt, umgeben von einer Wolke aus Zigarrenqualm, „die Ruhe ist bald vorbei. Und ich befürchte, dass es danach schlimmer wird als in den letzten Jahren.“
Kieran spendierte den Musikern eine Runde und hielt Moira den Rest des Abends im Arm, tanzte ein wenig mit ihr oder sie lauschten einfach nur der Musik. Als sie durch die tintige Nacht nach Hause schlenderten, noch immer eingehakt, sagte Kieran: „Ich werde dich nie im Stich lassen und ich gebe dir mein Wort, dass ich immer zu dir zurückkommen werde, was auch passiert.“ Er schien in einer seltsamen Stimmung zu sein.
„So was kannst du gar nicht versprechen.“
Er war sehr ernst. „Doch, das kann ich.“
Kieran hatte eine sehr gut funktionierende innere Uhr. Er ging schlafen und wachte exakt zu der Stunde auf, die er sich vorgenommen hatte. Wachte er auf, lag er für einige Minuten mit offenen Augen da und starrte in die Dunkelheit – meist wartete er darauf, dass sein rasendes Herz sich wieder beruhigte. Er musste sich darauf verlassen, dass Moira nicht bemerkte, wenn er sich nachts davonschlich. Alles musste im Geheimen ablaufen, Verdächtigungen wurden dementiert, Aktionen vertuscht.
Freunde und Familie erfuhren erst von der Mitgliedschaft bei den Provos, wenn Männer verhaftet oder getötet wurden. Selbst in den Zeiten des Waffenstillstandes gab es genug zu tun. Die Protestanten und Katholiken in Pettigoe kannten und respektierten sich größtenteils, anders war es mit den britischen Soldaten, die direkt an der Grenze stationiert waren, um die Mitglieder der Democratic Unionists
zu schützen. Sie symbolisierten den Anspruch Englands auf Nordirland, zogen den Hass auf sich und schon das machte sie zu einem Zielobjekt.
Als sie mit einer Mörsergranate auf die Kaserne geschossen hatten, die unglückseligerweise oben auf dem Gebäudedach gelandet war, hatte die Explosion das ganze Dorf erschüttert und die Vermutung bestätigt, dass sie ein Waffendepot getroffen hatten. Einige seiner Leute waren von den Trümmern getroffen worden, aber sie waren alle davongekommen. Sie alle waren gerannt wie die Karnickel. Der Plan, ein Loch in die Außenmauer zu schießen und dazu eine Mörsergranate zu benutzten, wurde danach nicht mehr verfolgt. Das ganze Dorf und die Umgebung waren wochenlang in Aufruhr gewesen.
Jetzt schlich er sich aus dem Haus, um sich mit Conor zu treffen, der Informationen für ihn sammelte.
Kieran war müde, als er nach Hause kam, er schlich sich ins Schlafzimmer, nachdem er sich bereits im Flur ausgezogen hatte. Moira hatte sich auf den Bauch gedreht, einen Arm bis auf seine Bettseite ausgestreckt, als habe sie im Schlaf nach ihm gesucht und ihn nicht gefunden. Vom Fenster her fiel etwas Mondlicht ins Zimmer und Kieran stieg leise und vorsichtig ins Bett zurück, schob ihren Arm zur Seite, der sich weich und warm anfühlte. Er konnte nicht mehr einschlafen. Von einigen Feuerwehrmännern wusste er, dass es denen nach einem Einsatz auch nicht anders ging. Der Kopf ließ sich nicht so schnell wieder ausschalten.
Moira war nicht aufgewacht, das merkte er an ihrem Atem, so tief und regelmäßig, wie sie ihn gar nicht vortäuschen konnte.
