Cover

An die Hauswand hatte jemand mit weißer Farbe geschrieben:
go home soldier
your presence here destroys the air
your smile disfigures us
go home soldier
before we send you home
dead


Es war keine leere Drohung, nicht in diesen Straßen.

Kieran und Sean hatten den Heckenschützen auf dem Flachdach der Fabrikhalle sofort entdeckt und beobachtet, flüsterten miteinander, auf wen er es abgesehen haben könnte. Die Fabrik war nicht gerade der ideale Platz für einen sniper

, ebenso wenig wie die Umgebung, die er von dort aus ins Fadenkreuz nehmen konnte; Kieran vermutete, er könne es auf jemanden Bestimmtes abgesehen haben.
„SAS?“ fragte Sean.
Die Brits dementierten noch immer die Tatsache, dass es eine shoot-to-kill-order

gab und die SAS davon immer wieder Gebrauch machte, wenn sie auch nicht üblicherweise auf den Dächern der katholischen Wohngebiete agierten.
„Glaub ich nicht, könnte aber sein. Wir bleiben erst mal an ihm dran.“
Der Mann trug dunkle Kleidung und eine Wollmütze, die er sich tief bis über die Ohren gezogen hatte, obwohl es auf dem Dach sicher nicht kalt war. Sein Gesicht war selbst durch das Fernglas nicht klar zu erkennen. Kieran und Sean wechselten sich am Glas ab, reichten dabei die filterlosen Zigaretten hin und her. Rauchen war der einzige Zeitvertreib, wenn sie in der leer stehenden Wohnung über dem Wohngebiet wachten. Sie behielten den Mann im Auge, der entweder ein Spezialist der SAS oder ein Protestant aus der Nachbarschaft war, der sich für diesen Morgen etwas Besonderes vorgenommen hatte.
Nach einer halben Stunde schickte Kieran Sean ins Quartier zurück, weil er wissen wollte, ob eine größere Aktion der Brits angelaufen war, von der sie nichts mitbekommen hatten.
Häufig räumten die britischen Streitkräfte in Blitzaktionen Häuser und Wohnung in den katholischen Sektoren, und obwohl die Freiwilligen es nicht verhindern konnten, hielten sie ein waches Auge auf diese Aktionen. Selbst bei der IRA gab es so etwas wie Bürokratie – sie dokumentierten alles, um es an die entsprechenden Stellen weiter zu geben, ebenso wie Berichte von Verhaftungen, Verhören und den Zuständen in den Gefängnissen.
Kieran hasste es, zum Zusehen verdammt zu sein, aber er hielt sich an die Befehle von oben. Im Gegensatz zu ihm war Sean in Belfast aufgewachsen, in der unmittelbaren Nachbarschaft von Protestanten, Wachtürmen, Grenzübergängen und verbarrikadierten Straßen. Die Summe dieser Dinge hatte ihn früh in die Arme der IRA getrieben. Er hatte Kieran erzählt, dass er als Jugendlicher in Derry gewesen und an dem Friedensmarsch teilgenommen hatte, an diesem Sonntag im Januar, und was er dort gesehen hatte, verfolgte ihn noch heute. Er war älter als Kieran, sie arbeiteten gut zusammen, wenn er auch kein Verständnis dafür hatte, dass Kieran immer wieder seine Frau besuchte.
„Das bringt euch beide in Gefahr“, sagte er, „es wäre das Beste, du schickst sie zu ihrer Familie.“
Sean war Spezialist für taube Aktionen, hatte die nötigen Verbindungen durch ganz Belfast und im Umland, aber nebenbei agierte er in derselben Zelle wie Kieran. Die ständigen Überwachungs- und Abhöraktionen der Brits nutzten sie häufig, um Ablenkungsmanöver zu starten, riefen offene Telefonate ins Leben und sprachen über Revierüberfälle, Waffenbewegungen und Sprengfallen. Das löste Hektik in den RUC-Stationen aus, und die Lockvögel wurden innerhalb von Stunden festgenommen. Gleichzeitig konnte man in aller Ruhe am anderen Ende des Viertels die eigentliche Aktion starten. Es ging nicht immer gut, aber es war eine Möglichkeit, die RUC und die Brits mit den eigenen Waffen zu schlagen. Einige Jungs standen für diese Ablenkungsmanöver regelmäßig zur Verfügung.

