Pettigoe
Kieran hatte gesagt, er würde nach Dublin fahren, aber das war eine Lüge gewesen, ebenso wie es eine Lüge gewesen war, dass er sich das blaue Auge am Türknauf des Pubs geholt hatte. Er war groß und dunkelhaarig, das perfekte irische Blassfleisch mit O-Beinen.
Sein Datsun war steinalt und sah aus, als wäre bereits alles darin transportiert worden, einschließlich Schafe, Torf und Bauholz und er roch auch so. Kieran hatte für seine Reise den Überlandbus genommen, weil es unauffälliger war, stand jetzt auf dem Parkplatz neben seinem wartenden Auto, sah hinüber zu dem alten hochgelegenem Friedhof, dem reilig
, wo Touristen Fotos machten, in der Ruine nach irgendwelchen Spuren suchten. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen, bis er sich endlich entschloss, nach Hause zu fahren, er schloss den Datsun auf und fuhr über die Landstraßen nach Pettigoe. Am unauffälligen, halb versteckten Ortseingangschild hatte ein Witzbold ein Stück Schafswolle aufgehängt, dass es aussah, als habe das Schild einen Pullover an. Die ersten Häuser kamen in Sicht und einige Bewohner arbeiteten in den Vorgärten oder lehnten an Steinmauern und unterhielten sich. Auf dem kümmerlichen Spielplatz neben dem Supermarkt spielten ein paar Kinder, aber Darren war nicht bei ihnen, was Kieran auch nicht erwartet hatte. Vor dem Pub hielt er an und hupte. Howard Ryan trat vor die Tür und hob die Hand. In den Raum rief er zurück: „Kieran ist wieder da.“
In Pettigoe, umgeben von Feldern, Wiesen, Bauernhäusern, Feldwegen und Straßen ohne Straßenschilder, konnte man in Ruhe leben, alles ging seinen Gang, wenn man berücksichtigte, dass die Grenze direkt durch das Dorf ging. Sprang man über einen Bach, der sich durch eine Kuhweide schlängelte, war man bereits auf britischem Gebiet.
Der Überlandbus hielt zwischen Tankstelle und Kirche, war dreimal am Tag auf dem Weg von Sligeach
nach Enniskillen. Meist waren die Busse in einem schlechten Zustand, ebenso wie die Straßen, teilweise musste Gerry die Falttüre neben dem Fahrersitz mit einem Gepäckstück zuklemmen, damit sie während der Fahrt nicht ständig aufsprang. Er war den ganzen Tag auf dem Land unterwegs, hielt auf seiner Strecke schon mal an einem Supermarkt und schickte einen Jungen hinein, um ein paar Einkäufe zu machen.
Bis auf gelegentliche Hubschrauberüberflüge blieben sie in Pettigoe von den Briten verschont, allerdings flogen die manchmal so tief, dass Schafe und Rinder in Panik davonrannten. Sie kämpften mit der Arbeitslosigkeit, der fehlenden Infrastruktur und der Landflucht der Jugend, schmuggelten alles Mögliche über die grüne Grenze. Das taten sie fast alle und tranken sich danach im Pub die Leber kaputt. Im Ryan’s Pub sorgte Howard dafür, dass die Betrunkenen gut nach Hause kamen, die zu sehr Alkoholisierten brachte er auch schon mal bis ins heimische Schlafzimmer, wo er ihnen die Schuhe auszog, die Kragen lockerte und dafür sorgte, dass sie ihren Zahnersatz in das Wasserglas spuckten. Er wollte schließlich nicht, dass seine Kunden an ihren Dritten erstickten. Bis auf die lahmende Landwirtschaft gab es in Pettigoe keine nennenswerte Infrastruktur, alles dümpelte vor sich hin und wer einen guten Job haben wollte, ging am besten in eine der größeren Städte. Viele fuhren täglich etliche Kilometer, um irgendwo zu arbeiten, um ihre Familie über die Runden zu bekommen.
