Hinter dem Haus hatten wir einen riesigen Schlehenbusch. Wenn wir Kinder aus der Siedlung Verstecken spielten, war er ideal, um sich darunter zu verstecken, zumindest, als wir noch klein genug waren, um unter die tief hängenden Äste zu krabbeln, und bis an die Rückseite des Hauses zu verschwinden. Sobald es Herbst und dann Winter wurde, warteten wir gespannt darauf, dass der erste Nachtfrost kam.
Mutti sagte immer, Schlehen schmecken erst richtig gut, wenn sie eine Nacht den Frost abbekommen hatten. Dann rannten wir am Morgen aus dem Haus, pflückten die dunkelblauen Schlehen und aßen so viele davon, bis sich unsere Münder sauer zusammenzogen.
Es war kein altes Bauernhaus, umgeben von einem Garten, in dem der Schlehenbusch stand. Es war eine Trabantenstadt, die in den späten Sechzigern am Stadtrand aus dem Boden gestampft worden war, unter dem Asphalt der Straßen, unter den Parkplätzen, wenigen Spielplätzen und Häusern die ehemals gute Erde, die weiten Felder, auf denen Weizen, Gerste und Kartoffeln angebaut worden waren. Die Bauern hatten sicher gutes Geld für ihr Land bekommen. Und wir bekamen billigen Wohnraum, kleine Kinderzimmer, Zentralheizung, Kellerräume und Einbauküchen.
Als Kinder wohnten wir sehr gerne dort. In jedem Haus lebten acht Familien, jede Familie hatte mindestens ein Kind. Wir waren den ganzen Tag zwischen den Häusern unterwegs, immer in Horden von mindestens zwanzig Kindern verschiedenen Alters, alle entweder miteinander verwandt oder befreundet. Abends standen die Vatis auf den Balkonen und pfiffen, um uns nach Hause zu holen. Abendbrot.
Wenn der Schlehenbusch, der jedes Jahr größer und breiter wurde, noch ein paar Früchte trug, pflückten wir sie, bevor wir nach Hause gingen.
Im Winter waren wir mit den Schlitten unterwegs, zogen unsere kleinen Brüder und Schwestern hinter uns her, bis wir an dem großen Hügel angekommen waren, den wir immer wieder hinunterfahren würden, bis wir vollkommen durchgefroren waren, oder bis sich jemand eine blutige Nase holte. Im Sommer nutzten wir den Hügel, indem wir uns in Decken hüllten und uns hinunterrollten. Wem unten angekommen nicht brechübel war, hatte gewonnen.
Ich verbrachte im Sommer viel Zeit unter dem Schlehenbusch. Es gab eine Stelle unter den Zweigen, durch die ich mich hindurchzwängen konnte, und das Laub war so dicht, dass ich nicht zu sehen war. Dort unten beobachtete ich die Spatzen und Meisen, ab und zu sah ich eine Maus, hörte die Hunde der Nachbarn vorbeischnüffeln. Damals gab es kaum streunende Katzen, wenn ich jetzt so überlege. Katzen waren noch nicht in Mode. Es gab sehr viele Pudel in unserer Siedlung. Der Schlehenbusch schien unantastbar und unsterblich. Niemand kam, um seine Äste zu stutzen, denn in der Siedlung wurde allenfalls der Rasen gemäht, wenn überhaupt. Er wuchs jedes Jahr ein Stück weiter, trug im Herbst noch mehr Früchte, die wir essen konnten. Früchte, gleichzeitig süß, pelzig und sauer.
Ich weiß nicht mehr, wann ich mich nicht mehr unter seinen Ästen versteckte, um für mich allein zu sein. Als andere Dinge wichtig wurden.
Ich vergaß den Schlehenbusch. Wir alle wurden älter, wurden groß, gingen unsere Wege. Manche blieben in der Siedlung, manche gingen fort. Manche starben. Das waren die Siebziger und die Tempo dreißig Zonen in Wohngebieten kamen für einige zu spät.
Ich begann eine Ausbildung, hatte den ersten Freund, sparte Geld für eine eigene Wohnung und zog aus. Ich kam immer wieder zu Besuch vorbei, aber erst sehr viel später, nach der Beerdigung meines Vaters, der sieben lange Jahre gegen den Tod kämpfte und langsam verlor, langsam vor unseren Augen verschwand, weil er sich nach dem dritten Schlaganfall nicht einmal an sich selbst erinnern konnte, ging ich um das Haus, um nach dem Schlehenbusch zu sehen. Er musste mittlerweile gigantisch sein – es waren so viele Jahre vergangen.
Mein Schlehenbusch war fort. An seiner Stelle hatte man ein kleines ungepflegtes Blumenbeet angelegt, umgeben von einem Jägerzaun ohne Eingang. Traurige Rosenstöcke, die niemand in Form schnitt, Stiefmütterchen, Vergissmeinnicht, die wie Unkraut wucherten. Ich stand dort, starrte auf die Stelle, wo seine Äste den Putz von der Außenwand gerieben hatten, in all den Jahren, die er sich an das Haus gelehnt hatte, und hatte den Geschmack der Schlehen auf der Zunge.
Ich erzählte niemandem, dass ich meinen Schlehenbusch vermisste. Es hätte niemand verstanden. Alle glaubten, die Beerdigung wäre mir so nahe gegangen, aber die Beerdigung meines Vaters war nur der letzte Schritt eines langen mühsamen Weges gewesen, für ihn und für uns. Der Abschied war lange zuvor geschehen.
Der Schlehenbusch, der zwanzig Jahre hinter einem grauen Mehrfamilienhaus gestanden, und den irgendjemand auf Order der neuen Hausverwaltung abgeschlagen und seine Wurzeln herausgerissen hatte, löste etwas anderes in mir aus. Ich kümmere mich. Nie wieder wird etwas einfach verschwinden, das mir etwas bedeutet hat.
Tag der Veröffentlichung: 14.09.2010
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