Nach einer Stunde kam Sean zurück und sagte, dass niemand etwas wusste, also beobachteten sie weiter, was sich auf dem Dach gegenüber tat. Es vergingen zwei weitere Stunden und sie konnten keine Veränderung im Verhalten des Mannes erkennen. Er lag oder saß auf dem Dach, unmittelbar an der Kante, ab und zu war der Lauf des Gewehres zu sehen, wenn er es auf die andere Seite legte.
„Wir schnappen ihn uns“, sagte Kieran, „noch länger da oben und er wird ungeduldig und schießt vielleicht auf den Nächsten, den er unten auf der Straße sieht.“
In der Straße, in der die alte Fabrik stand, waren nicht viele Passanten unterwegs, ein paar Kinder spielten vor ihrer Haustür, Frauen kamen vom Einkaufen zurück und nur ganz selten rollte ein Auto vorbei. Wenn, dann war es ein Wagen der RUC, denn das Viertel war vom normalen Straßenverkehr abgeschnitten. Es gab in der Straße kein einziges Geschäft.
Kieran übergab Sean das Fernglas, zog sein kariertes Hemd über und verschwand über die Feuertreppe in den Hinterhof hinüber. Bei jedem Schritt drohte die rostige Konstruktion zusammenzubrechen und deshalb wagten sie sich nie zu zweit auf die Stufen. In den Hinterhof führten hauptsächlich die Fenster der Hausflure und Toiletten, verdreckte blinde Augen der alten Häuser. Im Hof gab es einen Baum, in dessen Zweige alte Flugblätter und Abfall hingen, die Mülltonnen waren überfüllt und umgeworfen. Kinder spielten hier nicht wegen der Ratten und wegen der bewaffneten Männer, die die eine Wohnung für ihre Zwecke nutzten. Durch die schmalen Seitengassen und durch die Hinterhöfe befreundeter Anwohner lief Kieran zum Quartier zurück, drehte eine zusätzliche Runde um das Haus, bevor er sich hineinschlich.
Es war ruhig in der Wohnung. Ian saß im Sessel am Fenster, blätterte in einer Zeitung und sah auf, als Kieran in der Tür stehen blieb.
„Auf dem Dach tut sich noch immer nichts“, sagte Kieran, „wir holen ihn jetzt runter. Wo steckt Tommy?“

Tommy und Sean stiegen zu dem vermeintlichen sniper auf das Dach, während Kieran ihn von dem Dach des gegenüberliegenden Hauses im eigenen Fadenkreuz behielt. Er konnte ihn sofort abservieren, sollte er eine falsche Bewegung machen. Für Kieran war es nicht das erste Mal, dass er einen Schädel anvisierte, aber er konnte nicht behaupten, dass es ihm nichts ausmachte. Er erledigte den Job und bemühte sich dann, keinen Gedanken mehr daran zu verschwenden.
Als 1969 die britische Regierung über die katholischen Straßen ein Ausgehverbot verhängt hatte und ganze Familien aus ihren Häusern vertrieb, war sein Vater Paddy daheim aktiv gewesen und von ihm wusste er, wie es damals zugegangen war. Jeder ältere Einwohner der Falls Road hatte es noch in Erinnerung. Rev. Ian Paisley war mit seinen Leuten durch die Straßen gezogen, mit Holzlatten bewaffnet, durch deren Ende sie lange Nägel getrieben hatten. Die Männer der RUC hatten bei allen Aktionen danebengestanden und keinen Finger gerührt.