Bevor Kierans Familie merkte, dass er zurück war, wussten die Hunde schon bescheid. Sie sprangen an dem Gitter hoch, bellten und jaulten, bis er endlich den Datsun abgestellt hatte und sie begrüßen konnte. Es war ein wild zusammengewürfelter Haufen, Schäferhundmischlinge, zwei Jagdhunde, ein Irish Wolfshound-Mischling, der Trash hieß und ein hysterischer Jack Russell namens Jep. Die roten Irish Terrier waren zuletzt dazugekommen. Sie alle hatten die Aufgabe, das Haus und den Hof zu bewachen, nur ganz nebenbei ging Kieran auch ihnen jagen. Durch die Hintertür betrat er das Haus, ein zweistöckiges nettes Häuschen, alt aber gut in Schuss. Er zog die Jacke aus und hängte sie über eine Stuhllehne. Aus seinem Zimmer rief Paddy nach ihm, er hatte die Hunde gehört und wusste, dass der Krach nur eines bedeuten konnte.
„Hallo Daid
“, sagte Kieran.
Moira tat so, als freue sie sich, dass er zurück war, aber das machte sie nur, um den Schein gegenüber der Familie zu wahren. Der alte Paddy mochte ans Bett gefesselt und reichlich senil sein, aber in seinen wenigen hellen Momenten konnte er zur Furie werden, wenn man seine Position als Familienoberhaupt in Frage stellte oder seinen Sohn nicht mit Respekt behandelte. Moira konnte es ihm nicht immer recht machen, obwohl sie es war, die sich den ganzen Tag um ihn kümmerte. Pol und Brendan, Kierans jüngere Brüder, kamen nur nach Hause, wenn sie ihre Arbeit verloren hatten und abgebrannt waren. Waren sie zu Hause, hatte Kieran ständig Streit mit ihnen. Darüber beklagte Moira sich nicht – dass sie sich um eine große Familie kümmern musste und keine Unterstützung bekam – sie verbitterte immer mehr über die Tatsache, dass sie und Darren immer erst an zweiter Stelle kamen. Sie war oben in Darrens Zimmer und legte Wäsche zusammen, als sie die Hunde und den Wagen hörte, sah aus dem Fenster und wartete, bis sie Kieran im Haus hörte. Einen von Darrens Pullovern hielt sie vor die Brust gedrückt. Noch immer wünschte sie sich, sie könnte sich darüber freuen, wenn Kieran nach Hause kam, aber alles, was sie fühlte waren Groll und Angst. Sie wusste, dass er nicht in Baile Átha Cliath
gewesen war, wie er behauptete, und er war auch nicht wegen eines Jobs unterwegs gewesen.
Sie fand Kieran in Paddys Zimmer, wo er seinem Vater gerade aus dem Bett heraus in den Sessel half, ihm Kissen in den Rücken stopfte und ihm die Beine zudeckte. Seine Durchblutung reichte nicht mehr für seine unteren Extremitäten und er fror ständig.
„Ich bin zurück, Moira“, sagte er leise, der alte Patrick Finnigan griff nach seinem Arm und hielt ihn fest, flüsterte ihm etwas zu. Seit er etwas wunderlich war, sprach er nur noch gälisch.
„Das sehe ich“, sagte Moira.
Er drehte sich zu ihr herum, sie umarmten sich kurz, aber noch lange nicht mit der Herzlichkeit, mit der Kieran seine Waffenbrüder in Belfast begrüßt hatte.
„Du warst eine Woche länger fort als verabredet“, sagte sie.
„Es ging nicht anders. Wo ist Darren?“
„Draußen irgendwo.“ Sie zupfte an seinem Kragen, stellte ihm die nächste Frage, von der sie wusste, dass er sie nicht ehrlich beantworten würde, obwohl er immer wieder so tat.
„Bleibst du jetzt länger zu Hause oder musst du bald wieder nach Baile Átha Cliath
?“
„Ich bin müde, Moira, und ich muss noch mal mit den Jungs sprechen. Sieht nicht so aus, als würde ich in nächster Zeit wieder weg müssen. Können wir nachher reden?“
Sie hatte es erwartet und war trotzdem enttäuscht.
„Ich bin im Garten“, erwiderte sie.