„Wir müssen uns endlich um Darrens Schule kümmern“, sagte Moira beim Frühstück, „so kann das nicht weitergehen.“
Kieran stand mit einer Tasse Tee an der offen stehenden Hintertür, noch nicht richtig angezogen und das Haar zerwühlt. Er antwortete, ohne sich umzudrehen: „Wir können es gerne noch einmal probieren, wenn du unbedingt eine weitere Absage haben möchtest.“
Es gab eine Schule für sprachbehinderte Kinder in Irvingstown, Tyrone, aber die war fest in protestantischer Hand und über eine erste schriftliche Anfrage waren sie nie hinausgekommen. Moiras Verwandtschaft hatte angeboten, Darren zu sich zu nehmen, damit er eine Schule besuchen konnte, aber das hatten sie abgelehnt.
„Irgendwas müssen wir versuchen.“
„Ich lasse mir was einfallen“, sagte Kieran. Er wusste, dass Darren unter normalen Umständen niemals auf diese Schule gehen würde, wenn er einfach nur Bettelbriefe schrieb. Wenn er erfolgreich sein wollte, musste er es anders angehen. „Hat Pol von sich hören lassen?“
„Hat er nicht, und Brendan schläft noch. Ich wollte ihn wecken, aber ich hab ihn nicht wach bekommen.“
„Wollen wir doch mal sehen“, sagte Kieran.
Nach dem Frühstück polterte er mit schweren Schritten in das Zimmer der Zwillinge, riss das Fenster auf und zog seinem Bruder die Decke weg. Als Reaktion bekam er nur ein unwilliges Brummen zu hören.
„Wann bist du nach Hause gekommen?“
„Das könnte ich dich auch fragen“, sagte Brendan und blinzelte ihn mit einem Auge an, nachdem er sich endlich aufrecht hingesetzt hatte.
„In diesem Haus hat sich jeder an die Regeln zu halten, das weißt du. Es gehört zu unseren Abmachungen, seit ich aus Belfast zurück bin. Hast du das irgendwann vergessen, Brendan? Wenn du einen Job hast, wirst du einen Teil des Geldes Moira geben. Du lebst in diesem Haus, aber du gehst hier ein und aus wie in einem Hotel. Wenn Pol und du so weitermachen, setze ich euch vor die Tür.“
„Das kannst du gar nicht.“
„Fordere mich nur heraus, Sweetie
.“
Brendan stand auf, zog die Klamotten vom Vortag an und schaffte es, ein wenig schuldbewusst auszusehen.
„Okay“, sagte er.
„Okay was?“
„Ich gebe Moira die Hälfte von der Kohle und ich wasche meine Klamotten selber und ich helfe ihr, den alten Mann zu versorgen. Was willst du noch von mir, deartháir
(Bruder)? Soll ich mich noch ans Kreuz schlagen lassen?“
Er breitete die Arme aus und legte den Kopf schief. Alle Finnigans waren groß und schlank gebaut und Darren würde in ein paar Jahren ebenso aussehen. Kieran musterte seinen Bruder und erwiderte säuerlich: „Ich bin der Erste, der die Nägel reicht.“
Mit Pol hätte Brendan einen wilden Ringkampf veranstaltet, aber mit Kieran machte man so was nicht; da ließ man sich einen Klaps auf die Schulter geben und hakte die Sache ab. Erledigt.
Später sagte Moira: „Auf der N15 haben sich wieder zwei Jungs totgefahren.“
„Jemand, den wir kannten?“
Beim Abwasch hatte sie das Radio laufen und hörte Nachrichten. Kieran saß bei ihr in der Küche, blätterte in der Tageszeitung und reagierte nicht, als sie antwortete, die Namen seien ihr unbekannt gewesen. Sein dunkler Kopf war voll mit anderen Gedanken und Überlegungen.
Auf der Straße, die draußen vor dem Haus vorbeiführte, ratterte ein unvorsichtiger Fahrer mit seinem Wagen durch das Schlagloch. Sie gingen nur noch nach draußen nachsehen, wenn die Autos nicht weiterfuhren, die dort hineingeraten waren, dann bot Kieran seine Hilfe an. Einen Sommer hatte sich ein Tourist aus Frankreich die Ölwanne abgerissen und war deswegen fast in Tränen ausgebrochen, weil er nicht wusste, wie er das dem Autoverleiher beibringen sollte.