Der Mann auf dem Dach sprang hektisch auf, als Tommy und Sean auf ihn zukamen, hatte das Gewehr am Boden liegen gelassen, was für ihn sprach und ihn am Leben lassen ließ. Kieran auf der anderen Seite der Straße schwenkte zwischen den drei Männern hin und her, Tommy dominierte die Szene auf dem Dach allein schon durch seine große massige Gestalt. Er wechselte ein paar Worte mit dem Mann und schon rannte dieser Richtung Feuerleiter davon, als wäre der Todesengel hinter ihm her. Kieran hätte hinter ihm her schießen können, aber er tat es nicht. Er blieb auf dem Dach, bis Sean und Tommy außer Sicht waren. Häufig erledigten sie Mitglieder der protestantischen Terrorgruppen weitaus radikaler, aber Tommy hatte, als er das zurückgelassene Gewehr an sich genommen hatte, eine abwinkende Geste zu Kieran hinüber gemacht. Als sie sich später im Quartier wieder trafen, hatte Tommy schlechte Laune und Sean verzog sich sofort in das hintere Zimmer, knallte beleidigt die Tür hinter sich zu.
„Was ist denn jetzt los?“ fragte Kieran.
Tommy holt sich einen Aschenbecher, setzte sich an den Küchentisch und zündete sich seine nächste Zigarette an. Es gab kaum eine Gelegenheit, bei der er nicht rauchte.
„Sean ist ein rechthaberisches Arschloch“, sagte er zur Erklärung, „er hätte den Jungen am liebsten vom Dach geworfen. Meinte, wenn wir ihn laufen lassen, würde er das nächste Mal mit einem richtigen Gewehr wiederkommen.“
„Das Gewehr war ’ne Attrappe?“
„Spielzeug.“
„Niemand hindert ihn daran, das nächste Mal Passanten abzuknallen“, schrie Sean durch die Tür.
„Der kommt nicht wieder. Der weiß, was ihm blüht, wenn ich ihn hier noch mal erwische. Und du, Sean, du bist wie ein Stock in meinem Hintern. Mit dir arbeite ich nicht mehr zusammen.“
Kieran durchwühlte den Hängeschrank nach einem letzten Teebeutel oder irgendetwas Ähnlichem, konnte aber nichts finden. Ian stand endlich aus dem Sessel auf und meinte, er würde in den Laden um die Ecke gehen und einkaufen. Er verzog sich immer, wenn Streit in der Luft lag.
„Ich weiß nicht, was du hast“, sagte Kieran, „ich komm mit Sean immer gut aus.“
„Nur, weil er den Bloody Sunday

miterlebt hat und es jedem mindestens einmal am Tag erzählen muss, macht ihn das nicht zu einem guten Mann.“
„Die meisten arbeiten mit ihm lieber zusammen als mit dir“, bemerkte Kieran. Tommy drehte sich auf dem knarrenden Stuhl zu ihm herum.
„Wie meinst du das?“
„Sie verstehen deinen Humor nicht.“
„Ich hab keinen Humor.“
„Genau davon rede ich.“
Ian kam zurück und sie tranken gemeinsam Tee. Tommy klopfte persönlich an die Zimmertür und rief nach Sean, sagte ihm, dass er ein feiner Kerl sei und dass ihn das Geschehen von vor zwanzig Jahren geadelt habe, wenn er es auch nicht geschafft habe, sich eine Kugel als Andenken einzufangen.
„Irgendwann wird dir mal jemand dein dummes Maul stopfen, Tommy“, sagte Sean.

Das Leben in Belfast war gefährlich und in diesen Zeiten war es die oberste Priorität, am Leben zu bleiben, den Scharfschützen zu entgehen und sich nicht schnappen zu lassen. Ihre Zelle hatte die Aufgabe, die Aktivitäten der Briten so oft wie möglich zu stören, aber sie legten keine Sprengfallen aus oder lockten Soldaten in den Hinterhalt – sie hatten nur ein paar Waffen zur Verfügung und sie schossen nur auf Soldaten, wenn sie sich der Sache sicher waren. Weil sie alle stets mit einer Verhaftung rechnen mussten, was eine siebentätige Verhörprozedur bedeuten konnte, waren sie mit ihren Unterkünften extrem vorsichtig.
Kieran wechselte den Standort fast täglich, sah Moira so selten, dass er sich wunderte, dass sie ihn noch in die Wohnung ließ. Im Moment wohnte sie in einem Haus in Ballymurphy und ging man nach seinen Sachen, die er dort hatte, lebte er wohl auch dort. Wenn sie Glück hatten, sahen sie sich an den Wochenenden für ein paar Stunden oder länger. Moira beschwerte sich nicht darüber, weder über die häufigen Umzüge, noch dass er so selten bei ihr war. Vielleicht dachte sie, er wäre ständig auf Jobsuche, vielleicht vermutete sie aber auch das Richtige.