Hinter dem Haus gab es einen weitläufigen Garten, von Steinmauern und dichten Hecken vom Grundstück der Shaughnessys und den Feldern abgegrenzt, dort hatte Moira auf einem Stück Kartoffeln, Tomaten, Zwiebeln und Kräuter angepflanzt, der Rest wucherte fröhlich vor sich hin. Bei den Bäumen hatte Paddy seinen Platz, wenn das Wetter es erlaubte, dort saß er dann in seinem massiven Stuhl, lauschte dem Wind in den Bäumen oder sah seinem Enkel beim Spielen zu. Die Ärzte im Krankenhaus von Dun na nGall hatten bei der letzten Untersuchung keine Diagnose gestellt, nachdem Paddy wieder einmal hingefallen war, sondern hatten ihn mit dem guten Rat nach Hause geschickt, er solle alles etwas langsamer und vorsichtiger angehen lassen. Kieran hatte ihn in den Datsun gesetzt und zu ihm gesagt: „Du gehörst langsam zum alten Eisen, Paddy. Versprich mir, dass du nicht mehr allein die Treppe in Angriff nimmst.“
Er war steif und unsicher auf den Beinen, redete nur noch selten und an manchen Tagen reagierte er kaum auf Moira, wenn sie ihn fragte, ob er frühstücken wolle. Der einst große und schwere Mann war zu einem leichtgewichtigen Zwerg zusammengeschrumpft, aber Moira hatte trotzdem Mühe, ihn täglich zu versorgen. Paddy war nicht einmal sechzig, aber er wirkte zwanzig Jahre älter. Sie drängte Kierans Brüder dazu, ihr zu helfen, was sie dann auch taten, aber wenn die beiden auf der Suche nach dem nächsten Job waren, blieb diese Arbeit wieder an ihr hängen. Und Kieran war auch die meiste Zeit nicht da.
Im Ryan’s erwarteten ihn die Jungs, standen an der Theke beim Guinness, Howard sorgte dafür, dass sie nicht auf dem Trocknen saßen. Der Pub war alt, klein und ranzig, so wie sich jeder Tourist einen Irish Pub vorstellte, und obwohl Howard Ryan stets freundlich mit allen umsprang, sorgte ein ausgefeiltes System dafür, dass sie unter sich blieben. Für die meisten sporadischen Besucher von der anderen Seite der grünen Grenze reichten die unauffälligen Fotos von Männern in ordentlichen Anzügen, die mit ernsten Gesichtern zusammenstanden, um zu wissen, woran sie in diesem Pub waren. Die Gesichter der alten Männer auf diesen Fotos sagten mehr aus als irgendwelche zur Schau gestellten Banner und republikanischer Schnickschnack. Auf den Fotos waren Namen und Daten vermerkt, eine kleine Ahnengalerie an den nikotingelben Wänden, ein irischer Shinto-Schrein für die verstorbenen Freiheitskämpfer.
„Wie ist es gelaufen?“ fragte Michael Doherty. Er trug seine karierte Schlägermütze, die er aufhatte, wenn seine Frau ihm die Haare geschnitten hatte. Es war ein oft gerissener Witz, dass Michael sich einen Vollbart hatte stehen lassen, weil er Angst hatte, seine Frau könnte ihn auch noch rasieren wollen und auf diesem Wege seine Rente abkassieren.
„Ihr habt noch keine Löcher gegraben, hoffe ich.“ Kieran orderte ein Guinness. Nach dem ersten Schluck fuhr er fort: „Es bleibt alles beim Alten. Seht euch die Nachrichten heute Abend an.“
Er erzählte eine Menge von dem, was in Belfast besprochen worden war und die Männer reagierten zustimmend und erleichtert, wechselten sofort das Thema, als Howards Sohn Tim hereinkam und sein Fahrrad aus der Abstellkammer holte. Sie diskutierten über Fußball und Drahtzäune, über Benzinpreise und über ein paar Töchter, deren Väter nicht anwesend waren. Die kleine Gruppe war geübt darin, den Schein zu wahren. Kieran Finnigan war Quarter Master
im Bezirk, auf ihm lag die Verantwortung für Lager und Verteilung. Das machte er, seit er wieder in Pettigoe war. Seit seinem sechzehnten Lebensjahr war er dabei. Die Jungs wollten ihn nicht weglassen, wollten noch mehr hören von dem, was in Belfast passiert war, aber Kieran sagte, er sei hundemüde und müsse sich endlich aufs Ohr hauen. Als er aus dem Pub trat, rannten zwei Schafe an ihm vorbei, verfolgt von einem Straßenköter, der wohl versuchte, sich sein Mittagessen einzufangen. Kieran schoss ein paar Schafsküttel vom Eingang weg und rief in den Pub: „Der Köter von der Tankstelle jagt wieder die Schafe!“
Er schlenderte rüber in den Supermarkt, dem Ollmhargadh, kaufte ein paar Süßigkeiten und war auf dem Weg nach Hause, als ihm Darren entgegengelaufen kam. Der Junge war über den Steinwall geklettert und rannte auf ihn zu, sprang ihm freudestrahlend in die Arme, dass Kieran einen Schritt zurücktaumelte. Er wünschte, Darren würde ebenso einen Krach veranstalten wie die Hunde, aber Darren war die meiste Zeit so stumm wie sein kranker Großvater.