In diesem Schlagloch auf Straßenmitte schwammen mitunter wilde Enten, Kierans Hunde badeten manchmal darin und ab und zu zwangen die Dorfrowdys ihre unglücklichen Opfer, ihre Gesichter in das stets gut gefüllte Schlammloch zu stecken. Es war allen als „Finnigan’s Hole“ bekannt und die Straßenbaumeisterei mochte noch so viel Schotter hineinschütten, nach dem Frost des Winters, spätestens im Frühjahr war es wieder da. Zuverlässig wie die Schwalben.
„Ich dreh noch eine Runde mit den Hunden.“
Kieran zog sich die Regenjacke über, setzte die Mütze auf und warf im Vorbeigehen die Zeitung auf den Korb mit den Torfspalten.
„Nimm Darren mit.“
„Kann ich machen.“
Es war kühl und windig, das richtige Wetter für die Hunde. Die Jagdhunde hielt er an der Leine, trat auf den Flur und rief nach Darren. Jep sprang mit einem eleganten Satz über die Steinmauer, kläffte aufgeregt und war schon halb über die Wiese davon, bevor der Rest der Meute überhaupt den Hof verlassen hatte.
Sieben Hunde bringen Glück
, hatte der alte Patrick immer gesagt, sieben ist eine gute Zahl.
Darren tauchte auf, trug seine dunkelgrüne Wachsjacke und Gummistiefel und er machte ein bitterböses Gesicht, weil Moira ihn genötigt hatte, den verhassten roten Regenhut aufzusetzen. Den mochte er nicht mehr, seit ihn ein Nachbarsjunge Beal tuile
, Hydrant, genannt hatte. Damit fühlte er sich wie ein Baby. Moira stand in der Hintertür und Kieran sagte: „Wir sind nicht lange weg. Ich bring Abe und Bee zu Michael rüber.“
Er verlieh die Jagdhunde gelegentlich an Michael, dessen Haus an einer strategisch wichtigen Straße stand und ein Jagdausflug konnte kaum eine bessere Tarnung geben. Michael war ein guter Freund und hatte schon mit dem alten Patrick zusammengearbeitet.
Kaum vom Hof und außer Sichtweite riss Darren sich den Regenhut vom Kopf und steckte ihn in die Tasche, als würde sein Vater das überhaupt nicht bemerken.
„Ein Tropfen und du setzt ihn wieder auf. Deine Mutter reißt mir den Kopf ab, wenn ich dich nass nach Hause bringe.“
Darren antwortete auf seine Weise, er kicherte, hopste von einem Fuß auf den anderen und sah während des ganzen Spaziergangs immer wieder in den Himmel, ob es regnen würde. Der Himmel tat ihm den Gefallen und es blieb trocken. Während sie den Feldwegen und Landstraßen folgten, sagte Kieran kein Wort, er pfiff nur immer wieder die Hunde zurück, die weit vorliefen und sich über fremde Felder und Wiesen verteilten. Er machte sich über vieles Gedanken. Wenn er mit den Hunden unterwegs war, gab es keinen Grund über irgendwas zu sprechen, aber wenn Darren ihn begleitete, wollte er gewöhnlich etwas aus Baile Átha Cliath
und Belfast hören. Von Baile Átha Cliath
erzählte er gerne, aber Belfast ließ er gerne ausfallen. Diesmal allerdings war er ebenfalls stumm. Moira hatte recht, so konnte es nicht weitergehen mit Darren. Er konnte nicht ewig allein durch die Gegend streunen, er brauchte eine Schule. Kieran konnte es nicht ewig auf die lange Bank schieben. Es war sonst überhaupt nicht seine Art, still dazusitzen und auf ein Wunder zu hoffen. Das Wunder, dass Darren von allein zu sprechen begann.
Auf einer Wiese rannten Schafe vor ihnen davon und Jep der Terrier, raste ihnen auf seinen kurzen kräftigen Beinen hinterher, einen der Mischlinge im Schlepptau, und Kieran musste einige Male nach ihnen rufen und pfeifen, bis sie reagierten. Er nahm Jep an die Leine.