„Bleibst du diesmal länger?“ fragte sie immer und er versprach, bis zum nächsten Morgen zu bleiben. Bei Moira konnte er alles für ein paar Stunden vergessen, manchmal fuhren sie auf Land und dann machte Kieran sich erst wieder Gedanken über die Briten und Belfast, wenn sie zurück waren – er versprach ihr immer wieder, etwas an der Situation zu ändern, dass sie öfters zusammen sein konnten. Moira dachte manchmal, sie müsse erst schwanger werden, um wirklich etwas zu verändern. Auf dem Land war Kieran ein ganz anderer Mensch, er verlor sein Misstrauen und benahm sich endlich wieder wie ein 22-Jähriger, der er noch immer war. Kamen sie aus Belfast heraus, fuhren sie in einem geliehenen Wagen bis in die 26-Counties, übernachteten in einem Bed & Breakfast, wo sie jedes Mal behaupteten, in den Flitterwochen zu sein.
Zurück in Belfast nahmen sie Abschied auf Zeit, bis zu dem Augenblick, wo Kieran zurückkam und ihr sagte, dass sie die Wohnung wechseln müsse. Sie blieb in der Nachbarschaft von Ballymurphy, weil sie sich dort auskannten und Freunde hatten, aber die Umzüge waren einfach nur lästig.
An einem Abend ging sie mit einer Freundin in den Pub, musste dazu nicht erst überredet werden, und traf dort Kieran, der sich einen Weg durch das Gedränge bahnte. Sie musste erst winken und rufen, bis er sie entdeckte und an ihren Tisch kam. Er versuchte, einen freundlichen Eindruck zu machen, aber sie sah sofort, dass es ihm nicht gefiel, sie hier zu sehen.
„Was machst du hier?“ fragte er, beugte sich zu ihr herunter, sein suchender Blick huschte über die anderen am Tisch, die er aber nicht einmal vom Sehen kannte. Ihre Freundin, schon etwas angetrunken, hob ihr Glas und sagte: „Wir trinken einen. Was sollten wir sonst machen?“
Kieran zog zwei Geldscheine aus der Tasche und drückte sie Moira in die Hand, sie versuchte sie ihm wiederzugeben, aber er legte ihr die Scheine wieder in die Handfläche und schloss ihre Finger darum.
„Geht woanders einen trinken“, flüsterte er, „bitte tu mir den Gefallen.“
Moira hätte sofort reagiert, denn sie wusste, wann es brenzlig wurde, aber ihre Freundin hielt sie unter dem Tisch fest und sagte, sie wisse nicht, was los sei und weshalb Moira schon gehen wolle. Der Abend habe doch eben erst angefangen, gemütlich zu werden. Kieran konnte nicht verhindern, dass Tommy auftauchte und sich interessiert zu ihnen gesellte. Sein Auftreten war energisch genug, dass einer der Männer, die mit am Tisch saßen, ihm seinen Stuhl überließ.
„Miss“, sagte er, „werden sie von diesem Kerl belästigt?“
Es war die erste Begegnung zwischen Moria und Tommy, die Kieran letztendlich nicht verhindern konnte. Moira sah erst diesen bulligen Kerl an, der abwartend grinste, dann zu ihrem Ehemann und sagte: „Als mein Mann belästigt er mich viel zu selten.“
Tommy lachte dröhnend durch den ganzen Pub, aber Kieran konnte nichts Komisches daran finden. Sie waren in den Pub gekommen, um einen Lastwagenfahrer zu treffen, der sich bereit erklärt hatte, ein paar heikle Dinge in seinem Wagen zu transportieren. Er kannte einige der Soldaten an den Straßensperren und wurde häufig durchgewunken, wenn er seine Lieferungen machte. Tommy hatte diesen Treffpunkt vorgeschlagen, obwohl er selbst ein gespaltenes Verhältnis zum Alkohol hatte. Er hatte Kieran erzählt, dass er seit seiner Kindheit versuchte, sich totzusaufen, dass es ihm nur noch nicht gelungen sei. Ganz ohne Alkohol ginge es ihm zwar besser, aber er habe längst nicht so viel Spaß.
„Irgendwann musste ich mit einer Sache aufhören –Alkohol oder Army. Beides zusammen geht nicht.“
Kieran schaffte es nur mit viel Überredungskunst, Moira und besonders ihre Freundin loszuwerden; hatte ein schlechtes Gewissen, sie nicht zu begleiten, wenn sie in den nächsten Pub pilgerten, aber er konnte hier nicht weg. Er musste sich drauf verlassen, dass sie allein auf sich achtgeben konnte.