„Hey, mein großer Junge“, Kieran schwenkte ihn hin und her, „soll ich dir erzählen, wie es in Baile Átha Cliath
gewesen ist?“
Darren nickte und klammerte sich an Kierans Hals, ließ sich von ihm nach Hause tragen. Er war das Ebenbild seiner Mutter, helle Haut und kräftiges rotes Haar, ebenmäßige kleine Zähne. Er war ein hübscher fröhlicher Junge, wurde diesen Winter neun Jahre alt, aber er sprach so wenig, dass der Lehrer der Elementary School
ihn als zurückgeblieben nach Hause geschickt hatten. Darren war nicht dumm; er verstand jedes Wort und konnte sehr gut vorlesen, aber üblicherweise mochte er es nicht, auf irgendwelche Fragen antworten zu müssen. Moira wachte regelmäßig auf, wenn Kieran fort war, dann sprach Darren im Schlaf, ganz so, als unterhielte er sich mit seinem Vater.
Die Hunde durften nicht mit ins Haus, aber sie versuchten es ständig, wenn Kieran sie im Garten laufen ließ. Sie tobten herum, warteten darauf, dass Darren einen Tennisball warf, um den sie sich balgen konnte. Jetzt allerdings hatte Darren keine Zeit, er wollte nur hören, was Kieran zu erzählen hatte. Sie drückten sich durch die Hintertür, ließen die Hunde draußen und Kieran scheuchte Darren nach oben in ein Zimmer, um endlich Ruhe zu haben. Moria wusch sich in der Küchenspüle die Hände, ihre Gartenarbeit war erledigt.
„Wo stecken die beiden Faulpelze?“ fragte er, packte die Süßigkeiten aus, die er für Darren gekauft hatte.
„Sie wollten nach Enniskillen.“
In den letzten Monaten hatte Moira sich angewöhnt, nur noch nuschelnd zu reden, was Kieran wieder daran denken ließ, das bald niemand mehr in diesem Haus normal miteinander sprechen würde. Brendan und Pol waren cuplach
, zweieiige Zwillinge. Sie gingen allen auf die Nerven. Sie waren zweiundzwanzig Jahre alt und würden sich wohl auch noch in den nächsten Jahren durch die Weltgeschichte treiben lassen wie Blätter im Herbstwind. Der alte Paddy hatte es nie geschafft, sie unter Kontrolle zu halten und als Kieran sich nach Belfast abgesetzt hatte, waren sie erst recht ihre eigenen Wege gegangen. Pol, das Sprachrohr der beiden, hatte gesagt, da der älteste Finnigan sich um die politischen Belange des Landes kümmerte, könnten sie ruhig dafür sorgen, dass Kohle rein kam. Am nächsten Tag waren sie nicht zur Schule gegangen, sondern hatten sich Arbeit gesucht. Da waren sie siebzehn Jahre alt gewesen. Vermutlich hatten sie sich nach Holland abgesetzt. Kieran hatte die liberalen Drogengesetze hinter diesem Reiseziel vermutet, aber darüber geschwiegen. Zu dem Zeitpunkt hatte er selbst genug zu tun gehabt. Außerdem konnte er damit leben, die beiden unnützen Trottel aus der Schusslinie zu wissen.