„Jep ist ein kleiner Teufel“, sagte er, „das nächste Mal lassen wir ihn zu Hause.“
Michael Doherty erwartete ihn bereits, sie sperrten die Hunde in einen leeren Verschlag und Kieran schickte Darren mit Jep an der Leine auf den Hof zurück. Dort wurde er von Michaels Frau ins Haus gerufen, die eine Tasse Tee für ihn hatte. Sie strich ihm über den Kopf und sagte: „Du musst dir deine Haare schneiden lassen, mein Junge.“
„Dein Junge verwildert“, sagte Michael nicht das erste Mal, „ich seh ihn so oft durch die Gegend streunen, ganz allein, er läuft über die Steinwälle, spielt mit den Schafen oder hockt stundenlang auf irgendeinem Baum. Du solltest dich mehr um ihn kümmern.“
„Ich werd’s noch mal mit Irvinestown versuchen.“
Letzten Sommer hatte Kieran geholfen, die Scheune in einen Stall umzubauen. Michael wollte Rinder aufziehen und weiterverkaufen, hatte gut zwei Dutzend auf der Weide stehen, aber die Preise für Rindfleisch sanken und die Gewinne, die er sich erhofft hatte, konnte er in den Wind schreiben. Michael war es gewesen, der sie alle vor der Benutzung der Mörsergranate gewarnt hatte. Jahre zuvor hatte er in London erlebt, wie ein solches Ding nach hinten losgegangen war, dass es zwei Männern das Leben gekostet hatte.
„Die Schule würdest du nicht mal von innen sehen, selbst wenn du dich als Prinz Charles verkleidest“, sagte Michael, „inklusive Segelohren.“
„Ich werd’s einfach anders angehen.“
Michael kratzte sich die Stirn, machte dabei ein abschätziges Geräusch und erwiderte: „Dann wünsch ich dir Glück dabei, was immer du auch vor hast. Und danke noch mal für die Hunde.“
Michael liebte es, nachts oder in der frühen Morgendämmerung jagen zu gehen, wurde manchmal dabei erwischt und bezahlte die Strafe. Regelmäßig kam er mit Rebhühnern und Feldhasen heim, einmal hatte er ein Schaf erlegt, weil er einfach nur in ein raschelndes Gebüsch geschossen hatte. Seine Frau lamentierte darüber, dass er irgendwann einen Spaziergänger oder einen Camper schießen würde und den könne er dann nicht einfach vergraben wie diesen unglücklichen Hammel.
Nebenbei schlich sich Michael bei seinen nächtlichen Streifzügen an die Kaserne heran, konnte dort stundenlang hocken und mit einem Infrarotfernglas die Soldaten beobachten.
„Wie geht’s dem alten Paddy?“
„Wir versuchen, es ihm so erträglich wie möglich zu machen, aber Moira schafft es irgendwann nicht mehr. Ich müsste mehr zu Hause sein, aber frag mich nicht, wie ich das machen soll.“
„Oh Mann, ich kann mich daran erinnern, wie ich mit ihm zwei Tage lang in dem Schlammloch gesessen habe und er hatte nichts Besseres zu tun, als mich die Namen seiner gefallenen Kameraden auswendig lernen zu lassen, damit ich nicht einschlafe. Das hat mir den Arsch gerettet.“
Kieran holte Trash, Ugly und die anderen aus dem Verschlag, drängte Abe und Bee zurück.
„Ihr bleibt hier“, sagte er.
Michael warf einen langen Blick in den stürmischen Himmel, sog die Luft ein und murmelte: „Irgendwas liegt in der Luft. Vielleicht sollte ich diese Nacht zu Hause bleiben.“
Er strich sich durch den Bart, der jeden Winter etwas grauer wurde. Vor dem missglückten Anschlag auf die Kaserne hatte er auch etwas von einem unguten Gefühl gesagt, aber niemand hatte ihn für voll genommen.