Tommy drückte ihn auf den Stuhl neben sich, schob die halb leeren Gläser von sich weg und begann, nach seinen Zigaretten zu suchen. Während er in den Taschen herumwühlte, sagte er: „Du solltest dieses Mädchen aus Belfast rausschaffen. Es wäre eine Schande, wenn ihr etwas zustoßen würde durch irgendwelche britischen Schweineköpfe.“
„Wenn, dann schaff ich uns beide hier raus“, er widerte Kieran, „sie hat gesagt, sie geht ohne mich nirgendwo hin. Was soll ich also tun?“
„Da ist unser Mann“, flüsterte Tommy, „lass mich das machen. Er sieht in jedem fremden Gesicht einen Verräter.“

Monate später hatte Tommy seinen Vater und zwei Brüder bei einer Aktion der Briten verloren und das war das erste und letzte Mal, dass Kieran ihn betrunken sah. Er saß im Quartier, weigerte sich, an den täglichen Aufgaben teilzunehmen und leerte eine Flasche Whiskey. Über den Verlust konnte er nicht sprechen, er war auch nicht in der Lage, zur Beerdigung zu gehen, was den Bruch mit der restlichen Familie zur Folge hatte. Die Kameraden aus den anderen Commands veranstalteten eine Ehrenwache, aber als einer der Männer Kieran ansprach, ob Tommy sich ihnen anschließen wolle, sagte er, dass das keine gute Idee sei. Wäre er mit dieser Anfrage direkt zu Tommy gegangen, hätte er wohl sein Leben riskiert.
Drei Tage später war Tommy wieder der Alte – vielleicht hielt er sich mit seinen Witzen zurück und behandelte die Jungs, die er zwischen die Finger bekam, eine Spur härter, aber nach außen schien ihn der Verlust der Familie nicht verändert zu haben.

Als sie vor einem Kino auf einen Verdächtigen warteten, die gut gelaunte Kinobesucher ganz genau betrachteten, wurde Tommy von einem Mädchen um Feuer für ihre Zigarette gebeten und augenblicklich verwandelte er sich in einen Charmebolzen. Selbst mit seinem kurz geschorenen Schädel, der mächtig grau wurde, hatte er etwas an sich, was die Mädchen anzog.
„Das ist erblich“, lautete seine Erklärung, „mein Daid

konnte das auch.“
Sean hatte einmal gewagt, darauf zu erwidern, dass sein Daid sich darauf hätte konzentrieren sollen, den Röcken nachzustellen, dann hätten sie ihm nicht die Augen zugedrückt bei der Straßenkontrolle, und daraufhin hätte Tommy ihn fast aus dem Fenster geworfen. Ian und Kieran hatten es gerade noch so verhindern können. Es hatte die Spannungen zwischen den beiden nicht gerade abgebaut.
Er wechselte ein paar weitere Worte mit dem Mädchen, schüttelte bedauernd den Kopf und ließ sie allein ins Kino gehen. Kieran schlenderte zu ihm hinüber und sagte: „Du hättest ruhig mit in die Vorstellung gehen können. Die hätte dir zu Hause auch noch einen Rosie Lee gemacht.“
„Nicht heute.“ Er sah zu Ian hinüber. „Sag ihm, er soll mit der Zappelei aufhören. Er sieht aus wie ein Junkie auf Entzug.“
„Er ist nervös. Du hast ihm Angst gemacht.“
Am Morgen hatte Tommy angekündigt, sie würden in einen Pub marschieren, der ein Treffpunkt der UDA sei und dort ein wenig für Stimmung sorgen. Ian war seitdem mindestens zwanzig Mal auf der Toilette gewesen.
„Er kann sich beruhigen. Selbst, wenn wir es heute durchziehen würden, würde ich ihn nicht mitnehmen. Ian ist ein guter Schütze, aber er hat zu schnell das Nervenflattern.“
Er latschte mit gemächlichen Schritten in das Kinofoyer, kam mit einer Tüte Popcorn wieder. Im Moment tat er alles, um sein Gewicht zu halten.
„Wie alt bist du jetzt?“ fragte er, „zweiundzwanzig? Mit dir arbeite ich noch am besten zusammen, Garsún

.“
Mit seinem Popcorn schlenderte er davon und sie trafen sich etwa eine Stunde später wieder, als in dem Kino die Vorstellung bereits begonnen hatte und der Platz vor ihnen fast ausgestorben war. Sie erwischten einen von denen, die sie erwischen wollten, und schleppten ihn zwischen die parkenden Autos im Schatten des Kinos. Ian ließ seinen Frust an ihm aus und Tommy schien endlich einmal halbwegs zufrieden mit ihm zu sein.