„Enniskillen“, wiederholte er müde, “mal sehen, wo sie dieses Mal wieder reinstolpern.“
Moira setzte sich zu ihm an den Tisch, nahm seine Hand und hielt sie fest, in einer zögernden Geste. Es war noch gar nicht so lange her, da hatte es zwischen ihnen solche Spannungen nicht gegeben, obwohl die Zeiten wirklich härter und gefährlicher gewesen waren. Es schien, als hätten sie sich auseinander gelebt in der relativ ruhigen Gegend von Pettigoe, wo keine RUC
Häuser stürmten oder Autos durch Bomben hochgingen. In einem Zug hatten sie sich kennengelernt, Moira war mit Kieran nach Belfast gegangen und sie hatten nach kurzer Zeit geheiratet. Im Grunde hatte sie von Anfang an gewusst, was er tat, aber sie hatten niemals offen darüber gesprochen, und obwohl ihre Familie in heller Aufregung wegen des Umzuges nach Belfast gewesen war, schienen sie das Glück gepachtet zu haben. Jeder hatte sie schon als Witwe gesehen, noch bevor sie zwanzig sein würde, aber stattdessen war Darren zur Welt gekommen. Das Gewicht der Schwangerschaft war sie lange nicht losgeworden. Auch in der Zeit mit zwanzig Kilo Übergewicht hatte sie sich die Anmut und natürliche Schönheit bewahrt, die erst jetzt, wo sie sich in einer Sackgasse fühlte, zu welken begann. Sie litt mehr unter den gegebenen Umständen, als sie es jemals nach außen zeigen konnte. In den Nächten, wenn sie Kieran irgendwo in Belfast oder in Portadown wusste, war sie nahe daran, den Verstand zu verlieren vor Angst. Wenn er dann heil zu ihr zurückkam, versuchte sie ihm das Versprechen abzuringen, damit endlich Schluss zu machen. Dieser Versuch war schon von Anfang an zum Scheitern verurteilt, denn sie sprachen auch in Pettigoe niemals offen über diese Dinge.
„Kannst du nicht zu Hause bleiben?“ sagte sie, worauf er sagte, dass er nur versuche, einen guten Job zu finden. Daran zerbrach ihre Liebe und unter anderen Umständen und in einem anderen Land hätten sie sich getrennt, aber der gute alte Patrick brauchte Hilfe und so einfach trennte man sich in Irland nicht. Kieran war viel unterwegs und Moira fügte sich. Jetzt war sie sechsundzwanzig, kümmerte sich um alle Finnigans, die es nötig hatten und Darren war ihre einzige Freude. Sie hielt seine Hand fest, um ihm weder einmal zu sagen, er solle es sein lassen, ohne es zu deutlich in Worte zu fassen. Bevor sie auch nur noch einen Ton von sich gab, sagte Kieran: „Es ist alles gut gelaufen, Moira, du musst dir keine Sorgen machen. Ich bin furchtbar müde, und wenn ich geschlafen habe, gehen wir was essen und trinken hinterher einen. Okay?“
„Gut“, sagte sie.
Er brachte die Hunde in den Zwinger zurück, entdeckte dabei, dass Darren sich in dem Datsun hinter das Steuer gesetzt hatte, gedankenverloren mit dem Kinn auf dem Lenkrad hing.
„Hey, Finnigan Junior, wo geht’s hin?“ rief er, es verging eine kleine Ewigkeit, bis Darren antwortete: „Du Bln.“
Was immer Brendan und Pol in Enniskillen gemacht hatten – bei ihrer Rückkehr weckten sie das ganze Haus auf. Sie wussten genau, dass die Hunde neben dem Haus ausrasteten, wenn nachts jemand durch den Garten an die Hintertür kam, aber sie taten es trotzdem. Der alte Patrick glaubte an einen Überfall und fiel aus dem Bett bei dem Versuch, sich in Sicherheit zu bringen. Darren heulte unter seiner Bettdecke und Kieran rannte halb nackt nach draußen, um den Eindringling zu verjagen, aber da waren die beiden bereits in der Küche und überlegten lautstark, ob sie noch etwas zu essen vertragen konnten.
„Seid ihr verrückt geworden? Was soll der Krach?“
Sie sahen ihn mit glasigen Augen an. „Nächste Woche können wir in einem Hotel anfangen, deshalb haben wir etwas gefeiert. Waren wir zu laut?“ und Pol setzte hinzu: „Du bist wieder da, was?“
Kieran konnte Pol kaum verstehen, weil die Hunde noch immer wie von Sinnen anschlugen.
„Kieran?“ Das war Moiras Stimme aus Patricks Schlafzimmer. Einen Moment war er hin- und hergerissen.
„Ihr hört mit dem Krach auf, verdammt. Sofort. Und wenn ihr die Küche wieder in einem Chaos hinterlasst, sperr ich euch beide zu den Hunden.“
Er rannte in Paddys Schlafzimmer. Pol und Brendan sahen sich leutselig an, verdrehten die Augen, stellten Mutmaßungen an, seit wann er wieder zu Hause sein könnte.