Darren kam aus dem Haus gehüpft, so viel Schokoladenkekse in der linken Hand, wie nur hineingingen, drehte sich um und piepste: „Danke.“
Pol und Brendan, all-round Talente, aber nicht gerade begnadete Musiker, waren schon in den frühen Morgenstunden nach Dun na nGall
gefahren, denn dort fand das jährliche Musik-Festival statt, was immer viele Besucher und vor allem Touristen anlockte. Dort sicherten sie sich einen guten Platz und sahen sich um, ob schon Bekannte dort waren. Auf dem Marktplatz, wo die Busse ankamen und ihre Fahrgäste ausspuckten, waren Buden und Zelte aufgebaut, ein Haufen Kinder rannte umher, kamen fast unter die Räder.
Die einströmenden Touristen würden alles kaufen, was auch nur annähernd irisch aussah – Pullover aus Schurwolle, Schmuck mit keltischen Symbolen, Keramik, Bücher und Musikcassetten. Die Buden rückten zu einem kleinen Flohmarkt zusammen, umgeben von Straßenmusikern, Fressbuden und herum albernen Gauklern. Sie waren getrennt losgezogen, weil Pol meinte, wenn sie mit Moira und Kieran fuhren, hätten sie blitzschnell Darren an der Backe kleben und dürften auf ihn aufpassen. Also waren sie früher per Anhalter gefahren. Erst am Mittag, als sie schon ein paar Touristen abgezockt hatten, trafen sie sich an einem Fish & Chips-Stand.
„Ich bezahle für euch mit“, sagte Moira, „fünf Portionen, bitte.“
Sie reichte die fettigen Schalen nach hinten durch, wobei sie Darren als ersten bediente, damit er Ruhe gab. Kieran reichte die Plastikflasche mit dem Essig herum, fragte: „Was habt ihr euch schon angesehen?“
„Es sind ein paar gute Musiker hier“, sagte Brendan, „und ein paar Jungs, die wir kennen.“ Mit einem Grinsen zu Darren setzte er hinzu: „Der Feuerschlucker ist klasse.“
Er rückte die alte zerschrammte Gitarre auf seinem Rücken zurecht.
„Wir müssen wieder los. Danke für’s Essen.“
Die Zwillinge machten sich aus dem Staub, Darren sah ihnen sehnsüchtig hinterher, drehte sich fragend zu Kieran herum. Das Frittieröl tropfte von seinen Fingern.
„Lass die beiden noch in Ruhe“, sagte Kieran, „wenn du aufgegessen hast, machen wir einen Abstecher zum Karussell.“
Eine Fahrt auf dem Kinderkarussell war nur ein schwacher Trost im Vergleich zu der Möglichkeit, den Zwillingen bei ihren Aktionen zuzusehen, aber immerhin besser als gar nichts. Wenn er nicht zum Karussell wollte, würden sie ihn wohlmöglich die ganze Zeit bei dem langweiligen Line-dancing festhalten. Darren schlang die heißen Chips und den Fisch hinunter, drängte zum Karussell.
Moira hatte eine Freundin getroffen und war ein paar Schritte weiter gegangen und weil Kieran keine Lust hatte, allein unter Müttern bei dem Karussell zu versauern, drückte er Darren Kleingeld in die Hand und schickte ihn allein los.
„Wir holen dich wieder ab“, sagte er, „also renn nicht durch die Gegend.“
Darren war so schnell im Getümmel verschwunden, dass er die letzte Anweisung vermutlich nicht mehr mitbekommen hatte. Kieran hakte sich bei Moira ein, begrüßte die Freundin mit einem Lächeln, die im Nachbarort wohnte und ihren untreuen Ehemann abgeschossen hatte, um mit seinem Bruder zusammenzuleben. Sie hatte ein Blumengeschäft.
„Wo steckt Darren?“
„Ich hab ihn zum Kreiseln geschickt.“
Moira sah über ihre Schulter hinweg, versuchte die Menge zu überschauen.
„Den klaut schon keiner“, murmelte Kieran, „du kennst ihn doch. Der steckt sich das Geld ein und hängt dann den beiden Jungs am Rockzipfel.“
„Die werden sich bedanken.“
„Gehen wir was trinken.“
Aus allen Richtungen war Irish Folk zu hören, sie blieben bei einer winzigen Bühne stehen, auf der eine Gruppe aus Sligeach spielte. Kieran trank ein Guinness und holte danach nur noch Kilkennys für Moira.