Da Tommy sich nach dem Ableben seiner halben Familie wieder gefangen hatte und mal wieder ein Umzug ins Haus stand, weil Kieran befürchtete, die RUC könnte ihm auf die Schliche gekommen sein, sagte Tommy ohne Umschweife, dass sie die Wohnung seines Bruders übernehmen könnten. Es waren noch immer die Möbel und seine privaten Sachen drin, aber er wollte nichts davon behalten.
„Was ihr nicht gebrauchen könnt, verschenkt ihr einfach an die Nachbarn“, sagte er, „der Vermieter ist ein alter Säufer, aber er hat ein Auge auf die Leute, die das Haus betreten. Als die RUC Kavan mal verhaften wollte, hat er sie so lange aufgehalten, bis er durchs Fenster verschwinden konnte.“
Moira mochte die Wohnung und sie mochte Tommy, war erleichtert zu hören, dass sein Bruder nicht in dieser Wohnung gestorben war. Tommy sagte ihr allerdings auch nicht, wie es passiert war.

Bei ihren Patrouillengängen durch die Straßen ihres Viertels trennten sie sich selten, aber es kam vor. Manchmal wurden sie gebeten, einen häuslichen Krach zu schlichten oder Jugendlichen ins Gewissen zu reden. Das machte meist Tommy, weil Kieran sich bei solchen Aktionen dumm vorkam.
An diesem Tag trennten sie sich. Als Kieran sich zu den anderen herumdrehte, war Tommy bereits oben an der Kreuzung und Sean wartete auf der anderen Straßenseite auf ihn.
„Was für ein Scheiß Wetter.“
„Das kannst du laut sagen“, erwiderte Sean.
Es war nicht mehr ganz so nass wie noch am Vormittag, aber es pfiff ein eisiger Wind durch die Straßen, der einen den Sommer vergessen ließ. Sie blieben wieder zusammen, folgten Tommy zur Kreuzung. Sie waren umgeben von alten hohen Wohnhäusern, deren Läden in den unteren Etagen fast alle dichtgemacht hatten, nur ein paar Pubs zogen noch genug Kundschaft an.
An der Straßenecke stehend unterhielt Tommy sich mit einem Mädchen, das er aus dem Pub kannte, brachte sie zum Lachen und versuchte, sie in netter Form auf eine Verabredung festzunageln.
In dem Pub um die Ecke, in dem Tommy fast zu Hause war und trotzdem nichts trank, war es für ihn das natürlichste der Welt, die Mädchen aus der Umgebung nach Hause zu begleiten, wenn es zu spät geworden war.
Una und ihre Freundin brachte er sehr häufig nach Hause, plauderte auf dem ganzen Weg mit ihnen und wartete vor der Haustür, bis oben in ihren Fenstern Licht angegangen war. Una nannte das manchmal seine Freundschaftseskorte und sie nahmen sie alle gern in Anspruch. Er war dabei aufmerksam und nie aufdringlich. Una war ein nettes Mädchen, trug ihr langes schwarzes Haar immer offen und sie wohnte ein paar Blocks weiter. Sie war von der kräftigen und wohlgeformten Sorte Mädchen. Tommy sah sich an der Kreuzung um, fragte, ob sie sich später im Pub treffen könnten und sie verneinte lächelnd. Als sie sich nicht dazu überreden ließ, wollte er nur noch, dass sie nach Hause ging.
„Es passiert im Moment zu viel in dieser Gegend“, sagte er.
„Aber ich warte hier nur auf meine Freundin.“
„Ich richte ihr schon aus, dass du zu Hause bist.“
„Du bist doch bloß hinter mir her.“
„Ich will nur, dass dir nichts passiert.“
Kieran und Sean waren an der Ausfahrt des alten Kohlehändlers vorbei, blieben stehen und zündeten sich eine Selbstgedrehte an, die sie zwischen sich hin und hergehen ließen. Schon die Körpersprache bei Tommy und Una machte deutlich, was zwischen ihnen los war. Sie lehnte mit dem Rücken an der Mauer, hatte die Hände hinter sich verschränkt und blinzelte zu ihm hoch, den Kopf schief gelegt. Die Abendsonne blendete sie. Tommy stand neben ihr, das Gewicht auf einen Fuß verlagert und stützte sich mit einer Hand neben ihr an der Mauer ab.
„Der hat aber auch immer ein Schwein“, murmelte Sean.
„Der alte Sack sollte sich mal etwas zusammenreißen“, erwiderte Kieran trocken.
Tommy war zehn Jahre älter als er, Anfang dreißig. Er war so ziemlich der Einzige in der Truppe, der seinen Humor nicht verloren hatte, obwohl er meist mit einem konzentriert bitteren Gesichtsausdruck herumlief.
Der sniper an der Dachluke des gegenüberliegenden Gebäudes musste sie schon eine ganze Weile im Visier gehabt haben. Sie hätten ihn bemerkt, wenn er sich bewegt, wenn er das Gewehr über den Rand der Luke geschoben hätte, aber so schien alles friedlich zu sein an diesem Abend.