„Was hat der wieder für eine Scheiß Laune“, sagte Brendan.
Moira schaffte es nicht allein, Patrick zurück ins Bett zu heben. Sie saß neben ihm und sprach leise auf ihn ein, um ihm zu erklären, dass es nur seine Söhne gewesen waren, die mit wehenden Fahnen nach Hause gekommen waren.
„Daid
, wir schaffen dich jetzt ins Bett zurück.“
Kieran wuchtete ihn hoch, hielt ihn einen Moment aufrecht und sagte etwas auf gälisch, was den alten Patrick zu einem glucksenden Lachen veranlasste. Er schlief fast sofort ein, als er wieder in seinem Bett lag.
„Sind die beiden betrunken?“ Moira stützte beide Hände in den Rücken und bog sich einmal nach hinten durch.
„Nicht mehr als sonst.“
Moiras Haar hatte sich aus dem Zopf gelöst und es fiel auf ihre Schultern, die von dem Nachthemd kaum bedeckt waren. Kieran griff danach, drehte es zusammen und nutzte die Gelegenheit, beide Arme um ihre Taille zu legen.
„Du hast nicht versucht, ihn hochzuheben?“
„Nein“, sagte sie.
„Das sollst du auch nicht tun.“
„Ich mach’s ja auch nicht mehr.“
Darren erschien eingewickelt in seiner Bettdecke in der Tür, schnüffelte und zog die Nase hoch. Er sagte keinen Ton, aber an seinem Blick war abzulesen, dass er allein nicht wieder einschlafen würde.
Der frühe Morgen war genau richtig für einen langen Spaziergang mit den Hunden, Kieran nahm nur die beiden Jagdhunde, Abe und Bee, an die Leine, der Rest der Meute folgte ihm freilaufend. Er machte eine Runde durch das stille Dorf, folgte dann einem schmalen Feldweg, der von Pettigoe zum Lower Lough Erne führte und den die Hunde in-und auswendig kannten. Diesen Spaziergang machte er täglich, wenn er zu Hause war, manchmal war er den ganzen Tag unterwegs und der Grund dafür war nicht, dass die Hunde so viel Bewegung brauchten. Er kontrollierte Verstecke, die er angelegt hatte, besuchte Freunde und Kollegen auf den umliegenden Farmen, sprach mit ihnen über Dinge, die sie weder im Pub noch am Telefon bereden konnten. In Belfast gab es manchmal Gründe, das genaue Gegenteil zu tun – die lauschenden Ohren und Augen durch Bemerkungen am Telefon auf sich zu ziehen, um von Aktivitäten abzulenken, die am anderen Ende der Stadt ausbaldowert wurden. In Pettigoe war das nur selten nötig. Die Hunde jagten sich gegenseitig über die Felder, verbellten sich mit den Hofhunden, an denen sie auf ihrem Weg vorbeikamen, und erwischten so manches Kaninchen, was nicht schnell genug im Bau war. Nur Abe und Bee, die Hunde mit dem mörderischen Jagdtrieb, musste Kieran an der Leine lassen, weil sie nicht mehr zu bremsen waren, wenn sie einmal eine Fährte aufgenommen hatten.
Am See angekommen legte er eine Pause ein, scheuchte er die Hunde ins Wasser und beobachtete die Kajütenboote, die den Lough hoch und herunterfuhren, gesteuert von Touristen, die kaum in der Lage waren, den Kurs zu halten. Einige Male hatte Kieran mit einem solchen Touristenboot Kisten geschmuggelt, war in fröhlichem, buntem Touristenoutfit unbehelligt an den Schleusen vorbei gekommen und die gesamte Ladung war sicher am Bestimmungsort angekommen. Es hatte Spaß gemacht, sich wie ein unbeholfener Tourist zu benehmen.
Der See war einer der schönsten in der Gegend, nahezu unberührt und glatt wie ein Spiegel. Das Ufer war unbebaut, bis auf einige Bootsstege, dichtes Schilf und Wiesen wechselten sich ab. Einzelne alte Bäume standen am Ufer, strauchige und windzerzauste Kiefern ragten in den Morgenhimmel, der noch freundlich aussah. Das allerdings konnte sich rasch ändern. Bei Regen verwandelte sich alles in ein blasses transparentes Aquarell, angefüllt mit dem satten Geräusch von Regen auf ausladenden Baumkronen und dem Eintauchen der Tropfen am Ufer.