Wie er vorhergesagt hatte, spürte Darren zielsicher seine Onkel in einer Gruppe Musiker auf, die rauchend auf dem Parkplatz saßen, auf dem Kieran gewöhnlich den Datsun abstellte, wenn er in Dun na nGall
war. Die beiden waren nicht begeistert über den Knirps, ließen es sich aber nicht anmerken.
„Wer iss’n das?“ fragte einer der bärtigen Typen.
Darren sah ihn schüchtern an, hätte sich am liebsten irgendwo versteckt. Bei Leuten, deren Gesichter er nicht deutlich erkennen konnte, wurde ihm unwohl, und wenn es schlimm wurde, steigerte er sich in Angstattacken. Bei ihm äußerte sich das gewöhnlich darin, dass er sich zurückzog. Als er noch kleiner gewesen war, hatte er beim Anblick von Männern mit Motorradhelmen um sein Leben gebrüllt. Bei Leuten, die ihm Angst machten und ihn verstummen ließen, machte er einfach nur einen schüchternen Eindruck. Da er sowieso kaum sprach, war noch niemand wirklich dahinter gekommen.
„Das ist Darren“, sagte Brendan, „den hat irgendwann die Katze angeschleppt.“
Einer der Jungs winkte Darren zu sich und knieten sich auf ein freies Stück Straße, wo sie mit dicken Kreidestücken ein großflächiges Bild vom heiligen Patrick zu malen begannen.
„Den schicken wir mit ’nem Hut rum“, sagte der Bärtige, „das bringt noch extra was ein.“
Pol fand die Idee nicht wirklich gut, er wusste, welchen Ärger sie bekamen, wenn Kieran dahinter kam. Er war außerdem nicht darauf angewiesen, weiter schlechte Musik zu machen und Darren das Geld einsammeln zu lassen mit seinem treuen Hundeblick – er und Brendan hatten sich auf das Volksfest besser vorbereitet. Mit dem minimalen Einsatz von Geld und Arbeit hatten sie farbige Aufkleber drucken lassen, dünne Broschüren, die aus Büchern zusammenkopiert waren, und das alles verkauften sie an einem kleinen Stand, der mit weiß-grün-orangen Girlanden geschmückt war und in dem eine gemeinsame Freundin diese billig produzierten Dinge für viel Geld verkaufte. Sie war ideal dafür – hübsch, schlank, rothaarig, beherrschte ein paar Fremdsprachen gut genug, dass sie den Touristen die Preise nennen konnte.
Die bunten „I LOVE IRELAND
“ Aufkleber waren schnell ausverkauft, sahen hübsch aus, lösten sich aber bereits nach wenigen Tagen vom Untergrund ab, weil sie bei der Herstellung schlechten Kleber verwendet hatten. Der war am billigsten gewesen. Es war dreister Betrug.
Aus diesem Grunde verkauften die Zwillinge auch nicht selber. Noch so etwas, was Kieran ihnen sehr übel nehmen würde, sollte er dahinter kommen.
Bis in die Nacht dauerten die Tänze und die Musik an und Pol und Brendan blieben, bis die letzten Musiker ihre Instrumente einpackten und die letzte Bude schloss. Weil Paddy zu Hause allein war, fuhren Moira und Kieran früh am Abend nach Pettigoe zurück, allerdings erst, nachdem sie lange nach Darren gesucht hatten. Sie hatten ihn schließlich bei einem Händler entdeckt, der Kaninchen und junge Hunde verkaufte. Seine Hände zeigten noch immer die Spuren der intensiven Kreidemalerei. Sie waren früh genug gefahren, um den Schlägereien in dem Zusammenspiel aus Alkohol und ausgelassenem Gedränge zu entgehen. Darren schlief schon im Auto ein.
„Er wollte unbedingt einen von den Border Collies“, sagte Moira und Kieran antwortete: „Das fehlte mir gerade noch.“
Tag der Veröffentlichung: 11.10.2010
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