Tommy sah das Loch in der Mauer neben seiner Hand entstehen. Wie durch einen Zoom und in Zeitlupe sah er die Backsteinbrocken und Splitter herumsirren. Er hatte den trockenen Steingeruch in der Nase, und obwohl er den Schuss nicht gehört hatte, wusste er sofort, was los war. Una lehnte noch immer an der Wand, den Kopf schief gelegt und der Wind hob ihren Rock ein wenig, mit einer Hand hielt sie ihn an ihrem Oberschenkel fest. Er hatte keine Zeit, Rücksicht darauf zu nehmen, ihr keine blauen Flecken zu bescheren.
Er packte sie an der Schulter und warf sie hinter sich, drehte sich zu der leeren Straße herum. Es ging alles so schnell. Er sah niemanden, aber gleichzeitig mit dem aufblitzenden Lichtpunkt unter dem Dach, was man für die Reflexion einer leeren Dose oder einer Glasscherbe hätte halten können, traf ihn das erste Projektil. Er fühlte, dass er getroffen wurde, trotzdem dachte er nur daran, das Mädchen in Sicherheit zu bringen.
Als sie das Blut auf seinem Hemd sah, wusste sie, was los war, versuchte sich in seinem Griff wegzudrehen und fortzulaufen, in die Richtung, aus der die Schüsse kamen. Die zweite Kugel traf ihn am Oberschenkel und er riss sie mit sich zu Boden, als sein getroffenes Bein unter ihm nachgab.
„In den Hauseingang“, sagte Tommy mit einer Ruhe in der Stimme, die Una noch lange im Ohr haben würde, „lauf rüber. Bleib nicht stehen. Dreh dich nicht um. Lauf einfach.“
Sie lag zitternd unter seinem Arm, sah in sein gefasstes Gesicht und drückte sich hoch. Die Straße war nicht breit, aber sie kam ihr endlos vor. Dort stand kein einziges Auto, hinter dem sie sich hätte ducken können, also versuchte sie, sich ganz klein zu machen und spurtete los. Tommy brachte sich wieder auf die Beine, versuchte das Blut auf der Straße zu ignorieren. Es waren nicht nur Tropfen, es war eine Lache, die sich schnell ausbreitete.
Nur Regen

, dachte er, es ist nur Regen.


Er trat auf die Straßenmitte der Kreuzung, um den sniper die Sicht auf Una zu verdecken, dachte schon, der Kerl hätte genug, aber dann traf ihn die dritte Kugel an der Hüfte. Es brannte zunächst nur wie ein Wespenstich und er schaffte es bis an die nächste Ecke, wo er sich in den schmalen Hausflur lehnte und die Beine unter ihm nachgaben.

Sicher hatten Kieran und Sean sofort reagiert, als Tommy sich das Mädchen geschnappt hatte, aber ihm kam es vor, als hätten sie Stunden gebraucht. Er hörte die Schüsse, als sie den sniper