„Auf nach Hause, Jungs“, rief Kieran, erhob sich von dem Baumstamm und pfiff die Hunde zu sich. Jep war noch damit beschäftigt, seine Ohren über den Rasen zu scheuern, kam dann wie ein Blitz hinterher. Er alberte herum, sprang Trash an die Kehle und forderte sein Schicksal heraus – der Wolfshound hatte kein Verständnis für solche Späße. Wenn Jep eines Tages langsam und unvorsichtig werden würde, würde er ihn bei nächster Gelegenheit packen und totschütteln wie eine Ratte.
Es begann wieder zu regnen, der Wind hatte schnell Wolken über den See heran getrieben. Um schneller nach Hause zu kommen, nahm er den direkten Weg, überquerte ein paar Weiden und Felder und traf dabei Tom O’Neill, der auf seinem Land Connemara-Ponys züchtete und dabei nur Schulden machte. Seit Monaten versuchte O’Neill, Kieran ein Pony für Darren anzudrehen.
„Finnigan“, rief er, hielt sein Pony an, auf dem er ritt und sie schüttelten sich die Hände.
„Was ist los?“ fragte Kieran, „heute allein unterwegs? Laufen die Geschäfte nicht?“
Tom schaffte es manchmal, pferdebegeisterte Touristen auf seinen Hof zu locken, wo sie ein Pony besteigen und bei einem Ausritt die Umgebung genießen konnten, aber so richtig war diese Idee noch nicht angelaufen. Einmal, bei einem Ausflug zum Lough hatte sich eines der Ponys erschreckt und war in den See gesprungen, hatte den Reiter fast dabei ertränkt und nur mit viel Glück war Tom um eine Klage herumgekommen. Der Tourist hatte sich einsichtig gezeigt und den Besitzer der kläffenden Töle verklagt, die das Pony erschreckt hatte.
„Laoise sagt auch schon, wir sollten nach Kerry gehen oder uns auf etwas anderes spezialisieren, aber sie hat ja keine Ahnung.“ Tom klopfte dem Pony den Hals. Er schien viel zu alt um sich noch gerade im Sattel halten zu können, lebte seid fast fünfzig Jahren von den Ponys und mochte nichts anderes mehr tun.
„Sehen wir uns heute Abend im Ryan’s?“
„Ich hab Moira zum Essen eingeladen.“
„Wie geht’s ihr? Was macht die Familie?“
„Pol und Brendan gehen mir auf die Nerven und der alte Paddy schimmelt langsam vor sich hin, es läuft also alles wie immer.“
Er hielt dem Pony die flache Hand hin und ließ es daran schnuppern, das war schon das äußerste an Kontakt, den er zu diesen Rasenmähern haben wollte.
„Ich wunder mich jedes Mal, dass Moira mir die Klamotten nicht vor die Tür schmeißt.“
„Du hast recht, du hast sie gar nicht verdient.“
Tom grinste. „Du solltest deinem Jungen ein Pony schenken. Ich hab da einen passenden kleinen Wallach für dich. Die beiden würden gut zusammenpassen.“
Kieran strich sich das Haar zurück, pfiff nach den Hunden, die sich gelangweilt in alle Richtungen verstreut hatten.
„Nein, Tom, kein Pony, Darren kann ja nicht einmal reiten.“
„Das lernt er schnell.“
„Ich glaub’s dir.“
Moira hatte das Mittagessen für ihn warmgehalten, tischte es ihm auf, erklärte, dass Darren und Patrick bereits gegessen hatten.
„Ich weiß, dass ich zu spät bin.“
Moiras Küche war umwerfend, sie hatte alle Tricks und Kniffe von ihrer Tante gelernt und beherrschte die traditionelle irische Küche in allen Variationen, benutzte dabei hauptsächlich die Zutaten aus ihrem Garten, weil sie davon überzeugt war, dass es nur dann wirklich schmecken konnte und außerdem fehlte häufig das Geld für das teure Gemüse aus dem Laden.
„Heute Abend gehen wir aus“, sagte Kieran.
„Ich weiß nicht“, erwiderte sie.
Früher waren sie jedes Wochenende im Pub gewesen, hatten viel getrunken und noch mehr getanzt, selbst in Belfast waren sie öfters weg gewesen als jetzt. Sie waren immer fröhlich gewesen und auch nach Darrens Geburt hatten diese Besuche nicht aufgehört. In Pettigoe hatte sie erst nach dem verunglückten Anschlag auf die Kaserne den Pub nicht mehr besuchen wollen, wobei Kieran aber nicht wirklich verstand, wie das eine mit dem anderen zusammenhing. Die Kaserne in der Nähe von Pettigoe war lange nach dem Anschlag in erhöhter Alarmbereitschaft gewesen, Soldaten waren immer wieder im Dorf aufgetaucht. Moira hatte sich dazu überwinden müssen, überhaupt das Haus zu verlassen, um Einkaufen zu gehen, aus reiner Angst vor den Soldaten. In Belfast hatten sie Anschläge und Rachaktionen fast täglich erlebt und das alles in extremen Ausmaßen, dass niemand mehr wusste, wie es angefangen hatte und wie es zu stoppen war, aber dort hatte sie nie solche Angst gehabt. Obwohl Kieran ihr sagte, dass in Pettigoe nichts passieren würde, mussten Pol oder Brendan sie begleiten und auch Darren hatte sie verboten, das Haus allein zu verlassen. Nur sehr langsam war sie in die Normalität zurückgekehrt.
„Was soll das heißen, du weißt es nicht? Wann waren wir das letzte Mal zusammen weg? Lass mich raten...“
„Vor Monaten. Aber ich weiß wirklich nicht, ob ich ausgehen möchte. Wer passt auf Darren auf?“
Kieran schlang das Essen herunter, wartete mit der Antwort, weil Moira möglicherweise selbst darauf kam, wie simpel ihre Ausrede war. Ihr Zaudern war nicht ernst gemeint. Er musste nur warten und Moira sagte: „Na gut, gehen wir aus. Aber nicht bis in die späte Nacht.“
„Wir sind schon rechtzeitig zurück.“
Er stellte den abgekratzten leeren Teller in die Spüle und ging zu Patrick, der in seinem Zimmer am Fenster saß, mit einer dicken Decke über den Beinen.
„Hallo Paddy“, sagte er und setzte sich zu ihm.
Da Darren nicht in die Schule ging, war er den ganzen Tag in den Feldern und auf den Weiden unterwegs, meist allein, weil er keine gleichaltrigen Freunde hatte. Mit seiner Stummheit kamen die anderen Kinder nicht zurecht und er gab sich keine Mühe, Freunde zu finden. Manchmal spielten die Zwillinge mit ihm, aber die hatten selten Zeit. In der Umgebung gab es kein Kaninchenloch oder Tümpel mit Kaulquappen, den er nicht kannte und den er als sein Geheimnis beanspruchte.
An diesem Abend versprach Pol, ihn rechtzeitig ins Bett zu stecken, während Moira so lange überlegte, was sie anziehen sollte, dass es fast unwahrscheinlich wurde, dass sie überhaupt noch loszogen. Schließlich blieb sie bei einem dunklen langen Rock und einer geblümten Bluse hängen, während Kieran wie jeder andere im Dorf in Jeans und groben Jackett erscheinen würde. Moira hätte sich gern etwas schicker angezogen, aber für einen Modeeinkaufsbummel reichte selten das Geld. Als sie endlich das Haus verließen, rief Pol ihnen ein „Viel Spaß“ nach, in einem Ton, als täte es ihm in der Seele weh, nicht auch mitgehen zu können, dabei waren die Abende, an denen er zu Hause blieb, selten genug. Brendan hatte sich aus dem Staub gemacht; sie vermuteten, dass er irgendwo in Pettigoe ein Mädchen hatte.
Sie waren kaum die Straße ein Stück runter, als Moira sich umdrehte und noch einmal zurückrief, dass Pol darauf achtgeben solle, dass Darren keinen Blödsinn machte.
„Moira“, sagte Kieran verzweifelt, „wir sind nur einen Abend weg, nicht einen ganzen Monat. Pol hat schon öfters auf ihn aufgepasst.“
„Du kennst deinen Bruder, oder?“ Sie winkte, bis Pol entnervt im Haus verschwand. „Ihm muss man doch alles doppelt und dreifach sagen.“
Tag der Veröffentlichung: 10.10.2010
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