unter Beschuss nahmen und er hoffte, dass sie ihn sich lebend schnappen würden. Plötzlich war Una wieder an seiner Seite und er konnte ihr nicht sagen, dass sie verschwinden solle, weil ihm das Atmen schwerfiel. Er dachte, er sei in einen See gefallen und bekäme jetzt unter Wasser keine Luft mehr. Er wollte sich an die Oberfläche treiben lassen, aber die Schmerzen zogen ihn nach unten. Seans Stimme war mit einmal ganz dicht an seinem Ohr.
„Ich sag dir, das war das Schwein, das du hast laufen lassen. Das war ein Fehler. Wie sieht’s aus? Wo hat er dich erwischt?“
Seans Gequatsche brachte ihn auf die Palme und fast wäre er wieder auf die Beine gekommen, aber Kieran kam dazu und zu dritt hielten sie ihn am Boden. In seinem Kopf drehte sich alles. Kieran hatte sein Hemd ausgezogen und es gegen die Stelle gedrückt, von der das meiste Blut aus dem Oberschenkel lief. Die Kugel in der Lunge ließ ihn fast ersticken. Blutblasen bildeten sich unter seiner Nase. Kieran war nahe davor, in Panik zu geraten. Tommy sah ihn noch immer an, als wolle er sagen, es sei alles halb so schlimm, aber das viele Blut sagte etwas anderes.
„Wir brauchen ein Auto.“
Una sagte: „Mein Bruder hat einen Lieferwagen, aber der ist nicht zu Hause.“ Sie sah Kieran an. „Können sie kurzschließen?“
„Ich mach das“, sagte Sean.
Kieran blieb bei Tommy, hielt ihn gegen die Wand gedrückt und flüsterte ihm zu, dass sie den Kerl erwischt hätten, Tommy holte mühsam Luft und verdrehte die Augen, dass nur noch das Weiße zu sehen war. Mit jedem Atemzug strömte ihm mehr Blut aus Mund und Nase.
„Wir haben ihn vom Dach geholt“, sagte Kieran verschwörerisch, „der schießt auf niemanden mehr.“
Tommy blinzelte, in seinem Gesicht stand Müdigkeit und Lebenswille und Kieran schrie die Straße herunter, dass sie sich mit dem verfluchten Wagen beeilen sollten.
Der Lieferwagen kam rückwärts auf sie zugeschossen, hielt mit quietschenden Reifen direkt neben ihnen an. Sean blieb hinter dem Steuer sitzen, während Kieran und Una Tommy in den Stauraum zerrten. Fast hätten sie es nicht geschafft. Ganz undeutlich glaubte Kieran ihn etwas murmeln zu hören, das sich anhörte wie „Ihr werdet mich doch nicht fallen lassen“ und er sagte Una, sie solle seine Beine loslassen. Er zog Tommy hoch, stützte ihn und schaffte es tatsächlich, ihn auf die schwankenden Beine zu stellen.
Jetzt in den Wagen, dachte er, visierte die offene Schiebetür an, wenn er mir hinfällt, krieg ich ihn nie mehr hoch.
Er hebelte sich unter Tommys Achsel, Una auf der anderen Seite und sie schleiften ihn in den Wagen. Mehr als die paar Schritte, die nötig waren, hätten sie nicht geschafft. Es war allen ein Rätsel, wie Tommy sein Kampfgewicht hielt, man sah ihn so gut wie nie essen, höchstens rauchen, aber trotzdem brachte er zurzeit etwa hundertzwanzig Kilo auf die Waage. Er trainierte in unregelmäßigen Abständen in einem Boxverein, aber dort machte er auch nicht mehr als ein wenig Sparring und ging in die Sauna.
„Fahr schon los“, schrie Kieran, zog von innen die Schiebetür zu, die allerdings nicht im Schloss einrastete und während der Fahrt wieder aufging. Kieran zog Tommy in die gegenüberliegende Ecke, setzte sich neben ihn und hielt ihn fest.
„Ich hab gesehen, wie der Mann aus dem Fenster gefallen ist“, sagte Una, „der geschossen hat. Wer war das?“
Unter normalen Umständen wäre der sniper

nicht vertikal der Fassade gefolgt. Er hätte sich nach hinten in den Speicher zurückgezogen und wäre unbehelligt geflohen, aber er machte den Fehler, sich weit aus der Luke herauszulehnen und neu anzuvisieren, vermutlich sehr verärgert darüber, dass dieser verfluchte Ire noch immer nicht umfiel. In dieser wenig vorteilhaften Pose hatten ihn Sean und Kieran erwischt. Sein Kopf war schon hinüber gewesen, noch bevor er mit dem Schädel auf das Pflaster aufgeschlagen war.
„Das würde ich ihn selber gerne fragen“, erwiderte Kieran. Una schwieg.
Bevor er mit Moira und Baby Darren nach Pettigoe ging, sah er sie wieder, im Public Relationsbüro von Sinn Fein. Sie hatte ihr Haar kurzgeschnitten und war richtig dick geworden, was ihrer Erscheinung aber nicht schadete. Es ließ sie energisch und unverwundbar erscheinen. Kieran wollte sie ansprechen, ein paar Worte mit ihr wechseln, aber dann hätte sie sich an ihn erinnert. Sie hätte nach Tommy gefragt und darüber wollte er selbst im Büro von Sinn Fein nicht sprechen.

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Tag der Veröffentlichung: 28.08.2010

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